Die andere Seite des Monds von Augurey ================================================================================ Kapitel 1: Ein Tag im August ---------------------------- Der dreiundzwanzigste August war einer jener Sommertage, der Wellvordächer in Backbleche verwandelte, Küchenkräuter in ihren Kübeln röstete und jedem das Gefühl gab, in einem Ofen zu schmoren. Doch es war nicht die schwüle Hitze, die sich in den Gassen von London staute, die Severus in diesem Moment ins Schwitzen brachte. Eine angenehme Kühle empfing ihn, kaum dass die grünen Flammen um ihn erloschen und er die Nokturngasse betrat. Er bevorzugte diesen Zugang zum Zentrum Londons, den öffentlichen Kamin an der Ecke Kelpmoorplatz. In dem schmalen, verwinkelten Durchgang zwischen den dicht gereihten Häusern fiel kein Sonnenstrahl, nicht einmal an einem Tag wie diesem. Die Nokturngasse erinnerte ihn an die dunkle, karge Abgeschiedenheit seiner Kerkerräume und dieses heimische Gefühl war das Einzige, das ihn gerade davon abhielt, dem Nächstbesten einen Crutiatus auf den Hals zu jagen oder ihn zumindest ziemlich grob zur Seite zu stoßen. Seine Schläfe pochte und wie ein Hohn darauf schlug das Buch in der ledernen Umhängetasche im Takt dazu gegen seine Seite - immer heftiger je schneller er den Weg hinauf rauschte, zielstrebig auf die Winkelgasse zu. Aus den Schatten der Hausflure schienen ihm hier und da Augenpaare nachzuschauen, doch die Blicke der Sabberhexen, Gauner und anderen Gesindels flogen an Severus vorüber. Er hatte nur ein Gesicht vor Augen. Ein Gesicht mit durchdringend blauen Augen hinter einer Halbmondbrille und einem langen, silbernen Bart. Einem Bart, in dem sich Lippen bewegte, um zwei Worte zu formen. Und diese zwei Worte waren es, die Severus die Glut in die Adern trieben; die wie ein Echo von jeder Hauswand auf ihn einschrien; die Gift und Galle in seinem Magen brodeln ließen, so dass er schäumend ausspuckte. Diese zwei Worte waren ‚Remus Lupin‘. Die Sonne blendete ihn, als Severus den schattigen Pfad hinter sich ließ und hinaus auf die Winkelgasse trat. Als seine Augen sich an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, fand er sich im üblichen Trubel des Nachmittags wieder. Hexen mit Einkaufskörben flanierten auf dem Pflaster, Zauberer mit Ziehtaschen studierten die Auslagen der Schaufenster und irgendwo hastete ein Crup an einer langen Leine einer Gestalt in weitem Umhang hinterher. Als sich das Gedränge für einen Augenblick lichtete, fiel Severus‘ Blick auf die Litfaßsäule auf der gegenüberliegenden Seite. Und von dort, über den Köpfen der Menschen, starrte er auf ihn herab. Mit irrem Blick und wirrem Haar, sich in den Ketten windend, die ihn eigentlich bindend sollten, geifernd nach Verbrechen: Sirius Black, der Mörder, der er schon in ihrer Schulzeit gewesen war. Severus biss die Zähne zusammen, als er das Fahndungsplakat musterte. Dann atmete er in einem Stoß aus. ‚Zum Teufel‘, keuchte er, wandte sich ab und setze seinen Weg fort. Mit jedem energischen Schritt trat er die Worte Remus Lupin mehr und mehr in den Staub, bis sie röchelnd und kläglich zu seinen Füßen ersticken würden. Was bei Merlins Bart hatte sich Albus eigentlich dabei gedacht, gerade ihn als Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen Künste einzustellen?! Oh ja, Severus wusste den Grund sehr wohl. „Unter der gegebenen Gefahr sollten die Schüler von Hogwarts von einem fähigeren Lehrer unterrichtet werden als in den letzten Jahren“, säuselte die Stimme des Schulleiters noch immer in seinen Ohren. Dass gerade Remus Lupin einer der besten Freunde des entflohenen Mörders gewesen war, hatte der feine Herr natürlich nicht bedacht. Oder besser gesagt: nicht bedenken wollen. Sonst hätte er Severus‘ Warnung, die er überhaupt erst nach einem Moment des Schocks über die Lippen gebracht hatte, nicht einfach in den Wind geschlagen. Genauso wenig wie die Sorgen um das kleine Zipperlein, das den ach so geeigneten Kandidaten für die freigewordene Lehrerstelle in Vollmondnächten plagte. „Deswegen wollte ich dich sprechen, Severus, setz dich doch. Ich habe noch einmal deine Personalakte durchgesehen und denke, es gibt eine Lösung“ Jawohl, eine Lösung. Eine Lösung, die er ausbaden durfte! Er, der den dreckigen Werwolf am liebsten eigenhändig zu seinem Komplizen in die Zelle von Askaban geworfen hätte, wo sie seiner Meinung nach beide hingehören und seit einigen Wochen beide nicht mehr waren. Dass Dumbledore Lupin stattdessen nach Hogwarts holte, schmerzte Severus als wäre ihm ein Stachel ins Herz getrieben worden. Nicht nur, weil der Schulleiter ihm dadurch selbst Steine in den Weg legte, was Potters Schutz betraf. Es war die Vergangenheit, die noch immer brannte wie eine frische Wunde. Albus Dumbledore war der Mensch, der ihm von allen Lebenden am meisten bedeutete; der einzige, der um sein Geheimnis wusste. Er war sein Verbündetet, sein Mentor, sein Vertrauter. Und nun schien gerade er alles vergessen zu haben, was Black und Lupin und der Rest dieses aus giftiger Saat gewachsenen Kleeblatts ihm in seiner Schulzeit angetan hatten. Die einzige grimmige Genugtuung, die Severus blieb, war das Wissen darum, dass die vier sich gegenseitig ans Messer geliefert und den Garaus gemacht hatten. Und mit diesem Gedanken betrat er die Apotheke. Zwischen den Fässern, aus denen Drachenleber quoll, den Säcken voll getrockneter Käferaugen und den eingelegten Schlangen und Würmern in den Regalen, blickten ihn hinter der Theke heute nicht die alten, grauen Augen des Ladenbesitzers an, sondern zwei große, braune in einem jugendlichen Gesicht. Gullinera Jorkins, die Gehilfin, hatte vor vier Jahren ihren Abschluss an Hogwarts gemacht und es trotz ihrer leidlich durchschnittlichen Begabung für Zaubertränke irgendwie geschafft, hier als Lehrmädchen eingestellt zu werden. „Oh, Mister Snape, wieder etwas für Ihre Studien?“, begrüßte sie ihn freundlich und Severus runzelte kurz die Stirn. Sie musste eine ebenso große Dilettantin sein wie ihre Tante, eine alte Schulkameradin, wenn ihr Chef ihr noch nicht einmal die eingehenden Briefe anvertraute. Er hatte seine Eule schon vor drei Tagen losgeschickt. „Nein, ich bin im Auftrag Hogwarts‘ hier. Die Schule benötigt einige Zutaten. Ich hatte unter anderem eine Bestellung für Jobberknollfedern aufgegeben“, erklärte Severus gerade als auch schon ein Schatten im Durchgang zu den Lagerräumen erschien und Mr Mullpepper zu ihnen stießen. „Jobberknollfedern? Ja, heute früh kam ne Lieferung rein. Kommen Sie!“ Mr Mullpepper trat zur Seite, um Severus Platz zu machen und führte ihn in ein Nebenzimmer, wo unter vielen anderen auch ein voller Sack bläulicher Federn stand. In gewissenhafter Gewohnheit nahm Severus eine der Federn in die Hand und ließ sie durch seine Finger gleiten. Die Fasern waren flexibel, kehrten schnell in ihre ursprüngliche Form zurück, was ebenso wie die feine Maserung für den gepflegten Zustand der Tiere sprach. Doch eine Sache stimmte nicht. Severus spürte es an seinen Fingerkuppen. Der Weichheitsgrad der Federn war einen Ticken zu gering. Verärgert wischte er die Feder von seiner Hand und blickte Mr Mullpepper zornfunkelnd an. „Sechs Monate! Ich brauche Federn von maximal sechs Monate alten Jungvögeln. Das hier sind Federn von ausgewachsenen Weibchen, die schon einmal gebrütet haben!“ Der Apotheker starrte ihn verdutzt an. Seine Lippen zuckten kurz, doch er schwieg. Im Türrahmen erschien Gullinera Jorkins und machte ein dummes Gesicht, während ihre Blicke neugierig zu Severus wanderten. „Morgen früh“, sagte er knapp ehe Mr Mullpepper seine Sprache wiederfand, „Keinen Tag länger. Sie wissen, ich bin Ihr bester Kunde. Doch glauben Sie nicht, dass es nicht noch andere Quellen gäbe. Ich brauche noch weitere Zutaten. Hoffentlich haben Sie wenigstens diese vorrätig.“ Er zog das Buch aus seiner Tasche und schlug die Seite auf - er erstellte zum Einkaufen nie Abschriften oder magische Kopien eines neuen Zaubertranks, denn diese konnten fehlerhaft sein – und las dem Apotheker vor, was er benötigte. Eine Viertelstunde später stand Severus wieder in der Sommerglut auf der Gasse. Wunderbar! Wahrlich wunderbar, wie das alles anfing! Sollte es so weitergehen, würde das ein heiteres Jahr werden. Bei jedem anderen Zaubertrank war das Alter der Jobberknolls recht egal, es kam nur auf die Qualität des Materials an. Doch dieses Gebräu hatte so einige Tücken. Zum Glück brauchte Severus die Federn noch nicht heute. Mürrisch stapfte er weiter zu Potages Kesselladen und nahm das Rührlöffelregal in Augenschein. Es war schon lange her, dass er einen dreifach drachenfeuergehärteten Grünsilberlöffel mit Mondsteinkern verwendet hatte. Sein alter war einer Reihe Schädlinge zum Opfer gefallen. Weil er das Regal wohl etwas zu lange skeptisch mustere, kam der Verkäufer auf ihn zu und wies ihn auf die selbstumrührenden Kessel hin, die gerade im Angebot waren. Selbstumrührende Kessel, Billigprodukte für die unfähige Masse - das ideale Mittel, jeden Trank tödlich zu verderben, wortwörtlich. Für einen Moment lächelte Severus böse in hinein. Vielleicht sollte er tatsächlich einen kaufen? Immerhin könnte der werte Schulleiter das Ableben seines neues Lieblingsangestellten dann nicht ihm in die Schuhe schieben. Er hatte nur seine Pflicht erfüllt. Was konnte er dafür, dass der Zaubertrank zu komplex für voreingestellte Drehmuster war? Sich noch in seinen Fantasien ergehend begab sich Severus zur Kasse und bezahlte schlussendlich doch nur den neuen Rührlöffel. Der Gedanke an Rache schmeckte zwar süßer als jedes klebrige Zitronendrop, doch Gedankenspiel war Gedankenspiel. Die Abendsonne versank bereits rotglühend hintern den Wipfeln des Verbotenen Waldes, als Severus nach dem Abendessen in der nahezu leeren Großen Halle die Treppe zu den Kerkern hinabstieg, den Zauberstab zog und sein Büro betrat. Gewöhnlich verbrachte er die Sommerferien in seinem Elternhaus in Cokeworth, doch in der heruntergekommenen Bude in Spinner’s End gab es kein Labor und kein Zutatenlager. Betrübt blieb Severus einen Moment vor den Regalen stehen, musterte das Arsenal und rief auf, was ihm noch fehlte. Seine Wut war verraucht, war von ihm abgefallen wie die Haut einer Schlange, sobald er die Schwelle zu seinen Heiligen Hallen übertreten hatte. Was blieb, war der klägliche Rauch der Verzweiflung. Seine Gefühle herunterschluckend nahm Severus die Tür zu seinen Privaträumen, passierte das schlafende Porträt des Goldlockenschönlings, das irgendeine Vorgängerin mit einem Dauerklebefluch im Flur befestigt hatte und betrat den Nebenraum zu seinem Schlafzimmer. Blank geputzte und glänzend polierte Kessel reihten sich in den Regalen. Die Feuerstelle, die während Schuljahres meist vor Ruß stak, war von den Hauselfen sauber gescheuert worden. Alles wirkte ordentlich, aufgeräumt, unbenutzt. Und Severus fühlte sich mit einem Mal fremd in seiner eigenen Domäne. Schnell lud er die Zutaten auf den Arbeitstisch und begann sich ans Werk zu machen, rieb die Knisterperlbeeren vorsichtig mit einem Schnappseidenraupentuch ab, bis ihre Schalen gläsern wurden und sie zu knistern begannen; bereitete den Wolfswurz vor und spannte eines der Netze der Nachtmoorspinne locker über eine runde Haltevorrichtung, setzte den Glaszylinder auf und ließ aus einer Flasche blauen Rauch einströmen. Wieder huschte ein leises Lächeln über seine Lippen. Eine weitere Tücke dieses Rezepts. Die meisten Tränkebrauer wussten nichts von der Wirkung, welche die Ausdünstungen der Blaumorchel auf Nachtmoorgespinste hatte. Und die, die es wussten, spannten sie viel zu fest. Die Netze mussten im Blaurauch schwingen, um sie anzuregen, ihre Energie freizusetzen, die zwischen den Spinnenfäden zirkulierte. Von deren Höhe würde später abhängen wie hoch der Grad des menschlichen Bewusstseins war, den jemand in Wolfsform beibehalten konnte. Die Energie eines zu fest gespannten Nachtmoornetzes versetzte einen in einem Dämmerzustand wie nach einem Verwechselungszauber oder bei großer Übermüdung und die eines unbehandelten reichte nicht einmal aus, um die Wandlung überhaupt zu durchbrechen. Und natürlich verlor Belby kein Wort über den Blaurauch. Er schrieb nicht für die Masse an Dilettanten in diesem Gewerbe... Für einen Augenblick hielt Severus in seiner Arbeit inne und beobachtete das Netz, das sich im blauen Rauch leicht hob und senkte. Ein Teil von ihm bereute es fast, dass er vor einem halben Jahr die Prüfung vor der Zaubertränkekammer abgelegt und bei einer Durchfallquote von 90% bestanden hatte. Hätte er kein Zertifikat erworben, das ihm erlaubte, den Wolfsbanntrank zu brauen und zu verkaufen, vielleicht hätte Dumbledore diesen verlausten Werwolf nicht nach Hogwarts geholt. Ein Lehrer, der stets von irgendwem gesucht wurde, war von Madam Pomfrey schwerer heimlich zur Peitschenden Weise zu bringen als irgendein Schüler. Wie es wohl sein würde, ihm wieder gegenüber zu stehen? In diese Visage zu blicken, die so oft irgendwo am Rande auftauchte, wenn Potter und Black ihn traktierten? Vorsichtig träufelte Severus den Saft der Knisterperlen in den Wolfswurzaufguss, der zu brodeln begonnen hatte. Und wie die Bläschen vom Kesselboden stiegen auch die Erinnerungen wieder auf. Erinnerungen an sieben harte Schuljahre. An Zauber, die ihm mitten auf dem Flur in den Rücken trafen und das schallende Gelächter mehrerer Jungen. An das Warten in schattigen Winkeln und das Gefühl von Triumpf, wenn die gleichen Jungen nichtsahnend aus dem Klassenzimmer kamen und er ihnen alles heimzahlen konnte. Und plötzlich, in all dem Tumult, rote Haare und ein warmes Lächeln. Lily! Ruckartig amtete Severus ein, riss den Blick vom Kessel los. Sein Herz schlug für eine Sekunde heftiger, dann war alles wieder ruhig. Es war nur ein Moment, schon vorüber. Er stand in seinem Labor und die Erinnerungen waren nicht mehr als fahle Abbilder einer längst vergangenen Zeit. Er durfte nicht an sie denken. Es würde ihm wie jedes Mal den Schlaf rauben und er brauchte morgen einen wachen Geist, um seiner Pflicht nachzukommen. Und doch fühlte Severus auf einmal eine unendliche Leere in sich. Kein Mensch außer ihm war hier und bis auf das Brodeln des Kessels herrschte Totenstille im Labor. Die Einsamkeit lastete schwer, drückte einen nieder wie der Smog in Cokeworth, nahe der Fabrik. Wie oft hatten sie zusammen Zaubertränke gebraut? Unzählbar! Severus seufzte und setzte trotz des Steins, der ihm auf die Brust drückte, seine Arbeit fort. Eine Stunde später, vielleicht waren es auch zwei, nahm er das Gespinst aus der Vorrichtung und legte es vorsichtig auf den inzwischen abkühlenden Trank. Mit dem Zahn einer Baumschlange stach er in jeden Knotenpunkt der zwölf Speichen des Netzes, beobachtete wie sich an den Einstichpunkten Wirbel bildeten und das Netz blaue Funken sprühend in den Wogen versank. Als die Oberfläche sich geglättet hatte, stellte Severus den Kessel beiseite. Der Vortrank war fertig und musste bis zum Morgengrauen ziehen. Der aufgestauten Hitze und drückenden Einsamkeit in seinen Räumen entfliehend machte sich Severus noch einmal auf den Weg über die Treppen und durchs große Portal hinaus ins Freie. Die Nachtluft war mild und er atmete tief ein, um seinen Geist zu klären. Zum Glück musste der Wolfsbanntrank in einer Neumondnacht angesetzt werden. Als vor zwei Wochen der Mond in vollem Licht am Himmel stand, hatte er kein Auge zubekommen. Geisterhaft waren die Bilder durch sein Bewusstsein geschwirrt. Das Haus in Godric’s Hollow, der Vollmond, die Kürbisgeister, der Angstschweiß und das Herzrasen, als er an Potters Leiche vorbei nach oben stürmte. Und der Anblick, der sich so tief in sein Gedächtnis eingebrannt hatte, dass es seinen Verstand verglühte. Die roten Haare, die sich über den Boden breiteten und alles, alles in ihm zum Einsturz brachten. Noch einmal atmete Severus tief durch. Dann kehrte er um, tauschte im Schlafzimmer die Robe gegen das Nachthemd und warf sich auf das Kissen, unter dem in einem Briefkuvert eine rote Locke lag. Stockwerke über ihm, über die Zinnen des Astronomieturms, spannte sich ein mondloser Himmel bis ins ferne Abessinien… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)