One-Shots 2020 von Zaje (Projektsammlung) ================================================================================ Kapitel 11: O Christmas Tree ---------------------------- Es war Heiligabend geworden. Woher ich das wusste? Nun, die Reihen neben mir waren schon fast leer und die wenig Übriggebliebenen würden heute noch von den Menschen mitgenommen werden, die hektisch über den Platz liefen. Es stimmte mich nicht traurig. Es war nicht mein erstes Jahr auf dem Platz. Und es würde auch nicht mein letztes sein. Neben mir wuchs eine wunderschöne Nordmanntanne. Groß und gerade und dicht und gut riechend. Ich war doch etwas verwundert, dass sie immer noch neben mir stand und sie noch niemand mitgenommen hatte. Lange würde es wahrscheinlich nicht mehr dauern. Es machte mir nichts aus auf dem Platz zu stehen. Tagsüber schien die Sonne und hielt mich warm und einer der Menschen versorgte mich regelmäßig mit Wasser, wenn es mal länger nicht regnete. Also alles in allem ging es mir ganz gut hier. Nur an solchen Tagen wie heute wünschte ich mir … etwas mehr. Eine Familie steuerte direkt auf die Nordmanntanne neben mir zu. Verständlich. Ich war kein schöner Anblick. In einem Wohnzimmer würde ich mich genauso schlecht machen wie in einer Küche oder einem Schlafzimmer. In einen Keller würde ich vielleicht ganz gut passen, aber da blieb ich lieber auf dem Platz stehen. »Mama, wieso können wir nicht den neben?«, fragte eine piepsige Mädchenstimme. Eine kleine Hand strich über einen meiner Äste. »Ach, Schatz, der ist doch ganz krumm und schief. Außerdem ist er oben schon ganz kahl.« Die Mutter ging an mir vorbei, dabei verfing sich einer meiner dünnen Äste in der Kapuze ihrer Jacke und brach ab. Autsch. »Wir können keinen Baum aufstellen, der keine Äste und lauter Löcher hat. Wo sollen wir denn da die Kugeln aufhängen?« Sie lachte über ihren eigenen Witz. »Aber wir könnten doch ganz viel Lametta draufhängen, oder nicht? Und mit Lichtern würde er bestimmt schöner aussehen«, mischte sich nun auch das zweite Kind ein. »Tommi hat recht! Aber keine echten Kerzen, in der Schule haben wir nämlich gelernt, dass…« Weiter kam das Mädchen nicht, denn die Mutter schnitt ihm das Wort ab. »Davon will ich jetzt wirklich nichts mehr hören. Wir haben heute noch viel zu tun. Diese Nordmanntanne hier ist schön, die kaufen wir«, sagte sie bestimmt. Ich spürte, wie sich ihre Schritte entfernten. Erneut legte sich eine kleine Hand auf meinen Stamm. »Na gut«, antwortete die Tochter traurig. »Tut mir leid, Bäumchen, mir gefällst du«, flüsterte sie mir zu. »Mir auch«, stimmte ihr Bruder zu. »Na kommt, Kinder, gehen wir.« Der Vater der Kinder zog die Kinder von mir weg und ich konnte hören, wie das Mädchen zu weinen begann. »Papa, wir wollen den Baum haben«, versuchte der Junge seinen Vater zu überreden. Ihre Stimmen wurden immer leiser und ich konnte nicht mehr verstehen was sie sagten, aber ich war gerührt, dass sich diese kleinen Wesen so für mich einsetzten. Einen kurzen Moment hatte ich sogar Hoffnung, doch ich musste mich selbst daran erinnern, dass auf einen kurzen Moment Hoffnung meist ein langer Moment Enttäuschung folgte. Langsam wurde es dunkel und die Nordmanntanne neben mir stand immer noch an ihrem Platz. Die Familie hatte sich entfernt und schien heftig miteinander zu diskutieren. Das Mädchen weinte, der Junge rief irgendwelche unzusammenhängenden Dinge und die Mutter verlor langsam, aber sicher die Nerven. »Wenn ihr euch jetzt nicht sofort zusammenreißt, dann gibt es in diesem Jahr weder einen Baum noch Weihnachten, verstanden?«, rief die Mutter und das Weinen des Mädchens hörte sofort auf. »Melanie, das kannst du nicht machen«, redete der Vater auf sie ein. Eine erneute Diskussion entbrannte zwischen den beiden Erwachsenen, bis der Junge sie unterbrach und rief: »Hört endlich auf zu streiten, es ist Weihnachten!« Er kam wieder näher und nun war es seine Hand, die meinen Stamm berührte. »Und genau aus diesem Grund sollten wir diesen Baum hier mitnehmen. Er soll nicht als einziger hier bleiben. Ich bin mir sicher er ist sehr traurig, wenn er an Weihnachten allein sein muss.« »Tommi hat recht! Wir können ihn schön machen und er wird es gut bei uns haben!«, quietschte das Mädchen aufgeregt. Es brauchte nicht mehr viel an Überzeugungsarbeit; die Kinder hatten die richtigen Worte gefunden und nun steckte der Vater gerade einen Stern auf meine schiefe Baumspitze. Ich fühlte mich so schön wie noch nie. Kugeln und Lametta schmückten meine Äste, Lichter brachten mich zum Strahlen und Geschenke lagen dort, wo wenige Stunden zuvor noch matschiger Schnee gelegen hatte. Niemals hätte ich gedacht, dass ich das noch erleben durfte; lange musste ich auf diesen Moment warten, doch die glitzernden Kinderaugen, die mich anhimmelten, als wäre ich der schönste Baum auf der Welt, waren all die langen Jahre des Wartens wert. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)