Bauchgefühl von Norrsken (Ein Ass im Bett) ================================================================================ Kapitel 1: 1994-09-20 --------------------- Über das Gelände der Einrichtung läutete die Glocke im tiefen Ton und rief zum Appell auf. Die Kinder aus allen Einheiten begaben sich auf den großen Vorhof der Klosterkirche und standen in Reih' und Glied. Hinter der Spitze des Glockenturms tauchte die Sonne den Himmel in Rot zur Abenddämmerung. Das Training war für diesen Tag beendet und während die Ausbilder die Anwesenheit kontrollierte, wurden die Aufgaben verteilt, die bis zum Abendbrot zu erledigen waren. Yuriy ging mit Boris und zwei anderen Kindern die blechernen Arenen vom Platz tragen, um sie zu polieren und über Nacht im Schuppen zu verstauen. Das Schleppen war mühselig, doch es war eine der angenehmeren Aufgaben, mit der sich die Zeit bis zum Essen gut überbrücken ließ. Immer zu zweit trugen sie eine Arena und stapelten sie provisorisch. Mit jedem weiteren Schritt hatte Yuriy das Gefühl, dass sein Magen lauter knurrte. Das Mittagessen hielt nur selten bis zum Abend vor. Doch er wusste, wie er es am besten ignorieren konnte. Das hatte er bereits auf der Straße gelernt. Sobald alle Arenen im Schuppen standen, schrubbte jeder mit einem Lappen über die Bowl. Dabei verlor Yuriy sich gerne in Gedanken. Er betrachtete die feinen Kerben im Metall und rekonstruierte vor seinem inneren Auge die Laufbahnen der Beyblades und wie die Kollisionen verlaufen waren. So etwas fiel ihm leicht und die Zeit vergaß er darüber. Die anderen Drei nutzen die Gelegenheit zum Schwatzen, denn die hatten sie nur selten. Yuriy war es einerlei, ob er an solchen Gesprächen teilnahm. Er hatte selten etwas beizutragen und es interessierte ihn nicht. Außerdem war es den anderen Kindern offensichtlich unangenehm, selbst wenn er nur teilnahmslos dabei stand. Für Yuriy war es letztendlich nur wichtig, dass die Arbeit darüber nicht vernachlässigt wurde, sodass sie zeitig zum Abendbrot kamen. Sie kamen trotz Unterhaltung zügig voran und wurden frühzeitig fertig. Entgegen ihrer Erziehung, liefen sie jedoch nicht gleich zum Hauptgebäude, um sich dort zu melden, sondern blieben im muffigen Schuppen. Yuriy setzte sich auf einen Sprungkasten und hatte von dort eine gute Sicht durchs Fenster auf den Vorhof. Sollte ein Ausbilder ihre Arbeit kontrollieren wollen, würde es mitbekommen und konnte Bescheid geben. Es gab nicht viel außer diverser Sport- und Trainingsgeräte, trotzdem fanden die Kinder für sich eine Beschäftigung. Sie teilten den Schuppen in Gebiete auf, die es zu erobern galt. Ihre Ausrüstung bestand dabei aus Besen und Harken. Ihr Abenteuer daraus, durch einen Tunnel zu kriechen, über einen Abhang zu hangeln und zum Schluss auf einem Gebirge zu rasten. Zwischen dem Sprungkasten, auf dem sie saßen, und Yuriy stand ein Turnbarren. Die letzte Hürde. »Wer es schafft, erobert Schloss und Zarentochter«, entschied einer der Jungs über den Abschluss ihres Abenteuers. »Meinst du damit Yuriy?«, fragte Boris. Seine Kumpane unterdrückten ein Prusten und tauschten vielsagende Blicke. Yuriy behielt den Blick stur aufs Fenster gerichtet, konnte aber in der Spiegelung sehen, wie sie feixten, weil sie glaubten, er bemerke es nicht. Über seine Stirn zogen sich kleine Fältchen ob der unbedarften Frage von Boris, die einen Scherz auf seine Kosten mit sich brachte. Im nächsten Moment wackelte seine Sitzgelegenheit unter ihm und er kam nicht umhin, nach dem Ursprung zu schauen. Boris, der eben noch bei den geschwätzigen Jungen war, hatte sich neben ihn auf den Kasten geschwungen. Sein Grinsen erinnerte mehr an ein Zähnefletschen und brachte das Kichern zum Verstummen. Yuriys Mundwinkel zuckte leicht. Es wurde zum Essen geläutet und das Abenteuer wurde mit Boris als Sieger beendet. Yuriy ging mit ihm vor, während die beiden anderen Jungen wenige Schritte hinter ihnen lagen. Nachdem ihnen der Spaß vergangen war, lagen ihre Blicke stechend auf Boris. Der schien es – im Gegensatz zu Yuriy – nicht zu bemerken oder aber ignorierte es völlig. »Armselig«, nuschelte einer von ihnen und gewann so doch ihre Aufmerksamkeit. Boris blieb stehen und wandte sich mit gerunzelter Stirn zu ihm um. »Was?« Trotz seiner jugendlichen Stimme hörte Yuriy ein Knurren heraus. Möglichst gelassen zuckte der Junge mit den Schultern und schob seine Hände in die Hosentaschen. »Eine Zarentochter, die keiner will, ist armselig.« Yuriy war neben Boris stehen geblieben und betrachtete die beiden Jungen mit ihrem hämischen Grinsen. Die Worte galten ihm, auch wenn er nicht verstand, wieso. Boris schien es ähnlich zu gehen. Seine Augen verengten sich und er straffte die Schultern. »Wer ist armselig?« Die beiden Jungen wichen einen halben Schritt zurück, bevor der Knabe, der sich bisher ruhig verhalten hatte, eine Antwort wagte: »Der Gewinner ohne Preis und der Preis, den keiner will.« Dieses Kontra holte aus Yuriy nichts als einen müden Augenaufschlag. Dass sie wegen eines albernen Spiels in ihrer Ehre gekränkt waren und einen Streit inszenierten, zeigte ihm, wie kindisch sie waren. Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte er sich zum Gehen. Immerhin hatte die Glocke bereits einmal geläutet und sie hatten sich in der Haupthalle zu versammeln. Doch Boris hielt ihn am Arm zurück. Irritiert runzelte er die Stirn und blickte über die Schulter zu seinem Freund. Er dachte, dass Boris‘ Augen eine gräuliche Färbung hatten, aber aus der Nähe betrachtet waren sie doch eher mintgrün. Das Atmen fiel ihm schwer, weil seine Nase platt gedrückt wurde, und bei der Kollision ihrer Lippen schmeckte er Blut. Dieser Trotzanfall endete abrupt, als Yuriy und Boris an den Krägen voneinander gerissen wurden. »Was glaubt ihr, was ihr hier treibt?!«, zischte der Ausbilder und obwohl es eine Frage war, wussten alle vier, dass keiner zu Antworten hatte. Yuriys Nackenhaare stellten sich auf, als er grob von dem Erwachsenen mitgezerrt wurde und die beiden Jungen, mit denen er heute den Dienst teilen musste, sahen ihm und Boris mit aufgerissenen Augen nach. Das Abendbrot würde für sie ausfallen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)