Weihnachten mal anders von yamimaru (Ein Drama in zwei Akten) ================================================================================ Kapitel 2: Akt 2 - Warum Weihnachtsfeiern verboten werden sollten ----------------------------------------------------------------- „Kyo?“ „Mh?“ „Wie kommt es eigentlich, dass du nicht wie all die anderen, die ohne Kostüm hier erschienen sind, mit diesem lächerlichen Rentiergeweih herumlaufen musst?“ „Weil ich, ich bin.“ „Und warum wirklich?“ „Na, weil ich sehr wohl ein Kostüm trage.“ Dies Augenbraue wanderte skeptisch ein Stück gen Haaransatz und er musterte sein Gegenüber genau. Wo war Kyo bitte verkleidet? Der trug doch haargenau das, was er sonst auch immer tragen würde. Schwarze Jeans, weißes Shirt und ein offenes rot-blau-kariertes Hemd darüber. Ob die knallroten Gucci Loafers als Verkleidung durchgingen? Oder vielleicht die schwarzen Designer-Hosenträger? „Ah ja“, machte er wenig überzeugt, „und was genau sollst du darstellen? Ein weihnachtliches Fashion-Victim?“ „Ich bin der Geist der vergangenen Weihnacht.“ „Bitte?“ „Charles Dickens? Eine Weihnachtsgeschichte?“, eröffnete Kyo, aber in Dies Gesicht zeichnete sich nur immer größere Verwirrung ab, je mehr gänzlich unbekannte Begriffe ihm der kleine Sänger vor den Latz knallte. „Mensch, du solltest wirklich mal mehr lesen; und damit meine ich keine Mangas.“ „Kennst du Charles Dickens?“ Die wandte sich an seinen Sitznachbarn, der gerade mit Shinya in einer heftigen Diskussion darüber verstrickt war, ob Weihnachtskostüme für Hunde ein Ausdruck der Tierliebe oder doch eher bloße Tierquälerei waren. Dementsprechend ratlos wurde er nun auch angesehen, als er Toshiya energisch auf die Schulter tippte und seine Frage wiederholte. „Dickens?“ Der Bassist zuckte mit den Schultern, nickte aber schließlich. „Klar kenn ich den. Den kennt doch jeder. Also, wo war ich …“ „Den kennt doch jeder“, äffte er seinen Bandkollegen halblaut nach und verzog die Lippen zu einer Schnute. „Siehst du, sag ich doch.“ Kyo grinste ihn frech an, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und überkreuzte die Beine. „Schön, dann hab ich halt eine Bildungslücke, na und? Erklär mir jetzt lieber mal, woran man erkennen soll, dass du irgend so ein Geist bist.“ „Oh Mann.“ Kyo rollte mit den Augen, ließ sich dann aber doch noch zu einer Antwort hinreißen. „Ich bin der Geist der ‚vergangenen‘ …“, und dieses Wort betonte er extra deutlich, „Weihnacht. Heißt also, ich brauch mich nicht zu verkleiden.“ „Ernsthaft jetzt?“ Nun war Die es, der die Augen gen Himmel verdrehte. „Und das hat dir Yoshiki wirklich abgekauft?“ „Ganz offensichtlich, ja.“ Kyos Grinsen wurde nur noch breiter und es hätte bloß noch gefehlt, dass er die Arme hinter dem Kopf verschränkte, um das Bild der grenzenlosen Selbstzufriedenheit vollständig zu machen. „Aber jetzt erzähl du mir lieber, wie du unseren Leader dazu gebracht hast, nicht nur hierherzukommen, sondern auch noch dieses Ungetüm von einem Kostüm anzuziehen.“ „Mh, so schwer war das gar nicht. Ich musste ihn eigentlich nur an seiner Ehre packen und ihn ein paarmal daran erinnern, dass Wettschulden schließlich Ehrenschulden sind. Alles andere war dann nur noch eine Frage von überzeugenden … Argumenten.“ Die schmunzelte und sein Kollege ließ dieses leise, aber echt fiese Lachen hören, dass ihm jedes Mal einen kalten Schauer über den Rücken jagte. „Ich versteh schon. Und? Ist unser Kaoru nun ein Wolf im Schafspelz oder ein Bengel im Engelskostüm?“, feixte sein Gegenüber und Dies Ohren wären vermutlich ein wenig rot geworden, wären sie nicht so halb von den spitzen Aufsätzen seiner eigenen Verkleidung verdeckt gewesen. „Der Genießer schweigt.“ „Gute Antwort.“ „Ihr zwei erinnert mich gerade an die beiden Alten aus der Muppet-Show“, schaltete sich da unerwartet Shinya in ihre Unterhaltung ein. „Warum das denn?“, fragte Die. „Ach, die Muppet-Show kennst du also.“ „Halt die Klappe, Kyo.“ „Genau deswegen.“ Shinya lächelte, was hinter dem dichten, weißen Rauschebart in seinem Gesicht kaum zu erkennen war. „Wenigstens sind wir hübscher und weniger faltig, was Kyo?“ „Und haben keine Hand im Arsch.“ Kyo grinste. Shinya zog eine Augenbraue nach oben. Kyos Grinsen weitete sich vielsagend. Und Die für seinen Teil hätte sich am liebsten seine Hirnwindungen mit Bleiche gewaschen. „Das … war jetzt eindeutig zu viel Information für meinen Geschmack.“ Er erhob sich. „Ich geh mal Kaoru suchen, immerhin wollte der nur kurz aufs Klo und ist gefühlt schon eine halbe Stunde verschollen.“ „Nimm mich mit“, meldete sich Toshiya zu Wort und stand ebenfalls auf. Und so machten sich Die, der Weihnachtself, und Toshiya, der sexy Krampus, fluchtartig daran, ihre restlichen Bandkollegen hinter sich zu lassen, während Kyo, der Geist der vergangenen Weihnacht, auffällig unauffällig an Shinya, den Weihnachtsmann, herangerückt war und irgendetwas davon redete, dass er dieses Jahr ein ganz unartiger Junge gewesen sei. ~*~ Eines musste man Yoshiki wirklich lassen – der Mann wusste, wie man eine Party feierte. Dass er eine Villa besaß und es sich leisten konnte, für diesen Abend eine ganze Schar von Helfern zu bezahlen, machte die ganze Angelegenheit natürlich auch um einiges leichter. Besagte Villa erkundete ich gerade und entfernte mich so auch immer weiter von all dem Lärm, der Musik und dem Trubel, die nun mal unvermeidlich waren, wenn sich gefühlt hunderte Menschen an ein und demselben Ort versammelten. Etwas plagte mich mein schlechtes Gewissen, immerhin hatte ich Die und dem Rest meiner Band vorhin noch gesagt, dass ich nur kurz auf die Toilette verschwinden würde, trieb mich jetzt allerdings schon seit gut einer halben Stunde hier herum. Hätte man gehässig sein wollen, hätte man mein Verhalten wohl als Flucht betiteln müssen, aber wer wollte es am Weihnachtsabend schon so genau nehmen? Ich blieb kurz stehen, schaute über meine Schulter nach hinten und debattierte mit mir selbst, ob ich jetzt nicht doch lieber zurückgehen sollte. So entspannend, wie meine kleine Entdeckungstour hätte sein können, war sie nämlich Dank meines Aufzugs ohnehin nicht. Die dummen Stoffbahnen um meine Hüfte raschelten bei jedem Schritt, die Flügel zogen an meinem Rücken, sodass ich das Gefühl hatte, gerader als sonst zu gehen, und der lächerliche Heiligenschein wackelte auf meinem Kopf hin und her. Aber nachdem das Kostüm leider doch nicht Dies und meinem nachmittäglichen Enthusiasmus zum Opfer gefallen war – die Flügel hatten sich wieder in die richtige Position biegen lassen und die paar Federn, die das Kleid hatte lassen müssen, vielen bei dem Übermaß an Tüll und anderem Stoff gar nicht auf – war mir letzten Endes nichts anderes übrig geblieben, als meine Wettschuld mit Fassung zu tragen. Und zugegeben, als ich gesehen hatte, was sich der werte Herr Gastgeber für unkostümierte Gäste hatte einfallen lassen, war ich dann doch ganz froh um dieses weiße Ungetüm. „Holla“, murmelte ich freudig überrascht, nachdem ich in einen weiteren der zahllosen Flure des Anwesens eingebogen war, wahllos eine der vielen Türen geöffnet hatte und meine Nase nun in ein Zimmer steckte, das nicht nur verdammt gemütlich aussah, sondern in dem auch ein Feuer im Kamin brannte. „Hier sieht es aus, wie am Set eines kitschigen Epochenfilms.“ Ich schmunzelte und wollte die Tür schon wieder schließen, immerhin war ich nun wirklich lange genug weggeblieben und wollte meinem Freund keine Sorgen bereiten, da nahm ich im Augenwinkel ein Glitzern wahr, das mich innehalten ließ. „Warum wundert es mich nicht, dass selbst Yoshikis Weihnachtsbaum überdimensional groß ist?“ Ich schnaubte, konnte aber nicht anders, als den wirklich sehr hübsch geschmückten Baum bewundernd zu betrachten. So gefesselt war ich von diesem Anblick, dass ich bewusst gar nicht mitbekam, wie ich weiter in den Raum hineinging, bis ich genau vor der Tanne stehenblieb. Der Duft des noch frischen Grüns stieg mir hier deutlich in die Nase und nicht zum ersten Mal an diesem Tag wünschte ich mir mein gemütliches Weihnachten in meinen vier Wänden zurück. Ich seufzte, wandte mich zum Gehen, kam jedoch nicht weiter als bis zur Feuerstelle, vor der ich mich in den wirklich verdammt einladenden Sessel fallen ließ. Ich seufzte und schloss für einen Moment die Augen. Meine Kopfschmerzen waren dank einer Schmerztablette zwar einigermaßen erträglich, aber das dumpfe Dröhnen hinter meiner Stirn zehrte dennoch an meinen Nerven. Genau wie der Gedanke, mich nun wieder den vielen Menschen, der lauten Musik und albernen Partyspielen aussetzen zu müssen. Ich rieb mir über die Nasenwurzel und zog eines meiner vielen Notizbücher aus meiner Umhängetasche. Vor unserer Fahrt hierher hatte ich es noch geistesgegenwärtig eingesteckt und schlug es nun auf einer freien Seite auf. Mir ging nun schon seit einer ganzen Weile eine Melodie im Kopf herum und wenn ich nun etwas Gehirnjogging betreiben würde, würde ich die Zeit wenigstens ein bisschen sinnvoll nutzen können, ohne in dem ganzen Rummel der Party nur wieder schlechte Laune zu bekommen. Und so schnell würde mich Die schon nicht vermissen … dachte ich zumindest.   ~*~ „Hier steckst du.“ Ruckartig hob ich den Kopf und hatte das Notizbuch schon aus reinem Reflex zugeschlagen, bevor ich überhaupt die Stimme erkannt hatte, die mich so hatte zusammenfahren lassen. „Die“, atmete ich aus und legte mir die Hand auf mein hämmerndes Herz. „Du liebst es, mich zu erschrecken, was?“ „Und du verstehst es meisterhaft, dich aus dem Staub zu machen. Was tust du denn hier? Ich dachte, du wolltest nur kurz auf die Toilette?“ Oje, Die schien von meinem Wegbleiben nicht gerade begeistert zu sein. „Ich hab die Zeit vergessen“, gab ich zu und versuchte, meine Aufzeichnungen unauffällig wieder in meine Tasche zu stecken, während mein Freund langsam auf mich zugeschritten kam. Mitten in der Bewegung hielt ich jedoch inne und konnte meine Augen kaum von dem Bild nehmen, welches Die zeichnete, als er von dem warmen Schein des Feuers eingefangen wurde. Verdammt, das war nicht fair. Wie konnte er in so einer derart lächerlichen Verkleidung nur so verdammt gut aussehen? Seine Latzhosen waren grün, zum Kuckuck, dafür aber so knapp geschnitten, dass es in meinen Fingern zuckte, jedes Mal, wenn mein Blick auf seine nackten Oberschenkel fiel. Das rot-weiß gestreifte Oberteil hätte einfach nur unspektakulär aussehen müssen, aber selbst das hatte irgendetwas an sich, was mich kirre im Kopf machte und diese spitzen Aufsätze auf seinen Ohren, die so frech zwischen der Flut rotblonder Haare hindurchspitzten, zogen mich wie magisch an. „Du hast doch schon wieder gearbeitet, oder? „Mh?“, brummte ich und blinzelte dann erst einmal, als wäre ich gerade aus tiefem Schlaf erwacht. Wann war Die mir eigentlich so nah gekommen? Mein Freund hatte beide Hände auf den Armlehnen des Sessels abgestützt, sich zu mir herabgebeugt und schaute mir nun direkt in die Augen. Hach ja, ich mochte es wirklich, wenn er seine Augen mit schwarzem Kajal betonte. Ganz ehrlich. Wieder blinzelte ich und fragte mich im Stillen, ob Yoshiki irgendeine bewusstseinsverändernde Chemikalie in das Ventilationssystem seiner Klimaanlage geleitet hatte, die mich plötzlich daran hinderte, logische Gedanken aneinanderzureihen. „Also?“ Noch bevor ich jedoch hätte leugnen können, dass ich sehr wohl meine Zeit hier unter anderem damit verbracht hatte, diese Melodie zu Papier zu bringen, die mir heute keine Ruhe lassen wollte, hatte Die schon geschickt nach dem Buch auf meinem Schoß gegriffen und es aufgeschlagen. „Mensch Kaoru, was soll das denn, mh? Kannst du nicht wenigstens heute mal nicht an die Arbeit denken?“ Die Enttäuschung in Dies Stimme versetzte mir einen Stich mitten ins Herz und ich erhob mich. „Das hatte doch gar nichts mit Arbeit zu tun“, versuchte ich ihn zu beschwichtigen und griff nach meinen Notizen, die er allerdings im selben Moment außer Reichweite zog. „Ich hatte doch nur schon den ganzen Abend über diese Melodie im Kopf … du weißt doch selbst wie das ist. Wenn man die nicht gleich aufschreibt, vergisst man wieder die Hälfte und ärgert sich im Nachhinein.“ Aber Die schien mir gar nicht weiter zugehört zu haben und während ich innerlich noch betete, er würde die Seite nicht umblättern, tat er genau das. „Warum Weihnachtsfeiern verboten werden sollten“, las er vor und seine Augenbraue wanderte ein gutes Stück nach oben. „Etwas sperrig als Songtitel, findest du nicht?“ „Ich …“ Die ging auf die Tür, die wieder auf den Flur führte, zu, während er noch immer das las, was ich geschrieben hatte, nachdem mich die Rohfassung eines neuen Songs endlich wieder in Ruhe gelassen hatte. „Erstens. Gute Laune scheint vorausgesetzt zu werden und schränkt damit die Individualität jedes Gastes empfindlich ein.“ Der Blick, den er mir über den Rand des Buches zuwarf, schien so viel zu sagen wie ‚ernsthaft jetzt?‘ „Das …“ Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte und merkte nur zu meiner grenzenlosen Schande, dass sich meine Wangen plötzlich ziemlich heiß anfühlten. „Zweitens …“ „Die, lass das. Hast du schon mal was vom Briefgeheimnis gehört?“   „Hast du, mein lieber Kaoru, schon mal etwas davon gehört, dass man seinen Freund nicht einfach auf einer Party sitzen lässt?“ „Touché“, murmelte ich kleinlaut, versuchte aber nach wie vor ihm das Buch aus der Hand zu nehmen. „Die, komm schon.“ „Zweitens“, las er unnachgiebig weiter laut vor, „Finden festliche Zusammenkünfte zu regelmäßig statt, verlieren sie ihre Bedeutung. Zwischen Weihnachten und dem Jahreswechsel, der traditionsgemäß ausführlich gefeiert wird, liegen, je nach Zeitpunkt der Veranstaltungen, sechs bis sieben Tage. Dies ist eine unverhältnismäßige Häufung und sollte schon aus wirtschaftlicher Sicht überdacht werden.“ „Mistelzweig!“, rief ich aus und als Die verwundert den Blick von meinen geschriebenen Worten hob, deutete ich auf einen Punkt direkt über seinem Kopf. „Mistelzweig“, wiederholte ich nun deutlich leiser, mit einem Schmunzeln auf den Lippen, die in der nächsten Sekunde auch schon die meines Freundes fanden. Den überrumpelten Laut, den Die daraufhin von sich gab, ignorierte ich geflissentlich, genauso wie sein gedämpftes Lachen. Stattdessen küsste ich ihn mit allem, was ich hatte und all den unpassenden Fantasien, die mir in den Sinn kamen, wenn ich an seine unsinnige Verkleidung und diese dummen spitzen Ohren dachte. Als ich spüren konnte, wie er einen Arm um meine Mitte legte und nun endlich auch unseren Kuss innig zu erwidern begann, legte ich meine Rechte in seinen Nacken und zog ihn noch stärker gegen mich. „Du bist unmöglich“, nuschelte Die eine ganze Weile später gegen meinen Mund und ganz von selbst schlich sich ein freches Lächeln auf meine Züge. „Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt.“ Ich summte angetan, als ich seine Zähne leicht über meine Unterlippe schaben fühlte und gleich darauf seine Zunge, die fast schon lockend darüber kitzelte. „Und um meine Aufzeichnungen vor dir in Sicherheit zu bringen, ist sowieso alles recht.“ Blitzschnell griff ich nach dem Buch und hatte meinen Freund wohl tatsächlich mit dieser Geste überrumpelt, denn ohne Widerstand konnte ich es ihm aus der Hand ziehen. Die rollte nur mit den Augen, aber statt zu versuchen, meinen Besitz wieder an sich zu bringen, fuhr er mir nur in einer liebevollen Geste durchs Haar und tupfte einen weiteren Kuss auf meine Lippen. „Ich sag doch, unmöglich.“ Sein Lächeln brachte all die sentimentalen, rührigen und verliebten Gefühle mit sich, die ich ab und an in der Hektik unseres Alltags fast zu vergessen schien. „Die?“ „Ja?“ Er erwiderte meinen Blick, das Lächeln noch immer auf seinem Gesicht. „Wieso schaust du nun schon wieder so ernst drein?“ „Du weißt, dass ich dich liebe, oder?“ „Natürlich weiß ich das.“ Er streichelte mir über die Wange und küsste meine Stirn. „Und ich liebe dich auch, aber, Kaoru?“ „Ja?“ „Wir gehen jetzt trotzdem zurück auf die Party und diesmal bleibst du auch dort. Und wenn ich mir Toshiyas Kette ausborgen und uns aneinander festbinden muss.“ „Einen Versuch war es wert.“ Jetzt grinste ich ihn offen an, ergriff seine Hand und zog ihn aus dem Raum, aber nicht bevor ich mein Notizbuch wieder sicher in meiner Tasche verstaut hatte. ~*~ „Ich kann es einfach nicht glauben, dass du das allen Ernstes getan hast“, murrte ich zum gefühlt zehnten Mal und sah mit anhaltender Fassungslosigkeit auf das herab, was sich nun neben Stoff, Tüll und Federn noch um meine Taille schlängelte. Denn obwohl ich mittlerweile ein bisschen, okay doch ziemlich, angeheitert war – der Eierpunsch der Cateringfirma, die Yoshiki für dieses Event angeheuert hatte, war einfach nur böse – konnte ich mich mit meiner gegenwärtigen Situation einfach nicht abfinden. Wie denn auch? Es war so absurd, absurder ging es schon gar nicht mehr.   „Glaub es einfach, Kaoru. Wir kennen uns jetzt doch schon lange genug, dass selbst du wissen solltest, dass ich halte, was ich verspreche.“ „Das war kein Versprechen, das war eine Drohung.“ „Und Drohungen setze ich noch viel lieber in die Tat um, wenn man mir schon so freimütig die Chance gibt.“ „Ich wollte doch nur eine rauchen.“ „Und dabei sind auch nur rein zufällig weitere drei Punkte zu deiner komischen Anti-Weihnachtsfeiern-Theorie dazugekommen.“ Ich presste die Lippen aufeinander und versuchte meinen Freund mürrisch zu fixieren. Ein ziemlich anstrengendes Unterfangen, denn meine Augen wollten sich ständig wahlweise auf seine Ohren oder die nackten Oberschenkel richten, die mir mit steigendem Alkoholspiegel immer attraktiver schienen. Die, der Verräter, schaute mich aus dem Augenwinkel heraus kurz an und grinste dann, als wüsste er haargenau, was gerade in meinem Kopf vor sich ging. Und bei meinem Glück war das auch der Fall. Ich hasste mein Leben. „Hör auf dreinzuschauen, als hätte ich dein Kaninchen getötet“, feixte er, griff nach seiner Flasche Corona und stieß auffordernd gegen eine weitere, die gerade eben von einem Kellner vor mir auf dem Tisch abgestellt worden war.   „Ich hatte nie ein Kaninchen“, brummte ich, hob die Bierflasche an meine Lippen und leerte sie erst einmal zur Hälfte. Nicht, dass das etwas an meiner miserablen Gesamtsituation geändert hätte, aber einen Versuch war es immerhin wert.   „Es geht ja auch ums Prinzip und nicht um ein Kaninchen.“ „Ja, genau das sage ich doch. Im Prinzip ist das nämlich Freiheitsberaubung, was du hier tust.“ „Prinzipiell hast du recht, hätte ich dich zum einen nicht mit Ankündigung deiner Freiheit beraubt und hättest du es zum anderen nicht absichtlich darauf angelegt.“ Ich öffnete den Mund, um meinen liebenswerten Freund darauf hinzuweisen, dass die Ankündigung einer Straftat nichts daran änderte, dass es noch immer eine Straftat blieb und dass ich es auch gewiss nicht darauf angelegt hatte, an ihn gekettet zu werden. Gut, vielleicht hatte ich ja tatsächlich versucht mich mithilfe einer Zigarette so ein klein wenig aus dem Staub zu machen, aber was sollte ich denn auch tun, wenn das Rauchen hier verboten war? Wir befanden uns zwar auf einer privaten Veranstaltung, aber Yoshiki war auf seine alten Tage wohl wirklich noch ein Gesundheitsfanatiker geworden. Zu Shinyas Freude, wenn ich das mal anmerken darf. Aber wo war ich? Ach ja, ich wollte meinem herzallerliebsten Sitznachbarn gerade so ein bisschen die Meinung geigen, da mischte sich eine Stimme von der Seite her in unser Gespräch ein. „Im Prinzip habt ihr beide einen an der Waffel, wenn ihr mich fragt.“ „Dich fragt aber niemand, Toshiya“, brummte ich und musste mir ein Grinsen verkneifen, als die daraufhin leise lachte und unser Bassist mit den Augen rollte. „Vielleicht solltet ihr das aber. Wäre besser als uns mit euren Streitereien zu nerven“, grummelte Toshiya. „Wir streiten nicht, wir diskutieren“, meinte Die daraufhin in seinem besten altklugen Tonfall und jetzt schlich sich aber wirklich ein Schmunzeln auf meine Züge. Dieses verbreiterte sich nur noch, als aus den Lautsprechern, die irgendwo an strategisch günstigen Stellen in der großen Halle der Villa angebracht waren, plötzlich Last Christmas von Wham! zu hören war. Die, mein über alles geliebter und geschätzter Die, hasste dieses Lied mit einer Passion, die schon fast an Fanatismus grenzte. Besagter Die – und das erwähne ich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich, sollte es irgendwer vergessen haben – hatte mich an sich gekettet. Mit einer großgliedrigen Metallkette. Von Toshiyas Kostüm. Mich. Ich drehte meinen Kopf ganz langsam zu meinem Freund herum – allen, die diesen Augenblick stimmungsvoller erleben möchten, rate ich nun an die psychedelische Streichermusik aus den Psycho-Filmen des geschätzten Alfred Hitchcock zu denken – blickte ihm genau in die Augen und verzog meinen Mund zu einem fiesen Grinsen. „Die“, sprach ich ihn ganz ruhig und so leise an, dass niemand außer er mich verstehen konnte. „Wir tanzen jetzt.“ ~*~ „Rache ist Blutwurst“, sang ich im Takt der Melodie und ergötzte mich an dem teils leidenden, teils missmutigen Ausdruck auf dem Gesicht meines Freundes, während wir uns langsam im Kreis drehten. „Ich hasse dich.“ „Ich weiß“, erwiderte ich ungerührt und ließ mir meinen Triumph mehr als nur ein bisschen anmerken. Es war aber auch zu schön gewesen, als Die, plötzlich von allen Seiten umringt, auf die Tanzfläche geschoben worden war. Mittlerweile passierte es zugegeben ja wirklich nicht mehr oft, dass sich unsere gesamte Band gegen ein Mitglied verschwor, aber gerade eben war so ein Moment gewesen und ich war meinen Jungs ehrlich dankbar für ihre Unterstützung. Die hatte sich natürlich geweigert mit mir das Tanzbein zu schwingen. Nicht, weil er nicht tanzen wollte oder es an meiner Person lag. Nein, es war dieses unsägliche Lied, welches, nach eigener Aussage, seine Ohren zum Bluten brachte, wenn er es hören musste. Aber all seine Weigerung hatte ihm nichts gebracht und Kyo hatte sogar noch geistesgegenwärtig den DJ gebeten, das Lied doch bitte nochmal von vorn zu spielen, als wir uns endlich positioniert hatten. Tja, und nun musste Die da eben einfach durch. „Ich hasse dich.“ „Du wiederholst dich, mein Schatz.“ Ich grinste zu ihm auf und schlang meine Arme nur noch fester um seinen Hals. „Und jetzt mach das mal anständig hier, sonst verbringst du die nächsten Abende im Probenraum und spielst den Song ein, der mir vorhin eingefallen ist.“ „Sklaventreiber.“ „Mit Leib und Seele und stolz darauf.“ Die grummelte noch irgendetwas Unverständliches in seinen nicht vorhandenen Bart, begann sich aber tatsächlich etwas mehr ins Zeug zu legen. Zwar konnte das, was wir hier taten, nun wirklich nicht als tanzen bezeichnet werden, dennoch war es doch irgendwie schön, von meinem Lieblingsgitarristen durch die Gegend geschoben zu werden. Ich grinste noch immer in mich hinein, lehnte meine Stirn gegen seine Schulter und schloss die Augen. Rache war ein Gericht, das man am besten kalt servierte und ich genoss meine Portion gerade in vollen Zügen. Besonders, als das Lied endete und sich mein Tanzpartner spürbar entspannte. Chris Rea sang nun davon, dass er Weihnachten nach Hause fuhr und schwebte ich anfänglich noch auf der Genugtuung meiner Rache, genoss ich es nun einfach nur noch, in Dies Nähe sein zu können. Wie immer, wenn wir endlich einmal die Gelegenheit hatten, ohne Zeitdruck, Termine im Nacken oder anderer Unannehmlichkeiten unseres Alltags Zeit miteinander zu verbringen, bemerkte ich, wie sehr ich das vermisst hatte. Leise seufzte ich und Die schien mich gehört zu haben, denn seine Arme zogen mich nur noch näher an ihn, obwohl dies kaum noch möglich war. In diesem Moment fühlte ich mich rundum wohl und hatte die Party und meine kleine Racheaktion beinahe vergessen. „Na, ist das jetzt wirklich so schlimm?“ Okay, vielleicht hatte ich meine Revanche doch noch nicht so ganz beiseitegeschoben, aber Die tat mir leider nicht den Gefallen, auf meine Stichelei zu reagieren. Gemeinheit. Ich verzog leise grummelnd die Lippen und sah zu meinem Freund auf, der meinen Blick wissend lächelnd erwiderte. „Ich kann dich leider nicht verstehen, Wham! haben mein Trommelfell gekillt.“ Für einen langen Moment sah ich ihn nur wortlos an, schüttelte dann den Kopf und begann leise zu lachen. „Du bist so ein Idiot.“ „Dein Idiot?“ „Immer.“ Ich reckte mich etwas nach oben, hob fordernd das Kinn an und natürlich ließ sich Die so eine Einladung nicht entgehen. Ich summte zufrieden, als ich seine warmen Lippen auf den meinen spürte und schloss die Augen. Unser Kuss war langsam, unendlich zärtlich und ich wusste nicht, ob es daran oder an dem Alkohol in meinem Blut lag, aber jetzt fühlte ich mich tatsächlich so, als würde ich auf Wolken schweben. Mein Kopf war herrlich leer, fühlte sich ein wenig wie in Watte gepackt an und selbst, als mein Freund eine gefühlte Ewigkeit später von mir abließ, ließ ich meine Lider geschlossen und vertraute darauf, dass Die mich festhielt. Es kam nicht oft vor, dass ich mir meine eiserne Kontrolle nehmen ließ, die ich mir über die Jahre hinweg so mühsam antrainiert hatte, nicht einmal von dem Menschen, den ich mehr als alles auf dieser Welt liebte. Und hätte ich behauptet, dass dieser Wesenszug noch nie der Auslöser für einen handfesten Streit gewesen war, hätte ich eiskalt gelogen. Aber Die wusste mittlerweile, dass ich meist einfach nicht aus meiner Haut konnte und meine Unabhängigkeit etwas war, das ich bis aufs Messer verteidigen würde. Aber jetzt gerade konnte ich loslassen, konnte mich einfach in die Sicherheit und Geborgenheit sinken lassen, die Die immer für mich bedeuten würde. Warum das gerade jetzt so war, wusste ich nicht und ein kleiner Teil in mir meckerte und motzte, dass das hier nun wirklich nicht der richtige Rahmen war, um mit meinem Freund auf Kuschelkurs zu gehen. Aber was störte mich das? Nichts. Und nicht zuletzt diese Erkenntnis war es, die mir ein rundum zufriedenes Lächeln ins Gesicht zauberte. „Kaoru? Wollen wir nach Hause gehen?“ Dies Frage riss mich aus meinen Gedanken und ich blinzelte tatsächlich ein wenig verwirrt zu ihm auf, als ich sogar feststellen musste, dass statt ‚Driving Home For Christmas‘ nun Mariah Careys ‚All I Want For Christmas Is You‘ aus den Lautsprechern tönte und ich gar nicht mitbekommen hatte, wann sich unsere Hintergrundmusik geändert hatte. ‚Mh, alles, was ich zu Weihnachten brauche, bist du‘, sinnierte ich gedanklich und lächelte meinen Lieblingsgitarristen an. Irgendwie sprach mir die gute Mariah gerade tatsächlich aus der Seele. Aber noch bevor ich mich wieder an Die lehnen und das leichte Schaukeln unserer Körper weiter genießen konnte, fiel mir wieder ein, dass er mich ja etwas gefragt hatte. Meine Stirn legte sich in Falten, als ich seine Worte innerlich nochmal wiederholte. „Du willst jetzt schon gehen?“, erkundigte ich mich schließlich und versuchte nicht einmal, meine Verwunderung zu verbergen. „Aber es ist noch nicht einmal zwölf durch.“ Die zuckte mit den Schultern, was mich wiederum fragend eine Augenbraue nach oben ziehen ließ. „Um ehrlich zu sein, bin ich ziemlich müde“, gab mein Gegenüber zu und küsste meine Stirn. „Außerdem habe ich Yoshiki vorhin etwas von …“ Dies Rechte verschwand von meinem Rücken, damit er unsichtbare Anführungszeichen in die Luft malen konnte. „Lustigen Weihnachtspielen nach Mitternacht reden hören und dachte mir, das könnten wir uns sparen.“ Er grinste mich an und ich musste den Impuls unterdrücken, ihm ein atemloses ‚mein Held‘ entgegenzuhauchen. „Weißt du was?“, fragte ich stattdessen und hörte auf, mich unbewusst im Takt der Musik zu bewegen. „Das, mein lieber Die, ist die beste Idee, die du den ganzen Abend über hattest.“ ~*~ An einem Tag wie heute und um diese Uhrzeit ein Taxi ohne längere Wartezeiten zu ergattern, war wohl tatsächlich zu viel verlangt. Ich seufzte, als ich mein Handy vom Ohr nahm und sah meinen Freund leidend an, um ihm zu bedeuten, dass auch mein dritter Versuch einen fahrbaren Untersatz für uns zu organisieren, fehlgeschlagen war. „Kein Glück?“, fragte er unnötigerweise, was ich also auch nur mit einem knappen Kopfschütteln bestätigte. „Nur, wenn du eine halbe Stunde warten willst.“ Die verzog den Mund und schlug den Kragen seines Parkas nach oben, als uns der kalte Nachtwind um die Nase wehte. „Nicht wirklich“, sinnierte er und blickte die Straße auf und ab, ganz so, als erhoffe er sich, ein Wagen würde doch noch um die nächste Ecke biegen und uns einsammeln. „Wir könnten zur nächsten Bahnstation gehen und unser Glück dort versuchen?“, schlug ich vor, auch wenn sich mein Elan doch eher in Grenzen hielt. „Wenn wir dort durch den Park gehen, sollte es nicht länger als zehn Minuten dauern, glaube ich zumindest.“ Ich rieb mir über die kribbelnde Nase und schaute in den Himmel, wo dicke Wolken den Mond verdeckten und erneuten Regen versprachen. Die folgte meinem Blick und verzog den Mund zu einer Schnute, die ich gerade echt unangemessen niedlich fand. Ich verkniff mir ein Grinsen und hakte mich bei ihm unter. „Na, komm. Ist doch besser, als hier unverrichteter Dinge herumzustehen und darauf zu warten, dass wir doch noch eingefangen und zu lustigen Spielen verdonnert werden.“ „Lust habe ich ja keine, aber du hast recht. Ergreifen wir lieber die Flucht, solange wir noch Gelegenheit dazu haben.“ „Sag ich doch.“ Lustlos setzten wir uns in Bewegung und sobald wir auf den von Bäumen gesäumten Kiesweg einbogen, der sich hoffentlich als Abkürzung herausstellen würde, umgab uns angenehme Stille. Mir war gar nicht aufgefallen, wie sehr meine Ohren gedröhnt hatten. Yoshiki beschallte nämlich nicht nur das Innere seiner Villa mit zu lauter Musik, sondern ließ auch seine Nachbarschaft daran teilhaben. Einer der Vorteile, wenn man berühmt und gut betucht war, da durfte man sich solche Extravaganzen erlauben. Zum Glück war der Weg gut beleuchtet und noch spielte auch das Wetter mit, nur der kalte Wind wehte mir noch immer die Haare aus dem Gesicht und ließ meine Ohren schmerzen. Aber bis auf diese Unannehmlichkeit war es doch eigentlich ganz nett, mit Die an meiner Seite einen kleinen Spaziergang zu machen … Ich blinzelte, wiederholte in Gedanken das, was mir gerade durch den Kopf gegangen war und schlug mir grummelnd die freie Hand vor die Stirn. „Was denn?“ Die schaute mich von der Seite her an und konnte sich wohl nicht entscheiden, ob er mich meines Ausbruchs wegen auslachen oder besorgt sein sollte. „Haben wir was liegenlassen oder welcher Geistesblitz hat dir gerade die Laune verdorben?“ „Mir ist nur gerade aufgefallen …“, murrte ich missmutig, „dass wir wirklich alt werden.“ „Was?“, prustete Die und blieb sogar stehen, um mich fragend zu mustern. „Du bist doch gar nicht betrunken genug, um plötzlich hochphilosophische Gedanken zu haben und nach dem Sinn des Lebens zu suchen.“ „Ach, halt die Klappe, Die.“ „Nein, nein. Das will ich jetzt genau wissen, also spuck’s aus.“ Ich seufzte, fuhr mir durchs Haar und stopfte meine Hände in die Manteltaschen. Wenn diese Aktion mich bockig wirken ließ, war mir das gerade tatsächlich egal und Dies Strahlemanngrinsen verleitete mich auch nicht im Geringsten dazu, ihn an meinen Gedankengängen teilhaben zu lassen. „Jetzt sag schon“, forderte mein Gegenüber. „Ich kann es nicht leiden, wenn du mit solchen Aussagen um dich wirfst, ohne sie näher zu erklären. Du weißt, wie neugierig mich sowas macht.“ Ich konnte mir daraufhin tatsächlich ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen und die großen Augen, aus denen heraus mich Die gerade zu bezirzen versuchte, ließen meine Standhaftigkeit bröckeln, wie eine Sandburg unter dem Ansturm der Wellen. Also rückte ich nach einem weiteren Zögern mit der Sprache raus, sonst würden wir hier vermutlich noch Wurzeln schlagen, so wie ich meinen Freund kannte. Die konnte nämlich erstaunlich geduldig und hartnäckig sein, wenn er etwas aus mir herauskitzeln wollte. „Ich hab nur gerade daran gedacht, dass es eigentlich ganz schön ist, mit dir jetzt noch einen kleinen Spaziergang zu machen. Es ist zwar kalt und vermutlich wird es in den nächsten Minuten zu regnen anfangen, aber nach dem ganzen Trubel heute Nacht tut das gerade gut. Und wenn sich das nicht anhört, als wäre ich ein alter Mann, weiß ich auch nicht.“ So, hier hatte er jetzt meine gedanklichen Ergüsse und konnte damit anstellen, was er wollte. Ich schnaubte und setzte mich wieder in Bewegung, das Gefühl der Verlegenheit so gut wie möglich ignorierend. Die hinter mir gab einen Laut von sich, den ich bislang immer eher mit unseren Fans in Verbindung gebracht hatte, als mit meinem, zumindest vom Alter her eigentlich erwachsenen, Freund. Ich drehte mich nicht um, ging stattdessen zielstrebig weiter voran und ignorierte auch die Hitze auf meinen Wangen, die sich dort so urplötzlich und ohne meine Erlaubnis breitgemacht hatte. ‚Manchmal ist Die wirklich ein unglaublicher Kindskopf‘, grummelte ich innerlich vor mich hin, als sich mit einem Mal Arme um meine Mitte legten und ich seinen Körper ganz nah an meinem Rücken spüren konnte. Für einen Moment vergrub er seine Nase in meinem Schal und hielt mich einfach nur fest, sodass ich erneut stehenbleiben musste. Wenn wir so weitermachten, würden wir nie zu Hause ankommen. Ich unterdrückte ein Seufzen, sparte es mir aber, Die darauf aufmerksam zu machen, denn wenn ich ehrlich zu mir selbst war, fühlte sich diese spontane Umarmung gerade echt richtig gut an. „Du bist mein alter Mann“, murmelte Die gegen mein Ohr und die Wärme seines Atems brachte eine Gänsehaut mit sich, die mir prickelnd über den Rücken rann. „Mein schmutziger, alter Mann.“ Die weichen Lippen meines Freundes kribbelten, als sie die wenige freie Haut meines Halses fanden und kleine Küsse darauf tupften. „Ich hoffe nur, der alte Mann wird dir nicht irgendwann zu langweilig, wenn er jetzt schon damit anfängt, nächtliche Spaziergänge als Highlight des Abends anzusehen.“ Ich musste mich nicht umdrehen, um Dies Augenrollen vor meinen geschlossenen Lidern zu sehen, denn, dass er mich gerade für ein bisschen sehr unzurechnungsfähig hielt, konnte ich auch so aus seiner Stimme heraushören. „Manchmal frage ich mich wirklich, was in deinem brillanten Gehirn so vor sich geht.“ Er lachte dieses leise, gutmütige Lachen – ein Laut, nach dem ich, seit wir uns kannten, regelrecht süchtig war und ließ mich los, um mich zu umrunden. „Glaub mir, deswegen wirst du mir sicherlich nie zu langweilig werden. Vermutlich ist das auch generell einfach gar nicht möglich.“ Er legte mir die Arme um den Hals und spiegelte so die Position, in der wir vorhin noch auf Yoshikis Tanzfläche standen, nur mit vertauschten Rollen. „Ich bin froh, mit dir hier und heute einen Spaziergang machen zu können“, murmelte Die und ich fühlte sein Erschauern, als der Wind erneut auffrischte. „Auch wenn es arschkalt ist.“ „Du hast nur zu wenig an.“ Um meine Worte zu betonen, kniff ich in seinen kleinen Hintern und grinste, als er wie erwartet einen protestierenden Laut von sich gab. Aber statt sich weiter zu beschweren oder nach Rache zu sinnen, spürte ich lediglich, wie er mich näher zog. Ich runzelte die Stirn, aber noch bevor ich fragen konnte, ob mit ihm etwas nicht in Ordnung sei, redete Die auch schon weiter. „Es hat immerhin eine Zeit gegeben, zu der ich eine Party niemals frühzeitig verlassen hätte und schon gar nicht in der Verfassung gewesen wäre, zu Fuß noch irgendwohin zu gehen.“ Seine Aussage hing schwer wie Blei zwischen uns und natürlich wusste ich, worauf er anspielte. Für uns als Band, aber vor allem für Die und mich als Paar waren die letzten Jahre keine leichten gewesen. Zu viel Arbeit, zu viel Alkohol, Depressionen und Burnout. Momente, in denen nicht nur ich dachte, dass es das gewesen war. Dass wir nicht nur uns, sondern wirklich alles verlieren würden, würden wir nur noch einen Tag länger so weitermachen. „Ich bin stolz auf dich“, sagte ich leise und war froh, dass Die nicht versuchte, meine Worte kleinzureden. Wir alle, aber vor allem ich selbst, waren uns darüber im Klaren, dass gerade er die größte Veränderung zum Positiven vollzogen hatte und dass er dies nun mehr oder weniger so deutlich ansprach, zeugte davon, wie weit Die in den letzten Jahren gekommen war. Ich ließ das Lächeln zu, das nachdrücklich an meinen Mundwinkeln zupfte und drückte meinem Liebsten einen kurzen Kuss auf die Wange. „Lass uns nach Hause gehen, bevor dir dein nicht vorhandener Luxushintern noch abfriert.“ Die lachte und löste sich von mir, nicht aber, ohne mir noch einmal direkt in die Augen zu blicken. Es bedurfte keiner Worte, ich wusste auch so, was er mir sagen wollte und nickte daher nur kurz. Die ergriff meine Hand und nun war ich es, dem ein heiteres Glucksen über die Lippen kam, als er unsere verschränkten Hände übermütig vor und zurückschwingen ließ. „Wenn du jetzt noch anfängst, das Titellied der Schlümpfe zu summen, rufe ich die Männer in Weiß mit den Hab-mich-lieb-Jacken.“ „Ich werde mich hüten“, sagte er munter, hörte aber nicht auf, sich wie ein kleiner Junge zu benehmen. „Aber jetzt erzähl mal …“, meinte er eine Weile später. „Welche Anti-Weihnachtsfeier-Thesen sind dir noch eingefallen?“ Im ersten Moment war ich tatsächlich überrumpelt von dem Themenwechsel, doch dann erinnerte ich mich daran, dass ich es hier ja mit Die, dem Meister der aus der Luft gegriffenen Fragen, zu tun hatte. Ich hatte also schon den Mund geöffnet, um ihm meine Theorien nahezubringen, vielleicht würde er mich ja tatsächlich verstehen können, schüttelte dann aber nur den Kopf. Statt ihm also eine Antwort zu geben, zog ich lediglich mein Notizbuch aus der Umhängetasche und schlug es auf der Seite auf, auf der ich die fünf Punkte niedergeschrieben hatte. „Weißt du was?“ Ich suchte für einen Moment Dies Blick, bevor ich mich kurz löste und mit einem beherzten Ruck die beschriebene Seite aus dem Buch riss. „Das sind die Worte eines brummigen, alten Mannes und nichts, was man diskutieren oder behalten müsste.“ Das Blatt zusammenknüllend warf ich es hinter mich, ergriff seine Hand und setzte mich wieder in Bewegung. „He! Das ist unfair, ich wollte doch wissen, was du geschrieben hast.“ „Blödsinn, Die, genau das hab ich geschrieben.“ Ich schmunzelte. „Mir ist heute Abend nämlich eines bewusst geworden.“ „Und was wäre das?“ „Dass es eigentlich egal ist, wie ich Weihnachten feiere.“ Ich schaute gerade zum richtigen Zeitpunkt zur Seite, um mitansehen zu können, wie eine Augenbraue meines Freundes skeptisch nach oben wanderte. „Schau nicht so, das meine ich Ernst. Und weißt du auch warum?“ „Ehm, nein.“ „Weil ich einfach nur froh bin, dass wir mal wieder Zeit miteinander verbracht haben. Und, weil der Abend gar nicht so schlimm gewesen ist.“ „Wenn ich dich morgen bitte, das nochmal zu wiederholen, würdest du das tun?“ „Nie im Leben! Dieses Geständnis bekommst du nur einmal von mir.“ „Du gibst also zu, dass du überreagiert hast und falsch lagst, was die Party angeht?“ „Die~“, knurrte ich gefährlich, „treib’s nicht zu weit.“ „Einen Versuch war es wert.“ Mein Freund lachte und mein Herz machte einen Hüpfer, als er mich an sich zog und seinen Arm um meine Schultern legte. „Frohe Weihnachten, du alter Brummbär.“ Ich grummelte leise vor mich hin, lehnte aber meinen Kopf gegen Dies Schulter und schlängelte meinen Arm um seine Taille, bevor ich es mir anders überlegte und meine Hand tiefer wandern ließ. „Deine Hand scheint sich verlaufen zu haben.“ „Nö, die ist da schon genau richtig.“ „Du bist unmöglich.“ „Schmutziger, alter Mann, schon vergessen?“ Erneut frischte der Wind auf und als mich kalte Nässe an der Nase traf, befürchtete ich schon, dass es nun doch zu regnen anfangen würde, aber dann sah ich vereinzelte weiße Flocken, die vor den Lichtkegeln der Laternen zu tanzen begannen. „Schnee“, murmelte Die und die unverhohlene Begeisterung in seiner Stimme ließ ihn plötzlich unglaublich jung wirken. Ich beobachtete ihn dabei, wie er seine freie Hand ausstreckte, um nach einer dicken Flocke zu greifen und hätte mich an der Freude, die nun in seinen Augen lag, kaum sattsehen können. Von daher verkniff ich mir die spontane Reaktion, das Wetter als kitschig zu bezeichnen, und lächelte nur stumm vor mich hin. „Frohe Weihnachten, Die.“ ~The End~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)