Rotkäppchen von Feuermalerin ================================================================================ Kapitel 1: Erstes Kapitel: In dem Paul den Grundstein für alles Weitere legt ---------------------------------------------------------------------------- Erstes Kapitel: In dem Paul den Grundstein für alles Weitere legt     Zuerst reagierte niemand. Nicht dass sie es nicht hörten. Die Motorengeräusche, das Kreischen eines Getriebes, das nicht gut geschaltet wurde – wer fuhr heute noch mit Schaltung? Die surrenden Umdrehungen von hoher Beschleunigung in niedrigen Gängen. Es war vielleicht ungewöhnlich, aber nicht so sehr, dass sich irgendjemand sorgte. Sie hatten andere Gedanken. Andere Sorgen. Blutsauger und ein Krieg, den keiner von ihnen wollte. Ein Krieg, den sie nicht abhalten konnten. Der sie auf die Seite ihrer Feinde zog, weil die andere Seite noch viel mehr Feind war. Und sie waren ernüchtert. Das ganze Rudel wirkte, als wäre Luft abgelassen worden. Der schier unendliche Vorrat an Energie, aus dem sie sonst schöpften, einfach aufgestochen und geplättet. Aber dann, dachte Paul weniger ernüchtert, als viel mehr verdammt wütend, waren sie nicht das ganze Rudel. Nicht mehr. Nicht seit der Baby-Alpha sein permanentes, verzehrendes Gewinsel nach dem Blutsauger liebenden Mädchen auf dessen unnatürlichen Balg verschoben und Sam in den Arsch getreten hatte. Und war Paul nicht froh, dass sie in diesem Moment in ihrer armseligen menschlichen Form an Emilys zerkratztem Küchentisch saßen und synchron die Köpfe hängen ließen. Sam wurde nicht gerne an diesen Tag erinnert. Im Rudel, verwandelt in riesenhafte Wölfe, teilten sie ein Bewusstsein. Vorteil bei fast allem außer Privatsphäre. Und unerwünschten Erinnerungen. Und jetzt hatte Quil ebenfalls das Rudel gewechselt. Ebenso wie Embry. Diese Verräter. Heißt durchzuckte Paul der äußerst willkommene Zorn. Alles war besser als sich verraten und hilflos zu fühlen. Hilflos weil immer mehr Blutsauger ihr Gebiet verpesteten. Weil immer mehr Jungs in die Höhe schossen, als würde das Trinkwasser im Rez Anabolika enthalten. Wie viele würden sich in den nächsten Tagen verwandelt? Cuzo Sepphron war fast soweit. Es konnte sogar heute passieren. Das Geräusch das seit einigen Minuten näher kam und das Paul ignoriert hatte, so wie er so viele Geräusche die er wahrnahm, bewusst im Hintergrund seines Bewusstseins dahin plätschern ließ, durchbohrte seine Aufmerksamkeit und ließ ihn aufblicken. Das Quietschen und Klappern eines Fahrrads, das näher kam. Es war seltsam. Deswegen horchte er ohne eine bewusste Entscheidung auf. Kaum jemand fuhr ein Fahrrad im Reservat. »Hannah!« Es war weit entfernt und kaum zu hören, zumindest mit dem ständigen hochtourigen Brummen des Motors, der die rufende Stimme begleitete. Die Geräuschkulisse bildete ohne Pauls Zutun ein Bild der Umgebung. So war es für ihn, seit der Wolf das erste Mal aus ihm heraus geplatzt war. Explodiert war, wohl eher. In einer Denotation aus Hitze, Wut, Fell und Schmerz. Die geschärften Sinne blieben selbst wenn der Wolf ruhte. So war es bei ihnen allen. Das Fahrrad blieb stehen und wurde hingeworfen. Paul sah, wie Jared ebenfalls den Kopf hob, eine Falte zwischen den dunklen Augenbrauen. »Hannah!« Näher diesmal, eine Frauenstimme. Niemand von ihnen kannte eine Hannah, da war Paul sich sicher, also wusste er nicht, wer gerufen wurde. Touristen? Ein paar kamen hier her, wenn auch nicht viele. Ihr Reservat war keines dieser Ureinwohner Reservate. Sie hatten hier zu viele Geheimnisse. Und das Wetter war zu schlecht. »Hannah!« Panik in der Stimme der Frau. Näher surrender Motor und ein Schluchzen, nicht weit entfernt vom geöffneten Küchenfenster. Bradys Stuhl krachte laut, als er das Balancieren aufgab und die Vorderbeine wieder mit dem Boden Kontakt aufnahmen. Paul wechselte einen Blick mit Sam, der mit konzentriertem Ausdruck auf dem Gesicht aus der Küche kam. Es war das mehr als alles andere, das ihnen allen ein unsichtbares Zeichen gab. Ihr Bewusstsein, so fein aufeinander abgestimmt, dass sie mittlerweile nicht mal mehr das Rudelbewusstsein brauchten, um die Gedanken des Alphas zu kennen. Alpha. Der Wolf durchstieß kurz Pauls Aufmerksamkeit mit einer loyalen Spitze des Stolzes. Ja, du Bastard. Das ist unser Alpha. Schön dass du das auch so siehst. Es war nicht so, dass Paul den Wolf nicht schätzte. Er liebte ihn, verdammt noch mal. Aber manchmal überraschte es ihn immer noch, wie … beschränkt … er war. Sie erhoben sich synchron. Jared, Paul, Brady, Collin und Joshua, ihr neustes Mitglied. Wie beschissene Ballerinas.   »Was ist los?« In der Hand ein Geschirrtuch trat Emily neben Sam. Sie wirkte nicht besorgt. Sie war selten besorgte. Wenig konnte ihre Gelassenheit aufrühren. Es war eine der Eigenschaften, die sie so beliebt machte. Eine von vielen. Sie war eine fantastische Lady. Sam der Bastard hatte wirklich Glück. Und er wusste es. Der Blick mit dem er Emily bedachte war so intim, dass Paul die Augen abwandte. Die Frauen waren Teil des Rudels. Aber die mystische Verbindung, die Seelenverwandtschaft und der ganze Kram, waren Paul so sehr Rätsel, wie sie ihm Angst machten. Scheiße, er wollte keine verfickte Sonne, um die sein ganzes Sein kreiste. Außer diese Sonne hieß Paul. Und darum sollte sich sein Leben drehen. Um ihn. Erneut war er froh um die Abwesenheit des Rudelbewusstseins. Allerdings gefiel ihm Jareds wissender Blick nicht. »Hast du ein Problem, Mann?« Jared schnaubte nur und schüttelte den Kopf. Keine Antwort nötig. Außerdem hob Sam zum Sprechen an, das hieß, dass sie alle die Klappe zu halten hatten. »Ich-«, begann er, unterbrach sich aber, als die Motorengeräusche draußen zu einem abrupten Halt kamen und das Geschrei noch lauter wurde. Geöffnete Autotür, deduzierte Paul. »Was zur Hölle?« Es oblag Paul die Frage zu stellen, weil sich sonst keiner traute zu fluchen. Nicht wenn Emily dabei war. Sie würde versuchen ihnen den Mund auszuwaschen. Sie war diese Art Frau. Aber er und Em gingen weit zurück. Und sie bedachte ihn nicht mal mit einem entrüsteten Blick. Niemand sah in seine Richtung. Niemand antwortete ihm auch nur. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, aneinander vorbei nach draußen zu stürmen. Es war nicht leicht. Zu sagen sie wären groß, wäre die verdammte Untertreibung dieses beschissenen Jahrhunderts. Sie waren Biester. Sie waren Werwölfe. Und damit sie das sein konnten, brauchten sie starke Knochen. Große Knochen. Er bekam Bradys Schulter ans Kinn, als der Kleine sich vordrängelte. Paul fluchte. Der kleine Scheißer würde das zurückbekommen. »Hannah!« Wieder dieses Kreischen, dieses Mal so nah, dass sich Pauls Nackenhaare aufstellten. Es war nicht so, dass er besonders beunruhigt war. Der ganze Scheiß der letzten Zeit zerrte alles andere in eine ganz andere Perspektive. Aber wenn jemand in deinem Vorgarten schreit, dann siehst du nach, was das Ganze scheiße noch mal soll. Paul erwartete kein großes Ding. Nur den ganz normalen Wahnsinn. Und er hatte Recht. Irgendwie. Und irgendwie nicht. Aber es würde noch eine Weile dauern, bis er das verstand.   Ein Mädchen stand auf dem Rasen. Ein ziemlich dünnes Ding mit blondem Haar. Im Schlabberlook. Zu großer Hoodie und Sweatpants. An allem zerrte der Wind. Selbst an ihr. Sie zitterte. Sie hatte die Schwelle zum Frausein noch nicht ganz überschritten, steckte irgendwo in diesem Alter zwischen erstem Freund und Barbiepuppen. Ihre Augen schienen riesig in ihrem spitzen Gesicht und irgendetwas stimmte mit ihren Proportionen nicht. Sie wirkte verloren und unglücklich und das nicht nur, weil offensichtliche Tränen ihren Augen gerötet hatten. Ihr Blick flatterte zu ihnen hinüber, vorher damit beschäftigt, das Gelände abzusuchen. Eine Suche, die sie fortführte, als sie zu ihnen allen hinüber sah. Kurz verschwendete Paul einen Gedanken daran, wie sie alle auf diese Fremde wirken mussten. Sie war so offensichtlich keine von ihnen, keine der Quileute, wie Paul nicht der Weihnachtsmann war. Ein Haufen riesiger, halbnackter Typen mit finsteren Mienen. Er rechnete es ihr hoch an, dass sie nicht in Panik ausbrach. Stattdessen tat sie etwas Schlimmeres. Sie fing an zu heulen. »Scheiße noch mal«, murmelte er dunkel und wandte den Blick ab, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und streckte sich unbehaglich. Er konnte mit vielem umgehen. Er war der Typ, den man schickte um den Scheiß zu erledigen, die sonst keiner erledigen wollte. Haudrauf und wegdamit. Etwas in ihm brannte heißer als in den anderen. Er heilte schneller. Er verwandelte sich schneller. Sein Wolf war aggressiver als die anderen. Und er hatte ein böses Temperament. Aber Tränen und Paul? Das ging nicht zusammen. Er spürte wie sich sein Gesicht zu einer Grimasse verzog. »Das ist Seths Freundin.« »Was?« Sam starrte Brady an, von dem diese oh so erleuchtende Information gekommen war. Dann wieder das schluchzende Mädchen. Sie sah erbärmlich aus. Einfach erbärmlich. Verzweifelt und allein und es erzeugte ein Echo in Pauls Bauch, das er nicht dort haben wollte. Er hörte sich knurren. Gerade als in seinem Kopf ernsthafte Pläne entstanden, wie das heulende Ding von der Wiese zu entfernen war, ohne dass ihr Nachmittag weiter großen Schaden davon nahm, bemerkte Paul das Auto. Ein roter 4 Wheel Drive, klein, aber viel zu hübsch für diese Gegend. Mit laufendem Motor und geöffneter Fahrertür. Und eine Gestalt die näher kam. Rannte. So wie es die matschigen Wege eben zuließen. Und das war kaum. Paul vergaß häufig, wie langsam all die anderen waren. All die, die keinen übernatürlichen Schwachsinn am Laufen hatten. Normale Menschen und all das. Sie musste gerannt sein seid er und das Rudel auf die Veranda getreten waren. Das war, was, fünf Minuten her? Meine Damen und Herren und hier sehen sie die menschliche Schnecke. In unpassendem Schuhwerk. Pauls Blick flackerte nach unten. Keine Stiefel. Nicht mal Sneaker. Himmel, waren das Absätze? Er schnaubte und ließ die Arme wieder an seine Seite fallen. »Hannah!« Dieses Mal klang sie nicht hysterisch und suchend, die Stimme. Sondern besorgt. Und sie kam und war die ganze Zeit gekommen, von dieser Frau, die auf sie zu rannte. Oder ihr Bestes gab. Anders als der jämmerliche Strich in der Landschaft – ihr Winseln erinnerte Paul an Jake und wie zu erwarten machte Paul das wütend – hatte diese Frau die Schwelle zum Frausein schon vor Jahren hinter sich gelassen. Paul bekam einen flüchtigen Eindruck von Hüften und streng zurückgebundenem Haar, zusammen mit dem Gefühl vager Bekanntheit, bevor Sam neben ihm sich bewegte. Einen Schritt auf das Mädchen zumachte, die nicht länger nur zitterte, sondern gefährlich zu schwanken begonnen hatte. Selbst Paul spannte sich an. Eine unbewusste Reaktion auf Gefahr. Jede Art davon, auf jeder Skala. Sie waren Beschützer, es lag ihnen im Blut und der Impuls hallte in den Knochen all seiner Brüder wieder. Paul musste sich nicht umsehen, um das zu wissen. Sie hielten sich zurück, weil ihr Alpha vortrat, aber sie alle machten sich bereit dafür, das Mädchen aufzufangen, bevor sie stürzte. Waren sie nicht ein Haufen beschissener Kavaliere? Was für eine Scheiße. Sam kam jedoch nicht so weit, den Ritter in weißer Rüstung zu spielen. Die Frau erreichte das schluchzende Mädchen und zog sie an sich, beruhigende Sinnlosigkeiten murmelnd, die Pauls Meinung nach noch nie jemandem geholfen hatten. „Es wird alles gut. Ich hab dich. Sch-Sch. Süße, Sch.“ Er hörte all ihre zuckrigen Worte, ebenso wie der Rest des Rudels. Was für ein Bullshit! Aber seine Meinung zählte hier nicht. Paul schnaubte. »Ma‘m-« Erneut machte Sam einen Schritt, dieses Mal das lächerliche Treppchen der Veranda hinunter, hinaus auf die feuchte Erde. Mit Gras überwachsen, aber dennoch hörte Paul das saugende Gefühl, mit dem Sams Gewicht einsackte. Er war barfuß und irgendwie dachte Paul, dass das nicht unbedingt positiv zur Situation beitrug. Mit Ärger kannte er sich aus. Und die Luft war voll davon. Sein Nacken spannte sich an. Ja, die Luft stank fast danach. »Rühr sie bloß nicht an!« Mit ausgestreckter Hand, ein menschliches Stoppzeichen ohne rote Farbe, warf die Frau ihren Kopf zurück und blitzte eine Gewitterwolke an Zorn zu ihnen hinüber. An Sam gerichtet, aber das Rudel stand genau in der Luftlinie und bekam die ganze Breitseite mit ab. Pauls Verwirrung – er bemerkte erst jetzt, dass er voll davon war – schlug endgültig in Wut um. Vielleicht war es nur seine natürliche Reaktion auf ihren Zorn. Eine Art Katalysator für die Zündung seines eigenen Temperamentes. Eine Spiegelreaktion. Welche Rolle spielte das schon? Es war Paul nur Recht. Hier fühlte er sich zu Hause. Hier war er in seinem Element. Besser als das nagende Echo von verzweifelnden Tränen. Oder das hohle Mitgefühl für ein schmerzhaft zerbrechliches Mädchen, dessen dünne Gestalt erst durch eine Umarmung wirklich auffiel. Paul wusste jetzt, was mit ihren Proportionen nicht stimmte. Das Mädchen war schmerzlich dünn. Klapprig, raunte die bitterböse Stimme die in ihm lebte und ab und an durch ihn sprach, ohne dass er Kontrolle darüber hatte. Und die Arme ihrer Freundin ... Mutter? von wem auch immer sie umarmt wurde, legten die schützenden Schichten von Stoff so eng an, dass die Umrisse des Körpers der Kleinen zu sehen waren.Paul entwich ein wenig angehaltener Atem. Wie konnte sie sich überhaupt auf den Beinen halten? Er war kein totales Arschloch, auch wenn viele vehement dagegen stimmen würden. Aber seine Mutter hatte ihn dazu erzogen, Frauen zu respektieren. Nur manchmal entschied sich Paul dazu, es zu vergessen. Erneut störte Mitleid das Heißlaufen seines Temperaments. Paul musste nach den auseinander gerissenen Fäden greifen und sie bewusst wieder zusammen knoten. Sam hatte die Kleine nicht angerührt. Nicht mal Anstalten gemacht. Er tat nur seinen verdammten Job. Für Ordnung zu sorgen. Für das Rudel, für den Stamm, für die Menschen auf der Halbinsel. Selbst für diese zwei weißen Außenseiter. Und Paul verabscheute es, wenn sein Alpha respektlos behandelt wurde. Sam arbeitete hart. Er überschritt dabei ständig seine Grenzen. Und er war einmal zu viel von seinen Brüdern verraten worden. Und Verrat schmeckte schwarz. Und bitter. Verdammter Baby-Alpha. Paul spürte, wie sich seine obere Zahnreihe entblößte, ein Versuch seines menschlichen Körpers mit den zu Instinkt gewordenen Verhaltensweisen zu antworten. Der Wolf in ihm fletschte die Zähne. Paul spannte sich an und neigte sich nach vorne, bereit, physisch einzuschüchtern, noch bevor er überhaupt etwas sagte. Es war instinktiv. Es war seine Art. Doch Sam bremste ihn, noch bevor Paul ein Wort grollen konnte. »Nicht.« Sam bedeute ihm mit einer nach hinten gestreckten Hand stehen zu bleiben. Und Paul gehorchte. »Miss Taylor.« Sams Stimme war ruhig und dunkel, das Paradebeispiel eines Anführers, ernst und gelassen zu gleich. Paul entspannte sich beinahe augenblicklich. Genug um zu bemerken, dass Sam den Namen der Frau kannte. Brady kannte das Mädchen, Sam die Frau. Pauls Blick suchte Jared und er hob fragend die Augenbrauen. Jared schüttelte den Kopf. Also wusste noch jemand außer Paul nicht, wer die Beiden waren. Gut. Wenigstens war er nicht der einzige Ahnungslose. »Nein.« Taylor sah hinauf zu Sam, der näher gekommen war, als sie weiter beruhigend auf das Mädchen einredete. Sie war körperlich kleiner als das Klappergestell, deswegen sollte es komisch wirken. Diese beschützerische, mütterliche Haltung. Tat es aber nicht. Sie wirkte grimmig. Ein bisschen wild. Und Paul überkam ein kurzes Gefühl von Erkennen. Etwas, das ganz tief in ihm eine Fahne schwang. Nicht ganz ein Deja-Vu. Vielleicht hatte er sie ja doch schon einmal gesehen und konnte sich nur nicht richtig erinnern? Er tat es als unwahrscheinlich ab. Sein Gedächtnis war so engmaschig wie ein Bettlaken. Es war einer der Gründe weswegen er so nachtragend war.   Das Mädchen murmelte etwas, das Paul zuerst nicht verstand. Erst als er sich darauf konzentrierte, konnte er die stotternden Worte unter den erneut aufgebrandeten Schluchzern ausmachen. Sie schien jetzt heftiger zu weinen. Während sie immer wieder den gleichen Satz vor sich hin lamentierte. »Er ist nicht hier. Er ist nicht hier, Nora.« Nora. Die kleine Harpie hieß Nora. Nur sie sah in diesem Moment gar nicht wie eine Harpie aus, als sie das Mädchen – Hannah, wie Paul nun zusammenführte – enger in die Arme schloss. »Es tut mir leid, Süße. Sch. Sch. Ist ja gut.« Wieder zog sich bei dem Anblick etwas in Paul zusammen. »Was soll das scheiß Drama?!«, raunte er und verschränkte die Arme vor der Brust. Ein Schutzschild vor zu viel weiblicher Tränen. Unbewusst oder nicht. Er hatte genug von dem Kram. »Miss Taylor, Nora-« Sam war ein mutiger Mann. Mutiger als Paul es je sein könnte. Sam fürchtete sich nicht vor Tränen. Er ging auf sie zu. Auch wenn Nora so stachlig wurde wie ein Kaktus. »Wieso gehen wir nicht hinein? Der Wind macht es nicht einfacher, die Situation zu klären.« Mehr brauchte es kaum. Eine ruhige Stimme und ein Hinweis auf das Wetter, das zumindest für sie unangenehm sein musste. Er hatte sie schon beinahe so weit. Paul konnte es sehen. Sam war geschickt in Verhandlungen. Es war sein Job zu vermitteln. Zwischen Stammesmitgliedern und der Regierung. Zwischen Werwölfen und Blutsaugern. Mit kleinen Punks die in wenigen Monaten fast acht Zoll in die Höhe schossen und sechzig Pfund an Muskelmasse zunahmen, verängstigte Teenager, aus denen in kurzer Zeit Biester wurden. Er machte ein Rudel aus ihnen. Kämpfer und Brüder. Beschützer. Sam war ein Friedensstifter durch und durch und diese Nora war nicht immun gegen den versöhnlichen Klang seiner Stimme. Die Ernsthaftigkeit darin. Kein jungenhafter Charme, sondern Kompetenz und Männlichkeit. Es tat wahrscheinlich nicht weh, dass er ein verdammt gut aussehender Hurensohn war. Frauen mochten Sam. Es war praktisch. Frauen mochten Sam. Aber anscheinend traf das nicht zu auf heulende, zitternde, magersüchtige Mädchen. Ihr zerwühlter Blondschopf hob sich und grüne Tümpel voll Verzweiflung klagten die ganze Welt an. Schluchzte ihm vorwurfsvoll mitten ins Gesicht. »Wo ist Seth?!« Tja. Scheiße. Das war ein wunder Punkt im Rudel. Wirklich? Sie kam hierher und suchte nach dem Baby-Verräter? Es schmeckte Paul gar nicht. Und Jared auch nicht, das spürte er. Aber Jared hatte eine festere Leine am Halsband seines Wolfes und Paul war nie jemand gewesen, der Selbstkontrolle besonders erstrebenswert fand. »Du kommst ein bisschen spät, Püppchen.« Er trat einen Schritt nach vorne, brach die lockere Anweisung Sams. Aber es war kein Leitwolfbefehl und Paul war zu sehr Paul, um die Gelegenheit davon ziehen zu lassen. Die riesengroßen Augen des Mädchens – Hannah, verbesserte er sich in Gedanken – fixierten ihn, ebenso wie die von Miss Taylor. Das eine Paar feucht und erschrocken, das andere misstrauisch. Er wusste nur zu genau wie ätzend seine Stimme klingen konnte. Wie ätzend sie geklungen hatte. Ironisch und bitter. Jared neben ihm seufzte. Ein ernüchtertes Geräusch, das verbale Äquivalent zu einem Kopfschütteln vollbrachte nichts weiter, als ein dunkles Lächeln auf Pauls Gesicht erscheinen zu lassen. Er spürte, wie sich seine Schultern aufpumpten, er intuitiv einen breiteren Stand einnahm. Der Kopf erhoben, der Blick verächtlich gesenkt. Geschaffen um einzuschüchtern. Das war Paul. Wurde Zeit dass die kleine Harpie das ebenfalls lernte »Loverboy ist ausgeflogen und kommt nicht mehr ins Reservat.« Er lehnte sich mit verschränkten Armen an die Holzpfeiler der Veranda. »Er hat Besseres zu tun.«   Das was der Overkill und die Reaktion kam sofort. Er meinte es anders als das Mädchen es verstand, aber hatte er es nicht genau darauf abgezielt? Dass Hannah es auf sich bezog? Aber Seth war nicht hier. Er hatte nicht nur das Rudel, sondern auch das Mädchen im Stich gelassen. Er stand auf der selben Seite mit Verrätern und den Feinden der Wölfe. Und es war wichtig, dass die Kleine das wusste. Dass sie wusste, was Seth für ein Junge war. Was für ein Mann er werden würde. Sie würde es sowieso erfahren. Warum das Ganze also in Watte packen? Alles was die Babies betraf – die Verräter die nach ihm gewandelt hatten – machte Paul dieser Tage wütend. Es half nicht, dass Seth eine Beziehung mit einem weißen Mädchen, einer Fremden, vor ihnen versteckt hatte. Oder was auch immer Seth mit der Kleinen verband. Irgendwas mit Herzschmerz und Teenagerliebe und dem ganzen Scheiß. Paul schnaubte. Das Geräusch verschmolz mit dem gebrochenen Ächzen, das dem Mädchen entfuhr. Sie sah als, als hätte er sie körperlich verletzt. Erstochen. Ein Dolch mitten ins Herz. Als ob er solche Hilfsmittel brauchten. Waffen waren was für Pussys. Er war eine Waffe. Sie alle waren Waffen. »Paul, halt die Klappe«, zischte Jared und Sam sandte ihm einen bissigen Blick. Sam, spannenderweise, war nicht wütend auf die Babies. Und es verstimmte ihn, wenn Paul zeigte, dass er es verdammt noch mal war.   »Das ist also deine Supertruppe, Sam Uhley?« Taylor hatte sich einen Schritt vor das Mädchen gestellt, die nun so aussah, als wären alle Tränen versiegt. Paul wusste allerdings nicht, ob ihm gefiel, wie sie jetzt aussah. Sie war wirklich ein Bleichgesicht. Eine stehende Tote. So sah sie aus. Himmel, ihre Lippen waren grau. Sein Blick huschte zu Taylor hinüber, die abwechselnd versuchte Paul und dann Sam mit ihren Augen zu erstechen. Baby, es braucht mehr als das. Zum Glück sagte Paul das nicht laut. Sam würde ihn dreifach Patrouillen rennen lassen. Und sie bekamen so schon kaum Schlaf. Taylor hielt sich so starr und aufrecht wie eine altmodische Zinnsoldatenfigur. Sie war weder besonders groß, noch irgendwie klein, aber Paul bemerkte, dass sie eine derjenigen war, die größer wirkten, wenn man sie ohne Referenz stehen sah. Einfach durch die Art, wie sie sich selbst hielten. Oder, in ihrem Fall, wie sie es fertig brachte, auf Sam herabzusehen, obwohl er sie um mindestens zehn Zoll überragte und sie hätte in seine Taste stecken können. Alles an ihr wirkte … einfach über. Zu viel. Irgendwie. Und es kratzte Paul wie ein verdammter Floh. Sie war nervig. Auf diese bücherlesende, sich selbst für etwas Besseres haltende Art, die ihn so sehr ankotzte, dass er es gern besiegelt hätte. Gleich hier. Auf die Veranda. Vor ihre Füße. Wie gern würde er dann ihr Gesicht sehen. Überhaupt. Supertruppe? Er sagte denn so was, scheiße nochmal?! Sie klang wie eine verfickte Großmutter. »Ein paar aufgepumpte Möchtegern Bad-Boys mit mehr Muskeln als Hirn? Was soll das hier? Eine Eigenstudie zu Steroid Missbrauch?« Durch die Hitze die Paul durchfuhr, bemerkte er, dass ihre Augen bei ihren letzten Worten an seiner Brust zu kleben schienen, bevor sie ihren Blick losriss, um die anderen damit anzuklagen. Pauls Atmung reagierte damit, tiefer zu werden. Es war weniger die Beleidigung selbst. Die war lächerlich und Paul bei weitem Schlimmeres genannt worden. Es war die Art und Weise, auf die sie sie ausspucke. Wieder. Als wäre sie etwas so viel Besseres. Eine scheiß Herzogin oder so was. Und zusätzlich zu dem Ärger, die ihre Respektlosigkeit ihm bereitete, war es diese Überheblichkeit, die ihn mehr als alles andere in Brand steckte. Seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. Es war höhnisch und anmaßend. Und nur dazu da sein Gegenüber noch mehr zu reizen. Damit sie ihm bitte, bitte, bitte das letzte Bisschen lieferten, dass ihn heiß laufen lassen würde. Und dann konnte nur ein Alpha Befehl ihn noch stoppen. »Werfen sie dafür ihre Zukunft weg? Damit sie Gewichte stemmen können?« Sie atmete heftig während sie wild mit ihren Armen gestikulierte. »Sie gehören in die Schule, Uhley. Und ich weiß genug, über das was vorgeht, um zu wissen, dass es deine Schuld ist, dass sie hier sind!« Ihre Worte waren so abstrus, das Paul sie für einen Witz hielt. Jared wohl auch, denn er lachte. Taylors Kopf ruckte so schnell herum, dass ihr Hirn innen drin an den Schädel schlagen musste. Ihr Blick so voller indignierter Rechtschaffenheit, dass es Paul schon beim Zusehen anstrengte. »Sie kam, sie sah und sie sprach nur Bullshit«, sagte Paul und leckte sich die Zähne. Er konnte sehen, dass sie das verunsicherte. Instinktiv bemerkte sie, dass an diesem Anblick etwas nicht stimmte. Sie hielt die Luft an. Ganz richtig, Baby. Wir sind große, böse Wölfe und du bist in unsere Höhle gekommen. Sieh zu, wie du damit klar kommst. Sie wirkte einen kurzen Augenblick verstört. Von ihrer Bravade beraubt. Beraubt. Das Wort triggerte den Wolf. Für ihn sah sie aus wie Beute. Roch wie Beute. Pauls Nasenflügel weiteten sich und er nahm Witterung. Subtil. Er wusste, wie man das Animalische verbarg, kannte die Grenze zwischen Wolf und Paul. Kannte sie ganz genau. Er beschloss nur manchmal bewusst, sie zu übertreten. Ein kleines Bisschen. Adrenalin begann in seinen Adern zu schäumen. Zu erwarten, das alles hatte sich aufgebaut. Aufgestaut. Erst die Geräusche, dann die Vorwürfe. Der Zorn der kleinen Range vor ihnen, die von der blank polierten Oberfläche von Pauls Knochen zurückgeworfen wurde und in seinem Blut widerhallte. Die Erinnerung an Seth. Verrat, brüllte der Wolf und rammte gegen die Gitterstäbe seiner Selbstbeherrschung, die Paul nie so ganz fest in seinem Geist verankern konnte. Und die Verachtung. Auf diesem kleinen, sommersprossigen Gesicht. Der Wolf lechzte danach ihr eine Lektion zu erteilen. Ihr Angst einzujagen. Und der Mann … nun, der wollte sie übers Knie legen. Das Bild Paul in den Kopf schoss, war so urplötzlich wie die körperliche Reaktion darauf. Er wurde hart. Das an sich war nicht so ungewöhnlich. Kampf, Gewalt, Adrenalin, Sex. Bei ihm schien all das nah beieinander zu liegen. Als könnte sein Blut, wenn es einmal kochte, sich nicht entscheiden, wo es gebraucht wurde. Rot und drängend. Dennoch überraschte es ihn. So sehr, dass er den Moment verstreichen ließ und sie ihren Mut wiederfand. Tapferes Mädchen. Sie schob ihre Angst, die für sie genauso aus dem Nichts gekommen sein musste wie sein Ständer für ihn, beiseite. Paul konnte sie immer noch riechen, es war, was den Wolf um Kontrolle kämpfen ließ. Aber sie harkte ihren Blick weiter über ihre Köpfe hinweg, das jüngste Gericht auf dem Rasen des Rez. In Form eines kleinen Drachens in unpassender Kleidung. Es fiel ihm jetzt erst auf. Während er sie näher betrachtete – dank seiner überraschenden körperlichen Reaktion, war seine Aufmerksamkeit nun anders gefesselt. Sie war gekleidet wie eine Sekretärin. Strumpfhose, Rock, die dämlichsten Schuhe die er an den Füßen einer Frau je gesehen hatte. Zumindest im Reservat. Und einer dieser Jacken die wohl modisch sein sollten. Paul war kein Experte, aber er fand Schulterpolster gruslig. Ihre gesamte Aufmachung schrie frigide. Und sein Finger ächzten danach, all diese Aufgeräumtheit in reines, pures Chaos zu verwandeln. Leider bemerkte sie die schamlose Weise auf die er sie auscheckte nicht mal. Sie war zu sehr damit beschäftigt, auf einmal Collin ins Visier zu nehmen. »Was soll das, Collin? Was machst du hier?!« Paul drehte kurz den Kopf, um seinen Bruder anzusehen. Es überraschte Paul, dass die kleine Range Collin mit dessen Namen angesprochen hatte. Collin tat sein Bestes, um unter ihrem Blick nicht zusammenzusacken. Aber so ausgesondert, all der Fokus ihrer Entrüstung auf ihm, war zu hart für den kleinen Kerl. Paul sah, wie Collin rot anlief und dann den Kopf senkte. Es war genug, um Paul wieder rot sehen zu lassen. Sie hatte nicht das Recht hier her zu kommen und ihren Bullshit hier abzuladen. Und schon gar nicht würde er zulassen, dass seine Brüder sich ihretwegen mies fühlte. »Hey, Lady-« , begann er, doch sie ignorierte ihn. Ihr Gesicht wandelte sich, die Anschuldigung nur noch verwaschen auf ihren Zügen zu sehen. Stattdessen sah sie jetzt besorgt aus. »Was ist mit dem College, huh?«, fragte sie und ging einen Schritt auf Collin zu. Alarmiert sah Paul zu seinem Alpha. Aber Sams Blick war auf Hannah gerichtet, die ohne die haltenden Arme der Drachenlady nun wieder so aussah, als würde sie jeden Moment umfallen. Wer waren diese Beiden? Und warum hatten sie das ganze Rudel in so kurzer Zeit völlig aufgewiegelt? »Weißt du noch, was du mir erzählt hast? Erinnerst du dich daran? Oder hat er es dir ausgeredet?!« Ihr Blick flackerte zu Sam hinüber, dann wieder zurück zu Collin, der seine Füße anstarrte. »Es ist nicht zu spät Wirklich nicht. Aber du musst zurück in die Schule. Ich kann dir nicht helfen, wenn du es nicht tust.« Darum ging es hier? Die verdammte Schule? Paul lachte. Es war ein dunkles Lachen. Laut und hart und nicht amüsiert. Die Drachenlady schickte ihm einen dunklen Blick. Sie wollte erneut mit ihrem Schwachsinn anfangen, aber Collin schüttelte den Kopf. »Nein, Miss Taylor. Das ist der letzte Ort, an dem ich sein muss.« Er spannte die Schultern und richtete sich auf. Entrollte jeden einzelnen seiner sechs Fuß und zwei Inches. »Ich werde hier gebraucht. Bei meinem … bei den anderen. Wenn sie es wüssten, würden sie es verstehen.« Pauls Mundwinkel kräuselten sich, als er den Welpen mit einem stolzen Blick betrachtete. Genau so war es. Er wurde hier gebraucht. Im Rudel. Und der Kleine hatte sich noch rechtzeitig gefangen, genau dieses Geheimnis nicht zu verraten. Genaugenommen war es der Befehl des Alphas der sie alle daran hinderte. Und wieder hatte es sich selbst bewiesen, wie wichtig dieser Befehl war. Während Collin zu wachsen schien, schrumpfte die Sekretärin. Sie bedachte Collin einige Augenblicke mit einem sorgenvollen Blick, dann konzentrierte sie sich wieder auf Sam. »Das liegt auf deinen Schultern, Sam Uhley.« Ihre Stimme war hart. Und Vorwurfsvoll. Und sie hatte so Recht. Wenn auch auf die falsche Art. Es lag auf Sams Schultern. Und der trug es mit derselben stoischen Verantwortung, mit der all den anderen Scheiß schulterte. Der Alpha erwiderte den Blick der Sekretärin ruhig. Er suchte sich seine Kämpfe aus und dieser hier war seine Energie nicht wert. »Sam?«Es war Emilys Stimme, die ihm vom Küchenfenster aus rief. Köpfe wandten sich in ihre Richtung, aber Em blieb unbeeindruckt. »Bring sie rein, sie werden da draußen gleich weggeweht.« Ein berechnender Ausdruck huschte über Sams Gesicht, als er den Blick von seiner Frau abwandte. Er sah das katatonisch wirkende Mädchen in seinem Vorgarten an und dann die Drachenlady, die ihre Aufmerksamkeit ebenfalls wieder Hannah zugewandt hatte. Eine Henne und ihr Küken. »Du hast die Lady gehört.« Sam nickte in Richtung des Hauses.»Ihr könnt euch aufwärmen und wir können über Seth sprechen.« Paul starrte ihn an. Überrascht von den Worten seines Alphas. Wieso tat er das? Fremde ins Haus einladen. Über Seth sprechen? Sam schuldete den Außenseitern keine Erklärung. Er war Alpha. Er war Chief. Trotz all ihres Gezeters schien die Sekretärin sich das ebenfalls zu fragen, denn Paul sah, wie ihre Augenbrauen sich kurz zusammenzogen. Der exakte Moment, in dem sie aufgab war deutlich zu erkennen. Er kam, als sie Hannah ansah, die mittlerweile so erbärmlich zitterte, dass selbst Paul beim Zusehen kalt wurde. Natürlich nur sprichwörtlich. Ihm war nie kalt. Nie. Nada. »Komm schon.« Der Aufforderung fehlte das Stählerne, das Sam in seinen Befehlen für das Rudel mit in seine Stimme wob. Wahrscheinlich war es das, was die Sekretärin am Ende in Bewegung setzte. »Fein«, sagte sie in einem Seufzten und fasste Hannah vorsichtig am Arm. »Wir werden uns anhören, was Sam Uhley über Seth weiß, in Ordnung, Schätzchen?« Sie lächelte ein ermunterndes Lächeln, das es fertig brachte, dass Hannah ebenfalls mit den Lippen zuckte. Ein wenig Licht war in ihre Augen zurückgekehrt. Aber es war ein fiebriges Leuchten. Es wirkte matt und krank und zu hoffnungsvoll. Die Sekretärin sah es auch. Und sie murmelte leise vor sich hin, als sie ihren Schützling neben sich her führte. Zu leise für menschliche Ohren, laut genug für die des Rudels. Es war nichts sehr Nettes. Paul grinste. Sein Blut schäumte noch immer. Er konnte die Hitze spüren, das Rauschen und Hämmern. Aber die Wut … die hatte er irgendwie, irgendwann in den letzten Minuten verloren. Vielleicht hatte sie sich in seinem Schwanz versteckte. Der war nämlich noch immer knüppelhart. Die Sekretärin stoppte kurz, als sie Hannah die kleinen Stufen die Veranda hinauf vorließ, ihre Augen fest auf den Rücken der Kleinen gerichtet. Scharf wie ein Habicht. Sie lauerte nur auf ein Stolpern. Die anderen hatten sich bewegt, um sie durchzulassen. Ein geschmeidiges, synchrones Rücken. Platz, damit Sam die Tür aufhalten konnte. »Schuhe ausziehen, der Matsch draußen ist fürchterlich«, rief Emily, ihre Stimme gleichzeitig durch das geöffnete Küchenfenster und die Fliegengittertür zu hören. »Und sag der Bande, dass ich Feuerholz brauche, Sam.« Emily brauchte kein Feuerholz. Kaum einer der Bewohner des Reservates brauchte je Feuerholz. Es zu hacken war so etwas wie der Volkssport des Rudels. Sams Idee. Es hielt ihrer aller Temperamente unter Kontrolle. Eine gute Arbeit. Holzhacken. Gut um Spannung abzuladen. Den Kopf frei zu bekommen. Es war außerdem ein Codewort für das Rudel soll abhauen. Sam bedachte Jared mit einem Blick und sein Beta antwortete mit einem Nicken. »Ihr habt es gehört. Geht euch nützlich machen.« Das war das Codewort für Patrouille. Und zwar jetzt! Die Sekretärin beobachtete den Abgang von Colin und Brady mit zusammengezogenen Augenbrauen und nachdenklichen Augen. Aber die Sorge darin war wohl dem Sozialdienst zu zu schreiben, den sie versuchte hier zu schieben, nicht der Tatsache, dass die beiden Muskelpakete sich mit so wenig Geräusch bewegten wie ein Schmetterlinge. Die Kleine, Hannah, wurde von Emily ins Haus gezogen, Kopf hängend wie ein mit Wasser übergossener Pudel. Einmal mehr fragte sich Paul, was dieses Theater sollte. Was wollte Sam den beiden Eindringlingen erzählen? Er musste sich von einem Gespräch mehr versprechen, als von einem Verweis vom Reservat. Es störte Paul, dass er vom Platz verwiesen worden war. Eigentlich sollte es ihn einen Scheiß interessieren. Aber irgendetwas hatte die Sekretärin an sich, das ihn verharren ließ. Sein Blick wanderte von Sam, der mit seiner Frau auf diese endlos nervige, widerlich süße, intime Weise wortlos kommunizierte, die Pauls Würgereflex triggerte, zu der kleinen Gestalt, nur einen Sprung entfernt. Es gefiel ihm, seine Welt in Sprüngen zu bemessen. Fünf hinüber zum Gartenschuppen hinter Sams Haus. Fünfzehn zum parkenden Auto der Sekretärin. Dessen Motor immer noch lief. Wie würde sie reagieren, wenn er sich jetzt verwandeln würde? Ein Sprung und ein Ratschen, das Reißen von Shorts und eine Eruption aus Fell. Würde sie schreien? Würde sie wortlos in Ohnmacht fallen? Was für ein Typ Erschreckter war sie wohl? Es war ein interessanter Zeitvertreib und seine Belustigung musste eine Aura bilden, die ihre Aufmerksamkeit anzog. Ihr Blick flackerte von der offen stehenden Tür, wo sie ihren Schützling beobachtet hatte, zu ihm. Zu Paul. Ihre Augen weiteten sich kaum merklich, als sie bemerkte, dass er sie anstarrte. Ein anderes Wort gab es dafür wohl nicht, denn dieses Mal sah Paul sie wirklich an. Er bemerkte, dass ihre Augen blau waren. Die Pupillen geweitet von Adrenalin, Zorn und Sorge, oder was immer der Treibstoff für ihren Motor war, sodass die Farbe von weiter weg nicht auszumachen gewesen war. Jetzt sah Paul sogar die kleine störende Lichtbrechung auf dem schimmernden Weiß ihrer Augen. Kontaktlinsen. Musste scheiße sein, nicht richtig sehen zu können. Doch das spöttische Lachen wollte sich nicht so richtig entwickeln. Es lag an ihrem Blick. An der Art wie er mit seinem kollidierte. Das erste Mal dass sie sich wirklich ansahen. Sie war seinem Blick vorher ausgewichen. Wieso? 21. 22. 23. Paul blinzelte. Dieses Mal war es deutlich. Vielleicht war es ihre Nähe, ihr Geruch der sich mit dem des Rudels und des Hauses vermischte. Der Wolf roch „Zu Hause“ und sie stand mitten drin. Salziger, lieblicher Duft von Frauenhaut. Ein weiche und saftige Note ging von ihr aus, die ihn gleichzeitig ent- und anspannte. Es half wohl nicht, dass er immer noch einen Ständer hatte. Lenkte diese Art von Gerüche immer in die untere Körperhälfte. Daran musste es liegen, dass der Wolf sich streckte und wohlig gurrte. Zur Hölle?! Sie roch gut, ok. Noch besser, weil sich ihr Geruch mit dem den Rudels mischte. Völlig übertrieben war seine Reaktion darauf. Paul fühlte sich, als wäre sein Körper eine Zündschnur. Nicht nur kurz davor Dynamit hochgehen zu lassen, sondern auch genervt von den winzigen Funken, die seine Haut abbekam. Kleine sensorische Fehlschaltungen. Und dazu das Gefühl, dass das hier eine Erinnerung war, obwohl es das offensichtlich nicht war. Es verwirrte Paul. Es verwirrte den Wolf. Allerdings war der gleichzeitig abgelenkt. Er trieb Paul dazu, etwas zu tun. Irgendwas. Ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Mehr als nur ihren Blick auf sich zu ziehen. Sieh uns an, schien der Wolf zu knurren. Sieh mich an und bewunder mich. Sieh mich an, oder ich beiß dich. Paul runzelte die Stirn und bewegte sich nicht. Entschied sich entgegen seiner Gewohnheit dagegen dem Wolf seinen Willen zu lassen, denn offensichtlich war der vollkommen übergeschnappt. Stattdessen betrachtete er die Sekretärin noch eingehender. Das Flattern der zarten Linien ihres Halses, als sie schluckte. Der schnell schlagende Puls, ein hypnotisierender Rhythmus, eine Millisekunde nach dem Takt ihres Herzschlags. Ebenfalls schnell. Aufgeregt. Nervös. Sie war definitiv nervös. Aber ihr Gesicht zeigte davon nichts. Das wirkte entschlossen. Determiniert. Ein kleiner General auf dem Weg auf das Exerzierfeld. Paul grinste. Und ihr Blick flackerte ein wenig. Er war ein beängstigender Bastard, wenn er Zähne zeigte. Und sie war nicht so tough, dass sie immun dagegen war. Das hatte sie schon beim ersten Mal gezeigt. Dass sie ihre kleinen Schultern straffte, war ein Beweis für ihren Mut. »Hey, Paul. Los jetzt, Mann!« Wenn Jared rief, folgte Paul für gewöhnlich. Aber etwas hielt ihn fest. Eine immer intensivere Abneigung seinen Blick von der Sekretärin zu lösen, deren Herz immer schneller schlug und deren Duft immer berauschender wurde. Der Wolf begann zu Japsen. »Paul!« Paul verengte die Augen, kurz davor zu knurren. Scheiße noch mal. Sie sollten ihn bloß in Ruhe lassen. Die Sonne wählte diesen Moment, um das dichte Wolkenmeer zu durchbrechen, das der Wind den ganzen vor sich her getrieben hatte. Wählte das Jetzt für ihre kurze Erinnerung Hey, ihr armen Scheißer, ich bin noch hier und tauchte die Umgebung in sanftes, goldenes Nachmittagslicht. Machte alles ein bisschen weniger trüb. Und es zauberte Feuerschein auf das Haar der Sekretärin. Es war rot. Ihr Haar. Wegen ihre Kamikaze-Frisur sah man es schlecht, so streng zurückgebunden wie es war. Aber die Sonne ließ es in Flammen aufgehen und enthüllte die Wahrheit. Sattes Mahagoni. Dunkel und leuchtend. Paul hielt die Luft an. Rot. Heilige Scheiße. Rotkäppchen inmitten der großen, bösen Wölfe. War das nicht so beschissen, dass es schon wieder abgefahren war.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)