Das Lied des Regens von Zeilengestöber ================================================================================ Kapitel 1 – Kay --------------- Norel war eine wunderschöne Stadt, umgeben von saftigen Wiesen und ausschweifenden Wäldern. Sie war ein wahres Idyll und wurde gern von Reisenden zum Rasten genutzt. Die reiche Land- und Forstwirtschaft sowie die Nähe zu sicheren Straßen und wichtigen Verkehrsstrecken zu Wasser waren der Grund gewesen, weswegen Kay sich hier als Tischler niedergelassen hatte. Von dem Idyll war jedoch nichts mehr zu erkennen. Die Frühlingsregen hatten mit leichtem Nieseln begonnen, aber verkamen innerhalb weniger Tage zu einem tristen Dauerregen. Dieser hielt sich nun bereits seit zwei Wochen und schien kein Ende nehmen zu wollen. Die Straßen und Wege waren, wenn man Glück hatte, nur knöcheltiefer Matsch; in den niedriger gelegenen Teilen der Stadt stand das Wasser bereits Hüfthoch. Wie lange sie die Katastrophe noch durchhalten konnten, war fraglich und dennoch gab es einige Bewohner, die sich weigerten, ihre Häuser zu verlassen. Zu so einem war Kay gerade unterwegs. Er straffte seine Schultern, trotzte so dem Regen, dem bis zu den Oberschenkeln reichenden Wasser und der Besorgnis, die wie ein Klumpen Blei in seinem Magen saß. Er hatte Luca dabei, einen der Straßenjungen, der ihm dabei half, ein paar Vorräte zu tragen und seit ein paar Tagen bei ihm wohnte. Ursprünglich wollten sie auch etwas Feuerholz mitnehmen, doch das wäre nach dem mehrere Meilen langen Marsch kaum noch als solches zu gebrauchen, weswegen sie sich damit nicht abmühten. Je näher sie dem Fachwerkhaus kamen, das der alte Bran sein Heim nannte, umso tiefer wurde das Wasser, der sonst träge dahin fließenden Schnurr. Die Fluten drückten sich durch die engen Gassen und fingen an, an einigen Stellen Stromschnellen zu entwickeln. Sehr oft würden sie diese Route nicht mehr nehmen können, sollte das Wetter tatsächlich so bleiben. Vielleicht wäre heute die letzte Möglichkeit, den sturen Alten davon zu überzeugen, dass er sein Haus verlassen musste. Kay warf einen Blick nach hinten zu Luca. Der Junge klammerte sich an einen Kartoffelsack und schleppte sich mit einer entschlossenen Mine durchs Wasser. Der Sack war der letzte, den Kay noch von seinem eigenen Wintervorrat übrig hatte. Auch da wusste er nicht, wie lange er noch helfen konnte. Schon jetzt beschränkte er sich auf das Mindeste, während er dafür sorgte, dass Luca eine anständige Portion aß. Der Junge brauchte es immerhin dringender als er. Ein dumpfes Knacken und Knarzen zog Kays Aufmerksamkeit zu den Gebäuden, an denen sie vorbei mussten. Die Häuser litten unter dem Wasser. Der Druck, den die Strömung auf die alten Bauwerke ausübte, wurde mit jedem Regentag stärker. Kay wartete einen Moment, um Luca Zeit zum Aufschließen zu geben. Sie sollten näher zusammen bleiben. Brans Haus, das dessen Wohnung und Werkstatt beherbergte, war bereits zu sehen. Doch der gefährlichste Teil des Weges lag ebenso noch vor ihnen. Sie mussten mit der Strömung ein Stück die Straße runter, ohne dabei den Halt zu verlieren oder die Abzweigung zu verpassen. Sollten sie weggespült werden, musste Kay darauf hoffen, dass sie flussabwärts, wo der Fluss die Felder überspülte, sich ans Ufer retten konnten. Unschlüssig blieb er stehen und starrte auf die braunen Wassermassen. Sie Strömung war eindeutig noch stärker als beim letzten Mal. Kay drehte sich zu Luca. Es war zu gefährlich für den Jungen, weiter zu gehen. Kay wusste nicht einmal, ob Luca schwimmen konnte. „Du wartest am besten hier. Ich bringe die Sachen hier zu Bran und komme dann zurück, um die Kartoffeln auch noch zu holen“, erklärte er in einem ruhigen Ton. Doch Luca sah das ganz anders. Trotzig schüttelte er den Kopf und drückte den Kartoffelsack fester an sich. „Es ist zu gefährlich!“, versuchte Kay es noch einmal, doch Luca wehrte das ganze mit einem 'Pff' ab und war bereits drauf und dran, einfach an Kay vorbei zu gehen. „Bleib hinter mir!“, riet Kay Luca. „Wenn du ausrutscht – vergiss die Kartoffeln und halt dich einfach irgendwo fest.“ Luca nickte stumm. Kay drehte sich herum, um weiter zu gehen, und nahm sich fest vor Luca beim nächtsten Mal gar nicht erst mitzunehmen. Er kannte den Weg und somit die Rillen, die schräg in die Straße eingelassen waren und das Regenwasser in die Mitte der Straße führen sollten. Jetzt waren sie nutzlos und schreckten nicht davor zurück, einen neuen Sinn in ihrem Dasein zu finden, indem sie als kleine Stolperfallen auf unachtsame Irre, wie Kay und Luca, warteten. Wieder knarzte es in der Nähe. Das darauffolgende laute Krachen fuhr Kay direkt in die Glieder. „Gib acht!“, rief er Luca zu, als eine mehrere Handbreit hohe Welle, gespickt mit gebrochenen Holzbalken und zusammengenagelten Brettern, die Straße herunter preschte. Kay wappnete sich, presste sein ganzes Gewicht zu Boden und streckte seine Hand nach Luca aus. „Nimm meine-“ Die Welle erwischte sie. Kay verlor den Boden unter den Füßen und wurde mit Lucas Schrei in seinen Ohren untergetaucht, aber kämpfte sich zurück an die Oberfläche. Er griff blind nach Luca, bevor er in den Wassermassen verschwinden konnte. Doch er erwischte nur noch mehr Wasser. Der Junge wurde binnen eines Augenblicks von ihm fort und unter eine eingerissene Holzwand gespült. „Luca!“ Er musste ihn da raus bekommen! Panisch schwamm er Luca nach, als ihn ein Balken erwischte und tiefer ins Wasser drückte. Kay spürte jede einzelne der Rillen, als die Wucht des Wassers ihn über den Boden schob. Die Hausecke, an der sie hätten abbiegen müssen, presste ihm die Luft aus den Lungen. Der Drang zu atmen wuchs mit jedem verweigerten Atemzug, als er endlich wieder seinen Kopf aus dem Wasser bekam. Die Strömung schwächte ab, je tiefer das Wasser wurde; und damit schaffte Kay es, den Hindernissen und gefährlichen Treibgut einfacher auszuweichen. Immer wieder tauchte er unter, um Luca zu suchen, denn an der Oberfläche, konnte er ihn nicht finden. Mehr wie nach dem Jungen zu tasten, konnte er zuerst jedoch nicht, da die Sicht durch den mitgerissenen Lehm und Schlamm zu schlecht war. Je öfter er jedoch unter Wasser war, umso mehr meinte er sich an die Verhältnisse zu gewöhnen und Schemen erkennen zu können. Kay stellte sich vor, wie Luca irgendwo eingeklemmt war und sich nicht mehr befreien konnte. Es spornte ihn an, auch in engeren Ecken und so lange unter Wasser zu suchen, wie es nur möglich war. Seine Lunge brannte bereits, als er einen Stofffetzen fand, der in einem Türrahmen klemmte. Er konnte nur von Lucas Flickenjacke stammen. Kay schwamm näher, sah mit hämmernden Herzen im trüben Wasser an den Brettern und den Balken, die den Eingang versperrten, vorbei. Dort im Haus! Er sah Luca, der bewusstlos in den Fluten trieb, die dieses Haus unlängst eingenommen hatten. Kay zögerte nicht, packte den Balken und stemmte seine Füße gegen das Gemäuer. Während er an dem Holz zog und zerrte verlor Kay vollkommen das Gefühl dafür, wie lange er bereits hier unten war. Waren es schon mehrere Minuten? Er sollte zurück, Luft holen. Aber er wollte Luca dort herausholen und darauf konzentrierte er sich so sehr, dass alles andere in den Hintergrund rutschte. Mit einem Ruck löste sich der Balken und die Bretter sanken zu Boden. Im Raum dahinter, der mal eine Küche gewesen war, schwebte Luca bewusstlos im Wasser. Kay griff nach ihm und zog ihn an sich. Über ihnen war ein Labyrinth aus Balken und Schwaden aus Stroh, das mal in den Wänden gesteckt hatte. Kays Brust zog sich schmerzhaft zusammen, doch widerstand er abermals dem Drang nach Luft zu schnappen. Hastig stieß er sich vom Grund ab und manövrierte durch die Türe, durch die er gekommen war und an allem vorbei, das ihnen auf dem Weg zur Oberfläche in die Quere kam. Keuchend durchbrach er die Wasseroberfläche. Kay rettete sie mit letzter Kraft auf ein Dach, das aus den Fluten reichte. „Luca … hörst du mich?“ Er tätschelte dem Jungen die Wange und hoffte, dass er aufwachen würde. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Was tat man, wenn jemand so lange unter Wasser gewesen war? Ein Husten gefolgt von einem zittrigen Atemzug holten ihn aus seinen Gedanken. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Luca in den Himmel, bis ihm der Regen zu fest in die Augen tropfte. Blinzelnd setzte er sich auf und hustete erneut. Auf seinem Gesicht zeichnete sich die verschiedensten Emotionen ab, von Panik über Schock, bis hin zu Erleichterung, war alles dabei und Kay wusste nichts anderes zu tun, als dem Jungen durch seine patschnassen Haare zu wuscheln. Die Geste wurde jäh unterbrochen, als Luca sich plötzlich zu ihm drehte und ihn fest umarmte. Kay erstarrte, doch legte er nach dem ersten Schock schnell auch seine Arme um die schmalen Schultern des Jungen. Luca war bislang immer auf Abstand bedacht. Sagte kaum etwas und scheute beinahe jede Berührung. So wie jetzt hatte er den Jungen noch nie erlebt. „Ich bin auch froh, das ich dich da unten gefunden habe.“ Er drückte Luca kurz. „Wollen wir nach Hause gehen?“ Luca nickte und warf schließlich einen Blick auf ihre Umgebung. Das würde ein langer und anstrengender Weg zurück werden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)