Omniscient von lady_j (YuKa) ================================================================================ Prolog: Bakuten --------------- An: hiwatari.kai@gmail.com 11.05.2003, 15:45 Betreff: Medikamente Nimmst du die Medikamente, die der Therapeut dir verschrieben hat? An: yuriyivanov@mail.ru 12.05.2003, 22:03 Betreff: Re: Medikamente Du kannst Kyrill Pavlowitsch vertrauen. Er ist engagiert und hat mir bisher sehr geholfen. ~ An: yuriyivanov@mail.ru 03.07.2003, 20:00 Betreff: Prozess Wie läuft die Verhandlung? Man bekommt fast gar keine Informationen. Haben meine Aussagen was gebracht? An: hiwatari.kai@gmail.com 05.07.2003, 9:15 Betreff: Re: Prozess Deine Aussagen und die deines Großvaters haben sehr geholfen. Wir sind hier alle froh, dass er geständig ist. Was machst du jetzt, wo er verurteilt ist? Es zieht sich hin, aber Volkov wird auch langsam mürbe. Wir haben gute Anwälte. Ivan geht es nicht gut, die ganze Sache ist noch zu viel für ihn. Kyrill Pavlowitsch kümmert sich aber sehr gut um uns alle. Yuriy An: yuriyivanov@mail.ru 05.07.2003, 13:57 Betreff: Re: Re: Prozess Danke für die Informationen. Was mich betrifft, so werde ich wohl erst einmal ein Internat besuchen. Die Ferien verbringe ich bei meiner Mutter in Moskau oder in Japan bei Freunden. So genau weiß ich das noch nicht. Wir bringen das Arschloch hinter Gitter. Ganz sicher. An: hiwatari.kai@gmail.com 06.07.2003, 18:30 Betreff: Re:Re:Re: Prozess Es sieht gut aus. Alle Zeugen sind vernommen und Volkov ist auf dünnes Eis geraten. Er sagt jetzt nichts mehr. Das Urteil wird morgen ausgesprochen. Du wirst es dann wohl auch in den Medien sehen. PS: Wenn du in Moskau bist, können wir uns treffen. An: yuriyivanov@mail.ru 07.07.2003, 22:20 Betreff: Re:Re:Re:Re: Prozess Yuriy, ich habe von der Verurteilung gehört. Es ist einfach großartig! Besser hätte es gar nicht laufen können. Kai PS: Ja, können wir. ~ An: hiwatari.kai@gmail.com 16.07.2004 Betreff: -kein Betreff- Kai, wir haben das von Yuuya gehört. Das ganze Team ist geschockt. Was sind das für Typen, für die der Kleine gearbeitet hat? An: yuriyivanov@mail.ru 20.08.2004 Betreff: Re: -kein Betreff- Yuriy, ich war seit einiger Zeit nicht mehr online. Ich habe mich nicht in der Lage gefühlt, mit irgendwem darüber zu reden, zumal auch die Weltmeisterschaft vor der Tür stand. Habe mich vor einer Woche dazu entschlossen, mir wieder von Kyrill Pavlowitsch helfen zu lassen. Er ist wirklich sehr geduldig, auch auf die Entfernung. Ich möchte deswegen nicht nach Russland. Kyrill Pavlowitsch hat angedeutet, dass es bei euch Probleme gibt. Ich weiß, er hätte es nicht tun sollen, aber du weißt ja selbst, dass ich niemandem etwas sagen würde. Was ist da los bei euch? ~ An: yuriyivanov@mail.ru 28.08.2004 Betreff: Yuriy? Jetzt bist du es, der sich nicht meldet. Ich will mir keine Sorgen machen müssen. ~ An: hiwatari.kai@gmail.com 03.06.2005, 10:10 Betreff: Weltmeisterschaft Kai, ich weiß, wir haben mal wieder lange nichts voneinander gehört. Wir hatten hier zwischenzeitlich einige Probleme zu lösen. Inzwischen sind wir aber alle auf dem richtigen Weg, Dank Kyrill Pavlowitsch. Boris, Sergeij und ich fühlen uns bereit, an der Weltmeisterschaft teilzunehmen. Nur Ivan wird wohl keinen Beyblade mehr anfassen. Wir brauchen einen vierten Mann. Ich habe mir erlaubt, eine Anfrage an Daitenji zu schicken, aber vielleicht ist die gar nicht angekommen. Daher ganz ohne Umschweife: Hast du Interesse? Yuriy An: yuriyivanov@mail.ru 06.06.2005, 22:14 Betreff: Re: Weltmeisterschaft Yuriy, du weißt, dass ich für das japanische Team aufgestellt wurde. Kai Bakuten Kai trank seinen Kaffee aus und warf den Pappbecher in den Mülleimer neben der Tür, bevor er das Trainingscenter betrat. Es war noch früh am Morgen, in der Eingangshalle und auf den Fluren waren noch nicht einmal die Lichter angeschaltet. Der Empfangstresen würde erst ab neun Uhr besetzt werden, wenn das Gebäude offiziell als geöffnet galt. Kai war schon seit einer ganzen Weile nicht mehr so früh hier gewesen, denn irgendwann war er dazu übergegangen, abends nach Schließung zu trainieren. Dann war es egal, wenn er die großen Arenen in der Haupthalle länger nutzen wollte. Er war müde. Vermutlich würde er heute mehr als einen Becher Kaffee benötigen, um das Training zu überstehen. Schon bereute er seine Entscheidung, doch es war unmöglich abzusehen, wie lange Hitoshi Kinomiya sie drangsalieren würde. Da Kai auf seinem eigenen Training bestand, musste er also wohl oder übel früher anfangen. Das Licht im Flur lief noch mit Bewegungsmelder und ging unvermittelt an, sobald er ein paar Schritte machte. Die für sie reservierten Räume befanden sich im ersten Stock, sie waren über eine Treppe im hinteren Gebäudeteil erreichbar. Gerade als er im Treppenhaus stand, vibrierte sein Handy. Das Display erleuchtete die Umgebung, dann flackerten auch hier die Lampen auf. Kai hatte in den letzten Tagen schon mehrere SMS ungeöffnet gelassen, da sie von einer Person stammten, die er gerade lieber ignorierte. Doch der Name, der jetzt angezeigt wurde, war ein anderer. Du willst mir doch nicht weismachen, dass du lieber mit als gegen Kinomiya antrittst? Es musste Yuriy wirklich wichtig sein. Als Kai seine E-Mail gelesen hatte, war er bereits einigermaßen überrascht gewesen. Sie hatten seit vielleicht einem Jahr nicht mehr miteinander kommuniziert. Das lag nicht daran, dass sie sich nicht mochten - im Gegenteil, spätestens nachdem Kai gegen Volkov ausgesagt hatte, hatten sie im stillen Einvernehmen Frieden geschlossen. Außerdem waren in den Monaten, die darauf folgten, viele von Kais Kindheitserinnerungen zurückgekommen, ein Verdienst des Jugendpsychologen Kyrill Pavlowitsch, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den Abteijungen zu helfen. Er verdankte es ihm, dass er inzwischen wieder ungefähr wusste, wie seine Jahre in Moskau verlaufen war. Es klafften noch immer große Lücken in seinem Gedächtnis, doch er konnte nun eine ungefähre Chronologie rekonstruieren, und das half ungemein. Und da das Nachspiel von Borgs Untergang sie alle betraf, hatte es sich irgendwie ergeben, dass er mit Yuriy sporadisch in Kontakt geblieben war. Sie hatten sich sogar mehrmals getroffen, als Kai vor einiger Zeit ein paar Wochen in Russland verbrachte. Bis dann alles vor ungefähr einem Jahr eingeschlafen war. Und jetzt dieses Angebot. Natürlich hatte Yuriy von Reis und Max’ Ausstieg gehört, es war auf und ab durch die Medien gegangen, noch bevor die Vorrunden in Tokio begonnen hatten. Er musste vermuten, dass Kai ähnliche Ambitionen hatte wie seine ehemaligen Teamkollegen. Kurz vor dem japanischen Turnier hatte Daitenji ihn zu sich gerufen. Auf dem Tisch hatten mehrere offizielle Anfragen gelegen, von unbekannten Teams, aber auch von niemand geringerem als Ralf vom Euroteam. Und von Yuriy. Beim Anblick der Papiere hatte Kai sich gefühlt, als würde auf seiner Stirn das Wort „verfügbar” leuchten. Daitenji hätte jede Entscheidung bewilligt, doch er hatte sie alle unbeantwortet gelassen. Einfach, weil er es konnte. Und außerdem brauchte er Bedenkzeit. Das war vielleicht der erste Schritt in die falsche Richtung gewesen. Denn noch während er überlegte, ob er überhaupt in Japan antreten sollte, hatte Shippu-no Jin ihn heimgesucht, und das hatte die Situation nicht gerade besser gemacht. Jin hatte ein Talent dafür, mit wenigen Worten den richtigen Nerv bei seinem Gegenüber zu treffen. Es hatte geklungen, als hätte er Kai bereits für Kinomiyas Team abgeschrieben. Doch Kai hasste es, wenn andere Menschen meinten, zu wissen, was er vorhatte. Und so hatte er das getan, was am untypischsten für ihn war und war dem kläglichen Rest der Bladebreakers ausnahmsweise einmal treu geblieben, auch wenn es bedeutete, Jin gegenüber nachzugeben. Er redete sich ein, dass alle anderen Teams sowieso zu schwach für diese Weltmeisterschaft waren. Mit einem schwachen Team kam er nie und nimmer ins Finale, und wenn er überhaupt in diesem Turnier antrat, dann wollte er nicht in einer bedeutungslosen Zwischenphase ausscheiden. Aber jemand wie Yuriy ließ sich von einer bürokratischen Nebensächlichkeit wie der Tatsache, dass Kai für Japan aufgestellt wurde, nicht abhalten. Immerhin war er Leader von Borg. Und ein ehemaliger Weltmeister. Also war er direkt auf Kai zugekommen und hatte ihn erneut in eine Zwickmühle gebracht. Sein Angebot konnte Kai eigentlich nicht ausschlagen, und außerdem imponierte es ihm schon ein wenig, so umworben zu werden. Und doch… und doch… Yuriy und die anderen waren unweigerlich verbunden mit seiner Vergangenheit. Es gab leere Flecken in seinen Erinnerungen, die er sich nicht zu füllen wagte, noch nicht. Wussten sie mehr als er? Gab es Geheimnisse, die zwischen ihnen standen, ohne dass Kai auch nur davon ahnte? Er würde nicht danach fragen, denn er war sich sicher, sowieso keine Antwort zu bekommen. Es wäre schön, wenn sie einfach nur zusammen bladen konnten, doch mit Team Borg war genau das unmöglich. Seine Finger schwebten über den Tasten, er war unschlüssig, was er zurückschreiben sollte. Doch noch bevor er überhaupt zu tippen beginnen konnte, öffnete sich vor ihm die Tür zum oberen Stockwerk. Hitoshi Kinomiya stand ihm gegenüber und blickte ihn überrascht an. „Kai? Wie bist du denn hier reingekommen?” Er schob das Handy zurück in seine Hosentasche. „Ich habe eine Schlüsselkarte.” „Aber die bekommen doch nur Trainer!” „Ich war Teamcaptain der Bladebreakers”, entgegnete er, als wäre damit alles gesagt. Er mochte den älteren Kinomiya nicht und war sich ziemlich sicher, dass dies auf Gegenseitigkeit beruhte, wenn auch der andere offensichtlich um seine Anerkennung bemüht war. Darin unterschieden sich die Brüder nicht: beide wollten immer mit allen Leuten gut auskommen. Im Gegensatz zu Takao aber war Hitoshi weitaus berechnender; er versprach sich etwas von seinen Beziehungen. Zwischen ihm und Kai hätte friedliche Neutralität herrschen können, doch seit letzterer wusste, dass Hitoshi und Shippu-no Jin ein und dieselbe Person waren, hatte er jeglichen Respekt verloren. „Du bist früh”, sagte Hitoshi nun und folgte Kai, denn der hatte sich an ihm vorbeigeschoben und war schon auf dem Weg in den ehemaligen Trainingsraum der Bladebreakers, den sie nun als BBA Revolution weiter nutzten. Er war nicht groß, doch sie konnten sich immer hierhin zurückziehen, wenn es in den Hallen zu voll wurde. „Du auch”, entgegnete Kai und ging zu dem Getränkeautomaten, der in einer Ecke stand. Er zog sich einen gekühlten Kaffee. „Ich wollte den Trainingsplänen noch den letzten Feinschliff geben, bevor wir anfangen. Aber da du schon einmal hier bist - Wir könnten die Gelegenheit nutzen und ein wenig an deinem Angriffsschema arbeiten, was meinst du?” „Ich trainiere nach meinem eigenen Plan”, sagte Kai ungerührt und trank einen Schluck. Wieder spürte er ein Vibrieren in seiner Tasche. Was es in Russland nicht noch mitten in der Nacht? Hitoshi verschränkte die Arme, als Kai sein Handy hervorholte. Ich weiß, dass du auf Zeit spielst. Mein Angebot ist nicht ewig gültig! Er hob amüsiert die Augenbrauen. Solltest du nicht schlafen?, schrieb er zurück. „Ich denke, es ist besser, wenn wir als Team aufeinander abgestimmt trainieren”, sagte Hitoshi. Wahrscheinlich gefiel ihm nicht, dass Kai ihn so ignorierte. „Und meinst du nicht, du könntest noch etwas von mir lernen?” „Hmm”, machte Kai langgezogen. Er hatte gar nicht richtig zugehört. Wenn Hitoshi meinte, er könne einfach auftauchen, ihm noch vor dem japanischen Turnier auflauern und eine Motivationsrede halten und dann erwarten, dass er vor Freude im Kreis sprang, wenn er sich als Kinomiyas Bruder enttarnte - dann wusste er offensichtlich nicht das Geringste über Kai. Erneut leuchtete das Handy in seiner Hand auf. Sieh dir das Vorrunden-Finale in Moskau an und entscheide dann. „Und leg endlich das verdammte Telefon weg!”, herrschte Hitoshi ihn an. Nun endlich hob Kai den Kopf, ein süffisantes Grinsen auf den Lippen. Betont langsam legte er das Handy in ein Regalfach, das eigens zur Ablage ihrer Wertsachen angebracht worden war. „Und jetzt...Coach?” Seine Stimme triefte vor Sarkasmus. Er lehnte sich an das Regal und verschränkte die Arme. Wenn er Hitoshi schon innerhalb der ersten fünf Minuten auf die Palme bringen konnte, wie sollten sie eine ganze Weltmeisterschaft miteinander aushalten? Der andere schien Widerworte nicht gewohnt zu sein. Kai hingegen war nicht bereit, sich von Hitoshi etwas sagen zu lassen. Zeit also, die Fronten zu klären. Hitoshi zeigte mit dem Daumen über seine Schulter nach hinten, wo sich die Arenen befanden. „Dann geh halt”, befahl er, „Du wirst ja sicher nichts dagegen haben, wenn ich mir ein Bild von deinem...Training mache.” Die Betonung ließ keinen Zweifel darüber, was er von Kais Routinen hielt. Kai stieß sich ab und schlenderte zu Hitoshi hinüber. Obwohl genug Platz war, kam er dem Älteren sehr nahe, ließ seinen Blick unübersehbar über seine Statur wandern. Und zu seiner Genugtuung konnte Hitoshi nicht verbergen, wie ihn dies verunsicherte. Es zeigte sich nicht so sehr in seiner Haltung, eher in einer minimalen Veränderung seiner Mimik. Sein Mund öffnete sich und Kai hob herausfordernd die Augenbrauen, bereit für einen neuen Ausbruch. Doch in diesem Moment öffnete sich die Tür hinter ihm mit einem lauten Quietschen. Kyoujyu war ebenfalls ziemlich überrascht, sie zu sehen. „Oh, Guten Morgen! Ich dachte, ich werte noch ein paar Daten aus, bevor wir anfangen…” Er blieb unsicher stehen, die Hand immer noch an der Türklinke. Kai machte einen Schritt zur Seite, um nicht mehr unmittelbar vor Hitoshi zu stehen, der sich schnell wieder zu fassen versuchte. Das Lächeln, das er Kyoujyu zuwarf, wirkte aber noch ein wenig steif. Auch wenn alle anderen weit vor der Zeit begonnen hatten, kamen Kinomiya und Daichi etwa eine Stunde zu spät. Hitoshi verdrehte die Augen und Kai, der gerade seinen Blade überprüfte, warf ihm ein weiteres überhebliches Grinsen zu. Wäre er für das Training zuständig, hätte sich niemand getraut, unpünktlich zu sein. Shippu-no-Jin hatte wohl noch einiges zu lernen… Während sich die beiden Brüder in ein kurzes Wortgefecht verstrickten, schaltete der Sportsender, der im Hintergrund auf dem großen Flatscreen lief, zu den Vorrunden in Moskau. Obwohl inzwischen einige Renovierungsarbeiten stattgefunden hatten, war der Schnitt der Halle gleich geblieben. Es war dasselbe Stadion, in dem Kinomiya seinen ersten Titel gegen Yuriy geholt hatte. Kai wandte sich erneut von Dranzer ab und richtete sich auf, blieb aber auf seinem Stuhl sitzen, um nicht allzu interessiert zu wirken. Die Stimme der Sprecherin war leise, doch sie zu verstehen war auch nicht nötig, denn auf dem Bildschirm schlugen in diesem Moment zwei Blades aufeinander. Kai erkannte Wolborg sofort, nicht bloß anhand seiner weißen Farbe, sondern an den flinken Bewegungen. Sowohl sein Dranzer als auch Wolborg waren Ausdauerblades, die dennoch starke Attacken fahren konnten. Und Yuriy hatte es darin zur Perfektion gebracht. Schon nach ein paar Sekunden war klar, dass er sich verbessert hatte. Wolborgs Bewegungen waren sparsam, dafür lag in den Schlägen eine präzise Kraft. Seaborg, den Kai inzwischen ebenfalls identifiziert hatte, hielt sich gut, doch es war absehbar, wer gewinnen würde. Sergeij machte noch immer dieselben Fehler, die Kai schon vor Jahren an ihm gesehen hatte, freilich zu spät, immerhin hatte er damals gegen ihn verloren. Er hatte sich die Aufnahmen ihres Matches dutzende Male angesehen, eigens um herauszufinden, wo Seaborg verwundbar war. Nun wusste er es, und natürlich besaß Yuriy mindestens denselben Wissensstand. Wolborg holte aus und traf seinen Gegner in einem günstigen Winkel. Seaborg flog aus der Bowl. Sergeijs Gesicht, das nun eingeblendet wurde, zeigte kein Erstaunen, sondern nur ein zufriedenes Grinsen. Dann schwenkte die Kamera zu Yuriy. Kai war milde überrascht darüber, wie sehr er sich verändert hatte. Doch noch bevor er sich Gedanken machen konnte, woran das lag, wechselte das Bild erneut. Eine Statistik wurde eingeblendet, aus der hervorging, dass Yuriy und Boris als Gruppensieger das neue russische Team bilden würden. Und natürlich kam auch Sergeij dazu. Doch da Boris den Blade seines letzten Gegners komplett zerlegt hatte, gab es keinen vierten Mann. Ganz so, wie Yuriy es gesagt hatte. Kais Hand schloss sich um Dranzer und er sah nachdenklich auf seinen Blade hinab. Die Geräusche hinter sich blendete er aus. Was sollte er tun? Yuriy war stark, keine Frage, und sie würden schon irgendwie miteinander auskommen. Und es war eine Gelegenheit, endgültig zu klären, ob er besser sein konnte als Kinomiya. Doch wie würde letzterer reagieren, wenn nach Max und Rei nun auch noch Kai das Team verließ? „Na los, lasst uns trainieren!”, rief Kinomiya in diesem Moment, griff nach Daichis Arm und zog ihn mit sich zu den Bowls. „Kai! Willst du den ganzen Tag faulenzen oder was?” Kai verdrehte die Augen. Er stand auf, um in eine andere Ecke des Raumes zu gehen, wo Platz für Geschicklichkeitsübungen war. Während die anderen beiden sich in der Bowl schlugen, ließ er Dranzer Slalom um kleine Kegel fahren. Er beherrschte den Drill beinahe im Schlaf und so erlaubte er sich, seine Gedanken abschweifen zu lassen. Wann war er so rücksichtsvoll geworden, gerade im Hinblick auf Kinomiyas Gefühle? Er wusste, er hatte den ehemaligen Bladebreakers - seinen Freunden - in der Vergangenheit so einiges abverlangt mit seiner unterkühlten Art. Inzwischen kannten sie sich besser und Kai hatte sich tatsächlich daran gewöhnt, die anderen um sich herum zu haben. Sie vertrauten ihm, und ja, das machte ihn stolz. Vielleicht fiel es ihm deswegen so schwer, diesen Schritt zu tun. Dabei war das Team ja schon zerfallen! Max und Rei hatten die Vorzeichen gedeutet und waren gegangen, als noch Zeit dafür war. Sein Timing hingegen war wie immer schlecht. Wenn, dann hätte er Yuriy schon vor den Vorrunden zusagen sollen. Stattdessen hatte er einfach nur lange gezögert (beinahe zu lange, denn um ein Haar hätte er selbst die Anmeldung dafür verpasst) und war in das japanische Turnier eingestiegen. Diese Entscheidung hatte sich genau bis zu diesem Moment richtig angefühlt, als er gegen Daichi antreten musste. Durch Zufall hatte er ihn kurz zuvor in der Umkleide herumschreien hören: Dass er am Ende des japanischen Turniers gegen Kinomiya kämpfen wolle anstatt mit ihm in ein Team gesteckt zu werden, dass es nur einen Weltmeister geben könne und so weiter und so fort. Diese Worte hatten Kai mehr zugesetzt als er auch nur geahnt hätte. Und so hatte er einen Rückzieher machen wollen. Er hätte rausfliegen und entweder gar nicht oder noch mal in Russland antreten können. Doch dann hatten seine Instinkte, und vielleicht die Suzakus, dafür gesorgt, dass er Daichi schlug. Und nun steckte er hier in diesem Schlamassel. Dranzer kickte die Kegel um, dann fing er den Blade auf. Gleichzeitig ertönte ein begeisterter Ausruf von Kinomiya, der ihn anscheinend beobachtet hatte. Kai hob den Kopf und bemerkte, dass auch Hitoshi ihn musterte. Sein Blick war scharf und wissend. Ihr Coach ahnte etwas, natürlich tat er das. Daitenji und er waren beste Freunde, als musste er auch von den offiziellen Angeboten wissen, die für Kai bei der BBA eingegangen waren. Und auf einmal spürte er, wie Wut in ihm aufstieg. Erwartete Hitoshi allen Ernstes, dass er sich ihm kommentarlos fügte, erst Recht nach dem Schauspiel als Shippu-no Jin? Er wandte sich ab, damit niemand seine Wut bemerkte, und drehte sich zur Glasfront um. Bakuten flirrte unter der Sonne und in der Ferne glänzte die Kuppel des Stadions, in dem alle Beyblade-Turniere stattfanden. Kai hatte sich hier nie zu Hause gefühlt; er war schon immer lieber nach Tokio gefahren, um dort seine Freizeit zu verbringen. Selbst dieser Stadt gegenüber fühlte er also keinerlei Verpflichtung. Nun, er hatte die Wahl: Wollte er einen Schritt in die Vergangenheit machen und sich einem Team anschließen, das er lediglich zu kennen glaubte? Oder sollte er auf die sichere Karte setzen, sich dafür aber die womöglich letzte Gelegenheit für ein Entscheidungsmatch gegen Kinomiya entgehen lassen? Am Abend stieg er zur Aussichtsplattform hinauf, von der aus man einen weiten Blick über die Bucht von Bakuten hatte. Er setzte sich auf eine Bank und zündete sich eine Zigarette an. Normalerweise war er vorsichtiger, denn die Wahrscheinlichkeit war groß, dass seine Fehltritte in der Presse landeten, wenn er erwischt wurde; nach Sonnenuntergang traf man hier oben jedoch selten jemanden. Die Sonne war längst hinter dem Horizont verschwunden, nur noch ein orangeroter Streifen war über dem Meer zu sehen und es wurde merklich kälter. Kai bewegte die Schultern, denn nach dem Training waren sie tatsächlich ein wenig steif, und nahm sein Handy in die Hand. Zwei weitere Nachrichten, jedoch von der falschen Person. Er ließ einige Sekunden verstreichen, in denen er einfach nur rauchte und auf das Display sah. Dann seufzte er und wählte eine Nummer. Dieses Gespräch würde teuer werden. „Ja?” Im Hintergrund war Musik zu hören, die Kai überraschenderweise sofort erkannte. David Bowie. „Ich bin’s”, sagte er und lehnte sich zurück. Auf der anderen Seite erklang ein Lachen, die Musik wurde leiser gestellt. „Und ich dachte schon, du hättest irgendeinen windigen Deal mit Kinomiya gemacht, dass ihr euch beide nach dem Turnier um den Titel prügelt.” Yuriys Stimme war vertraut, und doch so anders. Tiefer. Kai ließ den Rest seiner Zigarette verglimmen und sah in den Himmel. „Das wäre nicht dasselbe wie offiziell gegen ihn zu gewinnen, nicht wahr?”, sagte er. „Ich wusste, du würdest zur Vernunft kommen”, sagte Yuriy, „Du bist also dabei?” „Ja”, entgegnete Kai. Kapitel 1: Irkutsk ------------------ Es war seltsam, Yuriy wiederzusehen. Kai nutzte die Zeit, in der er noch nicht bemerkt wurde, um ihn zu betrachten. Er war irgendwann in die Höhe geschossen, seine Schultern zeichneten sich unter der dünnen Jacke ab. Und sein Gesicht: Als hätte jemand alle störende Weichheit kurzerhand abgeklopft. Er sah sehr europäisch aus, fiel Kai auf, denn er war anderes gewohnt. Er hatte Japan seit einer halben Ewigkeit nicht mehr verlassen. Während der Überfahrt nach Wladiwostok standen sie nebeneinander an der Reling im Dunkeln und blickten auf das aufschäumende Wasser hinab. Die leichte Übelkeit verflog nur langsam. Sie schwiegen sich an, auch das war ungewohnt, normalerweise war Kai der einzige, der so stumm blieb. Auf seiner Zunge lagen Fragen, doch sie konnten nicht heraus, solange die Stille zwischen ihnen anhielt. Als wäre es ein Zeichen von Schwäche, zuerst zu sprechen. Erneut musterte er verstohlen Yuriys blasses Profil und falls der andere seinen Blick spürte, ließ er es sich nicht anmerken. Die blauen Augen waren auf das Meer gerichtet, das rote Haar flog im Wind. So viele scharfe Linien in diesem Gesicht. Er gab sich einen Ruck. „Yuriy”, sagte er, „Warum ich?” Selbst das Russisch fühlte sich fremd an, jetzt da er wusste, dass er es wieder alltäglich gebrauchen würde. Der Rothaarige drehte sich zu ihm und richtete sich auf, plötzlich musste Kai zu ihm hochsehen. „Das hat Boris mich auch gefragt”, entgegnete Yuriy, „Er glaubt nicht, dass du ins Team passt.” „Vielleicht hättest du auf ihn hören sollen.” Ein Grinsen, ironisch aber nicht gänzlich ohne Freude. „Ich brauchte einen starken Blader. Und ich wusste, du würdest mein Angebot nicht ausschlagen können. Deswegen habe ich dich gedrängt, obwohl du bereits in einem anderen Team warst.” Er machte eine kurze Pause. „Und deswegen bist du jetzt hier, obwohl du bereits in einem anderen Team warst.” Kai brummte. Vermutlich würde er nie eine bessere Antwort als diese erhalten. Er wollte sich schon umdrehen, um unter Deck zu gehen, als Yuriys Stimme ihn noch einmal innehalten ließ: „Gibt es noch irgendetwas, das ich wissen sollte, bevor wir einen auf Team machen?” „Was meinst du?” „Dinge die uns behindern können - Krankheiten, Verletzungen, Kindheitstraumata, Freundin -" „Ich habe keine Freundin.” Er hatte es nicht sagen wollen, nicht so, mit dieser Betonung. Doch das Wort hatte unschöne und leider viel zu junge Erinnerungen in ihm wachgerufen. „Hm?”, machte Yuriy. Kai schwieg. „...einen Freund?”, hakte der Rothaarige nach. Nun erwiderte Kai seinen Blick. „Nein. Nicht mehr.” Er wartete ab, ob noch eine Reaktion von dem anderen kam, doch an dessen Haltung veränderte sich nichts. Er wirkte höchstens milde interessiert. „Gut”, sagte er schließlich. „Und das Kindheitstrauma haben wir eh alle.” „Stimmt.” Und so war es ausgesprochen, und es war glimpflicher verlaufen als Kai erwartet hätte. Noch einmal spürte er Yuriys Blick auf sich. „Danke für deine Ehrlichkeit.“ Er hob die Schultern. Weitere Details würde er für sich behalten, und Yuriy konnte nicht einschätzen, wann er nun besonders offen war und wann nicht. Dazu waren sie sich zu fremd. „Gibt es denn etwas, das ich wissen sollte, bevor wir einen auf Team machen?”, wiederholte er nun seinerseits die Frage, und nicht, ohne einen provokanten Unterton mitklingen zu lassen. Er hatte damit gerechnet, dass Yuriy seine Worte an sich abprallen lassen würde. Stattdessen schien er sich kurz zu versteifen, wirkte beinahe ertappt. Der Moment war sofort wieder vorbei. „Nein”, sagte Yuriy, „Nichts.” Irkutsk Sie wohnten etwas außerhalb der Stadt am Ufer der Angara. Die Abtei kam als Trainingsort nicht mehr in Frage, und so hatte Team Borg sich nach anderen Möglichkeiten umgesehen. Draußen türmte sich der Schnee bis fast an die Unterkante der Fenster. Das letzte Aufbäumen des Winters hatte einen späten Schneesturm gleich in der ersten Nacht gebracht. Auch das Eis auf dem siebzig Kilometer weit entfernten Baikal war noch da, wenn auch nicht mehr so dick, dass man mit dem Laster darüber fahren konnte. Kai vermied es so gut es ging, sich die Ereignisse ins Gedächtnis zu rufen, die ihn selbst mit dem See verbanden. Es gelang ihm nur mäßig. Er war ungern draußen, wo alles weiß war und die Landschaft mit ihren verschwimmenden Konturen einem ständig Streiche spielte. Mehr als einmal war er unkontrolliert zusammengezuckt, wenn unter seinen Schuhen Eis gebrochen war - meist waren es nur Pfützen, doch das Gefühl, dass der Boden unter seinem Tritt bröckelte, hatte sich in sein Gehirn gegraben, und es gab nur sehr wenige Dinge, auf die er annähernd schreckhaft reagierte. Während sie auf die Ankunft von Sergeij, Ivan und Boris aus Moskau warteten und Yuriy sich mit dem Verwalter des Gebäudes über den desaströsen Zustand ihrer „Trainingshalle“ stritt, verbrachte Kai einen Großteil der Zeit in seinem Zimmer. Die Möbel bestanden aus Spanplatten, die mit einer Folie mit Holzmaserung beklebt waren und auf dem Boden lag Fleckiges Linoleum. Das alles verströmte einen charakteristischen, abgestandenen Geruch, der sich auch mit frischer Luft nicht gänzlich austreiben ließ. In Japan gab es diesen Geruch nicht. Man hatte natürlich all die großen Männer längst von der Wand genommen. Die Porträts der jüngsten Vergangenheit waren aus dem Haus verschwunden, alle bis auf eines: Im Speiseraum hing über den Tischreihen noch immer ein Bild von Juri Gagarin. Kai hatte einige Minuten davor gestanden und es betrachtet, dabei kannte er das Motiv seit seiner frühen Kindheit. Es war in jedem Schulbuch, auf viele Häuserwände gemalt, manchmal sogar als Skulptur gegossen: Gagarins Gesicht, gerahmt vom kreisrunden Helm des Kosmonautenanzugs, sein strahlendes Lächeln mit den ebenmäßigen Zähnen, seine halb zugekniffenen Augen, die vielleicht hell waren, meist aber fast schwarz wirkten. Es war irgendwie schwer vorstellbar, dass sein rothaariger Teamchef ausgerechnet diesem Mann seinen Namen zu verdanken hatte. Es war am Abend des zweiten oder dritten Tages, als Kai in den Speiseraum kam und Yuriy genau unter dem Bild seines Namensvetters sitzend fand. Der Kosmonaut blickte über ihre Köpfe hinweg in die Ferne. Kai setzte sich Yuriy gegenüber hin und nahm sich eines der Butterbrote von seinem Teller, die in dem kalten Licht des Raumes eine so unappetitliche Färbung erhielten, dass er nur lustlos darauf herumkaute. Doch seinem Teamchef schien es da nicht anders zu gehen. „Morgen kommen die anderen”, sagte er schließlich und Kai nickte nur. Seine letzte Begegnung mit Sergeij, Boris und Ivan lag mehrere Jahre zurück und hatte unter keinem guten Stern gestanden. An diesem Tag waren ihre Aussagen für den Prozess gegen Volkov aufgenommen worden. Die Tatsache, dass Kai der Enkel des Mannes war, der Borg jahrelang finanziert hatte, war nicht gerade die beste Voraussetzung für ihre Zusammenarbeit. Es war ziemlich klar, dass Boris ihn nicht leiden konnte, doch das beruhte zu einem gewissen Grad auf Gegenseitigkeit, denn Kai hatte nicht vergessen, wie schlimm der andere Rei bei ihrem Match in Moskau zugerichtet hatte. Sergeij war in dieser Hinsicht etwas entspannter, was vielleicht auch daran lag, dass er Kai damals besiegt hatte. Ivan schließlich tickte am ehesten wie Yuriy - es nütze dem Team, wenn sie Kai aufnahmen, also war es gut. Während die anderen nach ihrem Trainingslager zur Weltmeisterschaft aufbrachen, würde Ivan zurück nach Moskau gehen. Ob er überhaupt noch bladete? „Das Training beginnt morgen Nachmittag”, fing Yuriy wieder an zu sprechen. „Das ist verbindlich.” Kai hob eine Augenbraue. „Ich habe meinen eigenen Trainingsplan”, stellte er klar, doch im Gegensatz zu Hitoshi Kinomiya prallten diese Worte an Yuriy ab. „Aha”, machte er nur und der Hohn, der darin mitschwang traf Kai an einer empfindlichen Stelle. Auf einmal veränderte sich die Stimmung. Zuvor hatte zwischen ihnen interessierte Neutralität geherrscht, nun entstand wie aus dem Nichts ein Konflikt. Es hatte so kommen müssen. Sie waren beide überzeugt von ihrem Können und ihrer Position, und beide stellten sie nicht infrage, dass sie den jeweils anderen übertrumpfen würden. Doch während Yuriy kühl blieb, schien es Kai, als begännen in seinem Magen Flammen zu züngeln. Suzaku machte sich immer schnell bemerkbar, wenn er wütend wurde. Sie starrten sich über den Tisch hinweg an, verwickelten sich in ein stummes Kräftemessen. „Kai, wenn ich sage, wir trainieren zusammen, dann hast du diese Entscheidung nicht anzuzweifeln”, sagte Yuriy, nachdem ein paar Sekunden verstrichen waren. Er biss die Zähne zusammen. „Wie kommst du darauf, dass ich mir von dir sagen lasse, wie ich zu trainieren habe?”, fragte er gereizt. Yuriy lehnte sich vor, stützte die Ellenbogen auf den Tisch, nahm beinahe den ganzen Raum zwischen ihnen für sich ein. „Ganz einfach.” Seine Worte waren kaum mehr als ein Wispern und doch nahm Kai die Drohung in ihnen wahr. „Ich bin Teamcaptain. Du tust was ich dir sage.” „Ooh. Teamcaptain. Wow”, machte Kai sarkastisch. „Das heißt wohl, du bist hier das Mädchen für alles.” „Schließ nicht von dir auf andere”, erwiderte Yuriy, „Im Gegensatz zu deinen kleinen Freunden von der BBA nehmen Borg diese Rolle sehr wohl ernst.” Er konnte es nicht lassen, dem anderen Konter zu geben. Obwohl er wenig sprach, war Kais Mund manchmal schneller als seine Gedanken, gerade in Situationen wie diesen. Im Moment war ihm das egal. Er wollte Yuriy ein bisschen aus der Reserve locken. „Hm, das trifft sich gut”, sagte er deswegen, „Vielleicht sollten wir mal darüber nachdenken, ob nicht ein kleiner Wechsel an der Teamspitze nötig wäre.” „Was willst du damit andeuten, Hiwatari?” „Nun, findest du nicht, dass der stärkste Blader im Team auch Captain sein sollte?” Die blauen Augen blinzelten. „Was für ein Ego. - Du denkst also wirklich, du könntest hier reinstolzieren wie ein kleiner Zarewitsch und wir tanzen alle nach deiner Pfeife.” „Spiel dich nicht so auf, Ivanov”, gab Kai zurück. Er spürte Empörung, die eher zu Suzaku zu gehören schien als zu ihm selbst. „Du warst es, der mich für sein Team wollte, schon vergessen? Ich habe auch andere Optionen.” Es überraschte ihn nicht, dass sie nun hier waren, in dieser Situation. Bisher war es sowieso viel zu friedlich zwischen ihnen gewesen. Beide hatten sie abgewartet, wie der andere sich verhielt und waren dabei gleichsam neugierig und vorsichtig. Das konnte eine ganze Zeitlang gut gehen, wenn es Abstand gab, wenn sie nicht unmittelbar aufeinander angewiesen waren. Doch in einer Konstellation wie der jetzigen gab es nichts, was sie voreinander schützen konnte - und jedes Wort barg das Potenzial, zu einem Ausbruch zu führen. Yuriy hatte zuerst diese Grenze überschritten, nun würde er mit den Konsequenzen leben müssen. Kais letzte Worte schienen ihn wenig zu beeindrucken. Er schenkte ihm ein süffisantes Grinsen. „Drohst du mir?”, fragte er, „Willst du das Team wieder verlassen? Glaubst du, Kinomiya wird dich wieder aufnehmen, wenn du zu ihm zurückgekrochen kommst?” Natürlich würde er das nicht, und das war Kai klar. Wenn er Neo Borg verließ, gab es eigentlich nur eine Möglichkeit für ihn. Und es war nicht so, als hätte er nicht lange und gründlich darüber nachgedacht. Es war einer der Gründe, warum er gezögert hatte, sich überhaupt für dieses Turnier zu registrieren. Am Ende hatte sein Ehrgeiz, und wahrscheinlich auch sein Stolz, gesiegt. Aber um Yuriy das verdammte Grinsen aus dem Gesicht zu wischen, war ihm in diesem Moment jedes Mittel recht. „Nein. Ich werde einfach ganz mit dem Bladen aufhören”, sagte er und war selbst von der Kaltblütigkeit, mit der er das sagte, überrascht. Und tatsächlich veränderte sich Yuriys Miene. Sein Blick wurde forschend. „Das würdest du tun?” Nun war es an Kai, sich vorzubeugen, um das Spiel weiterzuführen. Sie kamen sich unangenehm nah, und doch wich Yuriy keinen Millimeter zurück. „Glaub mir, ich kenne meinen Wert”, stellte Kai klar, „Ich bin Kinomiyas größter Rivale. Ich bin einer der bekanntesten Blader der Welt. Die BBA verdient einiges damit, mich zur Schau zu stellen. Denk nur mal an den Aufschrei, den es geben wird, wenn die Welt erfährt, dass ich die BBA Revolution verlassen habe. Erst Schock - und dann werden die Fans sich förmlich zerreißen, denn sie können gar nicht abwarten, mich gegen mein ehemaliges Team antreten zu sehen. Und schließlich…” Er erlaubte sich nun auch ein Lächeln, „Schließlich weiß jeder Blader auf dieser Welt, dass das Team, dem ich mich anschließe, seine Chancen auf den Titel um ein Vielfaches erhöht.” Er beobachtete Yuriy jetzt ganz genau, doch der andere gab nichts Preis. „Und jetzt stell dir vor, ich höre auf”, fuhr er fort, „Ich mache es wie immer, ohne Ankündigung, ich bin einfach weg. Sicher, das Turnier wird trotzdem stattfinden. Aber was macht Kinomiya ohne seinen größten Rivalen? Was macht die BBA ohne diese Rivalität? Sie hat dann keine Story mehr, die sie verkaufen kann. Aber vor allem - was macht dein kleines Team in einem halbherzigen Turnier, bei dem ihr ohne mich höchstens bis zum Halbfinale kommt? Denkst du, ihr kommt gegen Rei an? Oder Max? Ihr, die ihr noch nie aus Russland rausgekommen seid? Also sag mir, Ivanov: Wer von uns beiden hat mehr zu verlieren?” Yuriy schloss die Augen. Irgendetwas ging in ihm vor, Kai konnte es beinahe fühlen, doch nichts davon drang an die Oberfläche. Sein Gegenüber schnaubte amüsiert. „Ich fasse es nicht, Hiwatari”, sagte er schließlich, „So viele Worte. Nur um zu zeigen, was für ein Arschloch du bist.” „Was für eine Bruchbude”, urteilte Boris und ließ mit einem lauten Knall seine Tasche auf den Boden fallen. Ivan neben ihm nickte und selbst Sergeij rümpfte die Nase. Boris ließ noch einmal den Blick wandern. „Na, aber es wird schon gehen. Hey, Yuriy!” Der Rothaarige war gerade aus einem Nebenzimmer gekommen. Kai beobachtete, wie sich die anderen begrüßten. Mehr durch Zufall hatte er gerade auf dem obersten Treppenabsatz gestanden, als die Eingangstür aufgegangen war. Noch hatten sie ihn nicht bemerkt. Sie gingen erstaunlich herzlich miteinander um. Besonders Boris zeigte offen, wie sehr er sich freute, Yuriy wiederzusehen. Auf Sergeijs Gesicht schien ein Lächeln zu liegen und Ivan zwang ihm einen Fist Bump auf, bevor er sich über die weite Anreise zu beschweren begann. Anscheinend hatte ihr Flugzeug drei Stunden Verspätung gehabt, und dann war es schwierig gewesen, eine Fahrmöglichkeit zu ihrem Trainingslager zu finden. Irgendwann würgte Sergeij ihn ab und erkundigte sich nach dem Befinden ihres Teamchefs. Doch Yuriy winkte ab. Nicht der Rede wert. Ob das die Antwort war, die sich die anderen erhofften, war fraglich, denn es breitete sich ein unangenehmes Schweigen zwischen ihnen aus. „Und?”, erklang schließlich Ivans Stimme, „Was ist mit Hiwatari?” „Bitte sag mir, dass er sich zu fein für uns war!”, fügte Boris prompt hinzu. Kai verdrehte die Augen und beugte sich über das Treppengeländer. „Ich bin hier, Kuznetsov.” „Ach, Scheiße!” „Die Freude ist ganz meinerseits.” Er stieg die Treppe hinab, blieb aber mit einigem Abstand vor ihnen stehen. Niemand schien ernsthaft froh zu sein, ihn zu sehen, aber das hatte er auch nicht erwartet. Boris seufzte theatralisch. „Ich habe dich gewarnt, Yura, also komm nicht zu mir, wenn er es vergeigt.” Yuriy machte ein unbestimmtes Geräusch und tauschte einen langen, kühlen Blick mit Kai. Dann wandte er sich abrupt ab. „Teambesprechung in einer halben Stunde”, sagte er. „Und zwar für alle!” Die anderen sahen ihm nach, als er wieder verschwand. Sie hatten sehr wohl bemerkt, dass das Verhalten des Rothaarigen eine direkte Reaktion auf Kai war und dachten sich wahrscheinlich ihren Teil. „Hmm”, machte Sergeij langgezogen. „Tja”, sagte Ivan und schulterte seinen Rucksack, „Sieht so aus, als hätte Hiwatari es schon vergeigt. Hat ja nicht lange gedauert.” Er ging an Kai vorbei und grinste ihn freudlos an. Sergeij und Boris folgten ihm, doch auch letzterer blieb noch einmal stehen, als er auf einer Höhe mit Kai war. „Ich wusste ja, dass du dumm bist”, raunte er ihm zu, „Aber es dir gleich in den ersten Tagen mit Yuriy zu verscherzen? Du machst dir das Leben wirklich schwer.” „Kümmere dich um deinen eigenen Kram”, entgegnete Kai. Doch anstatt wie zu erwarten aggressiv zu werden schien seine Antwort den anderen zu belustigen. Boris beugte sich ein wenig zu ihm, spitzte die Lippen und machte ein Kussgeräusch. Die Provokation wirkte, denn am liebsten hätte Kai ihm das blöde Grinsen aus dem Gesicht geschlagen. Endlich setzte Boris seinen Weg fort, doch nicht ohne eine letzte Stichelei: „Ich hoffe, du hast dir das gut überlegt, Hiwatari. Mit Yuriy sollte man sich jedenfalls nicht anlegen.” Kai trainierte, wie er immer trainiert hatte: allein. Er verließ ihr Quartier, bevor einer der anderen bemerken konnte, wohin er ging. Das Wetter draußen war ungemütlich, der Schnee legte den Verkehr im Umland lahm. Vielleicht würde ihr Flieger nach Moskau nicht starten können, dann würden sie niemals pünktlich nach New York kommen und alles war umsonst gewesen. Es wäre die Art von ironischer Wendung, die zu seinem Leben passte. Suzaku hielt ihn warm, deswegen brauchte er nicht einmal einen Pullover überziehen. Er spürte sie eigentlich immer, so stark war das Band zwischen ihnen geworden. Doch während einer intensiven Trainingsphase oder gar während eines Turniers, in dem viele Matches aufeinander folgten, wurde ihre Präsenz beinahe unerträglich. Sie war wie eine ständige Hitze unter seinem Zwerchfell, die, wenn es schlimm kam, ihn weder schlafen noch essen ließ. Alle Blader litten mehr oder weniger unter solchen Effekten ihrer Bitbeasts. Rei zum Beispiel vibrierte regelrecht nach harten Matches, denn ihn umgab dann eine elektrostatische Aura und jeder, der ihn berührte, bekam einen Schlag. Max wurde ständig schwindelig, weil Genbu irgendwie seinen Blutdruck durcheinander brachte. Und Takao war buchstäblich durch den Wind, und das die ganze Zeit. Wenn seine und Suzakus Energien ausgeglichen waren, spürte er weitaus weniger von ihr, zumindest nicht bewusst. Dank ihr war er deutlich immuner gegen extreme Temperaturen als andere Menschen. Und so konnte er die um ihn herumwirbelnden Schneeflocken ignorieren - ebenso wie das traumatische Knirschen unter seinem Tritt, was deutlich mehr Disziplin verlangte - und sich auf sein eigentliches Ziel konzentrieren: Den Fels hinter ihrer Trainingshalle. Er stand allein ein wenig vor dem Berghang, mehrfach übermannsgroß, wie hingeschleudert. Vermutlich war er vor Jahrtausenden aus einer Felswand weiter oben gebrochen und die Flanke des Berges heruntergestürzt, hatte dabei alles Leben in seinem Weg vernichtet. Und war zum Liegen gekommen. Und ragte nun vor Kai auf wie ein Mahnmal. Er war das perfekte Ziel. Kai brauchte einen Gegner, der nicht brach. Nur wenn ein Gegner unbesiegbar schien, konnte ein Beyblader über sich hinauswachsen. Auch deswegen konnte er nicht mit den anderen Trainieren. Boris, Sergeij und Yuriy waren starke Blader, die den meisten von Dranzers Attacken standhalten konnten. Zumindest lange genug, um ihre Wirkung zu erkennen. Doch Kai wollte mehr als das. Er wollte Suzaku heraufbeschwören und sie beide an die Grenzen des Machbaren bringen. Nur so würde er Kinomiya schlagen können. Er schoss Dranzer ab und der Blade flog, verschwand zwischen den dicken Schneeflocken. Dann blitzte etwas auf und mit einer winzigen Verzögerung drang der Laut von berstendem Stein an Kais Ohr. Dranzer war abgeprallt und bohrte sich vor seinen Füßen in den Schnee. Der Felsen hielt Stand. So ging es tagelang. Und natürlich blieb den anderen nichts verborgen. Boris machte keinen Hehl daraus, was er von Kais Verhalten hielt: Er warf ihm alle möglichen Beleidigungen an den Kopf und diskutierte wann immer es ging mit Yuriy, damit der Kai, wenn auch schon nicht ganz aus dem Team, so doch zumindest auf die Bank verbannte. Selbst Sergeij bedachte ihn nun mit angriffslustigen Blicken, wobei diese wohl eher darin begründet waren, dass ihm Boris Laune auf die Nerven ging. Ivan zeigte ihm die kalte Schulter. Und Yuriy tat - nichts. Zwischen ihnen herrschte kühles Schweigen. Kai war sich sicher, der Rothaarige wusste genau, wohin er ging und warum, doch er ließ ihn gewähren. Zumindest bis zu dem Tag, an dem Yuriy auf ihn wartete, als er von seinem Training zurückkam. Er stand mit verschränkten Armen in der Eingangshalle und maß ihn mit einem Blick, den Kai nur aus Stolz erwiderte. Er war erschöpft. Suzaku versengte seine Eingeweide, seine Haut brannte vor Kälte und seine Beine fühlten sich an, als würden sie jeden Moment ihren Dienst versagen. Doch vor Yuriy wollte er keine Schwäche zeigen. „Wie lange willst du noch den einsamen Wolf spielen?”, fragte er und Kai schwieg, schloss seine Hand fest um Dranzer, der noch immer ganz warm war von der Reibungshitze. Er ging auf den Rothaarigen zu, den Blick nun gesenkt, wollte sich an ihm vorbeidrängen. Gerade als er glaubte, der andere würde ihn gehen lassen, spürte er Yuriys Griff um seinen Unterarm. Seine Finger waren lang und kalt. „Kai, du kannst nicht einfach - „ Er brach ab. Vielleicht hatte er Suzakus Feuer gespürt. Kai nutzte die Gelegenheit und riss sich von ihm los, stürmte davon, in Richtung seines Zimmers. Er konnte Yuriys Blick in seinem Nacken beinahe körperlich fühlen, was ihn nur noch schneller laufen ließ. Beinahe wäre er gestolpert. Erst als er die Tür geschlossen hatte wagte er es, durchzuatmen. Dann erlaubte er sich, auf dem Bett zusammenzubrechen. Das Gesicht in den Kissen vergraben wurde er sich der Schmerzen bewusst. Sie hatten über die letzten Tage zugenommen, doch bisher hatte er es ignorieren können. Überall stichelte und brannte seine Haut. Schwerfällig drehte er sich auf den Rücken und hob den Arm. Er war übersät mit Schnittwunden, ältere und jüngere, einige waren tief genug, dass etwas Blut aus ihnen sickerte. Je länger er seine Wunden anstarrte, desto mehr realisierte er, wie er aussehen musste. Sein ganzer Körper tat weh. War Yuriy deswegen vor ihm zurückgewichen? Danach ging es nicht mehr lange gut zwischen ihnen. Kai war leicht reizbar geworden, denn er schlief schlecht und viel zu wenig. Und es half nicht, dass Yuriy nun doch begann, sein Training zu intervenieren. Nun musste er jedes Mal an ihm vorbei, wenn er nach draußen wollte oder von dort kam. Der andere war einfach immer da, als wüsste er ganz genau, wann Kai sich wo befand. Zwar sprach er ihn nicht noch einmal direkt an, doch er warf ihm Blicke zu, Blicke, die beinahe noch schärfer waren als herumfliegende Felsensplitter. Kai stellte sich dumm. Sah erst fragend, dann auffordernd zurück. Es brachte nichts. Es ging ihm auf die Nerven. Bald wurde es so schlimm, dass er Yuriy gar nicht mehr unter die Augen treten konnte, ohne sofort bloße Wut in sich aufwallen zu fühlen. Und dann kamen die Träume. Vielleicht lag es an dem alten Gebäude, das - welche Ironie! - einmal ein Kloster gewesen war. Oder an der Anwesenheit der anderen. Was immer es war, es führte dazu, dass er nachts von alten Geistern heimgesucht wurde. Im Schlaf rannte er endlose Gänge entlang, die nur von Kerzen erhellt wurden. Er schlug Beybattle um Beybattle gegen unsichtbare Gegner, immer begleitet von dem Gefühl purer Angst. Wenn es ganz schlimm kam, tauchte irgendwann ein riesiger, schwarzer Schatten auf, und obwohl er sich abwenden und vor ihm fliehen wollte, waren seine Füße wie festgefroren. So wachte er auf, für die ersten Sekunden blieb sein Körper wie erstarrt und die Angst verwandelte sich in Panik, bevor er sich wieder rühren konnte. Das wiederholte sich Nacht für Nacht, an Schlaf war danach nicht mehr zu denken, und so stand er meist weit vor Sonnenaufgang auf, versuchte, seine Traumbilder zu verdrängen und eine nützliche Routine zu entwickeln. Besonders an letzterem scheiterte er kläglich. Und eines Morgens eskalierte es. „Was?”, fuhr er Yuriy an. Es war noch sehr früh und er hatte eigentlich nur in der Küche etwas essen wollen, bevor er wieder nach draußen ging. Er war müde und nicht darauf vorbereitet, den anderen jetzt schon zu sehen. Yuriy lehnte an der Anrichte, neben sich eine Tasse, und musterte ihn stumm. Kais Aggression schien ihn nicht im Geringsten zu beeindrucken. Und endlich, endlich machte er den Mund auf. „Du hörst mit deinen Alleingängen auf”, sagte er, „Und zwar sofort.” Und Kai hatte angenommen, über Yuriys Teamchef-Gebaren ein für alle Mal erhaben zu sein. Er schnaubte. „Den Teufel werd ich.” Yuriy stieß sich von der Anrichte ab und überbrückte den Abstand zwischen ihnen mit wenigen, langsamen Schritten. Er stand sehr dicht vor ihm, überragte Kai, doch der war zu wütend, um sich davon beirren zu lassen. Diese Situation war nur allzu vertraut, doch es waren beinahe zwei Wochen vergangen und Kai war erschöpft und Suzakus Einfluss wesentlich stärker als zuvor. Ansonsten hätte er vielleicht erkannt, dass es klüger war, den Raum zu verlassen. „Ich brauche keinen Leader, und dich schon gar nicht”, sagte er stattdessen. „Leg dich nicht mit mir an, Hiwatari.” Der Rothaarige hob nicht einmal die Stimme. Kai hörte wohl die Warnung, doch er ignorierte sie wissentlich. „Sonst was?”, entgegnete er, „Hast du es dir doch anders überlegt? Erst kaufst du mich, und jetzt bereust du es?” Es war die alte Leier und sie waren es beide leid, doch vor dem anderen weichen wollten sie genauso wenig. „Noch ein Wort…” Yuriy wurde noch leiser. „Oh bitte, Ivanov”, unterbrach Kai ihn, „Ich habe dir doch erklärt, dass ihr ohne mich keine Chance bei der Weltmeisterschaft habt -" In diesem Moment traf ihn der Schlag. Yuriy hatte ohne Vorwarnung ausgeholt, und seine Faust landete irgendwo in Kais linker Gesichtshälfte. Sein Kopf flog herum, doch er konnte sich am Küchenschrank festhalten und so verhindern, dass er ganz zu Boden ging. Ein scharfes Zischen entwich ihm, er hatte noch nicht ganz begriffen, was soeben passiert war. Als er sich wieder zu Yuriy wandte, erwiderte der seinen Blick ausdruckslos, die Hand immer noch erhoben. Kai richtete sich auf, halb erwartend, dass noch ein Hieb kam, doch dieser blieb aus. Also drehte er sich wortlos um und ging. Er fand sich im ranzigen Waschraum wieder, betrachtete sein Gesicht im Spiegel. Einer der rostigen Wasserhähne tropfte, vielleicht war es auch eine der Duschen, jedenfalls machte das Geräusch ihn ganz irre. Als er vorsichtig den dunklen Fleck berührte, der sich auf seinem Wangenknochen ausbreitete, verstärkte er nur noch den dumpfen Schmerz. Wenn das bis zum Beginn der Weltmeisterschaft nicht verschwunden war, musste er sich etwas einfallen lassen. Mit einem Veilchen würde er jedenfalls nicht vor die Kameras treten. Er ließ die Hand sinken. Die Weltmeisterschaft. Warum machte er sich noch Gedanken darüber? Alles war umsonst gewesen, das Training, die Schmerzen - die verfluchten Träume. Er hatte es verbockt. Yuriy würde ihn wohl kaum weiter im Team behalten. Also war das wohl das Ende. Verdammt. Kais Zähne knirschten, so sehr biss er sie zusammen. Er hatte angenommen, in den letzten Jahren etwas dazugelernt zu haben, doch es schien, als würde er immer und immer wieder dieselben Fehler machen. „Kai?“ Natürlich war es Yuriy. Sein Anblick löste keine Aggressionen mehr in Kai aus. Sie waren wieder bei Null. Und vielleicht, ganz vielleicht, war er ein wenig beeindruckt davon, dass der Rothaarige ihn einfach so geschlagen hatte. Das traute sich sonst niemand. Doch das musste sein Gegenüber ja nicht merken. „Was willst du?“ Kai sah ihn nicht an, sondern drehte den Wasserhahn auf und hielt ein Stück seines Schals unter den kühlen Strahl. Doch bevor er sich den Stoff auf die Wange legen konnte, war Yuriy neben ihm und hielt ihm ein Kühlpad aus dem Eisfach hin. „Zeig mal her.“ Kai tat, als hätte er nichts gehört, aber Yuriy stieß gegen seine Schulter, sodass er sich doch zu ihm umdrehen musste. Der Blick der blauen Augen lag auf seiner Wange und er wusste nicht, wo er hinsehen sollte, also musterte er Yuriys Gesicht, dessen Ausdruck irgendwo zwischen Erstaunen und leichter Belustigung schwankte. Was wollte der andere noch? Es war vorbei, das Experiment Neo Borg war wieder einmal gescheitert. Kais Kopf brummte, vermutlich würde er eine Schmerztablette brauchen. Doch abgesehen davon breitete sich eine seltsame Ruhe in seinem Körper aus. Etwas in ihm hatte in den letzten Minuten nachgegeben, oder es war unter Yuriys Schlag gebrochen. „Tut mir leid“, sagte Yuriy. Das klang nicht überzeugend. Kai nahm ihm das Pad aus der Hand und trat einen kleinen Schritt zurück. Sie sahen sich an. „Ich hätte es genauso gemacht“, sagte er, „Wenn ich Teamchef wäre.“ Diese Worte kosteten ihn weniger Mühe, als er gedacht hatte. „Also… Ich gehe dann wohl mal meine Sachen packen.” Er wollte an dem anderen vorbeigehen, doch Yuriy streckte den Arm aus und hielt ihn einfach fest. Kai spürte seinen Körper ganz nah bei sich und allein die Sinneseindrücke, die plötzlich auf ihn einströmten, ließen ihn innehalten. „Wo willst du hin?”, fragte Yuriy, „Ich habe nicht vor, dich aus dem Team zu werfen.” Kai seufzte, ob nun vor Erleichterung oder aus Müdigkeit wusste nicht einmal er selbst. „Okay.” „Aber ich bin Captain und du wirst das akzeptieren.” „...Okay.” Er hatte längst verstanden, dass er Yuriy nicht von seiner Position verdrängen konnte. Und wenn er ehrlich war, wollte er es auch nicht. Ihm war nur eines wichtig, und wenn er sich dem anderen unterordnen musste, um es zu bekommen, dann sollte es wohl so sein. Im Grunde war das die gesündeste Entscheidung. Endlich trat er einen Schritt zurück, um von Yuriys Arm loszukommen. Dieses Mal schafften sie es nicht, sich anzusehen. „Gut”, sagte Yuriy. „Nur noch eins: Wenn du lieber allein trainieren willst…“ „Sag, wann wir trainieren, und ich bin da“, unterbrach Kai. Kapitel 2: New York ------------------- BBA Revolution vs. Baihuzu Neo Borg vs. F-Sangre PPB All Starz vs. Barthez Soldiers Der Flug nach New York war lang und die Sitze zu eng, obwohl die Maschine schon um einiges größer war als jene, die sie von Irkutsk in die Hauptstadt gebracht hatte. Der Aufenthalt im Flughafen reichte gerade aus, um etwas zu essen und das richtige Gate zu finden. Schon waren sie wieder in der Luft. Kai saß in einer Dreierreihe, zum Glück außen. Ironischerweise hatte Sergeij den Platz in der Mitte bekommen, doch weder Kai noch Boris waren bereit, zu tauschen. Yuriy saß auf der anderen Seite des Ganges, der Platz neben ihm war frei. Kurz bevor er sein Handy ausschalten musste, erreichte ihn eine SMS von Max: WTF, Kai, bist du jetzt bei Neo Borg? Holy shit!! Kai hob eine Augenbraue, als er das las. Woher hatte der Amerikaner so schnell Wind davon bekommen? Er spürte Sergeijs Blick auf sich und stellte den Flugmodus an, bevor er ausdruckslos zu dem anderen hochsah. Sergeij drehte den Kopf nach vorn, verschränkte die Arme und schloss die Augen. Auch Kai lehnte sich zurück. Das Flugzeug setzte sich in Bewegung und fuhr über das Startfeld, während schon die Sicherheitshinweise gegeben wurden. Sie hatten peinlich darauf geachtet, dass niemand von Kais Beitritt zu Neo Borg erfuhr. Es reichte vollkommen aus, wenn die Öffentlichkeit am Abend vor dem Beginn des Turnieres davon in Kenntnis gesetzt wurde. Die BBA und Daitenji wussten natürlich davon, denn Yuriy hatte die neue Teamaufstellung offiziell anmelden müssen. Vielleicht hatte Judy Tate dank der Verbindungen der BBA zur PPB etwas mitbekommen - das würde zumindest Max’ Nachricht erklären. Nun, es könnte schlimmer sein. Kai vertraue darauf, dass sein ehemaliger Teamkollege nicht plaudern würde. Max hatte nie Probleme damit, Konkurrenz auszublenden, und das schätze Kai sehr. Er verstand den Zusammenhang zwischen „Team“ und „Freundschaft“ und somit auch den von „kein Team“ und „Feindschaft“ nicht so wirklich. Für ihn waren das zwei verschiedene Paar Schuhe. Jemand wie Kinomiya aber konnte das nur schwer nachvollziehen, und so fühlte der Japaner sich immer gleich persönlich angegriffen, wenn etwas nicht so lief wie er sich das vorgestellt hatte. Am liebsten würde Kai es vermeiden, im selben Raum wie Kinomiya zu sein, wenn der erfuhr, dass er zu Neo Borg gewechselt war. Er seufzte. „Nervös?”, brummte Sergeij. „Nein”, entgegnete Kai. Der Flug dauerte noch einmal zehn Stunden. Sie waren am Abend gestartet, und auch wenn sie der Sonne folgten, wurde es langsam aber sicher Nacht um sie herum. Irgendwann wurde das Licht gedimmt und die Fenster verschlossen. Kai lehnte sich zurück und versuchte, eine bequeme Position zu finden. Kurz schielte er zu Sergeij, der sich nach anfänglichen Schwierigkeiten mit dem Bord-Entertainment vertraut gemacht hatte; nun flimmerte ein Film über den kleinen Monitor vor ihm. Sergeijs Augen waren schon beinahe geschlossen und Boris auf seiner anderen Seite schlief bereits - der Kopf lag ihm auf der Brust. Kai stopfte sich das kleine Kissen, das hier zur Ausstattung gehörte, in den Nacken und wickelte seine Beine in die Decke ein. Über die Zeit hatte er gelernt, dass ein paar Stunden Schlaf an Bord einen Jetlag wesentlich erträglicher machten. Nichtsdestotrotz fiel es ihm jedes Mal schwer, zu entspannen. Die Nähe seiner Mitreisenden, die schlechte, trockene Luft und die schiere Höhe, die ihm manchmal auf den Magen schlug, zehrten an seinen Nerven. Er drehte sich so gut es ging zur Seite und spürte erleichtert einen kühlen Luftzug im Gang. Dann fiel sein Blick auf Yuriy. Im Dunkeln war nicht viel von seinem Teamchef zu erkennen, doch seine weit geöffneten Augen reflektierten das spärliche Licht. Seine Hand hatte sich um die Armlehne geschlossen, zwar nicht krampfhaft, doch es wirkte auch nicht so, als würde er sich wohl in dieser Umgebung fühlen. Kai beobachtete ihn eine ganze Weile, und da Yuriy sich nicht bewegte, streckte er schließlich den Arm aus, um ihn kurz zu berühren. Der andere schreckte auf und wandte sich zu ihm um. „Nervös?”, fragte Kai und Yuriy verzog das Gesicht. „Ich war nur in Gedanken.” „Hm.” Yuriy mochte vielleicht in Gedanken sein; dass er derartig vergaß, auf seine Umgebung zu achten, war jedoch sehr ungewöhnlich. Abteijungen waren wie Katzen, sie wussten immer, was um sie herum geschah. Nicht zum ersten Mal ahnte Kai, dass irgendetwas seinen Teamchef belastete, etwas, über das er nicht einmal mit Boris oder Sergeij sprach. In den seltsamsten Momenten schien Yuriy abzuschweifen, vielleicht merkte er es nicht einmal selbst. Seine Mundwinkel bildeten dann zwei tiefe Falten, sein ganzer Gesichtsausdruck war beinahe wild, als würde er gleich die Zähne fletschen wollen. Auch ein Grund, warum niemand wagte, ihn darauf anzusprechen. Da Kai nicht weitersprach, wandte Yuriy sich wieder von ihm ab und stützte das Kinn in die Hand. Kai beobachtete ihn verstohlen noch eine Weile, doch der Rothaarige rührte sich nicht mehr. Das Flugzeug schaukelte sanft, und irgendwann fielen ihm die Augen zu. Sie bekamen zwei Hotelzimmer. Kai, Boris und Sergeij checkten schon ein, während Yuriy ein Taxi vom Flughafen zum Stadion genommen hatte, wo das erste Treffen der Teammanager stattfand. Ohne ihn hatten sie keinen Grund gefunden, sich vernünftig zu unterhalten, deswegen herrschte die meiste Zeit über Schweigen zwischen ihnen. Kai ahnte allerdings, dass auch Boris und Sergeij die Fähigkeit beherrschten, sich durch vielsagende Blicke zu verständigen. Er wollte gar nicht wissen, welche stummen Kommentare sie hinter seinem Rücken über ihn austauschten. An der Hotelrezeption wurden sie gefragt, welche Zimmeraufteilung sie bevorzugen würden. Lächelnd legte die Angestellte ihnen vier Schlüsselkarten hin, doch weder Boris noch Sergeij rührten sich. Kai hob eine Augenbraue und wandte sich seinen Teamkollegen zu. Boris starrte die Schlüsselkarten an, als wolle er mit seinem Blick Löcher in sie brennen und es dauerte eine Weile, bis Kai verstand, warum. „Jetzt mach dich nicht lächerlich, Kuznetsov”, sagte er und griff wahllos nach einer Karte, bevor er zu den Fahrstühlen hinüberging, ohne abzuwarten, was die anderen beiden tun würden. Das Zimmer war auf halber Höhe des Hotels. Der Blick aus dem Fenster fiel auf die gegenüberliegenden Gebäude, der Raum wurde beinahe gänzlich ausgefüllt von zwei Betten. Für New Yorker Verhältnisse war es sehr komfortabel. Kai fragte sich, und das nicht zum ersten Mal, woher die BBA das Geld nahm, um dieses Turnier auszurichten. An den Bladern selbst verdiente die Organisation nicht viel, denn sie waren nur Amateure. Der ganze verdammte Sport bestand aus Amateuren. Ein Wunder, dass noch niemand auf die Idee gekommen war, Beyblader unter Vertrag zu nehmen und sponsern zu lassen. Er stellte seine Tasche in einer Ecke ab, warf sich auf eines der Betten und wartete. Es tat gut, nach dem langen Flug mal wieder zu liegen. Sein Rücken entspannte sich und er spürte, wie er tiefer in die weiche Matratze sank. Vielleicht war er in diesem Moment eingedöst, denn als sich plötzlich die Tür öffnete kam es ihm vor, als wären erst wenige Sekunden vergangen. Aber es war Yuriy, der nun im Zimmer stand, und der hätte es gar nicht so schnell hierher schaffen können. Kai richtete sich auf und fuhr sich durch die Haare. „Ich dachte, du teilst dir ein Zimmer mit Boris?” „Wie kommst du darauf? Boris redet im Schlaf, ich würde niemals mit ihm in ein Zimmer gehen”, antwortete Yuriy zerstreut. Seine Aufmerksamkeit galt ganz einem Stapel Unterlagen, den er nun auf den Schreibtisch legte. „So viel Papierkram für ein einziges Turnier.” Er seufzte und blätterte in den Dokumenten. „Was ist das alles?” Kai stand auf und ging zu ihm, um ihm über die Schulter zu sehen. Es waren die üblichen Formulare, die bei internationalen Turnieren ausgefüllt werden mussten. Allein ihre Reiseroute verlangte einige Vorbereitung für die Grenzübergänge. Dann kamen noch Informationen für die BBA hinzu und manchmal auch für die Stadien, in denen ihre Matches stattfanden. Natürlich war das neu für Yuriy. Team Neo Borg hatte noch nie an einem Turnier teilgenommen, das außerhalb von Russland stattgefunden hatte. Kai schob den Rothaarigen beiseite und setzte sich an den Tisch. „Zeig mal her.” Er sortierte die Dokumente zu mehreren kleineren Stapeln. „Die hier sind nur für die BBA”, erklärte er, „Aber es muss jeweils ein Formular für jedes Teammitglied ausgefüllt werden, deswegen ist es so viel. Das hier sind nochmal Reiseunterlagen, da musst du dir einen Stempel von Daitenjis Assistentin geben lassen, und dann legst du es am besten irgendwohin, wo es nicht verloren gehen kann. Und für die hier verrate ich dir einen Trick, die brauchst du nämlich gar nicht ausfüllen - die sind für die Medien. Wenn da nichts draufsteht, dürfen sie uns nur bei den offiziellen Pressekonferenzen interviewen. Super praktisch.” „Super praktisch”, wiederholte Yuriy. Als Kai sich zu ihm umdrehte, war er erstaunt, dass sein Blick ihm galt und nicht den Unterlagen. Die Müdigkeit stand seinem Leader deutlich im Gesicht, vermutlich hatte er doch nicht während des Flugs geschlafen. Der Ausdruck, mit dem er ihn ansah, war schwer zu beschreiben, eine Mischung aus Resignation und stummer Dankbarkeit für seine Hilfe. Allein die Tatsache, dass Yuriy zuließ, gelesen zu werden, ließ Kai innehalten. Er gab ihm einen Augenblick, doch der andere schien nicht die geringste Lust (oder Kraft) zu haben, seine Mimik zu sortieren. „Du solltest das ausfüllen”, sagte Kai schließlich unbeholfen und erhob sich, um den anderen an den Schreibtisch zu lassen. Dank der Enge des Zimmers standen sie so direkt voreinander und ihm fiel ein loser Faden an Yuriys Kragen auf. Der Rothaarige bewegte sich noch immer nicht. Doch dann grinste er schief und glitt an Kai vorbei auf den Stuhl. „Und ich dachte, als Teamchef der Bladebreakers wärst du nur mit Babysitten beschäftigt gewesen.” Kinomiyas Reaktion auf Kais Teamwechsel war wie zu erwarten schlecht. Eigentlich war Kai sogar überrascht, dass er ihm nicht gleich mitten in der Arena vor versammelter Menge eine Szene machte. Beinahe wagte er zu hoffen, unbehelligt aus der Halle herauszukommen, als er die Schritte hörte. Dann brüllte der andere seinen Namen und zog dabei das i in die Länge, um ihn dann im selben Atemzug einen Verräter zu nennen. Er hatte nicht einmal Zeit, sich zu ihm umzudrehen. „Meine Güte”, murmelte Yuriy neben ihm, dann hob sein Teamchef die Stimme, um Kinomiya Einhalt zu gebieten. Als Kai sich schließlich umwandte, offenbarte sich ihm ein ungewöhnlicher Anblick. Sein Team hatte sich vor ihn gestellt. Sergeij hatte Kinomiya sogar an der Schulter gepackt, damit er nicht zu ihm durchkam. Boris und Yuriy standen nebeneinander und bedachten den Weltmeister wahrscheinlich mit höhnischen Blicken, die Kai aus seiner Position aus nicht sehen konnte. In dieser Situation wurde es offensichtlich, wie groß die drei waren. Kai hielt sich selbst nicht für klein, er hatte bei den Bladebreakers immer alle überragt, doch die Neo Borg wirkten plötzlich wie eine hohe Mauer. Kinomiya war winzig neben ihnen, bemerkte diesen Nachteil in seiner Wut allerdings nicht. Er war ehrlich verletzt, denn wie immer verstand er nicht, was vor sich ging. Dabei hatte die BBA Revolution momentan doch wohl größere Probleme - sie würden zuerst gegen Baihuzu, Reis Team, antreten. Das war kein schöner Start. Und doch schien Kais Verhalten Kinomiya mehr aus der Bahn zu werfen als ein Match gegen einen seiner größten Rivalen. Also erbarmte er sich und erklärte es ihm. Er machte so wenig Worte wie nötig, denn er hatte keine Lust, sich lange mit Kinomiya auseinanderzusetzen - in einer Gemütslage wie der jetzigen war der andere sowieso nicht zu rationalem Denken fähig. Und anstatt sich zurückzunehmen wurde Kinomiya bei seinen Worten sogar noch ausfallender. Schlussendlich war es Yuriy, der die Situation auflöste, indem er sich einfach abwandte, die Augen verdrehte (was nur Kai sehen konnte) und den Weg zum Ausgang fortsetzte. Sie folgten ihm, und zum Glück besaß Kinomiya genug Anstand, um nun zurückzubleiben. Sie sahen sich das Match in einer Kabine an, die ihnen zugewiesen worden war. Einige der anderen Teams saßen auf den Rängen, doch im Stadion ging immer so viel vor sich, dass man kaum mitbekam, was in der Bowl passierte. Gerade bei Kinomiyas Kämpfen wollten sie kein Detail verpassen. Ihm war anzusehen, dass er noch immer aufgebracht war. Es war beeindruckend: Die Weltmeisterschaft war noch nicht mal einen Tag alt und der Champion drehte schon am Rad. Daichi mit seiner überschäumenden Energie war dabei keine Hilfe. Sie schaukelten sich gegenseitig hoch. „Was für ein erbärmlicher Haufen”, meinte Boris, „Da hast du ja was angerichtet, Kai.” Kai schwieg. Ja, vermutlich war dieses Trauerspiel im Stadion zum Teil sein Verdienst, doch Kinomiya war schon nach Reis und Max’ Weggang nicht mehr er selbst gewesen. Nur hatte er gehofft, dass sein Rivale sich wieder erholte und den erzwungenen Alleingang zum Anlass nahm, sich mehr Mühe zu geben. Doch es kam anders: Die BBA Revolution verlor ihr erstes Match. „Und das ist jetzt unser Weltmeister”, stellte Yuriy fest und Kai knurrte genervt. Auf dem Bildschirm machten Kinomiya und Daichi ein Riesendrama und begannen einen neuen Streit. In Reis Gesicht allerdings stand die Enttäuschung, die Kai fühlte. Dieser Kampf war ganz und gar unsinnig gewesen. Er stand auf, um den Raum zu verlassen. „Wo gehst du hin?”, fragte Boris. „Geht dich nichts an”, grollte Kai. Er musste Frust ablassen. „Unser Match fängt gleich an.” Darauf erwiderte er nichts, denn er konnte nicht garantieren, dass er sachlich bleiben würde. Stattdessen ging er nach draußen und vage in die Richtung, in der er die Trainingsräume vermutete. Weit kam er allerdings nicht, denn jemand folgte ihm. Es war Boris. „Hiwatari. Warte.” Die Worte klangen nicht so, als wolle der andere einen Streit mit ihm anfangen. Also drehte Kai sich zu ihm um und verschränkte die Arme. Boris kam bis auf wenige Zentimeter zu ihm heran, stand aufgrund seiner Größe leicht über ihn gebeugt und nahm so viel mehr Platz ein als er eigentlich musste. „Hör zu, Hiwatari”, raunte er, „Ich sage das nur einmal. Ich habe keine Ahnung, wie du in unserem Team enden konntest und wäre es nach mir gegangen, ich wäre lieber mit nur drei Leuten hier aufgekreuzt als mit dir. Aber aus irgendeinem Grund bist du wichtig für Yuriy. Und deswegen rate ich dir - vermassel es nicht, klar?” „Was willst du von mir?” „Du tust, wofür Yuriy dich geholt hat: Du tauchst zu deinen Matches auf. Du gewinnst sie. Fertig.” Sie maßen sich eine Weile lang stumm mit Blicken, bevor Kai entschied, statt eines dummen Spruches eine richtige Antwort zu geben. „Yuriy weiß, was er an mir hat. Und ich habe vor, diese Weltmeisterschaft zu gewinnen. Ich verstehe also nicht ganz, wo dein Problem liegt, Kuznetsov.” Boris hob die Hand und hielt ihm den Zeigefinger vors Gesicht. „Vermassel. Es. Nicht”, wiederholte er. „Ich muss zu einem Meeting“, sagte Yuriy. Es war später Nachmittag. Nach ihrem Match gegen F Sangre waren sie zurück ins Hotel gekommen und Boris hatte ihnen Wolborg und Dranzer abgenommen, um sie bis zum nächsten Tag auf Schäden zu überprüfen. „Ich komme mit”, sagte Kai. Sein Teamchef warf ihm einen kurzen Blick zu, als er das Magazin weglegte und vom Bett aufstand. „Wo willst du hin?“ „Ich treffe mich mit Max“, sagte er und Yuriy hob billigend die Schultern. Er wusste, dass er ihm nicht einschärfen musste, nichts von ihrer Taktik zu verraten. Wahrscheinlich würde Max’ Partner, dieser bullige Typ, ihm den Kopf abreißen, wenn er wüsste, dass er sich mit Kai traf – aber Kai blühte das gleiche Schicksal, sollte Boris davon erfahren. „Ich hoffe, ich muss deswegen nicht um mein Leben fürchten“, sagte er, als sie nebeneinander die Treppen zum Foyer hinunterstiegen. „Nein“, entgegnete Yuriy, „Was Boris nicht weiß, macht ihn nicht heiß, und was deine Alleingänge angeht, halte ich mich so lange da raus, wie ich sicher sein kann, dass du keinen Mist baust.“ „Ich baue keinen Mist.“ „Hmm.“ Kai hob die Augenbrauen und sah Yuriy an. Für ihn unerwartet trafen sich ihre Blicke, doch es erschien ihm ganz natürlich, dass sie daraufhin ein verschwörerisches Grinsen austauschten. „Mach mir keine Schande vor der Bourgeoisie“, sagte Yuriy noch, dann beschleunigte er seine Schritte und eilte quer durch die Empfangshalle zu einem Gang, der ins Nebengebäude führte. Kai merkte erst, dass er ihm nachsah, als Max plötzlich vor ihm stand. Normalerweise übersah er andere Personen nicht. „Das war ein ganz schön mieser Start in die Saison”, meinte Max, als sie im Hotelcafé saßen. Sie hatten eine Nische in einer der hinteren Ecken gefunden und wurden halb von einer Pflanze vor Blicken geschützt. Er wirkte bedrückt, und das, obwohl er einen großen Eisbecher vor sich hatte. Den Kampf gegen Barthez Soldiers hatten sie zwar gewonnen, doch sein Partner hatte es geschafft, das gesamte Stadion gegen sie aufzubringen. Das musste ihn beschäftigen, denn sonst redete er auch einfach gern über alles andere außer das Bladen. „Hm”, machte Kai, „Dieser Rick ist nicht ohne. Wo kommt er her?” „Mom hat ihn entdeckt”, antwortete der Blonde und seufzte. „Die anderen sind sauer auf mich. Rick mögen sie sowieso nicht, aber als ich den zweiten Platz für das Tagteam gewonnen habe, habe ich ihnen alle Möglichkeiten genommen, selbst anzutreten.” Kai wusste erst nicht, von wem er sprach, doch er musste Michael, Eddie und Emily meinen. Ihm wäre so etwas egal, es war ihm ja auch egal, dass Boris ihn unter anderem deswegen nicht leiden konnte, weil er ihm den Platz als Yuriys Partner weggenommen hatte. Aber Max war anders, er konnte vor allem dann Höchstleistungen bringen, wenn es im Team harmonisch zuging. Streit setzte ihm immer sehr zu. Kai wollte etwas sagen, stellte aber fest, dass er nicht wirklich wusste, was. Doch dann wechselte sein Gegenüber von selbst das Thema. „Aber erzähl du. Wie ist das mit Neo Borg passiert?” Kai hob die Schultern. „Sie haben mich gefragt. Ich habe zugesagt.” „...nachdem du bereits die Vorrunden in Japan gewonnen hattest?” Manchmal war es unheimlich, wie Max die Menschen durchschaute. Kai wurde klar, dass er eigentlich gar nicht mehr viel zu sagen brauchte, der andere wusste schon Bescheid. „Es war etwas komplizierter als das”, antwortete er, „Aber im Grunde ja.” „Aw man, Kai”, sagte der Blonde und leckte kurz seinen Löffel ab, „Kein Wunder, dass Takao so neben sich stand bei seinem Match. Lass mich raten - er hat von deinem Wechsel genau zu dem Zeitpunkt erfahren, als es durch die Medien ging, nicht wahr?” Nun, das war allerdings nicht Kais Schuld, sondern die von Hitoshi. Der hatte bereits bei Kais Weggang gewusst, für wen er das Team aufgab. Es war allein der Entscheidung ihres Coaches zu verdanken, dass die BBA Revolution am Vortag derart aus allen Wolken gefallen war. „Ich hätte nicht mit Kinomiya hier antreten können”, murmelte er. Max nickte und stützte nachdenklich das Kinn in die Hand. „Ich verstehe dich. Um ehrlich zu sein habe ich fest geglaubt, du wärst der erste, der sich verabschiedet. Dann war ich es selbst.” „Oh, das heißt nicht, dass ich es nicht vorhatte. Ich hatte nur kein Backup-Team wie du oder Rei.” Max hob flüchtig den Blick zu ihm, erwiderte jedoch nichts. Natürlich, alle assoziierten ihn irgendwie mit Borg, allein wegen der Abtei und dem Turnier von vor zwei Jahren. Aber als die jetzige Weltmeisterschaft ausgerufen worden war hatte er ja nicht einmal gewusst, ob es überhaupt ein russisches Team geben würde. „Jedenfalls hast du mal wieder ganze Arbeit geleistet”, meinte Max dann. „Die PPB hat noch nicht einmal gewusst, dass Neo Borg teilnehmen werden. Du hättest sehen sollen, was los war, als sie die Vorrunden in Moskau gewonnen haben. Und jetzt das - du und Yuriy? Im Tagteam? Ich schwöre dir, hier geht gerade allen der Arsch auf Grundeis, mich eingeschlossen.” „Gut”, entgegnete er nur und Max lachte. Schmunzelnd trank Kai von seinem Kaffee und dachte etwas selbstgerecht, dass er eben doch noch wusste, wie man einen netten, kleinen Skandal verursachte. Ansonsten wäre diese Weltmeisterschaft doch wirklich zu langweilig. „Du verstehst dich gut mit Yuriy.“ Das war eine Feststellung. Max schaffte es, dass es klang, als wäre es die normalste Sache der Welt. Er wartete nicht auf Kais Erwiderung, sondern löffelte sofort weiter sein Eis. „Wie kommst du darauf?“, entgegnete er. „Naja, man sieht es dir sonst nicht so an, wenn du jemanden sympathisch findest.“ Beinahe ein Viertel der letzten rosa gestreiften Eiskugel verschwand in Max‘ Mund. „Er sieht gut aus, findest du nicht? Abgesehen vielleicht von diesem Killerblick, den ihr Neo Borgs immer aufgesetzt habt. Auf jeden Fall wirkt er jetzt gesünder als früher. Also, wenn du meine bescheidene Meinung hören willst”, fuhr der Blonde fort. „Er wäre mit Sicherheit eine bessere Wahl als…You Know Who. Vor allem auch nicht so alt.“ Er wusste es natürlich. Vor den Bladebreakers hatte Kai nicht lange hinterm Berg halten können. Sie hatten einfach viel zu viel Zeit miteinander verbracht. Doch letztendlich war es gut so, es machte vieles unkomplizierter. „Was willst du mir damit sagen, Max?“, fragte Kai und ließ seelenruhig den Keks in seinem Kaffee schwimmen. Das Grinsen des anderen konnte er nicht sehen, weil er konzentriert beobachtete, wie das Gebäck sich vollsog und unterging. „Nichts. Ich erläutere nur die Tatsachen.“ „Du willst doch auch nicht gleich etwas von jedem Mädchen, dass dir sympathisch ist“, sagte Kai und sah nun endlich wieder auf. Er war etwas erstaunt darüber, dass der andere seinen Eisberg tatsächlich in den wenigen Minuten ihres Gesprächs fast komplett aufgegessen hatte. „Doch“, sagte Max, „Eigentlich bin ich in jedes Mädchen ein wenig verknallt. Aber zurück zu dir. Seit You Know Who wissen wir, dass du eine Schwäche für Kerle hast, die größer und älter sind als du und dir sagen wo es langgeht. Und du hast es vielleicht nicht gemerkt, aber während deines Matches gegen Raul konnte dein Teamchef keine Sekunde lang den Blick von dir abwenden.“ „Max, was zur- " „Ich will sagen, er ist genau dein Typ“, unterbrach Max ihn fröhlich. „Ach. Ist er das, ja?“ Als er den Blick wandern ließ, bemerkte er durch die Glastür des Restaurants hindurch ein paar Gestalten. „Beeil dich ein bisschen, die Reporter sind schon wieder da.“ Sie hatten sich wie Aasgeier auf ihre beiden Teams gestürzt, schriftliche Erlaubnis hin oder her. Auf Neo Borg, weil Kai zu ihnen gewechselt war, und auf die PPB All Starz, weil sie sich so unbeliebt gemacht hatten. Eigentlich hatten sie Hausverbot in ihrem Hotel bekommen, aber irgendwie schafften es immer ein paar von ihnen, hereinzuschleichen, und sie mussten aufpassen, damit sie ihnen nicht vor die Kameras liefen. Max verdrehte die Augen. „Wer von uns verschwindet diesmal?“ „Ich.“ Kai trank seinen Kaffee in wenigen Zügen aus und stand auf, um ein paar Minuten in der Toilette zu verbringen, bis irgendwer die Reporter bemerkte und rauswarf. Ein Blader allein war noch nicht mal halb so interessant wie zwei. Wenn Kai und Max aber zusammen gesichtet wurden, würde das im Moment wohl einen Skandal auslösen. Am Morgen war das Trainingsgelände leer. Hinter dem Stadion schlossen sich weitläufige Anlagen an, mit Tennisplätzen, einer Wurfzone für Baseball und einem Basketballfeld. Um das gesamte Areal zogen sich Tartanbahnen, voneinander abgegrenzt durch saubere, weiße Linien. Yuriy lief auf der äußersten Bahn. Seine Schritte waren lang und regelmäßig, der Laufstil beinahe gelassen. Nur anhand der dunklen Flecken auf seinem Shirt und der Art, wie einige Strähnen seines Haars ihm auf der Stirn klebten, war zu erkennen, dass das was er tat anstrengend war. Sein Blick war nach vorn gerichtet, ohne festen Fixpunkt, und so zog er seine Runden. Es hatte etwas Hypnotisches, seinen Bewegungen zu folgen. Kai saß auf einer der Tribünen und beobachtete ihn. Neben ihm standen ein Becher Kaffee für sich selbst und eine Flasche Wasser für seinen Teamchef. Yuriy hatte ihn gebeten, ihn nach seinem eigenen Training abzuholen, damit er die Zeit nicht aus den Augen verlor. Er wartete nun schon eine ganze Weile, aber Yuriy zog seinen Lauf durch als gäbe es nichts anderes auf der Welt. Wahrscheinlich hatte sein Leader noch nicht einmal bemerkt, dass er überhaupt da war. Kai hasste Ausdauersport, was er bisher nicht als einen Nachteil für sich empfunden hatte. Wenn er Yuriy so sah, wünschte er sich jedoch ein wenig mehr Geduld. Der Tritt des Rothaarigen war sicher und es wirkte so leicht, wie er dort unten nichts anderes tat als laufen. So eine simple Bewegung. Seine Arme waren angewinkelt, dicht am Körper, der kein Zeichen von Erschöpfung zeigte. Sein Haar leuchtete auch in der Entfernung, manchmal strich er es sich mit einer selbstvergessenen Geste aus der Stirn, nur, damit es wieder hinabfallen konnte, was er dann für eine Weile ignorierte. Irgendwann, als Kai sich schon fragte, ob er ihn doch von der Bahn zerren musste, wurde der Rhythmus von Yuriys Tritt langsamer, blieb aber gleichmäßig. Gerade war er wieder um die Kurve gekommen und lief auf das Podium zu, verringerte dabei stetig seine Geschwindigkeit, bis er schließlich in den Schritt fiel. Unterhalb von Kais Platz blieb er stehen, stemmte die Hände in die Seiten und beugte sich vor. Als er sich wieder aufrichtete, waren seine Wangen gerötet. Kai erhob sich und ging die Treppe hinunter, um ihm die Flasche Wasser zu geben. Während er an seinem Kaffee nippte, trank sein Leader große Schlucke. Als Yuriy absetzte, wischte er sich kurz mit dem Unterarm über die Stirn, bevor er einen langen Blick über die Sportfelder gleiten ließ. „Also”, sagte er ohne sich von der Aussicht abzuwenden, „F Sangre?” „Das war leicht”, meinte Kai, „Beinahe zu leicht, oder?” „Auf jeden Fall waren sie nicht gut vorbereitet. Boris hat herausgefunden, dass sie normalerweise zu zweit kämpfen. Wahrscheinlich lag es daran.” Kai nickte. „Sie haben exakt dieselbe Technik angewendet. Aber ich glaube, Julia ist etwas stärker, oder?” „Vermutlich”, sagte Yuriy und zuckte kurz die Achseln. F Sangre waren interessant, nun jedoch nicht mehr wichtig für sie. Wenn die beiden ihre Taktik nicht grundlegend änderten und ein paar Matches gewannen, würden sie wohl kaum noch einmal gegeneinander antreten. „Dein Blazing Gig jedenfalls war ziemlich beeindruckend”, fuhr sein Leader fort, „Ich habe es für einen Scherz gehalten, als Daitenji mir gestern versichert hat, er habe für Feuerlöscher bei unseren Matches gesorgt.” „Danke. Ich war eher beeindruckt von dem Spitznamen, den DJ uns gegeben hat”, erwiderte Kai. „Roter Komet? So nennen uns unsere Fans in Russland - Krasnaja Kometa. Finde ich eigentlich ganz hübsch.” „Aber woher -?” Kai musste den Satz nicht ausformulieren, denn in diesem Moment erkannte er, wie sein Team zu diesem Namen gekommen sein musste. „Deine Attacke”, sagte er zu Yuriy, „Bei der ersten Weltmeisterschaft.” „Die Holy Beast Weapon”, bestätigte der Rothaarige, „So nannte Volkov sie. Natürlich wusste niemand, dass es sich dabei wirklich um eine Waffe handelte. Für Unwissende sah sie aus wie ein - ” „Roter Komet”, beendete Kai. Sein Teamchef schien keine Lust zu haben, das Thema weiter auszuführen, denn er drehte sich um und ging in Richtung des Hotels davon. Er musste ihm wohl oder übel folgen. Ein paar Mal setzte er an, weitere Fragen zu stellen, doch er wusste einfach nicht, wie er sie formulieren sollte, also gab er es schließlich auf. Über dem Stadion stieg langsam die Sonne auf, wurde jedoch noch von etwas Dunst verdeckt. Das kühle Licht brach sich an den Glasfassaden der Wolkenkratzer und auf dem glänzend weißen Dach der Halle. Ein leichter Wind zerzauste Yuriys Haare, die unfrisiert und wild vom Lauf durcheinanderfielen. Da der Weg nur schmal war, lief Kai ein Stück hinter ihm und musterte ihn. Der Gang des anderen schien leichter geworden zu sein, vielleicht weil seine Muskeln nun gelockert waren, vielleicht war es auch etwas anderes. „Du hast gute Laune”, stellte Kai schließlich fest und Yuriy drehte sich mit einem spöttischen Grinsen zu ihm um. „Machst du mir daraus jetzt einen Vorwurf?” „Ich hab dich nur noch nie so gesehen.” „Vielleicht bin ich einfach nur erleichtert darüber, dass du deine Arbeit machst.” „Du meinst - Matches gewinnen?”, fragte Kai. „Hast du gedacht, ich blade absichtlich schlecht, oder was? Was sollte mir das nützen?” „Was weiß denn ich, Kai”, entgegnete Yuriy, „Ich habe keine Ahnung, was in deinem Kopf abgeht. Aber es ist ein offenes Geheimnis, dass du gerne mal für böse Überraschungen sorgst.” „Allein die Tatsache, dass wir uns zusammengetan haben, ist für alle anderen eine böse Überraschung. Also entspann dich und genieß die Reise”, sagte Kai leichthin. Inzwischen waren sie beim Hotel angekommen und blieben noch kurz vor dem Eingang stehen. Yuriy schraubte erneut die Wasserflasche auf, um sie nun auszutrinken. „Weißt du eigentlich, wie schwer es war, die ganzen verdammten Visa zu bekommen?”, fragte er dann unvermittelt. Kai wiegte den Kopf. Er konnte es sich vorstellen. „Es gab wirklich einige Momente, in denen wir dachten, wir könnten die Meisterschaft vergessen, weil sie uns nicht rauslassen”, fuhr der Rothaarige fort. „Dabei waren wir weiß Gott brav im letzten Jahr. Wir haben jedes dämliche Turnier gewonnen, das die BBA in Russland ausgeschrieben hat. Wir sind zur Therapie gegangen, haben unsere Abschlüsse gemacht und wenn wir gesoffen haben, dann in unserem eigenen Wohnzimmer. Keine schlechte Presse, nicht einmal. Und trotzdem…” Er seufzte genervt, während Kai einfach nur zuhörte. „Obwohl wir Hilfe von der BBA hatten, bin ich wahrscheinlich fünfmal zu den verdammten Botschaften gerannt. Mal hat dieses Papier gefehlt, mal jene Unterschrift… Das zog sich über Monate. Ich hatte mich wirklich schon darauf eingerichtet, dass wir jemanden bestechen müssen. Also ja” Mit diesen Worten wandte Yuriy sich ihm zu, „ich habe vor, diese Reise zu genießen! Wir sind endlich einmal raus aus Russland gekommen, und das ist gerade ein ziemlich gutes Gefühl.” Natürlich konnte Kai sich nicht in seine Lage versetzen. Er hatte einen japanischen Pass. Dennoch wurde ihm nun bewusst, dass die Dokumente, mit denen der Rothaarige am ersten Tag konfrontiert worden war, einen leisen Horror in ihm ausgelöst haben mussten. Er schwieg, und Yuriy schien auch gar keine Antwort zu erwarten. Er sah auf die leere Plastikflasche in seiner Hand hinab, die er rhythmisch zusammendrückte, sodass dabei ein regelmäßiges knirschendes Geräusch entstand. „Kai”, sagte er, und sein Gesicht nahm nun wieder einen ernsten Ausdruck an. Für einen kurzen Moment schien es, als würde wieder einmal diese Düsternis über ihn kommen, die Kai schon vorher aufgefallen war. „Wir müssen es ins Finale schaffen. Es ist mir scheißegal, gegen wen wir antreten, aber wir werden bis zum Ende durchhalten! Ist das klar?” Endlich hob er den Kopf und sah Kai mit einem wilden Ausdruck an. Und der hielt diesem Blick stand. „Klar”, sagte er langsam. „Ach hier seid ihr!” Die Stimme war vom Hoteleingang gekommen. Dort stand Boris, der seinen Laptop unter den Arm geklemmt hatte. Er winkte sie zu sich. „Ich habe die restlichen Daten ausgewertet. Yuriy, ich muss noch mal an Wolborg ran, es gibt da ein paar Schlenker, die mir gar nicht gefallen. Und Kai, du hast mit deinem Balanceakt gestern Dranzers Achse ganz schön belastet, wenn du so weitermachst kannst du die Base in der nächsten Runde wegschmeißen. Und ich bin nicht dein Ersatzteillager, verstanden?! …” Kapitel 3: Rom -------------- Baihuzu vs. Barthez Soldiers BBA Revolution vs. Neo Borg PPB All Starz vs. F Sangre „Es ist heiß”, stellte Boris fest. Er zupfte an seinem T-Shirt, um es von seiner Haut zu lösen und drehte sich um. „Yuriy, es ist heiß!” Kai nutzte diesen Moment, um Falborg aus dem Stadium zu kicken, worauf Boris einen wütenden Ruf ausstieß. Kai verzog keine Miene, als er Dranzer mit einer Hand auffing, doch insgeheim pflichtete er seinem Teamkollegen bei. Unter seiner Jacke liefen ihm kleine Schweißbäche den Rücken hinunter. Er hatte sich eingeredet, sein weißer Schal würde ihn vor der Sonne schützen, doch im Moment war er einfach nur schwer, die beiden Enden hingen schlaff herab, denn es wehte kein Lüftchen. Und Suzaku machte es nicht gerade besser. Yuriy schien Boris’ Beschwerde gar nicht gehört zu haben. Sergeij und er trugen noch immer ihr Match aus, und obwohl Sergeij ebenfalls schweißgebadet war, schien ihr Teamchef nicht im Geringsten auf die Temperaturen zu reagieren. Seelenruhig bereitete er seine letzte Attacke vor und schlug Seaborg schließlich mit einem eleganten Schlenker. „Na endlich!”, kommentierte Boris. Yuriy sah erst Sergeij an und dann auf sie hinab, wie sie zerzaust und staubig von drei Stunden Training vor ihm standen. „Okay. Weiter mit Einzelübungen”, sagte er. Boris stöhnte. „Dein Ernst?” „Es macht keinen Sinn, bei der Hitze weiterzutrainieren”, kam ihm Sergeij zu Hilfe. Yuriy wirkte irritiert. Er musterte die anderen beiden noch immer und blinzelte dabei sehr langsam. Boris und Sergeij wurde sichtlich unbehaglich unter diesem Blick. Yuriy war nicht an Widerworte gewöhnt, ging Kai auf, der sich in dieser Situation sehr an die Bladebreakers zurückerinnert fühlte. Er beobachtete die Szene, wartete ab, was der Rothaarige tun würde. „Sagt mir, warum ich euch nicht sofort drei Runden ums Stadion laufen lassen sollte”, sagte Yuriy schließlich. Während Sergeij zwar verzweifelt, aber auch sich seinem Schicksal ergebend wirkte, entfachten diese Worte bei Boris Aggression. „Willst du uns umbringen?”, rief er, „Du weißt genau, dass wir strapazierfähig sind, aber das hier ist Wahnsinn! Es gibt hier nirgends Schatten und das Wasser ist schon seit zwei Stunden leer!” Rom war nicht gut ausgestattet mit Beyblade-Hallen, und so hatten sie mit einem freien, asphaltierten Platz Vorlieb nehmen müssen. Die Blades kochten beinahe in den Bowls. „Kai hält sich noch gut.” Sofort wandten sich alle zu ihm um. Boris starrte ihn an, seine Miene sagte deutlich, dass er ihm etwas brechen würde, wenn er jetzt etwas Falsches sagte. Andererseits sah Kai nicht ein, ausgerechnet vor Boris Schwäche zu zeigen. Also schwieg er. Sergeij hob ergeben die Hände. „Drei Runden, ja? Ich fang an.” Als er die ersten Schritte machte, schaffte er es jedoch kaum, die Fußsohlen vom Boden zu lösen. Es schien unmöglich, dass er innerhalb der nächsten Minuten in den Laufschritt fallen würde. Yuriy sah ihm nach und ächzte schließlich frustriert. „Oh, na schön. Wir können heute Abend weitermachen.” Von Boris kam ein erleichtertes Seufzen. Er drehte sich auf dem Absatz um und Sergeij folgte ihm mit schlurfenden Schritten. Auch Kai war versucht, zurück zu gehen. Wenn er Glück hatte, gab es irgendwo in einer klimatisierten Halle noch eine kleine Arena für ihn. Wobei er, wenn er wirklich ehrlich zu sich war, zu einer kleinen Pause auch nicht nein gesagt hätte. Yuriy allerdings wirkte, als wolle er eine neue Runde starten, ob er nun einen Gegner hatte oder nicht. Er steckte Wolborg wieder in den Shooter und machte sich bereit. Kai hob eine Augenbraue. „Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?” „Bist du etwa weich geworden, Hiwatari?” „Hm. Wenn du morgen einen Sonnenstich hast…” Er ließ den Satz unvollendet. Yuriy verdrehte die Augen und startete seinen Blade. Kai konnte nicht umhin, von dieser Verbissenheit beeindruckt zu sein. Die Bladebreakers hatte er immer regelrecht zum Training schleifen müssen, erst recht bei Wetterlagen wie diesen. Und nun knickte er vor Yuriy ein. Was trieb ihn bloß dermaßen an? Selbst die Peiniger der Abtei hatten irgendwann eingesehen, dass es nichts nützte, wenn sie ihre besten Blader noch vor den Turnieren kaputt trainierten. Yuriy müsste es also besser wissen. Kai räusperte sich, um die Aufmerksamkeit seines Leaders wieder auf sich zu ziehen. Widerwillig blickte der ihn an. „Du wirst noch umfallen, wenn du so weitermachst. Und dann bist du zu nichts mehr zu gebrauchen.” „Dann schlag was besseres vor.” Kai verschränkte die Arme. „Wir könnten uns die Stadt ansehen.” „Bitte was?” „Jetzt sieh mich nicht so an. Ich dachte, du willst mal was anderes als Russland sehen? Arenen hast du überall.” Und irgendwie ließ sich Yuriy dann breitschlagen. Vielleicht war er insgeheim doch erschöpft. Sie gingen in ihr Hotelzimmer, um sich umzuziehen. Im Bad zog Kai die nasse Bladerkleidung aus, um sie gegen ein normaleres Outfit zu tauschen: Helle Jeans und ein schwarzes Shirt. Das war zwar nicht so viel besser in der Hitze, doch es mangelte ihm an Alternativen. Er sah in den Spiegel und fuhr sich kurz durchs Haar. Es war lang geworden seit er Japan verlassen hatte. Auch Yuriy hatte sich umgezogen. Er trug nun ebenfalls Jeans und ein locker sitzendes Shirt, darüber, ja, trotz der Hitze, eine graue Jacke, deren Ärmel er gerade bis zu den Ellenbogen umkrempelte. Kai, dem nun endlich bewusst wurde, warum der andere nur sehr selten wirklich sommerlich gekleidet war, deutete darauf. „Lass mich raten – Wolborg?” Anstatt zu antworten hielt Yuriy ihm die Hand hin. Kai verzog ungläubig den Mund. Er war davon ausgegangen, dass Yuriy eine ähnliche Abneigung gegen Berührungen hatte wie er. Dennoch war ihm bereits zuvor aufgefallen, dass dies sich geändert zu haben schien. Allein wie er ihn in Irkutsk eher mit der Hand als mit Worten aufgehalten hatte, war ein gewaltiger Unterschied zu ihrer ersten Meisterschaft, als Volkov noch da gewesen war. Und heute Morgen, als sie zu Beginn des Trainings nebeneinander gestanden hatten und Kai mit Dranzer einen Parcours in Angriff nahm, um sich warmzuspielen – hatte Yuriy, genau in dem Moment, da Kai starten wollte, kurz aber bestimmt nach seinem Ellbogen gegriffen und diesen ein Stück nach oben geschoben. Noch bevor Kai überhaupt reagieren konnte, zischte Dranzer vom Starter und durchquerte den Parcours in engeren Kurven als sonst, wodurch er wesentlich schneller war. Also hatte Kai sich einen bösen Kommentar verkniffen und lediglich eine Augenbraue gehoben, woraufhin er neben sich Yuriys leises, spöttisches Lachen hörte. Nun griff er nach der Hand des anderen, und tatsächlich waren dessen Finger kühl und trocken. Die Temperaturen draußen konnte ihm anscheinend nichts anhaben. Kein Wunder, dass er nicht bemerkt hatte, wie überhitzt Boris, Sergeij und Kai gewesen waren. „Praktisch”, urteilte Kai und ließ schnell wieder los, „Dann hättest du wohl doch noch weitermachen können.” „Oh, ich hebe mir lieber etwas Energie auf, um euch später noch mal in den Hintern zu treten.” Kai verdrehte die Augen und wandte sich ab, um nach seinem Geldbeutel zu suchen, den er irgendwo zwischen seine Sachen geworfen hatte. Tatsächlich musste er eine Weile wühlen, bevor er ihn am Boden seiner Reisetasche fand. Er stopfte ihn in die hintere Tasche seiner Jeans und sah sich suchend nach der Schlüsselkarte für ihr Zimmer um. „Verdrehst du eigentlich vielen Kerlen den Kopf?” Die Worte trafen ihn unvermittelt, sodass Kai seine Überraschung nicht ganz verbergen konnte, als er den Blick wieder auf Yuriy richtete. Der stand bereits wartend an der Tür, in der Hand hielt er beide Schlüsselkarten. „Was soll die Frage?”, sagte er. Yuriy hob die Schultern. „Bin nur neugierig.” Seine Augen brannten sich in Kai und natürlich konnte er ihn nicht einfach anschweigen, wie er es mit anderen Menschen tat. Aber was erwartete er sich von der Antwort? „Mein Gott, dann halt nicht”, sagte Yuriy da und öffnete die Tür, um nach draußen zu gehen. Kai hob eine Augenbraue und folgte ihm. Es war ein seltsames Schweigen, das daraufhin zwischen ihnen stand. Es hielt an, bis sie sich im Fahrstuhl auf dem Weg nach unten befanden. Dort verschränkte er die Arme und sagte schließlich: „Ich kann mich nicht beklagen.” Yuriy hob den Kopf und sah ihn verständnislos an. „Kerle, meine ich.” „So so.” „Was soll das denn jetzt heißen?” „Hmmm.” „Hey, du hast doch gefragt!” Der Fahrstuhl gab ein kurzes Klingeln von sich, als sie im Erdgeschoss ankamen, dann öffneten sich die Türen. Ihr Schlagabtausch ging weiter, während sie durch die Eingangshalle liefen. Kai war nur halb so entrüstet, wie er tat. Aber er konnte Yuriys Grinsen einfach nicht ignorieren. „Verurteilst du mich jetzt oder was?”, fragte er. „Ich denke mir meinen Teil”, entgegnete Yuriy. „Einen Scheiß denkst du dir, Ivanov, es geht dich nichts an, wen ich date.” „Du lässt dich aber leicht provozieren.” „Oooh, das hier werte ich noch lange nicht als Provokation, keine Sorge.” „Okay.” „Okay!” Kais letzter Besuch in Rom war schon so lange her, dass er sich kaum noch an etwas erinnern konnte, außer vielleicht an Giancarlos Kampf gegen Takao. Und Yuriy schien gar nicht zu wissen, was er anfangen sollte, jetzt, wo er sich an einem Ort befand, der so viele Sehenswürdigkeiten bot. Wären sie allein unterwegs gewesen hätten sie wahrscheinlich jeder für sich wahllos einen Weg eingeschlagen und schon irgendwann etwas gefunden, was sie interessierte. Doch nun wussten sie wohl beide nicht recht, was sie mit der Gesellschaft des jeweils anderen anfangen sollten. Etwas unschlüssig standen sie daher vor dem Portal des Hotels, bis Kai sich einen Ruck gab. „Also… Antike oder Renaissance?” „Uh...sieht das nicht alles gleich aus?” „Bitte? Was haben sie euch in der Schule beigebracht?” Yuriy verdrehte die Augen. „Ich hatte ein paar andere Probleme in letzter Zeit.” „Pah, beskulturny tschelowek!”, sagte Kai betont hochnäsig und fing sich einen amüsierten Seitenblick von seinem Teamchef ein. In diesem Moment erinnerte er sich an etwas. „Oh, ich weiß, wo wir hingehen. Das wird dir gefallen.” Ohne eine Antwort abzuwarten setzte er sich in Bewegung. In der Hotellobby hatte er sich geistesgegenwärtig einen Plan der Innenstadt eingesteckt, den er nun entfaltete. Ihr Ziel lag in nördlicher Richtung, war fußläufig aber gut erreichbar. Er drehte sich nicht um, sondern verließ sich darauf, dass Yuriy ihm folgte. Und tatsächlich schloss der andere einen Augenblick später zu ihm auf. Sie fanden ein Café, in dem sie günstigen Espresso bekamen (und spätestens dieser lenkte Yuriy gänzlich vom Wunsch, einfach weiter zu trainieren, ab; italienischer Kaffee war um Längen besser als alles, was er bisher getrunken hatte). Dann schlenderten sie weiter durch die Nebengassen, machten ab und zu halt, wenn etwas ihre Aufmerksamkeit erregte – und in Rom gab es viel zu sehen. Auf einer kleinen Piazza entdeckten sie Team Baihuzu, die auf Stühlen unter einem Schirm saßen und sie neugierig beobachteten, während sie in großen Eisbechern stocherten. Kai tat, als bemerkte er ihre Blicke nicht, doch Yuiry erwiderte sie gereizt. „Ich frage mich wirklich, was so komisch an uns ist“, sagte er, als sie an einem Kiosk hielten, der billige Souvenirs führte. Kai drehte desinteressiert das Gestell mit den Sonnenbrillen, bevor er eine nahm und aufsetzte. „Du benimmst dich normal“, sagte er und betrachtete sich kurz in dem zerkratzten Spiegel, der an der Wand hing, „Im Gegensatz zum letzten Mal.“ Dann nahm er die Brille wieder ab. Yuriy griff dazwischen, als er sie wieder zurücklegen wollte und setzte sie nun seinerseits auf. „Und?“ „Besser als bei mir“, meinte Kai, „Oh, du hast schon Sonnenbrand auf der Nase.“ Etwas zwischen ihnen war anders geworden, seit sie ihren Konflikt in Irkutsk begraben hatten. Sie gingen respektvoller miteinander um und es war für Kai beinahe unheimlich, wie schnell er sich in Team Neo Borg eingefunden hatte. Wie nicht anders von Abteijungen zu erwarten, arbeiteten sie alle vier effizient zusammen. Doch er wollte glauben, dass nicht allein ihre Erziehung der Grund dafür war. Yuriy, das konnte er inzwischen sagen, war ein guter Teamcaptain. Er fragte nicht, wohin Kai ging, wenn er ab und an für ein paar Stunden verschwand; im Gegenzug hielt Kai sich an die wenigen Regeln, die Yuriy aufstellte. Außerdem hatte sich das ehemalige Team Borg verändert. Es war unverkennbar, dass ihnen das Leben ohne Volkov gut bekam. Vor allem Boris wirkte viel lockerer und sprach deutlich mehr als noch vor zwei Jahren. Das war auch der Grund, warum Kai und er so oft aneinander gerieten, denn Boris konnte oder wollte sich einfach keine Gelegenheit für eine Stichelei entgehen lassen. Sergeij hingegen war so schweigsam wie immer, jedoch war seine aggressive Ausstrahlung und mit ihr das permanente Knöchelknacken verschwunden, das früher jeder Person in seiner unmittelbaren Umgebung Angst und Bange werden ließ. Yuriys Veränderung war nicht zu übersehen und doch schwer zu beschreiben. In manchen Momenten herrschte ein Vertrauen zwischen ihnen, das Kai sich nicht erklären konnte. Trotzdem gab es noch immer eine Grenze, vor der er Respekt hatte. Sowohl ihre Kindheit als auch Yuriys Wissen über Volkov lagen dahinter. Je länger sie durch die engen Gassen liefen, wo es wesentlich kühler war als auf dem Platz am Vormittag und still trotz der Touristenströme auf den Hauptwegen, desto mehr konnte Yuriy sich für die fremde Stadt begeistern. Und Kai spürte einen zufriedenen Stolz in sich wachsen, schließlich war dies auch sein Verdienst. Wahrscheinlich hatten sich die Bladebreakers genauso gefühlt, als er sich auf ihren ersten Reisen immer weniger von ihnen abgekapselt hatte. Bisher hatte er nie verstanden, warum sie sich ständig hatten beglückwünschen müssen, wenn sie ihn zu irgendeiner wilden Aktion überreden konnten. Manchmal war es schwer für Kai, den Blick von seinem Teamchef abzuwenden. Als sie ein Buchantiquariat fanden und Yuriy die Hand ausstreckte, um einen Bildband aus einem Karton vor dem Schaufenster zu ziehen und in ihm zu blättern, bemerkte er feine Sommersprossen auf seinem Unterarm. An einigen stellen war die Haut gerötet, und an seinem Handgelenk zeichnete sich eine Vene ab. Yuriy schlug das Buch zu und lächelte ihn kurz an. „Sollen wir weitergehen?” Gott, dieses Lächeln. Sie mussten nur um zwei weitere Ecken gehen, dann standen sie vor einer Kirche. Yuriy blickte am Portal hinauf und hob eine Augenbraue. „Das ist...unauffällig.” „Das ist Santa Maria Immacolata a Via Veneto”, erklärte Kai, zum Glück ohne sich zu verhaspeln, und winkte ihn weiter zum Museum, das sich in einem Nebengebäude befand. Yuriy hatte wohl die Neugier gepackt, denn er folgte ihm kommentarlos und legte bereitwillig mit ihm zusammen, damit sie genug Geld für zwei Eintrittskarten hatten. Erst als sie schon durch die Ausstellung gingen schien ihm zu dämmern, was das Besondere an diesem Ort war. „Warte”, sagte er irgendwann, „Verstehe ich das richtig? Die haben hier eine Krypta voller Knochen?” „Jepp”, entgegnete Kai, „Und es sind sogar so viele Knochen, dass sie Kunstwerke daraus gemacht haben.” „Ooh.” Der Gesichtsausdruck seines Begleiters wurde sofort etwas wacher. Kai grinste. „Ich wusste doch, du bist genauso morbide veranlagt wie ich.” „Das sollte nun wirklich keine Überraschung sein.” Kurze Zeit später spähten sie in das Beinhaus hinein, das mehrere Räume umfasste, in denen sich ergraute Knochen zu kaleidoskopartigen Mustern zusammenfügten. In einigen Ecken lagen und standen vollständige Skelette in Kapuzinerkutten und in den Boden waren kleine Kreuze gerammt. Selbst an der Decke war ein Skelett angebracht, das, eine Knochensense in der Hand, auf sie herabglotzte. Der ganze Ort ein einziges Memento Mori. Eine Weile lang standen sie schweigend nebeneinander, dann wandte Kai vorsichtig den Kopf, um unbemerkt Yuriys Reaktion sehen zu können. Sein Begleiter musterte die Schädelsäulen, die um sie herum aufragten, in seinem Gesicht stand nichts als ungeteilte Faszination. Wieder war Kai auf eine ziemlich lächerliche Weise zufrieden mit sich selbst. „Erinnerst du dich an die Krypta in der Abteikirche?” Dieser Satz riss ihn aus seinen Gedanken, doch Yuriy hatte sich beim Sprechen nicht von den Schädeln abgewendet. Kai dachte nach. Vor zwei Jahren hatte er mit dem Black Dranzer in einer unterirdischen Halle trainiert, die voller Säulen war. War es das, was Yuriy meinte? „Ja. Denke schon”, sagte er vorsichtig. „Auch an die Mutprobe?” „Mutprobe? – Moment.” Er konnte nun nicht anders als Yuriy anzustarren, während sich einige Puzzleteile seiner Vergangenheit mit einem Mal zusammenfügten. Die Säulenhalle, erleuchtet von Black Dranzers unheilvollem Glühen, wurde ersetzt von einem anderen Raum, ähnlich, aber nicht derselbe. Und das Licht war anders. Diese Szene kannte er, doch er hatte sie nie einzuordnen vermocht. „Ich habe eine Kerze gehalten”, sagte er langsam, „An der Wand waren Malereien. Golden. Sie haben geglänzt. Und ich…” Seine Worte verloren sich. Irgendetwas hatte ihm Angst gemacht in diesem Raum. Er runzelte die Stirn, dann traf ihn die Erkenntnis: „Ihr Arschlöcher habt mich dort eingeschlossen!” „Zusammen mit dem Sarg des alten Abtes Wassili Wassiljewitsch. Und irgendwann hast du uns angebettelt, dass wir dich wieder herauslassen.” Yuriy grinste ihn an. „Wessen gottverdammte Idee war das? Warte, sag nichts, es war entweder Boris oder Ivan, dieses kleine Stück Dreck…” Mit diesen Worten überspielte Kai das Lachen, das ihm in der Kehle lag. Jahrelang hatte ihm das Bild von der Krypta ein unbestimmbares Unbehagen bereitet – dabei war es nur ein banaler Kinderstreich gewesen! „Oh nein”, entgegnete Yuriy, „Das war allein meine Idee.” Kai blieb der Mund ein Stück weit offen. Sein Gegenüber hingegen wirkte ziemlich zufrieden mit sich. „Hätte trotzdem nicht gedacht, dass du das noch weißt.” Er entschied, sich nicht die Blöße zu geben und zuzugeben, dass Yuriy mit seinem tollen Einfall ein mittelschweres Kindheitstrauma verursacht hatte. Soweit er es rekonstruieren konnte, musste er sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein. Noch Jahre später, in Japan, hatte er manchmal Alpträume von mumifizierten Leichen, die aus steinernen Sarkophagen stiegen, gehabt. „Ich erinnere mich an so einiges”, sagte er und versuchte, möglichst neutral zu klingen, „Nur weiß ich bei Vielem nicht, wann genau es passiert ist. Oder in welcher Reihenfolge.” Yuriy nickte nur und ließ dann wieder den Blick wandern. Sie hatten nun schon einige Zeit inmitten der Knochen verbracht, doch immer wenn Kai wieder genauer hinsah, stach ihm ein neues Detail ins Auge. Die Schädel, die zunächst wie aus einem Guss wirkten, unterschieden sich doch sehr voneinander. Man war versucht, sich die Menschen vorzustellen, die sie einmal gewesen waren. „Wusstest du, dass sie versucht haben, die Abtei wieder in eine religiöse Stätte umzuwandeln?”, ergriff Yuriy erneut das Wort. „Wirklich?” „Ja. Ich habe gehört, ein paar reiche, traditionsbewusste Leute sind sehr versessen darauf, die Gebäude zu restaurieren. Ziemlich lächerlich, wenn du mich fragst.” „Was würdest du denn mit der Abtei tun?”, fragte Kai. Yuriy legte den Kopf schief, seine Miene wurde hart. „Ich würde sie niederbrennen. Bis auf den letzten Stein.” Natürlich, mit einer anderen Antwort hatte er gar nicht gerechnet. „Ich auch”, sagte Kai. „Tja. Schade, dass es damals nicht geklappt hat, als du Volkov den Black Dranzer zurück gebracht hast.” „Hätte ihn wohl eher in einen der Heizkessel jagen sollen.” „Ja. Stattdessen ist einfach nur überall das Licht ausgegangen. Ich habe erst viel später erfahren, dass du daran Schuld warst.” Er seufzte und drehte sich um. Das war das Zeichen dafür, dass sie endlich den Weg zum Ausgang einschlugen. „Wenn ich gewusst hätte, dass nur ein paar Tage später alles vorbei sein würde…” „Was dann?”, fragte Kai leise und Yuriy warf ihm einen flüchtigen Blick über die Schulter zu, bevor er die Hände in die Taschen schob und weiter vorausging. „Ich möchte glauben, dass ich weggelaufen wäre”, antwortete er, während sie an großen Renaissancegemälden vorbeikamen, auf denen Mönche sich verrenkten und verzückt gen Himmel wandten. „Aber um ehrlich zu sein, wahrscheinlich hätte ich nichts Besseres gewusst, als trotzdem zu kämpfen. Vielleicht mehr für mich und weniger für Volkov. Aber ich wäre bei Borg geblieben.” Bis zum Abend war Yuriys Sonnenbrand schlimmer geworden. Auf seinen Armen und im Gesicht sah man es deutlich. Sie saßen nebeneinander in einer versteckten Ecke im Innenhof des Hotels, rauchten heimlich und hörten David Bowie mit Kais MP3-Player. Die Akustik war schrecklich, denn jeder hatten sie nur einen Kopfhörer und so jeweils die Hälfte des vollen Klanges. Kai konnte dem Drang nicht widerstehen und drückte seinen Zeigefinger in die Haut des anderen. Ein deutlicher weißer Fleck blieb zurück, der sich nur langsam wieder zurückfärbte. „Du brauchst Aprés-Sun“, sagte er. „Ja, Mama.“ „Brennt das denn nicht?” Er piekste ihn noch mal, setzte eine Kette heller Punkte auf seinen Unterarm, bis Yuriy ihn am Handgelenk packte. „Lass das.“ Dann hob er die freie Linke und nahm Kai die Zigarette aus dem Mund, um selbst daran zu ziehen. Kai beobachtete die Bewegungen seiner Lippen und wie seine Augen beim Inhalieren halb zufielen, während Bowies dunkle Stimme in seinem Ohr säuselte. Erst dann bemerkte er, dass auch Yuriy ihn ansah, dass sie sich schon die ganze Zeit stumm musterten. Und dass er noch immer seine Hand festhielt. Später stand Kai unter der Dusche und bereitete sich mental auf den nächsten Turniertag vor. Das monotone Rauschen des Wassers half ihm, sich zu konzentrieren. Vor seinem inneren Auge sauste Dranzer hin und her, vollführte tollkühne Haken. Suzakus Geist flackerte unter seinen Rippen, ihre Nähe war beruhigend. Obwohl diese Weltmeisterschaft ihn bereits jetzt mehr Nerven gekostet hatte als alle Turniere zuvor, gelang es ihm in diesen Momenten, die Außenwelt komplett auszublenden. Er wusste nicht, wie andere Blader sich auf ihre Battles vorbereiteten – für ihn war diese Visualisierung die beste Art. Er lehnte sich nach vorn und ließ Wasser übers einen Kopf laufen. Seine Frisur fiel in sich zusammen und seine Haare legten sich auf seine Wangen und Schultern. Er hörte nichts mit Ausnahme des feuchten Gurgelns – das heißt, bis zu dem Zeitpunkt, da die Tür aufging. „Kai?” Es war Yuriys Stimme. Wollte er nicht noch einmal zu Boris und Sergeij gehen um sicherzugehen, dass die beiden sich am Vormittag nicht überlastet hatten? Vielleicht kam er gerade von dort. Von der Tatsache, dass Kai nackt vor ihm stand, ließ er sich jedenfalls nicht beeindrucken. Sie schlossen generell fast nie ab, weil es irgendwie schneller ging, das Bad gleichzeitig zu benutzen. Durch die milchigen Scheiben der Duschkabine sah er, wie Yuriy sich ans Waschbecken lehnte und die Arme verschränkte. „Sie haben uns gerade gesagt, gegen wen wir antreten.” Kai bewegte sich nicht, sondern wartete einfach ab. „BBA Revolution”, sagte Yuriy, „Übermorgen.” Endlich strich er sich die Haare nach hinten und richtete sich wieder auf. „Tja. Scheiße.” „Möchtest du das für mich etwas elaborieren?”, fragte Yuriy. „Machst du dir Sorgen?” „Wieso sollte ich?”, entgegnete er. „Es kommt nur ein wenig zu früh für meinen Geschmack. Du hast ihren letzten Kampf gesehen. Kinomiya ist nicht auf der Höhe. So will ich nicht gegen ihn antreten.“ Mit einem Ruck öffnete er die Türen der Duschkabine, wobei der Rothaarige ein paar Tropfen abbekam. „Gib mir mal das Handtuch.” „Ich verstehe“, sagte Yuriy, zog eines der Handtücher vom Ständer und reichte es an Kai weiter. „Ich meine, ich verstehe, wenn dir das irgendwie ans Ego geht. Aber es wäre trotzdem schön, wenn du dich bemühen würdest, zu gewinnen.“ Kai erwiderte seinen Blick nur kurz, dann lehnte er sich zurück, um seine Haare zu trocknen. Eine Bestätigung blieb er seinem Leader schuldig. Die Kämpfe in Rom begannen mit der Begegnung von Barthez Soldiers und Baihuzu. Sie sahen sich das Match nach dem morgendlichen Training in ihrer Kabine an. Kai hatte sich auf eine Bank gesetzt und die Arme verschränkt. Seine Gedanken kreisten um Kinomiya. Er rief sich alle Fakten über seinen Rivalen ins Gedächtnis, jede Spezialität, jede Schwäche. Es war beinahe unheimlich, wie gut er den anderen kannte. Kinomiya überraschte Kai nur noch sehr selten; wenn er ihn bladen sah, konnte er beinahe alle Bewegungen voraussagen. Das war in letzter Zeit freilich nicht mehr so oft passiert, aus dem einfachen Grund, weil Kinomiya im Moment deutlich schlechter spielte als normalerweise. Sobald Kai sich an das Match zwischen Baihuzu und der BBA Revolution erinnerte, brodelte erneut Wut in ihm. Ein solcher Kampf war nichts wert, und wenn Kinomiya so weiter machte, würde er es nie und nimmer ins Finale schaffen, und alles war umsonst. In diesem Moment setzte Yuriy sich neben ihn. „Alles in Ordnung?”, fragte er, als er Kais Mimik bemerkte. „Hmmm”, machte er nur und sein Leader verzog belustigt den Mund. Nicht zum ersten Mal fragte Kai sich, ob seine Rivalität mit Kinomiya Yuriy überhaupt etwas bedeutete. Nun, zumindest hatte der diesen Umstand ausgenutzt, um ihn in sein Team zu holen. Ob er sie darüber hinaus verstand, war wohl eine andere Sache. Der Rothaarige beugte sich zu ihm, während Boris den Fernseher einschaltete und Sergeij die Wasserflaschen, die er gerade besorgt hatte, auf den Tisch stellte. „Ich bin sicher, Kinomiya fängt sich wieder, wenn du ihn ein bisschen wachrüttelst”, sagte er, „Also hör auf zu schmollen.” „Ich schmolle nicht!”, entgegnete Kai und ließ die Arme sinken. Yuriys Grinsen wurde breiter und ihm fiel der scharfe Bogen seiner Lippen auf. Dann wandte er sich ab und gab ein abfälliges Geräusch von sich. Eine Erwiderung seitens des anderen blieb aus, denn die Übertragung des Turniers begann. Boris und Sergeij setzten sich auf die Bank hinter ihnen. Es zischte laut, als Boris eine der Wasserflaschen öffnete. „Baihuzu werden gewinnen, das ist sicher”, meinte er. Gedanklich pflichtete Kai ihm bei. Es schien unmöglich, dass Rei gegen so blutige Anfänger verlieren würde. Gerade wurde die Bowl enthüllt und gleichzeitig mit dem Getose des Publikums im Fernseher war der Jubel auch direkt von ihren Sitzplätzen aus zu hören. Ihr Raum befand sich unter den Tribünen, und scheinbar waren die Wände hier recht dünn. „Kai”, sagte Yuriy plötzlich, wieder in ernstem Ton und so leise, dass er zuerst glaubte, sich verhört zu haben. „Sieh genau hin.” Die Bedeutung dieser Worte blieb ihm schleierhaft, bis Lai sein Match verlor. „Was war das?”, rief Boris aufgebracht und Sergeij verschränkte die Arme. „Da stimmt was nicht”, stellte er fest. Yuriys Blick löste sich keine Sekunde lang vom Bildschirm. Kai wollte an einen Glücksfall für Barthez Soldiers glauben, doch dann traf Rei auf Miguel. Und was in diesem Kampf passierte, trotzte jeder Logik. Als Driger aus dem Stadium flog, sog er scharf die Luft ein. „Was zur Hölle-?” Jetzt war Boris aufgesprungen. „Das darf doch nicht wahr sein! Verdammt! Wo ist die Zeitlupe, wenn man sie mal braucht?” Kai sah Yuriy an, der die Lippen fest aufeinander gepresst hatte. In diesem Moment hatte er Fragen, sehr viele sogar, doch er ahnte, dass sein Teamchef sie nicht beantworten würde. Kai hasste Hitoshi Kinomiya. Das konnte er spätestens jetzt mit Sicherheit sagen. Er stand auf dem Podest, um ihn herum die schreienden Zuschauer und ihm gegenüber Daichi Sumeragi, wie immer auf und ab hüpfend. Es war ein groteskes Dejá vu ihres Vorrundenkampfes und wie schon zuvor fühlte Kai sich mehr als fehl am Platz. Und Hitoshi Kinomiya verhöhnte ihn. Saß dort breitbeinig auf der Bank, die Arme verschränkt und ein dreckiges Grinsen im Gesicht. Von seinem jüngeren Bruder fehlte jede Spur. Dieses Match war ganz und gar falsch. Von Anfang an hatte es unter keinem guten Stern gestanden. Es kam viel zu früh, niemand hatte damit gerechnet, dass sie schon in der zweiten Runde auf die BBA Revolution trafen. Und nun war Kinomiya nicht einmal hier. Stattdessen waren Daichi und – ausgerechnet! – Kyoujyu aufgestellt worden. Kai ahnte, dass dies nicht nur dazu diente, dem schwächelnden Champion eine Lektion zu erteilen – es war auch ein Zeichen an ihn selbst, der er das Team verlassen hatte. Eine späte Rache des Shippu-no Jin. In diesem Moment war ihm das Turnier zuwider. Er hasste es, wie auf dem Präsentierteller in dieser Arena zu stehen und sich einen Kampf wie diesen geben zu müssen. Am liebsten hätte er Hitoshi – gar nicht mal so metaphorisch – vor die Füße gekotzt. Mit welcher Überheblichkeit dieser Kerl handelte. War jahrelang in irgendeiner Versenkung verschwunden und erwartete nun, dass sie alle genau das machten, was er wollte. Und Daitenji leckte ihm die Füße. Es ekelte Kai an, und er war wütend. Hitoshi verstand nicht im Geringsten, was zwischen Bladern wie ihm und Kinomiya stand. Wie wichtig so ein Match sein konnte. Und, verdammt, niemand hatte das Recht, ihn derart zu beleidigen. Schließlich war er Kai Hiwatari, und er hatte sehr viel Zeit und Energie darauf verwendet, dass dieser Name den Leuten im Gedächtnis blieb. Es gab eigentlich nur eine Antwort, die er Hitoshi geben konnte. Das bedeutete einen Nachteil für Neo Borg – aber Yuriy würde das schon wieder richten. Im Gegensatz zu ihren Gegnern schwächelte sein Leader nämlich kein bisschen. Der Countdown erklang und Kai holte weit aus, um Dranzer zu starten. Doch anstatt in die Bowl flog sein Blade direkt auf Daichis Gaia Dragoon zu. Sie prallten noch im Flug aufeinander, und während Gaia Dragoon danach in die Arena fiel, schoss Dranzer in einem komplett anderen Winkel davon. Er schlug funkensprühend in die Bank, auf der die BBA Revolution saß, ein – direkt neben Hitoshis Gesicht. Dann sprang er zurück in Kais Hand. Für einen Augenblick war das Stadion komplett still. Hitoshis Mimik zeigte keine Regung, doch Kai war sicher, dass niemand hier ernsthaft annehmen würde, Dranzers Flugbahn sei zufällig genau so verlaufen. Die Botschaft war angekommen. Er drehte sich um und verließ das Podest, während DJ Daichis Sieg verkündete. Dieser begriff erst nach ein paar Sekunden, was überhaupt passiert war. Yuriy kam ihm entgegen. Sie trafen sich auf halbem Weg zwischen ihrer Bank und der Bowl und Kai beschlich das Gefühl, dass in diesem Moment die meisten Augenpaare auf sie gerichtet waren. Nur sehr kurz sahen sie sich an, Yuriy begann erst zu sprechen, als sie schon beinahe aneinander vorbeigegangen waren. „Was treibst du hier eigentlich, Kai?” „Das siehst du doch”, entgegnete er. „Dieses Match kriegst du auch alleine hin.” Dann setzte er seinen Weg fort. Kurz darauf hörte er seinen Leader seufzen: „Du bist wirklich schwierig.” Boris und Sergeij wirkten, als wollten sie ihn in der Luft zerreißen, ließen ihn aber vorbei, damit er sich auf die Bank setzen konnte. Das würde sicher auch noch ein Nachspiel für ihn haben, unabhängig davon, wie Yuriy sich jetzt schlug. Aber er bereute nichts, im Gegenteil: Es hatte verdammt gut getan, diesem ganzen Turnierapparat einfach den Finger zu zeigen. Allen voran natürlich auch Hitoshi, der sowieso viel zu viel Kontrolle in diesem Wettbewerb ausübte. Daitenji und er waren wirklich viel zu vertraut miteinander. Das zweite Match begann und Kai hob den Kopf, als das Surren der Blades zu hören war. Wolborg trieb Kyoujyus Blade, Einstein, vor sich her wie eine Katze die Maus. Doch Einstein war natürlich kein gewöhnlicher Blade. Kai wusste, dass eine Feder in seine Achse eingelassen war, die ihn tollkühne Sprünge vollführen ließ. Es reichte, um Yuriy kurz zu überraschen, dennoch war Wolborg um ein Vielfaches überlegen. Außerdem war sein Teamchef wahrscheinlich einer der erfahrensten Blader in diesem Turnier. Was auch immer Kyoujyu versuchte, es gab so gut wie kein Angriffsschema, das sein Gegner nicht kannte. Und Yuriy beließ es nicht einfach beim Bladen: Er verunsicherte Kyoujyu durch ein paar provokante Sticheleien zusätzlich. Der Jüngere war sowieso ein schüchterner Mensch und musste vor Anspannung fast vergehen; Yuriys verbale Angriffe konnten ihm gut und gerne den Rest geben. Der Kampf dauerte länger an, als Kai erwartet hatte. Doch Yuriy ließ sich Zeit, spielte ein wenig und zeigte, was Wolborg konnte. Vielleicht war es auch als eine kleine Machtdemonstration für Kai gemeint. Es war nicht zu verleugnen, dass der weiße Blade ein schöner, aber gefährlicher Anblick war. Perfekte Technik, absolute Kontrolle. Für die BBA Revolution wurde es brenzlig, also schaltete Hitoshi sich ein, um Kyoujyu anzufeuern. Jetzt kam wieder Leben in den Kampf, denn Kyoujyu schaffte es nun tatsächlich, ein paar Schläge auszuteilen. Yuriy zeigte sich einigermaßen beeindruckt davon, doch Kai war nicht überrascht. Comebacks wie diese waren so etwas wie das Markenzeichen der BBA. Dass sein Teamchef ein wenig ins Schwitzen geriet, machte das Match nur interessanter. Schließlich hatte Yuriy genug. Kai spürte es vielleicht einen Augenblick früher als alle anderen und richtete sich unbewusst auf. Die Aura des sibirischen Wolfs breitete sich im Stadion aus, und dann kam die Kälte. Er hatte diesen Special Move noch nicht gesehen, doch als sie noch in Russland waren hatte er eines Tages Boris und Ivan davon sprechen hören. Der Novae Rog, der Eissturm, inspiriert von den subarktischen Temperaturen Sewerodwinsks, Yuriys Geburtsstadt. Wenn er diese Attacke nun einsetzte, sprach er definitiv eine Warnung an alle ihre Gegner aus. Und so wartete Kai auf das, was dort kommen mochte. Auf seiner Haut stellten sich die Härchen auf, als der Frost um sich griff, und unbewusst presste er die verschränkten Arme stärker gegen seine Brust. Die Bowl wurde in einen Wirbel von Eis und Schnee gehüllt. Vor diesem Hintergrund hob sich Yuriys Gestalt scharf ab, es war, als würde der Sturm ihn mit sanften Fingern umschließen. Kai war wie gebannt von diesem Anblick. Das war also Yuriys Macht. In seinem Magen breitete sich ein warmes Flackern aus – auch Suzaku reagierte auf Wolborgs Energie und schützte ihn gleichzeitig vor den sinkenden Temperaturen. Die Eiskristalle, die der Wind bis zu ihm hin trug, glänzten wie Glas, bevor sie zu schmelzen begannen. Sie legten sich auf Yuriys Schultern, verfingen sich in seinem Haar. Seine Haut schien jegliche Farbe verloren zu haben. Kai konnte sein Gesicht nicht sehen, doch manchmal wurde es von einer der Kameras eingefangen und auf den Monitor projiziert – Yuriys Augen wirkten dunkler als sonst und er lächelte bedrohlich. Dies war sein Element, und in diesem Moment war er ganz er selbst. Kyouyju hingegen litt sichtbar, er hatte dem Novae Rog nichts entgegenzusetzen und wurde auch nicht von einem eigenen Bit Beast geschützt. Sein Blade wurde von Eis umhüllt, dann traf Wolborg ihn ein letztes Mal. Der Kunststoff, strapaziert durch die Temperatur, zersprang. Einstein zerfiel in unzählige Einzelteile, während Wolborg langsam wieder zu Boden schwebte und mit einem sanften Klicken aufsetzte. Als Kai das sah, verengten sich seine Augen. Er warf einen kurzen Blick zu Kyoujyu und seine Befürchtungen wurden bestätigt, denn auch der andere starrte den weißen Blade an, anstatt den Verlust Einsteins zu betrauern. Sie hatten es also beide bemerkt. Als Yuriy Wolborg auffing, fielen die letzten Schneeflocken aus seiner Kleidung. Boris lief zu ihm und nahm ihm den Blade ab, um ihn kurz durchzuchecken. Währenddessen sah Yuriy nicht einmal zu Kai hinüber. Der überlegte, ob er seinen Teamchef warnen sollte, denn auch Kyoujyu blieb nicht untätig: Er wühlte gerade wild in seinem Ersatzteilkoffer herum. Schließlich kamen Boris und Yuriy zur Bank zurück. „Du hattest Schwierigkeiten”, fing Kai an. „Ich hab nur ein bisschen mit ihm gespielt”, entgegnete der Rothaarige. Kai öffnete den Mund, doch in diesem Moment passierten mehrere Dinge auf einmal: DJ sagte das Entscheidungsmatch an, wurde aber unterbrochen, als hinter der Absperrung zu den Rängen Tumult entstand. Es war Kinomiya, der sich dort verbissen gegen zwei Ordner wehrte und schon halb über die Absperrung gestiegen war. Kai stand auf und trat neben Yuriy, um das Schauspiel sehen zu können. Kinomiya verlangte lautstark danach, im dritten Battle anzutreten. Aber natürlich besagte eine der vielen Regeln dieser Weltmeisterschaft, dass das nicht ging. „Wie egoistisch”, urteilte Yuriy und wandte sich dann überraschend an Kai: „Im Gegensatz zu dir will ich dieses Turnier gewinnen. Das weißt du, oder?” „Tu was du für richtig hälst”, entgegnete er. Bevor er weitersprechen konnte, rief Boris erneut nach Yuriy, und der Rothaarige verließ ihn ohne ein weiteres Wort. Kai verzog den Mund und verschränkte erneut die Arme. Also schön, dann sollte der andere halt ins Verderben rennen. Yuriy holte ihn in der Umkleidekabine ein. Sein Körper versteifte sich, als er hörte, wie die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel. „Ich glaube es nicht, Kai!“, sagte Yuriy leise, „Ich habe dich nicht ins Team geholt, damit du nur an der Bowl stehst und gut aussiehst! Du sollst verdammt noch mal bladen!” Kai verdrehte wortlos die Augen. „Das war einfach nur lächerlich! Ich war ja geneigt, deine Allüren zu ignorieren...“ „…so lange, bis du selbst verloren hast, nicht wahr?“, unterbrach er ihn und drehte sich mit einem Ruck zu ihm um, „Wie kann man nur so blöd sein und zweimal die gleiche Strategie fahren? Du konntest dir doch ausrechnen, dass Kyouyju deine Attacke durchschaut!“ „Ach, konnte ich das?“, sagte Yuriy, „Nun, offensichtlich bin ich nicht allwissend. Aber da du ja so schlau bist, hättest du auch mal ein Wörtchen sagen können!“ „Seit wann nimmst du meine Hilfe an?“ „Verdammt noch mal, wir sind ein Team!“, rief Yuriy, „Wie oft muss ich dir das denn noch sagen?“ Sie starrten sich an, keiner wollte den Blick senken. „Du misstraust mir”, stellte Kai fest. „Natürlich tue ich das – und anscheinend zu Recht! Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst keinen Scheiß machen, und was machst du?” Er breitete die Arme aus, eine Geste, die alles mit einschloss, was draußen im Stadion passiert war. „Wir können uns keine Niederlage leisten, verstehst du mich nicht?” „Oh, na das hättest du dir aber überlegen sollen, bevor du in das Battle mit Sumeragi stolziert bist!”, giftete Kai. „Ach, fick dich doch.” Yuriy wirkte, als wollte er die Worte ausspuken. „Sag mir, was ich jetzt tun soll. Soll ich Boris für dich einwechseln?” Kai schnaubte. „Dann würdet ihr kein einziges Match mehr gewinnen.” „Wow. Diese Arroganz. Weißt du, du bist nicht der einzige, der in Irkutsk bis zum Umfallen trainiert hat – aber ach ja! Das kannst du ja nicht wissen, du warst den Großteil der Zeit nicht anwesend!” Kai hob die Augenbrauen. „Ich dachte, das hätten wir geklärt. Was willst du denn von mir? Wenn ich gut bladen soll, brauche ich mein eigenes Training.” „Ja, aber das ist der Punkt – du bladest nicht gut!” „Willst du sagen, ich bin schwach?” Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Glaubte Yuriy allen Ernstes, er hätte den Kampf aus Angst abgebrochen? Vor Sumeragi? „Sag du es mir, Kai!” Er öffnete den Mund, doch sein Leader war noch nicht fertig mit ihm: „Ich hab wirklich gedacht, ich wüsste, worauf ich mich einlasse. Ich hab dich auch noch verteidigt – gegen Boris, gegen Ivan, sogar gegen Sergeij. Selbst dem ging dein Verhalten irgendwann auf die Nerven. Aber du… du bist einfach…” Ihm gingen die Worte aus. „Na was?”, zischte Kai, obwohl er es gar nicht hören wollte. „Noch viel schlimmer als ich erwartet hätte”, beendete Yuriy den Satz. „Und das will wirklich was heißen. Was soll ich denn mit dir machen, hm? Wer sagt mir, dass das nicht wieder passieren wird?” Kai spürte einen leichten, schmerzvollen Stich, den er ignorierte. Was fiel Yuriy ein, ihn allein verantwortlich für diese Blamage zu machen? Sein Ärger darüber übertraf beinahe jegliches Gefühl von Schuld. „Okay, also nur damit ich das richtig verstehe”, sagte er, „Wir sprechen hier von einem – einem! – Match, das ich nicht einmal gespielt habe, und du wirfst mir nun vor, ich wäre ein schlechter Blader? Ausgerechnet du? Nachdem du selbst dein Match verloren hast, weil du schlicht zu dämlich warst, deine Strategie anzupassen?” „Ja!”, rief Yuriy, „Ja, allerdings! Aber das ist bei Weitem nicht alles. Ich dachte, wir wären uns einig, was unsere Ambitionen bei diesem Turnier angeht. Ich habe mich auf dich verlassen wollen – und das erste, was du machst, ist uns, deinem Team, wegen ein paar Sentimentalitäten in den Rücken zu fallen!” „Ein paar Sentimentalitäten? Kinomiya hat mich da draußen verhöhnt! Eine größere Beleidigung gibt es fast gar nicht!” „Oh mein Gott, Kai! Darum geht es also? Sie haben deinen Stolz verletzt? Deine Blader-Ehre?” Bei dem letzten Wort fiel Yuriys Tonfall ins Sarkastische. Er verschränkte die Arme und musterte Kai. „Und? War es das wert?” Kais Augen verengten sich. „Ja”, sagte er schlicht. Yuriy warf resigniert die Arme in die Luft, er wirkte, als würde er am liebsten irgendwo hineinschlagen. Kai dachte daran, ihm noch mal sein Gesicht anzubieten, nur, um ihn ein wenig mehr zu reizen. Doch dann drehte sich der andere zurück zu ihm. „Okay”, seufzte er und legte eine Hand in den Nacken, als wäre er verspannt. „Okay, das reicht. Komm mit.” „Wohin?” „Wir beide” Und damit öffnete er die Tür, „werden jetzt ein Match austragen. Also beweg dich!” „Ein Beybattle?”, vergewisserte Kai sich, doch ihm blieb nichts anderes übrige als seinem Teamchef zu folgen, der schon draußen stand. Er wusste nicht, warum er sich darauf einließ. Etwas in Yuriys Tonfall ließ keine Widerworte zu. „Ja, ein Beybattle”, sagte der, während er vor ihm den Gang entlang lief, „Ich habe gerade zwei Matches gespielt, du – gar keins. Es dürfte also kein Problem für dich sein, mich zu schlagen.” Kai hob eine Augenbraue. „Und was dann?” „Dann weiß ich, dass ich den Richtigen in mein Team geholt habe.” Yuriy stieß eine weitere Tür auf und trat zur Seite, um ihn hineinzulassen. „Wenn ich gewinne, Hiwatari… Dann fliegst du raus.” Sie standen in einem der kleineren Trainingsräume. Hier gab es eine Bowl, die in etwa die gleiche Größe hatte wie jene, in der sie die Turnierrunden ausgetragen hatten. Kai griff in seine Jacke, um Dranzer herauszuziehen, doch da streckte Yuriy die Hand aus. „Gib mir den Bit Chip”, befahl er, „Ich werde nicht riskieren, dass wir unsere Blades bei dieser Aktion schrotten.” Zähneknirschend entfernte Kai Suzakus Bit aus dem Angriffsring. Es scheint lächerlich, doch die Bits waren trotz allem immer noch nötig, um während eines Battles die Bit Beasts zu rufen. Ohne sie würde ihr Match also nicht mit Kraft, sondern allein mit Technik ausgetragen werden. So waren sich ihre Blades noch ähnlicher. Dranzer hatte vielleicht ein bisschen mehr Schlagkraft, dafür war Wolborg wendiger. Allein das Maß an Kontrolle, das sie hatten, würde den Kampf entscheiden. Und Kai wusste, dass Yuriy, was die reine Technik anging, einer der besten hier war. Verdammt, erst vor ein paar Tagen hatte sein Leader auf den ersten Blick einen Formfehler bei ihm entdeckt, der ihm nicht einmal selbst bewusst gewesen war. Was auch immer er also in der Bowl veranstaltete, er musste damit rechnen, dass der andere ihn durchschaute und jeden Patzer sofort bemerkte. Sie nahmen ihre Positionen an den gegenüberliegenden Seiten der Arena ein und starteten ohne jegliches Kommando. Für so einen Schnickschnack hatten sie beide keine Geduld. Doch anstatt aufeinander loszugehen hielten sie erst einmal Abstand zueinander. „Na was?”, kommentierte Yuriy, „Traust du dich etwa nicht?” Kai schwieg, doch Dranzer machte einen Schlenker und verpasste Wolborg den ersten Schlag. „Du bist heute aber leicht zu provozieren.” Nun war es Dranzer, der einsteckte. Sie hielten sich insgesamt mit Angriffen zurück, denn sobald einer von ihnen sein Bewegungsmuster veränderte, wurde der andere darauf aufmerksam und reagierte entsprechend. Mit der Zeit erschien ihr Match weniger wie ein Kräftemessen als wie eine Vorführung ihrer Fähigkeiten. Kai ertappte sich dabei, wie er mit angehaltenem Atem auf Yuriys nächsten Move wartete, einfach, weil er wissen wollte, was der andere noch im Petto hatte. Suzakus Energie flackerte in ihm, irgendwo in der Nähe seines Zwerchfells. Und es schien ihm, als könne er auch Wolborg spüren wie einen Hauch Frost in der Luft, die ihn umgab. Das war ungewöhnlich; ähnliche Effekte kannte er bisher nur von den Bit Beasts der ehemaligen Bladebreakers, und das lag daran, dass Suzaku mit ihnen verbunden war, als eines von vier Teilen desselben Ganzen. Bit Beasts, die wie Wolborg außerhalb dieses Ganzen standen, waren normalerweise überhaupt nicht bemerkbar, wenn sie nicht im Kampf eingesetzt wurden. Ob Suzaku wegen des Turniermatches noch so empfindlich auf den Eiswolf reagierte? Irgendwann kam der Augenblick, in dem Wolborg sehr dicht an Dranzer vorbeirauschte; Kai reagierte blitzschnell und teilte ein paar präzise Schläge aus. „Gut!”, kommentierte sein Teamchef, und als er ihm einen verwirrten Blick zuwarf sah er, dass die Augen des anderen fest auf ihre Blades gerichtet waren und ein grimmiges Lächeln auf seinem Gesicht lag. Sein Atem ging schwerer, wahrscheinlich fühlte er langsam die Erschöpfung nach den beiden Matches gegen die BBA Revolution. Vielleicht konnte Kai einen Moment abpassen, in dem sein Gegner unachtsam war und – „Zu spät”, sagte Yuriy, während Wolborg auswich und Dranzers Angriff ins Leere ging. „Ich krieg dich noch”, entgegnete Kai und tatsächlich, die nächste Attacke verfehlte ihr Ziel nicht. Yuriy sog scharf die Luft ein. Der weiße Blade prallte vom Rand der Arena ab, doch der Winkel war günstig. Wolborg stieß sich noch ein paar Mal ab, dann traf er wieder auf Dranzer, der aus seiner Bahn geschleudert wurde. Kai entwich ein Fluch, der jedoch eher bewundernd als verärgert klang. „Gar nicht schlecht, Ivanov.” „Klingt als wärst du überrascht, Hiwatari”, keuchte Yuriy. Langsam aber sicher gingen ihm die Reserven aus. Auch Kai bemerkte, wie der lange Kampf an ihm zehrte. Gerade weil ihm keine Sekunde blieb, um durchzuatmen, wurde es für ihn ebenfalls kritisch. Doch Yuriys Abwehr war noch immer solide. Es war beinahe unmöglich, einen wirklich gefährlichen Schlag gegen ihn auszuführen. Aber vielleicht konnte Kai sich dieses Verhalten zu Nutze machen… Yuriy ging hier auf Nummer sicher. Er verteidigte sich, seine Angriffe waren aber kaum einmal wirklich überraschend. Risiken ging er selten ein – ganz im Gegensatz zu Kai. Er hatte seinen Plan noch nicht im Geringsten gefestigt, als er ihn auch schon ausführen musste. Kaum hatte Kai Wolborgs Bewegungsmuster entschlüsselt, ließ er Dranzer abrupt den Kurs ändern. Dadurch büßte er einiges an Geschwindigkeit ein, doch mit ein bisschen Glück reichte die Kraft seines Blades immer noch, um seinen Gegner aus der Bowl zu befördern. Diese Alles-oder-Nichts-Attacken hatten einst den Ruhm der Bladebreakers begründet; mehr als einmal hatten sie in Battles alles auf eine Karte setzen müssen. Yuriy stieß einen ungläubigen Ruf aus, dann war Wolborg getroffen und kullerte vor seine Füße. Dranzer hingegen schrammte am Rand der Bowl entlang und kam dann in der Mitte zur Ruhe. Seine Rotationsgeschwindigkeit hatte deutlich nachgelassen, und ein paar Sekunden später fiel auch er auf die Seite. Trotzdem, er hatte klar gewonnen. Yuriy ließ sich auf den Boden fallen. „Das war gut”, urteilte er, „Wäre nett, wenn du beim nächsten Mal in den offiziellen Matches auch so bladest.” Kai war kurz schwindelig geworden und er musste sich einen Augenblick auf den Knien abstützen, bevor er sich wieder aufrichten konnte. Mit einem energischen mentalen Schub drängte er Suzaku zurück, die noch einmal in ihm aufloderte. Sie wollte weiterkämpfen. Ihre kurze Auseinandersetzung hinterließ ein unangenehmes Brennen in Kais Magen. Dennoch ging es ihm wesentlich besser als Yuriy, dem dieses Battle wahrscheinlich die letzte Kraft gekostet hatte. Der andere wirkte allerdings nicht frustriert über seine Niederlage, im Gegenteil: Er sah ziemlich zufrieden mit sich aus. Und auch Kai merkte, dass seine Wut verflogen war. Dieser Kampf hatte Spaß gemacht. Er seufzte und ging zu Yuriy. Schob die Hände in die Taschen und musterte ihn. Er wusste, was er zu sagen hatte, doch es war ihm noch immer unangenehm. Weil er einen Fehler gemacht hatte. Weil er sich dafür entschuldigen musste. „Okay. Ich geb’s zu, ich habe Mist gebaut.“, sagte er schließlich, und zwar schneller und leiser als beabsichtigt. Sein Leader legte den Kopf in den Nacken und blickte gelassen zu ihm auf. „Allerdings.” Kai verzog den Mund. „Wir haben beide Mist gebaut. In Zukunft müssen wir uns besser absprechen“, sagte Yuriy, „Und wir sollten uns etwas ausdenken, was wir der Presse sagen.“ „Das mache ich“, bot Kai an. „Nein. Ich habe keine Lust, zuzusehen, wie du von den Pressegeiern zerrissen wirst. Ich mache ein Statement.“ Erstaunt sah Kai ihn an. So etwas hatte noch keiner für ihn getan. Er selbst für andere, klar, für die Bladebreakers, weil es einfach selbstverständlich war als Teamleader… Ah, das musste es sein. „Wow“, sagte er und wandte den Blick wieder ab, „Es ist seltsam, einen Captain zu haben.“ „Auch mal ganz angenehm, nicht wahr?“ Yuriy schmunzelte, dann kam er schwerfällig auf die Füße. „Versprich mir, dass das nicht nochmal vorkommt.“ „Natürlich“, sagte Kai. Der Rothaarige ächzte und streckte sich langsam. „Oh verdammt. Ich brauche eine Kippe. Du auch?” Er hob unverbindlich die Schultern und nickte. Was soll’s. Ein paar Minuten später hockten sie auf der windigen Stahltreppe im Schatten des Gebäudes. Kai zog eine Zigarette aus einer der Innentaschen seiner Jacke, wo er immer einen kleinen Vorrat bei sich trug. Dummerweise fand er aber sein Feuer nicht. „Kannst du mir helfen?”, nuschelte er schließlich, denn die Zigarette behinderte ihn beim Sprechen, während er noch ein letztes Mal mit beiden Händen seine Jacke abklopfte. Yuriy knipste sein Feuerzeug an und hielt es ihm hin, doch es wurde vom Wind ausgeblasen. Sie seufzten beide, Kai hob eine Hand vor die Flamme und Yuriy kam ihm sehr nahe, vielleicht nur, um noch mehr Windschutz zu bieten. Er atmete ein und roch das Haarspray, das Yuriy benutzte. In diesem Augenblick fing die Zigarette Feuer, er inhalierte automatisch und alle Düfte wurden vom Geschmack des Rauches überdeckt. Kapitel 4: Madrid ----------------- Baihuzu vs. F Sangre Neo Borg vs. PPB All Starz BBA Revolution vs. Barthez Soldiers Dranzer zog sirrend Kreise in der Bowl. Kai stand auf dem Podest und beobachtete seinen Blade aus halb geschlossenen Augen. Es war wie Meditation. Beinahe konnte er die ausgeglichenen Schwingungen körperlich fühlen. Selbst die schwelende Hitze Suzakus in seinen Eingeweiden war hinnehmbar. Da er in der letzten Runde nicht ernsthaft gekämpft hatte, war er erstaunlich ausgeruht, doch der Preis dafür war einfach zu hoch gewesen. Ja, er hatte Daichi unterschätzt, doch wenn Kai eines von sich behaupten konnte, dann, dass er nicht zweimal denselben Fehler machte. Und so trainierte er seitdem verbissen in jeder freien Minute. Von Madrid hatte er noch gar nichts gesehen, mit Ausnahme des Hotels und des Stadions, das sie außerhalb der Wettkämpfe zum Trainieren nutzen durften. Es wurde eine Liste geführt, sodass nicht zwei Teams zur gleichen Zeit die Arenen beanspruchen konnten, und Yuriy hatte ihnen gleich mehrere Zeitfenster gebucht. Andere Coaches wie Hitoshi Kinomiya oder Judy Mizuhara waren darüber gar nicht erfreut gewesen, doch ihre Einwände waren bei der Turnierleitung auf taube Ohren gestoßen. Es gab ein wenig weiter weg noch mehr Trainingsmöglichkeiten, die beinahe so gut ausgestattet waren wie das Stadion. Selbst Boris und Sergeij hatten sich amüsiert gezeigt, als sie davon hörten. Gerade Boris, der die Technikerrolle in ihrem Team übernommen hatte, profitierte von den Geräten, die ihm hier zur Verfügung standen. Sie würden als nächstes gegen die PPB All Starz antreten, gegen Max und Rick. Kai stellte fest, dass er sich auf das Match freute. Er hatte in der Vergangenheit viel zu selten gegen Max gebladet, selbst in Übungskämpfen. Und er wusste, dass der immer für eine Überraschung gut war. Das machte die Matches interessant. Rick hingegen war langweilig und nervtötend. Alles was er konnte war eine Attacke nach der anderen auszuführen, und das war mental mindestens genauso kräftezehrend wie körperlich. Kai war froh, dass Yuriy dieses Match übernehmen würde. Sein Teamchef war pragmatischer als er selbst, er würde gegen jeden antreten, den man ihm vor die Nase setzte. Just in diesem Moment betrat Yuriy die Halle. Kai brauchte sich nicht umzudrehen, er erkannte ihn inzwischen am Geräusch seiner Schritte. Aus den Augenwinkeln sah er, wie der andere neben ihn trat und ebenfalls zu Dranzer blickte, der gerade waghalsige Haken schlug. „Lass uns mal ein Doppel probieren”, sagte Yuriy. Kai ließ Dranzer in seine Hand springen und wandte sich ihm zu. „Ein Doppel?” „Ja. Du hast das Match gestern doch gesehen. Das könnte uns auch irgendwann passieren. Und dann will ich darauf vorbereitet sein.” „Hm”, machte Kai. Yuriy hatte schon recht: Das Battle zwischen Baihuzu und F Sangre hatte wohl alle aus dem Konzept gebracht. Noch dazu, als erstere verloren. Rei und Lai hatten, wie auch Yuriy und Kai, schon in ihrer Kindheit zusammen gebladet und man müsste annehmen, dass sie ein Doppel perfekt beherrschten. Doch nur eine kleine Irritation reichte, um das Gleichgewicht zu stören. Trotzdem war Kai skeptisch. „Ich sage dir, was passieren wird, wenn wir den Novae Rog und den Blazing Gig verbinden: Die Arena wird aussehen wie Moskaus Straßen bei Tauwetter.” „Und um genau das zu verhindern, sollten wir trainieren”, entgegnete Yuriy aufgeräumt. Kai zögerte noch immer. Er hatte nie im Doppel gespielt und würde selbst bei einer Herausforderung auch alles daran setzen, dass es so blieb. Aber sein Leader hatte durchaus einen Punkt, und außerdem war er wohl einer der wenigen Menschen, denen Kai überhaupt zutraute, ein Partnermatch mit ihm austragen zu können. „Also schön”, seufzte er schließlich. Sie starteten gemeinsam. Dranzer und Wolborg landeten gleichzeitig in der Arena und begannen, sich zu umkreisen. Dann scherte Wolborg aus, vollführte ein paar Kurven, und Kai verstand, dass er folgen sollte. Er ließ Dranzer aufschließen. Es war überraschend leicht für sie, sich synchron zu verhalten. Sie kannten die Bewegungsmuster des jeweils anderen, und außerdem waren beide Blades Ausdauertypen. Irgendwann individualisierten sie ihre Moves wieder, ohne jedoch vom übergreifenden Rhythmus abzuweichen: Mal zog Dranzer eine etwas längere Runde, mal umkreise Wolborg ihn spielerisch, bevor er wieder in die eigene Bahn zurückkehrte. „So weit, so gut”, sagte Yuriy, „Dann lass uns mal eine Attacke starten.” Und hier begannen die Schwierigkeiten. Sobald Yuriy die Kraft seines Bit Beasts kanalisierte, breitete sich Kälte rund um die Bowl aus. Eiskristalle wuchsen über die glatten Flächen und Wolborgs Rotation löste einen schneidend kalten Windzug aus. Als Kai dann jedoch Suzaku rief, passierte genau das, was er vorausgesehen hatte: Sie wurden in ein Wechselbad aus Heiß und Kalt getauscht. Das Eis schmolz und bildete Pfützen, durch die beide Blades schlingerten. Es wurde so schlimm, dass sie gezwungen waren, die Runde zu beenden. „Hm”, machte Yuriy nur, „Noch mal.” So vergingen einige Versuche. Es war unmöglich, das Feuer und Eis ihrer Bitbeasts zu vereinen, ohne dass dabei eine riesige Sauerei entstand. Noch dazu schienen sich ihre Attacken gegenseitig die Kraft zu rauben, sich zu neutralisieren statt einander zu verstärken. Hatte diese Ironie sie anfangs noch zu müdem Grinsen hingerissen, so wurden sie nun immer frustrierter. Und das war nicht gerade förderlich für ihre Leistung. Schließlich sahen sie sich ratlos an, die Blades surrten währenddessen unbeirrt durch die Arena. „Scheiße”, sagte Yuriy schlicht. Kai verzog den Mund und hockte sich an den Rand der Bowl, folgte der Bahn ihrer Blades mit Blicken. Dann rief er Dranzer zurück. Um sie herum hatten sich überall Wasserlachen gebildet, vermutlich würden sie bald die Arena wechseln müssen, denn es sah ganz so aus, als würde sich am Boden der jetzigen ein kleiner See bilden. Wolborg wirbelte das Wasser auf und einige der Spritzer trafen Kai ins Gesicht. Was war nur los? War Wolborg zu schwach? Immerhin hatte Yuriy auch gegen Daichi verloren. Vielleicht war er nicht mehr stark genug, um mit ihren Gegnern mitzuhalten? So ganz glaubte Kai selbst nicht daran - außerdem war Yuriy noch immer die Ruhe selbst. „Letzter Versuch”, beschloss Kai grimmig und stellte sich wieder aufrecht hin. Sie starteten, und wie immer fanden die Blades schnell zu ihrem Rhythmus. Allein das würde genügen, um weniger geübte Blader zu verunsichern, aber hier spielten sie auf Weltniveau und brauchten unbedingt eine Attacke. Sie konnten sich kein Doppel leisten, wenn sie ihre Gegner nicht angreifen konnten. Kai spürte Suzaku, deren Wärme sich nun überall in ihm ausgebreitet hatte. In diesem Augenblick jedoch war es nicht unangenehm. Ohne wirklich zu merken, was er tat, ließ er sie frei und sie stieg als unförmige Präsenz über seinem Blade auf. Er konnte sich nicht lang an ihrer Anwesenheit erfreuen, denn nun wurde auch Wolborg von der Aura seines Bitbeasts umschlossen. Dabei entstand erschreckend plötzlich ein Tosen, das alle anderen Geräusche schluckte. Die Luft geriet in Bewegung wie zuvor, fuhr in ihre Kleidung, Kais langer Schal peitschte wild in seinem Rücken hin und her. Er blinzelte gegen die Böen an, wagte nicht, den Blick abzuwenden und nachzusehen, was Yuriy trieb. Die beiden Präsenzen berührten sich, verschränkten sich ineinander und Kai hatte Mühe, Suzaku unter Kontrolle zu behalten. Das Machtgefälle zwischen ihnen drohte, zu Gunsten seines Bit Beasts umzuschlagen. Sie zerrte an ihm, auf seiner Haut breitete sich ein Brennen aus, als würde er von tausenden kleiner Sandkörner getroffen. Die Bit Beasts erkannten einander, Kai fühlte, wie sein Phönix zu dem Wolf gezogen wurde, wie sie ihm zu entgleiten drohte. Er hielt sie zurück, es fühlte sich an, als würde er gegen einen Blizzard ankämpfen. Was zur Hölle machte Yuriy? Warum ließ er zu, dass Wolborg ihn so drangsalierte? In diesem Moment realisierte er, dass kein Sand auf ihn einprasselte, sondern winzige, scharfe Eiskristalle. Er kniff die Augen zusammen, um sich besser konzentrieren zu können. Sehen konnte er in dem Wirbel der Elemente sowieso nichts mehr. Suzaku beherrschte seine Gedanken, während Wolborgs eisige Winde immer wieder über ihn hinwegfegten. „Kai!” Das war Yuriys Stimme, irgendwo schräg hinter ihm. „Kai, hör auf, so abzublocken, verdammt!” Kai schüttelte leicht den Kopf, noch immer war er auf Suzaku fokussiert. Was sollte das heißen? Er fühlte, wie Frost sich in seine Haut brannte. Wolborg kam ihm immer näher und Suzaku schien ihn nicht vor dem Wolf beschützen zu wollen. Das einzige, was Wolborg aufhielt, war Kais Wille. Plötzlich spürte er eine Berührung. Yuriy hatte die Hand auf seine Schulter gelegt, packte ihn in einem festen Griff. Und damit brach Kais mentale Barriere. Er machte einen scharfen Atemzug. Yuriy stand vor ihm, die blauen Augen riesig in seinem Kindergesicht. Der Pullover, den er trug, war ihm viel zu groß und als er sprach, stand sein Atem sichtbar in der Luft. „Volkov sagt, dass wir zusammen kämpfen”, sagte er, und Kai war geschockt, wie hoch seine eigene Stimme klang, als er antwortete: „Aber wer bekommt das schwarze Beyblade?” Daraufhin veränderte sich Yuriys Miene, wurde grimmig und entschlossen. „Der Stärkere natürlich, Dummkopf.” Kai wurde wieder in die Gegenwart katapultiert. Sein Geist war wie ein leckendes Gefäß, strömte ungehindert, all die Gedanken flossen aus ihm heraus: Die Angst, gegen Kinomiya zu verlieren oder erst gar nicht das Finale zu erreichen; die Freude, die es machte, in einem Turnier anzutreten, über dem kein bedrohlicher Schatten lag; die Unsicherheit darüber, dass er Yuriy anziehender fand als ihm lieb war. - All das offenbarte er bevor er noch realisieren konnte, was überhaupt gerade passierte. Er spürte nun beide Bitbeasts, ihre konträren Kräfte, die doch, irgendwie, in diesem Moment eine Einheit bildeten. Und dann war da noch etwas, das er zuerst nicht einordnen konnte. Yuriy selbst. Sie waren durch Suzaku und Wolborg miteinander verbunden und es war seltsam, denn Kai konnte sich keinen Reim auf die Signale machen, die ihn erreichten. Sie waren so vielfältig, so wirr. Da waren Nervosität und Aufregung und eine Energie wie von einer frostigen Windbö. Es war, als erhaschte Kai einige von Yuriys Gedanken, die direkt auf ihn gerichtet waren, doch der Moment war so schnell vorbei, dass er nicht sicher sein konnte. Und unter alledem lag etwas Dunkles, Bedrohliches, wie ein Abgrund aus Angst und Wut. Intuitiv lehnte Kai sich vor, als wollte er in diese Schwärze spähen - Etwas traf ihn, das sich anfühlte wie ein Schlag geballter Energie. Mit einem Mal wich alle Luft aus seinen Lungen und für einen Augenblick stieg Panik in ihm hoch, dann konnte er wieder atmen. Er hörte seinen Puls in seinem Schädel wiederhallen, Yuriys Finger, kalt wie immer, krallten sich in seine Schulter. Die Signale verebbten. Hatte Yuriy sich ihm verschlossen? Hatte er ihn absichtlich zurückgedrängt? In diesem Moment ging ein Wirbel aus Feuer und Eis über sie hinweg, das Ergebnis der vereinten Kräfte ihrer Bitbeasts. Er musste sich wegdrehen und schützte seinen Kopf reflexartig mit den Armen. Nach nur ein paar Sekunden war es vorbei. Suzaku sank wieder in ihn zurück und unbewusst ächzte er, als sie wie Lava in alle Winkel seines Körpers schoss. Doch schon senkte sich die Temperatur auf ein erträgliches Maß. Sein Bit Beast war zufrieden mit sich. Kai blinzelte. Rund um die Arena waren der Boden vollkommen zerkratzt, die Bowl hatte einen großen Sprung. War ihre Attacke wirklich so stark gewesen? Er drehte sich zu Yuriy um, der die Hand halb erhoben hatte, als wollte er sie an seine Stirn legen. Sein Gesicht entspannte sich in diesem Moment und er öffnete die Augen, um Kai anzusehen. Die Luft zwischen ihnen vibrierte förmlich, er konnte den Blick nicht von ihm lassen und Yuriy schien es ähnlich zu gehen. Was hatte er gespürt? War alles, das Kai entglitten war, bei ihm angekommen? Und was war dieses Dunkel, auf das er gestoßen war? „Das war...intensiv”, brachte er schließlich mit heiserer Stimme hervor. Als Yuriy daraufhin nickte, löste sich endlich der Bann. Kai stieß die Luft aus und merkte, wie sein Atem dabei zitterte. Dann drang ein Geräusch an seine Ohren. Er machte einen Schritt auf die Arena zu, um ihren Boden sehen zu können. Dort waren ihre Blades, kreiselten ruhig in der Mitte. „Was...machst du für einen Scheiß, Kai”, sagte Yuriy hinter ihm, „Warum hast du Wolborg so lange abgeblockt?” „Warum hast du mir nicht gesagt, dass du dein Bit Beast auf mich hetzen wirst?”, entgegnete Kai. „Auf dich hetzen? Es ist der Sinn eines Doppels, dass sich unsere Kräfte vereinen!” „Wolborgs Kräfte sind aber konträr zu Suzakus”, erklärte er sich, „Was hätte denn bitte aus einem direkten Zusammenstoß entstehen können?” Sein Teamchef sah ihn an als hätte er den Verstand verloren. „Verdammt noch mal, Kai, du weißt doch ganz genau, dass… Nein.” Seine Augen weiteten sich. „Nein, du weißt es nicht. Scheiße, gibt es überhaupt Erinnerungen in deinem Hirn, die dir etwas nützen?” Vielleicht wollte er anfangen zu lachen, doch dann zuckte er plötzlich zusammen und keuchte. „Was ist?”, fragte Kai alarmiert. Yuriy stand noch immer vornüber gebeugt und strich sich langsam mit der Hand über das Gesicht. „Nichts, uh…” Er hielt kurz inne. „Nichts.” Die Vorhänge waren zugezogen, als Kai gegen Abend das Hotelzimmer betrat. Er wusste instinktiv, dass etwas nicht stimmte. „Yuriy?“, fragte er leise in den Raum herein und erhielt eine Antwort aus Richtung des Bettes seines Teamchefs. „Alles in Ordnung?“ Rascheln von Laken. „Nein.“ „Was ist los?“ Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben das Bett. Selbst im Halbdunkel sah Yuriy furchtbar aus. „Hast du was Falsches gegessen?“, fragte er, versuchte, belustigt zu klingen und scheiterte, weil er ahnte, dass es so einfach nicht war. „Nein, das ist…eine Art Migräne.“ „Aber du hattest nie Migräne!“, sagte er und merkte selbst, wie dumm das klang. Hatte der andere bei ihrem Doppel doch mehr abbekommen als gedacht? Ihm selbst war schon den ganzen Tag lang schwindelig und weder frische Luft noch Wasser hatten es besser gemacht. Auf Yuriys Gesicht breitete sich ein müdes Lächeln aus. „Eine Erinnerung an Volkov“, sagte er, „Es ist schon ewig nichts mehr passiert, ich hatte gehofft, dass es von allein weggegangen ist. Vielleicht hat unser Match heute Morgen irgendetwas ausgelöst.“ Bei Volkovs Namen war Kai hellhörig geworden. Automatisch legte er dem anderen eine Hand auf die Stirn, doch statt Fieber spürte er kalten Schweiß. „Wie lange dauert es, bis es vorbei ist?“, fragte er. Obwohl es ihm offensichtlich ziemlich schlecht ging, brachte Yuriy ein trockenes Lachen zustande. „Es hat noch gar nicht richtig angefangen.“ Die nächsten Stunden waren grausam. Kai konnte nicht viel tun. Am Anfang saß er nur da und redete mit Yuriy, weil er glaubte, dass die Gesellschaft ihn vielleicht ablenkte, doch er merkte, dass es dem anderen immer schlechter ging. Seine kläglichen Versuche, etwas für seinen Leader zu tun scheiterten an seinem mickrigen Wissen über Hausmittel und an Yuriys Zynismus. Es hilft doch sowieso nicht. Mach dir nicht die Mühe. Irgendwann hörte er, dass Boris und Sergeij wieder in ihr Zimmer kamen, das gleich nebenan lag, also ging er zu ihnen, widerwillig, doch die beiden wussten mit Sicherheit eher, was nun zu tun war. Boris kam auch sofort, wühlte ein wenig in Yuriys Sachen herum und hielt plötzlich die stärksten Schmerztabletten in der Hand, die Kai je gesehen hatte. „Vielleicht helfen sie ja wieder ein bisschen“, brummte er, „Es ist ja lange nichts mehr passiert.“ Dann brauchte er jedoch noch ein paar Minuten, um ihren Teamchef davon zu überzeugen, sie wirklich zu nehmen. Yuriy schien einen ausgewachsenen Ekel gegen diese Tabletten zu hegen. Es war das erste Mal, dass sie nicht stritten, nicht einmal stichelten. Boris und Kai saßen auf dem Sofa, hielten Yuriy im Blick und sagten gar nichts. Ihr Teamchef schlief eine Weile, eingelullt von den Tabletten, dann stand er plötzlich auf, stürzte ins Bad und erbrach sich heftig. Sie sprangen beide auf, doch Boris hielt ihn zurück. „Für drei Menschen ist da drin eh kein Platz.” Kai hörte leises Gemurmel, bevor sie zusammen wieder zurückkamen, Yuriy hatte sich auf Boris gestützt. Während der ihn wieder auf das Bett sinken ließ, füllte Kai ein Glas mit Wasser, das er ihm reichte. Er trank nur ein paar kleine Schlucke, bevor er sich mit einem leisen Stöhnen wieder nach hinten sinken ließ und die Augen schloss. Wieder schien er wegzudämmern und Kai und Boris nahmen erneut ihre Plätze auf dem Sofa ein. „Was ist passiert?”, fragte Kai schließlich. „Wir wissen es nicht”, antwortete Boris und seufzte. „Nach dem Untergang von Borg haben sie unser Blut untersucht. Ich habe die Ärzte damals reden gehört. Yuriy war vollgepumpt mit irgendwelchem Zeug. Sie haben nie vollständig herausgefunden, was alles in ihm drin war.” Er machte eine kurze Pause, weil Yuriy sich bewegte. Er drehte aber nur den Kopf und lag dann wieder still. „Diese...Migräne begann später. Zuerst war sie auch noch ganz leicht. Aber mit jedem Mal wurde es stärker, bis es ihn komplett umgeworfen hat. Manchmal tagelang. Die Ärzte haben einiges mit ihm angestellt, aber es gab nie ein eindeutiges Ergebnis. Kyrill Pavlowitsch vermutet, dass durch eine der Behandlungen von Borg die Blutgefäße in seinem Gehirn geschädigt wurden. Vielleicht, als sie ihn in den verdammten Inkubator gesteckt haben, um ihn mit Informationen vollzustopfen. Das Gehirn hält diese Belastung irgendwann nicht mehr aus. Und um das auszugleichen, haben sie ihm vielleicht zwei, drei Gegenmittel gegeben, die die Migräne verschleierten. Ohne Volkov gab es nach dem Zusammenbruch von Borg natürlich keine Medikamente mehr, aber die Gefäße bilden sich nun einmal nicht zurück.” Kai machte einen langen, müden Atemzug, doch ansonsten sagte er nichts. „Wir dachten trotzdem, es würde besser werden”, fuhr Boris fort, „Sergeij und mir geht es gut, und Yuriy hatte seit Monaten keine Anfälle mehr. Die letzten waren auch nicht so stark. Wahrscheinlich ist es der Stress hier bei der Meisterschaft, der es jetzt so schlimm macht.” Kai dachte an ihr Training. „Er spricht die ganze Zeit davon, dass wir unbedingt gewinnen müssen”, sagte er, „Als würde es für ihn um mehr gehen als nur den Titel.” „Das ist mir auch schon aufgefallen”, sagte Boris. „Weißt du, warum?” „Nein. Ich hatte gehofft, er hat mit dir darüber gesprochen. Wo ihr doch das Tagteam seid und alles.” „Ich hatte die gleiche Vermutung, nur umgedreht”, entgegnete Kai, „Weil du sein bester Freund bist.” „Tja. Sieht aus, als dürften selbst wir nicht alles wissen.” Für eine Weile herrschte Stille. Sie dachten wohl beide über das nach, was sie gerade erfahren hatten. Wahrscheinlich, so vermutete Kai, verfluchte Boris Yuriy innerlich gerade genauso heftig wie er selbst. Doch das brachte jetzt alles nichts. „Er sollte sich schonen”, meinte er schließlich und nickte in Richtung des Bettes. Boris lachte freudlos. „Viel Spaß dabei, ihm das zu erklären. Außerdem ist er da nicht der einzige. Es ist spät, Kai“, fügte er hinzu, und tatsächlich, es war inzwischen nach Mitternacht, „Geh rüber und sag Sergeij, er soll herkommen. Morgen früh ist ein Meeting. Da musst du hingehen. Wir kümmern uns um Yuriy.“ Er machte eine kleine Pause. „Du kannst in meinem Bett schlafen.“ Doch Kai schlief nicht. Er lag auf dem Rücken auf dem Sofa in Boris‘ und Sergeijs Zimmer und starrte die Decke an, aber von nebenan war nichts mehr zu hören. Am nächsten Morgen ging er zu dem Meeting, müde, gereizt. Die anderen Manager und Daitenji sahen ihn besorgt an, aber er behauptete, Yuriy arbeitete an einem neuen Blade und brauche die Zeit. Er wich Judys mütterlichen Fragen aus. Dann ging er zurück und löste Boris und Sergeij ab. Er musste seine ganze Autorität aufbringen, um sie davon zu überzeugen, ebenfalls ein paar Stunden zu schlafen. Yuriy döste. Sein Gesicht war zerfurcht, als hätte sich der Schmerz mit einer Klaue hineingegraben. Vielleicht spürte er Kais Blick, denn seine Lider begannen zu zucken, dann drehte er den Kopf und sah ihn müde an. „Wie geht es dir?”, fragte Kai leise. Yuriy ächzte, aber er zog einen Mundwinkel nach oben. „Weißt du, eigentlich … ist es erstaunlich, wie man sich daran gewöhnen kann“, antwortete er rau, „An den Schmerz, meine ich. Es fängt im Kopf an, dann ist es überall. Aber irgendwie … übersteht man es. Es wird langsam besser.“ „Ich hasse Volkov ... „ Er hatte nicht wirklich darüber nachgedacht, die Worte, dieser Name, waren einfach herausgekommen. Yuriy schloss die Augen wieder und nickte nur. In Kais Brust verknotete sich die Wut und ein Stück tiefer spie Suzaku kleine, brennende Funken aus. „Ich habe Träume”, sagte Yuriy ohne die Augen zu öffnen. Er lag sehr still da, als würde die kleinste Bewegung neue Schmerzen auslösen. „Wenn ich so bin wie jetzt, träume ich oft von dem Inkubator. Weil ich mich darin nicht bewegen konnte. Ich … konnte nicht einmal alleine atmen. Aber ich war wach. Auf eine seltsame Art.” Kais Hals war auf einmal trocken. Was Volkov genau mit Yuriy gemacht hatte, wusste er nicht - er hatte nie gewagt, danach zu fragen. Ein paar wirre Informationen hatte er schon hier und da aufgeschnappt, aber so wirklich verstanden hatte er es nie. Doch nun konnte er sich nicht länger dagegen wehren, und was Yuriy gesagt hatte, brach über ihn herein wie eine heiße Welle. Was der andere erlebt haben musste - er konnte und wollte es sich nicht vorstellen. „Ich verrate dir was, Kai”, sagte Yuriy in diesem Augenblick und er hob den Kopf, um ihm wieder ins Gesicht sehen zu können. „Ich beneide dich um deine Amnesie. Ich würde gern ein paar meiner Erinnerungen ausradieren. Aber scheinbar ist es mir nicht vergönnt, zu vergessen.” Suzaku, wie immer angestachelt von seiner Wut, ließ ihre Energie durch ihn fließen. Er hasste sein Vergessen. Er hasste es, dass sich sein Hirn noch immer gegen seine Erinnerungen versperrte. Liebend gern hätte er den Preis in Schmerz bezahlt, wenn es bedeutete, endlich die Barriere zwischen sich und den anderen loszuwerden. Sein Magen verkrampfte sich und am liebsten hätte er irgendwo hineingeschlagen, um sich Erleichterung zu verschaffen. Verzweifelt versuchte er, seine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen, sich zusammenzunehmen. Sagen konnte er nichts mehr. Er atmete tief ein und blinzelte, dabei fiel sein Blick auf Yuriys Hand, die auf den dunklen Laken lag. Er griff danach, umschloss Yuriys Finger mit seinen. Seine Haut war eiskalt und beinahe wäre Kai erschauert, doch die Berührung beruhigte ihn, also ließ er nicht gleich wieder los. Yuriy blickte ihn verwirrt an. „Frag nicht“, brachte er hervor. Nach einer Weile fühlte er, wie der andere sich in seinem Griff bewegte, wie sein Daumen über Kais Hand strich. Dieses Mal bekam er wirklich eine Gänsehaut. „Du bist warm”, sagte Yuriy und drehte den Kopf müde zur Seite. „Das tut gut …” In der zweiten Nacht kamen die Schmerzen in Intervallen. Kai sah es daran, wie Yuriy sich verkrampfte und wieder entspannte. Der Rothaarige war in einem Delirium aus Müdigkeit und Erschöpfung. Er war eigentlich kaum wach, aber Schlaf konnte man das auch nicht nennen. Kai wagte es nicht, von seiner Seite zu weichen, er konnte ihn einfach nicht aus den Augen lassen. Die meiste Zeit leisteten Boris und Sergeij ihm Gesellschaft. Sie sprachen über das bevorstehende Match. Boris schlug vor, dass weder Yuriy, noch Kai antreten sollten, doch Kai schüttelte nur den Kopf. „Er wird kämpfen wollen“, sagte er und nickte in Yuriys Richtung. Boris seufzte. „Ja, das befürchte ich auch.“ Als es langsam hell wurde, schlief Yuriy für zwei, vielleicht drei Stunden tief und fest. Boris und Sergeij waren auf dem Sofa ebenfalls eingenickt. Als Kai bemerkte, dass die Krämpfe aufgehört hatten, spürte er das erste Mal seine eigene Müdigkeit. Es wurde Zeit, einen Kaffee zu machen, sonst würde er das Match heute nicht überstehen. Doch es blieb bei dem Gedanken. Ohne dass er es wirklich bemerkte, sank sein Kopf auf seine verschränkten Arme. Er erwachte, als ihn jemand an der Schulter berührte. Das grelle Tageslicht blendete ihn, als er nach oben blinzelte, doch er erkannte Yuriy sofort, der über ihn gebeugt stand. In seinem Gesicht waren deutlich die Spuren der vergangenen Tage und Nächte zu sehen. Er war so blass, dass selbst sein Sonnenbrand nicht mehr bemerkbar war. „Oh Gott, du lebst wieder!“, stellte Kai fest und konnte nicht verhindern, dass er erleichtert klang. Yuriy lächelte. „Gerade rechtzeitig“, sagte er. Kai fuhr sich durch die Haare und stand langsam von seinem Stuhl auf. „Du willst also bladen“, sagte er dann, „Dir ist klar, dass wir das nicht zulassen werden? Boris wird für dich antreten…“ „Kai…“ „Ich will keinen Einwand hören. Du bladest heute nicht.“ „Kai.“ „Nein!“ Yuriy umarmte ihn. Einfach so. Vielleicht hielt er sich auch nur an ihm fest, denn Kai spürte, wie wackelig er auf den Beinen war. Doch es war, wie es war, Yuriy drückte ihn an sich und er bemerkte, dass er die Hand in sein Shirt gekrallt hatte. Er hielt ihn fest. Es war seltsam, ihm so nahe zu sein, seinen Körper zu fühlen, seinen Duft einzuatmen. „Ich bin der Teamchef, Kai“, sagte Yuriy leise, „Respektiere meine Entscheidungen.“ „Irgendwann wirst du an deinen Entscheidungen draufgehen.“ „Sagt der Richtige.“ Einen Blader wie Rick hatte selbst Kai in seiner langen Laufbahn noch nicht erlebt. Judy Mizuharas neuer Star hatte die Energie eines Rammbocks und in etwa den gleichen Effekt auf alle, die sich ihm in den Weg stellten. Zuerst bekam Max seine Wut zu spüren. Kai beobachtete, wie der Blonde nach ihrem Match zu seinem Team zurückkehrte und wie Rick ihn grob packte. Er konnte nicht ganz verhindern, dass dabei seine Hand zuckte und Suzaku, die durch den Kampf sowieso erstarkt war, ließ eine kurze Stichflamme durch seinen Brustkorb schießen. Es kostete ihn einige Willenskraft, sich einfach abzuwenden und den Platz für das zweite Match freizumachen. Dann schaffte Rick es, Yuriy – ausgerechnet Yuriy! – mit einem Angriff ins Aus zu katapultieren. Er war direkt auf Wolborg losgegangen und hatte einen fatalen Schlag gelandet. Kai war sich sicher, wenn sein Teamchef nicht noch geschwächt wäre, hätte er es kommen sehen und ausweichen können. Doch so wurde das elektrische Feld am Rande der Bowl ihm zum Verhängnis. Die Zuschauer nahmen diesen Sieg nicht gerade gnädig auf. Die PPB kämpfte schon seit Beginn des Turniers mit Beschimpfungen, und das war allein Rick zu verdanken, aber heute schien es besonders schlimm zu sein. Selbst Kais Ansage hatten sie nach diesem zweiten Battle komplett vergessen und buhten sich die Hälse wund. Als sie sich unterhalb der Bowl trafen, war Yuriy die Erschöpfung genauso deutlich anzusehen wie die Fassungslosigkeit angesichts seiner schnellen Niederlage. „Scheiße“, murmelte er. Im Hintergrund stand Rick auf dem Podest und grinste überheblich zu ihnen hinunter. Kai wandte sich von ihm ab, um Yuriy anzusehen. „Ich mach das“, sagte er. Yuriy blieb eine Zeitlang stumm, vielleicht versuchte er, in seiner Mimik zu lesen. „Keine direkten Angriffe“, sagte er dann und Kai nickte. Er wollte schon seinen Weg zu Rick fortsetzen, da spürte er noch einmal die Hand des anderen auf der Schulter. „Kai.“ Ihre Blicke trafen sich erneut. „Davai!“, sagte Yuriy, und irgendein Mikrofon musste in diesem Moment auf sie gerichtet sein, denn seine Stimme klang auf einmal laut durch das ganze Stadion. Kai hätte das ignoriert, wäre dabei nicht die Atmosphäre auf den Rängen umgeschlagen. Vereinzelt nahmen Menschen das Wort auf und während er zur Bowl ging und sich bereit machte, hörte er zum ersten Mal die Rufe, die von da an jeden seiner Kämpfe begleiten sollten: Davai, Kai! Sein Gegner hingegen war wütend. Es war diese Wut, die Rick stark machte. Kai wusste, dass Dranzer Rock Bison in Sachen Stärke komplett unterlegen war. Außerdem war er müde - so verdammt müde nach den letzten Tagen - und seine Gedanken gingen kreuz und quer. Nicht gerade die besten Voraussetzungen. Sein Gesicht fühlte sich verkrampft an. Er wusste, seine Miene war wie versteinert, und doch brandete der Jubel der Menge um ihn herum. Wie zu erwarten ging Rick sofort auf ihn los. Rock Bison stürmte vor, doch Dranzer wich mit einem Schlenker aus. Das stachelte Rick nur weiter an. Kai blickte ihm direkt ins Gesicht, während sich ihre Blades schlugen. Er musste nicht hinsehen. Rock Bison war laut und schwer. Wieder ging er zum Angriff über, und jetzt musste Dranzer einstecken - er prallte vom Rand der Bowl ab und schoss zu seinem Gegner zurück. Es war Max’ Technik, einfach und doch effizient. Die Zuschauer hatten es wohl auch erkannt, denn das Geschrei nahm zu. Nun, es konnte niemand behaupten, er wäre nicht lernfähig ... Als sein Gegner sich wieder auf ihn stürzen wollte, beugte Kai sich vor. Dranzer spiegelte diese Bewegung und Rock Bison flog wie auf einer Rampe über ihn hinweg - direkt hinein in das elektrische Feld zwischen den Bullenhörnern der Arena. Das Geschehen wurde begleitet von einem erneuten Aufschrei der Fans, der in Kais Ohren rang. Beinahe hätte sich ein Grinsen auf seine Lippen geschlichen. Es begann ihm zu gefallen, wie er die Massen beeinflussen konnte. Doch so einfach gab Rick sich nicht geschlagen. Mit bloßer Kraft riss sein Blade sich von der Elektrizität los. Kai war beeindruckt, doch er hatte beinahe mit so etwas gerechnet. Rock Bison schlug gegen Dranzer und katapultierte ihn aus seiner Bahn. Noch während sich die Blades im Fall befanden, startete Rick seinen Drop Rock. Es war der Augenblick, auf den Kai gewartet hatte. Er wusste, der Blazing Gig war zu schwach gegen den Drop Rock. Eine volle Breitseite würde ihm nichts bringen. Wenn er aber seinen Gegner in einem bestimmten Winkel traf… Suzaku breitete ihre Schwingen aus. Sie wusste, was zu tun war. Mit jedem Kampf wurde ihre Verbindung stärker und so war es, als würde sie auf seine bloßen Gedanken reagieren. Kais Blick schärfte sich und die Bewegungen seines Gegners schienen langsamer zu werden, während er jedes Detail wahrnehmen konnte. Auf seinen Befehl hin schoss Suzaku davon, um den Blazing Gig Zan auszuführen, der Ricks Attacke kurzerhand spaltete. Rock Bison kam von seinem Kurs ab und fiel wie ein Stein aus der Luft. Er kam außerhalb der Bowl zum Liegen, während Dranzer sich abfing und den Schwung in Geschwindigkeit umwandelte. Es schien unmöglich, dass die Lautstärke nach diesem Sieg noch einmal zunahm. Der Applaus rang in Kais Ohren nach und es kostete ihn einige Kraft, ruhig dabei zu bleiben. Nur langsam gingen seine Sinneswahrnehmungen wieder auf ihr übliches Maß zurück. Von Suzaku blieb wie immer eine brennende Hitze, die gegen seine Rippen drückte. Er fing Dranzer auf und drehte sich um. „Ein passendes Stadium für einen Stierkampf”, murmelte er. Yuriy stand noch immer dort, wo er ihn verlassen hatte. Er sah zu ihm auf und Kai erwiderte seinen Blick. Dann meinte er, ein kaum merkliches Lächeln im Gesicht seines Leaders zu erkennen. Suzaku verließ seinen Brustkorb und nistete sich als heißes Brodeln in seinem Magen ein, und dieses Gefühl war beinahe aushaltbar. Sie verloren kein Wort mehr über Yuriys Niederlage, aber Kai wusste, dass mit dem nächsten Tag ein noch härteres Training beginnen würde. Es war ihm nur Recht. Yuriy erholte sich beinahe genauso schnell von seiner „Migräne“, wie sie gekommen war. Es ging ihm zusehends besser. Wenn sie ihr Match noch einen Tag später ausgetragen hätten, hätten sie vermutlich kein Entscheidungsbattle nötig gehabt. Aber es war egal, sie hatten gewonnen und es ging wieder bergauf. Ihren letzten Abend in Madrid verbrachten sie vor dem Fernseher. Nach dem Stress der letzten Tage hatten sie wenig Lust, sich überhaupt zu bewegen. Boris und Sergeij hingegen hatten tatsächlich beschlossen, sich auch einmal in der Stadt umzusehen, wenn sie schon mal hier waren. Sie saßen nebeneinander auf dem Sofa, die Füße auf den niedrigen Tisch gelegt, und sahen englischsprachige Programme. Kai versuchte, sich darauf zu konzentrieren, schweifte aber immer wieder ab. Er fühlte sich ausgelaugt, emotional mehr als körperlich. Die letzten Tage hatten ihm mehr abverlangt als alles andere, was passiert war, seitdem er Japan verlassen hatte. Und er ahnte, dass zumindest die Matches ab jetzt nur noch härter wurden. Er blinzelte träge, beinahe merkte er nicht, wie sein Kopf nach vorn fiel, doch dann konnte er sich gerade noch so fangen. Das Bild im Fernseher wurde wieder scharf. „Du kannst dich auch anlehnen, wenn du willst”, sagte Yuriy leise. Es wirkte, als hätte er gar nicht mit ihm gesprochen, denn er sah noch immer geradeaus. Kai zögerte, fragte sich, was genau diese Worte bedeuteten und ärgerte sich dann über sich selbst. Langsam lehnte er sich an Yuriys Schulter. Sie waren sich so nahe, dass Kai das Waschmittel in seinem Shirt riechen konnte. Und das Duschgel in seinen Haaren. Und seine Haut. Er erlaubte sich, die Augen zu schließen. Ich will sagen, er ist genau dein Typ. Die Worte kamen ihm wieder in den Sinn. Wer hatte das gesagt, Max? Nun, jedenfalls war es schön, Yuriy nahe zu sein. Ihn zu berühren. In letzter Zeit hatte er das oft gedacht, und genauso oft hatte er diese Gedanken wieder verworfen, weil sie absolut fehl am Platz waren. Kai hatte nicht vor, sich während des Turniers von irgendetwas ablenken zu lassen. Er wollte sich nur aufs Bladen konzentrieren und endlich den Titel gewinnen. Dafür hatte er schließlich erst das Team gewechselt! Dass seine Knie weich wurden, wenn Yuriy ihn anlächelte oder ihm einen spöttischen Blick aus seinen ach-so-blauen Augen zuwarf, war nicht vorgesehen. - Allerdings auch nicht, dass er an ihn geschmiegt auf einer Couch landen würde. Kai blinzelte, als der andere wieder von ihm wegrückte. Bevor er aber heimlich bedauern konnte, dass der Moment zwischen ihnen vorbei war, legte sich Yuriys Arm um seine Schultern. Seine Hand strich über Kais Haut, vorsichtig und doch selbstverständlich. Ihm wurde warm, und diesmal hatte Suzaku rein gar nichts damit zu tun. In diesem Augenblick wusste Kai nicht, ob er sich überhaupt auf irgendetwas, das er wahrnahm, verlassen konnte, oder ob sämtliche Sinne ihm einen Streich spielten. Womöglich waren Yuriys Gesten für diesen nur freundschaftlich gemeint und es steckte nichts dahinter. Doch da spürte Kai wieder seine Fingerspitzen am Oberarm und eine Sekunde lang konnte er gar nichts denken. Und dann lehnte Yuriy auch noch den Kopf an seinen. Er sollte etwas sagen. Er sollte Yuriy klarmachen, dass es ihn verunsicherte, wenn sie so miteinander umgingen. Schließlich wusste sein Teamchef, dass er Männer mochte und deswegen Dinge auch ganz leicht falsch verstehen konnte… Oder war hier vielleicht gar nichts falsch zu verstehen? Er nahm die Füße vom Tisch und setzte sich auf, in der festen Absicht, einen Grund zu finden, um das Sofa zu verlassen. Alles war besser als sich hier in irgendetwas reinzusteigern. Er öffnete den Mund zu einer Ausrede, als Yuriy schlicht „Bleib doch hier.” sagte. Diese Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Augenblicklich konnte er sich nicht mehr rühren. Sein Puls übertönte beinahe alle äußeren Geräusche. Yuriy lehnte sich nun auch vor und kam auf seine Augenhöhe. Sie saßen sehr dicht beieinander, ihre Knie stießen zusammen, sie sahen sich an. Wenn es davor noch eine vage Chance gegeben hatte, die Situation rein freundschaftlich zu betrachten, wurde diese in genau diesem Moment zunichte gemacht. Denn Yuriy streckte die Hand aus und legte sie auf Kais. Der war kurz wie erstarrt, ließ die Berührung aber zu. In seinem Kopf war sowieso alles im Nebel. Er betrachtete Yuriys Gesicht, das eine eigentümliche Ruhe ausstrahlte. Dieses schöne Gesicht. Die Miene des anderen veränderte sich. Er senkte den Blick und kurz wirkte es so, als wolle er etwas sagen. Doch er blieb stumm. Kai registrierte jedes Detail, für ihn verging die Zeit viel langsamer, als Yuriys Lider sich wieder hoben und er ihm noch näher kam. Der Griff seiner Hand wurde fester, und dann berührten sich ihre Lippen. Langsam. Neugierig. Ausgiebig. Als Kai am nächsten Morgen die Augen aufschlug, glaubte er zunächst, alles nur geträumt zu haben. Yuriys Mund auf seinem. Das hatte sich verdammt echt und verdammt gut angefühlt. Dann wurde er wach genug um zu verstehen, dass es tatsächlich passiert war. Sie hatten sich geküsst. Wie erstarrt blieb er auf dem Rücken liegen und sah zur Decke hoch. Scheiße. Langsam drehte er den Kopf und spähte zu dem anderen hinüber. Der schien noch zu schlafen, denn er hatte das Gesicht von ihm abgewandt und rührte sich nicht. Gut. So blieb ihm etwas Zeit, seine Gedanken zu ordnen. Nach dem Kuss hatten sie nicht mehr viel gesagt. Kai hatte einfach zugelassen, dass Yuriy mit den Fingern die Konturen seines Gesichts nachzog und ihn musterte, als sähe er ihn zum ersten Mal. Irgendwann hatte er es geschafft, aufzustehen. Er hatte Yuriys Hand genommen und ihn hochgezogen. Hatte sich gereckt, um ihn noch einmal zu küssen, federleicht, dann waren sie, wie in einem stillen Einverständnis, in ihre Betten gegangen. Und nun schälte er sich möglichst leise aus seiner Decke und schlich ins Bad. Er wollte vorbereitet sein, wenn Yuriy wach wurde, irgendwie jedenfalls. Kurzentschlossen schlug er sich kaltes Wasser ins Gesicht, um nicht sein Spiegelbild anstarren zu müssen. Er hatte immer gehofft, Situationen wie diese vermeiden zu können. Yuriy war sein Leader, sein Tagteampartner. Sie hatten sich für dieses Turnier zusammengetan, weil es ihnen beiden gerade gut passte, und dass sie sich viel besser verstanden als sie zu hoffen gewagt hatten, war ein kleiner Luxus, der ihnen das Leben erleichterte. Nichts weiter! Yuriy war ein Gedankenspiel, eine Fantasie vielleicht, aber doch keine ernsthafte Option. Oder? Nun, leugnen ließ sich jetzt jedenfalls nichts mehr. Kais Barrieren waren gestern von einer Sekunde auf die andere einfach zusammengefallen. So zu tun, als ginge ihn das alles nichts an, war also unmöglich. Außerdem war er sich sicher, dass Yuriy das nicht nur getan hatte, um herauszufinden, wie es war, einen Mann zu küssen. Er würde nie ihre von ihm so hochgeschätzte Zusammenarbeit für so etwas auf’s Spiel setzen. Das bedeutete dann wohl… Kais Blick traf sich selbst im Spiegel. Die letzten Tropfen liefen an seinem Kinn hinab, doch er beachtete sie nicht. Sein Gesichtsausdruck schwankte irgendwo zwischen Erstaunen und Ungläubigkeit. „Heilige Scheiße”, murmelte er. Er traute sich nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Ein leises Klopfen ließ ihn den Kopf herumreißen. „Kai?” Das war Yuriys Stimme auf der anderen Seite der Tür. „Sag mir bitte, dass du dich nicht gerade dort drin ersäufst.” Er hatte das Wasser laufen lassen. „N-Nein, alles gut!”, antwortete er. Schnell drehte er den Hahn zu und griff endlich nach einem Handtuch, um sich das Gesicht zu trocknen. Dann atmete er noch einmal tief durch und verließ das Bad. Yuriy stand am Fenster und hatte sich ihm zugewandt. Er war noch immer ganz zerzaust vom Schlafen, wirkte ansonsten aber sehr wach und...nervös? Kai schloss die Tür und lehnte sich gegen sie. Sie musterten sich stumm. „Und jetzt?”, fragte Kai schließlich. „Tja…”, setzte Yuriy an. Doch da war es schon zu spät. Kai stieß sich ab, machte zwei, drei Schritte auf ihn zu, packte ihn am Shirt und zog ihn in einen weiteren Kuss. Er fühlte die kühlen Hände an seinem Gesicht, in seinen Haaren, dann schlang er die Arme um Yuriys Taille. Beinahe hätten sie das Gleichgewicht verloren. Ab und an lösten sie sich voneinander, um nach Luft zu schnappen, aber ihre Lippen trafen sich immer wieder. Es schien unmöglich, aufzuhören. Irgendwann spürte Kai erneut die Tür des Badezimmers in seinem Rücken, und endlich wurde der Boden unter seinen Füßen wieder fest. Yuriy musste gemerkt haben, dass er ihn einengte, denn er nahm etwas mehr Abstand zu ihm ein. So wurde auch ihr Kuss unterbrochen. „Also”, sagte Kai heiser, „Was wolltest du sagen?” Kapitel 5: Kairo ---------------- Neo Borg vs. Barthez Soldiers Baihuzu vs. PPB All Starz BBA Revolution vs. F Sangre „Du willst was?” Boris sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren und Kai verdrehte entnervt die Augen. „Du hast mich schon gehört.” „Aber das ist unmöglich!” „Ist es nicht und du weißt es.” Er nutzte die Überraschung des anderen und drängte ihn kurzerhand in dessen Zimmer zurück, damit sie endlich die Tür schließen und unbehelligt reden konnten. Boris machte ein abschätziges Geräusch, doch es war erkennbar, dass es in seinem Kopf zu Arbeiten begonnen hatte. Vielleicht war es Kai tatsächlich gelungen, seinen Ehrgeiz zu wecken. Boris war ein wahrer Meister, wenn es darum ging, Beyblade-Teile zu individualisieren. Er hatte ein unglaublich detailliertes physikalisches und chemisches Wissen, das er ständig ausbaute. Nur Boris gelang es, einen Attack-Ring gerade so dünn zu schleifen, dass er messerscharf wurde, jedoch nicht bei der ersten Berührung brach. Boris kannte Mischverhältnisse für Legierungen, die einen Blade widerstandsfähig machten oder so glatt, dass jeder Angreifer einfach abrutschte. Es war ihm zu verdanken, dass Yuriys Wolborg, obwohl ein Ausdauerblade, immer noch starke und wendige Attacken ausführen konnte, ohne dabei an Energie zu verlieren. Um es kurz zu machen: Kai brauchte Boris Hilfe. „Du bist komplett durchgeknallt, Hiwatari”, sagte der in diesem Moment, „Es ist physikalisch nicht möglich, den Spin Gear zweimal zu aktivieren. Selbst du müsstest das wissen.” „Ich will ihn ja gar nicht zweimal aktivieren”, entgegnete Kai und ging zum Tisch, wo er sich ungefragt setzte. Er wies auf den zweiten Stuhl. „Setz dich, dann erkläre ich es dir.” Er trug diese Idee schon mit sich herum, seit Spin Gears eine Standardkomponente ihrer Blades geworden waren. Sie waren wesentlich, um besonders starke Spezialattacken hervorzubringen. Der einzige Nachteil war, dass sie so auf eine einzige Spezialattacke pro Kampf beschränkten - der Turbo war nicht nachladbar. Natürlich konnten sie ohne ihn angreifen, doch es nahm ihnen einen Großteil ihrer potenziellen Kraft. Kai wusste, dass Yuriy beispielsweise leicht zwei Novae Rog hintereinander zünden lassen konnte, doch was machte das schon für einen Sinn, wenn die zweite nur noch zum Nachtreten reichte? Viele Blader versuchten daher, ihre stärksten Angriffe nach hinten zu schieben, sie nur im Notfall einzusetzen. Das war möglich, solange es sich um kurze Kämpfe handelte. Doch sie schritten weiter im Turnier voran, und je stärker ihre Gegner wurden, desto länger würde es dauern, sie in die Knie zu zwingen. In nicht allzu weit entfernter Zukunft würde Kai sein ganzes Repertoire an Strategien einsetzen müssen, denn sie würden auf Baihuzu treffen und, wenn das Schicksal mitspielte, erneut gegen die BBA Revolution. Und außerdem ging ihm seit dem Match gegen Max ein Gedanke durch den Kopf, den er nicht mehr loswurde. Eine neue Attacke, mächtig genug, um es mit Kinomiya aufnehmen zu können. Mächtiger als der Blazing Gig Tempest, den er bisher ebenso sorgfältig unter Verschluss gehalten hatte. Kai wusste auch, dass er sie nicht ohne die Hilfe seines Leaders entwickeln konnte. Doch bisher hatte er nicht den richtigen Moment gefunden, um Yuriy darauf anzusprechen. Wenn es soweit war, würde er seine ganze Überzeugungskraft aufbringen müssen. Das alles sagte er Boris natürlich nicht. Boris musste nur eines wissen, und zwar, dass Kai den Spin Gear in seinem Blade rückwärts laufen lassen wollte. Doch der andere war nicht dumm, natürlich nicht. Er dachte eine Minute darüber nach, dann schien es ihm klar zu werden. „Links-Spin”, murmelte er und hob den Blick wieder von seinen verschränkten Armen, um Kai anzusehen. „Wie Dragoon.” Kai rechnete fest damit, dass Boris ihm eine Beleidigung an den Kopf werfen und zehn Gründe aufzählen würde, warum der Plan nicht funktionieren konnte. Stattdessen breitete sich ein wölfisches Grinsen in seinem Gesicht aus. In seinen Augen glomm der Ehrgeiz. „Du durchtriebenes Stück Dreck, Hiwatari”, sagte er. Sergeij konnte sein Erstaunen nicht verbergen, als Kai und Boris gemeinsam zum Training erschienen. Es war ihm nicht zu verübeln, schließlich gingen sie sich sonst nach Möglichkeit aus dem Weg. „Wo ist Yuriy?”, fragte er, doch keiner der beiden hatte eine Antwort. „Vielleicht ein Meeting”, vermutete Boris. Die Teammanager trafen sich beinahe jeden zweiten Tag, nicht zuletzt, um zu erfahren, wer gegen wen antreten würde. Hinter den Paarungen stand wohl ein recht kompliziertes System, das mehr oder weniger auf Leistung und Zufall basierte. Da sie sich nun schon in der vierten Runde der Weltmeisterschaften befanden, hielten sich die möglichen Kombinationen inzwischen aber in Grenzen. Sie hatten bisher zwei Punkte geholt. Nun galt es, keine Fehler mehr zu machen, wenn sie ins Finale kommen wollten. Je größer der Punkteabstand zu den anderen Teams war, desto besser. „Hey”, sagte Kai laut, um die Aufmerksamkeit seiner Teamkollegen auf sich zu ziehen. „Ihr zwei gegen mich.” „Dein Ernst?”, fragte Boris belustigt, „Ist dir dein Sieg über Klein-Maxie zu Kopf gestiegen?” Kai schnaubte. „Gewinnt einen Kampf und denkt, er ist der große Macker. Komm Sergeij, das wird spaßig.” Kai ging hinüber zur Bowl und machte sich bereit. Er hatte Boris nicht umsonst getriezt: Ein schnelles Übungsmatch würde ihm guttun. „Was dauert das so lange, habt ihr Angst?” Boris klickte Falborg auf den Starter. „Träum weiter, Hiwatari. Ich dachte, du brauchst deinen Blade noch.” „Um deinen ist es dafür nicht schade, Kuznetsov.” Boris machte ein abfälliges Geräusch und winkte Sergeij noch einmal zu sich. Der Blonde setzte sich seufzend in Bewegung. Doch noch bevor er bei Boris angekommen war, flog die Tür auf und Yuriy kam fluchend in den Trainingsraum. „Dieser verschissene…” Er hielt inne, als er sah, in welcher Position sich sein Team befand. „Was zur Hölle macht ihr da?” „Hiwatari will eins aufs Maul”, antwortete Boris, „Die Gelegenheit wollten wir uns nicht entgehen lassen.” Yuriy blickte Sergeij und ihn einen Moment lang an, dann seufzte er. „Hör auf mit dem Scheiß, Boris.” „Aber Hiwatari hat angefangen!” „Weg von der Bowl hab ich gesagt!” Boris stöhnte genervt und zog seinen Blade wieder vom Shooter, bevor er sich auf eine Bank fallen ließ. Kai war der kurzen Auseinandersetzung mit gehobenen Augenbrauen gefolgt und gab Yuriy nun ein stummes Signal, damit er erzählte, was ihn so aufregte. Sein Teamchef stand neben ihm und presste die Lippen fest zusammen, sodass sein Mund nur noch ein grimmiger Strich war. „Diese Meetings mit Daitenji sind eine einzige Schlammschlacht. Die reine Zeitverschwendung”, sagte er schließlich. „Oooh”, machte Boris, „Sag mir bitte, dass die PPB-Tante diesem Kinomiya-Schnösel die Augen ausgekratzt hat!” Selbst von Sergeij kam nun ein beifälliges Geräusch. Doch Yuriy schnaubte nur. „Schön war’s. Miss Judy tut so, als würde Ricks Verhalten ihr leid tun, aber ihre Heuchelei ist so schlecht gespielt, es ist beinahe lustig.” Inzwischen hieß Max’ Mutter bei den meisten nur noch Miss Judy, und das war nicht immer höflich gemeint. „Kinomiya benimmt sich, als gehörte ihm die gesamte BBA und Daitenji bricht sofort der Schweiß aus, sobald mal jemand etwas lauter spricht. Aber der schlimmste von allen ist - Barthez.” Der Name erklang wie ein dunkles Grollen. „Was hat er gemacht?”, wollte Boris wissen, da Yuriy nicht weitersprach. Es dauerte auch eine ganze Weile, bis eine Antwort kam. „Er hat mir nach dem Meeting aufgelauert, nur um mich zu beleidigen”, sagte Yuriy dann. „Aber warum?” „Wir treten als nächstes gegen Barthez Soldiers an. Er wollte mich nur triezen. Aber das Schlimme ist - er hat es geschafft.” „Respekt”, sagte Sergeij nur und Kai fragte sich, was in aller Welt der Alte wohl gesagt hatte. Yuriy war nicht leicht zu reizen, obwohl selbst sein Nervenkostüm unter dem Stress des Turniers zu leiden begann. Anders als die anderen Teams hatten sie mit ihm nur eine einzelne Person, die die Jobs von Captain, Coach und Athlet in sich vereinte. Und Barthez war ihnen sowieso nicht geheuer. Nicht, seit sie den ersten Kampf seines Teams gesehen hatten. Kurz dachte Kai an Miguel, der ein ernstzunehmender Blader sein könnte, wenn er sich von seinem zwielichtigen Manager trennte. Er wies einladend auf die Bowl. „Gehört ganz dir.” Vielleicht würde das Yuriy helfen, sich wieder zu beruhigen. Und tatsächlich lächelte der andere kurz zu ihm hinab, was dazu führte, dass Kais Blick einen Deut zu lange auf seinem Mund verweilte. Seit Madrid herrschte eine ganz neue Anziehungskraft zwischen ihnen, und er erwischte sich regelmäßig dabei, wie er in völlig unpassenden Momenten gedanklich abdriftete. Sie hatten sich noch ein paar Mal geküsst, gerade so oft, dass er sich noch an jedes einzelne Mal erinnern konnte. Es passierte einfach, und keiner von ihnen stellte es unnötig infrage. Eventuell hatten sie am vorigen Abend dabei ein wenig die Zeit aus dem Blick verloren. Denn Yuriy zu küssen wurde nicht langweilig. Hinter ihnen erklang ein Räuspern. Kai schreckte hoch und drehte sich erneut zur Tür um. Dort stand Kyoujyu, den Laptop an die Brust gepresst und offensichtlich eingeschüchtert von den vier düsteren Augenpaaren, die ihm entgegensahen. Er machte ein langgezogenes, ängstliches Geräusch, konnte sich dann aber fangen und stotterte drauf los: „Ich wollte euch wirklich nicht stören - hi Kai erstmal, schön dich… Egal, denkt bitte nicht, dass ich euch ausspionieren will, ich wollte nur mit euch sprechen wegen Barthez Soldiers, ich meine, weil ihr doch…” „Kyoujyu”, unterbrach Kai ihn, „Atmen nicht vergessen.” Der Junge rang zitternd nach Luft. „Und jetzt kommst du rein, machst die Tür hinter dir zu und setzt dich.” Es dauerte eine Weile, bis Kyoujyu den Mut fand, sich in einen geschlossenen Raum mit Neo Borg zu begeben. Immer wieder warf er Yuriy ängstliche Blicke zu, konnte ihn aber nicht länger als eine Sekunde ansehen, was dem Rothaarigen ein für den Kleineren nicht registrierbares Grinsen entlockte. Erst als sie sich setzten und nicht mehr ganz so hoch vor ihm aufragten, beruhigte Kyoujyu sich. „Also”, fing er noch einmal an, „Ich bin wegen Barthez Soldiers hier. Wir haben am letzten Abend in Madrid schon Baihuzu und die PPB All Starz getroffen. Ursprünglich wollten wir euch auch dazuholen, aber ihr wart nicht auf euren Zimmern.” „Wir waren in der Stadt”, sagte Boris knapp, warf Kai und Yuriy aber einen verwirrten Blick zu. Kai erwiderte diesen ausdruckslos. Dabei ging ihm eine Frage durch den Kopf: Waren da nicht stimmen draußen im Flur gewesen, als sie - ? „Was ist mit Barthez Soldiers?”, fragte Yuriy. „Genau.” Kyoujyu klappte den Laptop auf und drehte ihn herum, sodass sie den Bildschirm sehen konnten. Darauf lief ein Video, dass zwei sich umkreisende Beyblades zeigte. Die Bewegungen waren um ein Vielfaches verlangsamt. „Das ist das Match zwischen Baihuzu und Barthez Soldiers”, erläuterte Kyoujyu. Viel mehr musste er nicht sagen. Durch die Zeitlupe waren deutlich die Haken zu erkennen, die aus Miguels Blade schossen und Driger trafen, noch bevor dieser Death Gargoyle überhaupt erreicht hatte. „Hm”, machte Yuriy, „Also so haben sie es gemacht.” Kai brummte zustimmend. „Ihr wusstet, dass sie betrügen?”, sagte Kyoujyu, „Warum habt ihr nie etwas gesagt?” „Wir waren nicht sicher. Und ihr habt sie doch besiegt, oder? Also was interessiert es dich noch?” Kyoujyu klappte den Laptop wieder zu. Er wirkte nachdenklich, vielleicht war er sogar verärgert über Yuriys Worte. „Wir haben uns mit den anderen Teams darüber beraten, wie wir vorgehen. Es macht keinen Sinn, Barthez Soldiers vom Turnier auszuschließen. Das würde eine Wiederholung aller bisherigen Matches nach sich ziehen. Trotzdem wollten wir euch warnen, weil ihr als nächstes gegen sie antretet.” „Danke, Kyoujyu”, sagte Kai und schnitt damit Boris das Wort ab, der schon wieder den Mund öffnete, um eine spöttische Bemerkung zu machen, „Du hast unseren Verdacht nur bestätigt. Wir haben nicht vor, uns von Barthez verarschen zu lassen.” „Gut.” Der Kleinere sprang auf, offensichtlich froh darüber, seine Nachricht überbracht zu haben. „Das war es eigentlich auch schon. Das heißt, eigentlich...” Er warf Kai einen Blick zu. „Vielleicht solltest du wissen, dass Takao… ” „Was hat Kinomiya?” „Ach, nichts - nichts!” Er trat übertrieben hastig den Rückzug an. „Kai...Yuriy...War schön, euch mal wieder gesprochen zu haben…” Und schon fiel die Tür hinter ihm zu. Nun wanderte die Aufmerksamkeit des gesamten Teams zu Kai. „Was sollte das denn?”, fragte Boris. Er hob nur die Schultern. Yuriy lief im Zimmer auf und ab und schien etwas zu suchen. Die Vorhänge waren offen, sodass hinter ihm die Stadt und die Wüste am Horizont zu sehen waren, wo die Sonne langsam tiefer wanderte. Kai lag auf dem Bett und versuchte zu lesen. „Ich habe das Gefühl, wir fahren besser, wenn ich das erste Match mache”, sagte Yuriy, der in diesem Moment bis zu den Ellenbogen in seiner Reisetasche stecke. „Jedesmal wenn du der erste warst, haben wir schlechter gespielt. Also fange ich morgen an.” „Okay”, murmelte Kai. Yuriy richtete sich auf und warf ein Kleidungsstück zur Seite. „Hast du was dagegen, wenn ich Miguel übernehme?”, fragte er. „Hm?” Nun sah Kai doch auf, gerade rechtzeitig um zu beobachten, wie der andere sich das Shirt über den Kopf zog. Seine Augenbrauen zuckten nach oben und er gönnte sich einen etwas längeren Blick. Als Yuriy das bemerkte, warf er sein Oberteil nach ihm. „Was ist nun?” Kai setzte sich auf und verschränkte die Arme. „Du wirst dich schon entscheiden müssen”, sagte er, „Entweder du willst als erstes kämpfen oder du willst gegen Miguel antreten. Dass beides klappt wird dir ja niemand versprechen können. Um ehrlich zu sein würde ich gern selbst gegen Miguel spielen.” „Das dachte ich mir, und deswegen frage ich ja.” „Du bist doch sonst nicht wählerisch mit deinen Gegnern”, stellte Kai fest, „Warum bestehst du jetzt so darauf?” Daraufhin schwieg Yuriy. Er stand noch immer halbnackt da: groß, schlank; starke Arme; lange, helle Wimpern. Kai hätte sich gerne noch länger an diesem Anblick erfreut. Doch dann seufzte der andere und griff nach dem neuen Shirt, um es sich überzuziehen. „Wahrscheinlich hast du recht”, meinte er, „Es ist egal; du kannst ihn haben.” „Hm”, machte Kai, den diese Worte nicht überzeugten. „Da ist doch noch was.” Der Rothaarige hielt inne und schenkte ihm ein schiefes Grinsen, als er langsam auf ihn zukam. Er ließ sich neben ihm auf der Bettkante nieder und betrachtete ihn von der Seite. „Es ist nichts, Kai. Ich will diesem Team nur seinen Betrügerarsch versohlen. Und vielleicht will ich Barthez ein bisschen weinen sehen. Außerdem bin ich ja nicht der einzige mit Geheimnissen hier, nicht wahr?” Kai runzelte die Stirn und Yuriy beugte sich ein Stück zu ihm. Eine einschüchternde Geste, zumindest für die meisten. „Was heckst du mit Boris aus, hm? Glaubst du ich weiß nicht, dass er Teile für dich entwirft?” Kai wandte den Blick ab und blätterte gelangweilt in seinem Buch. „Warum fragst du ihn nicht selbst?” „Das hat Boris auch gesagt. Er will nichts verraten, solange er nicht sicher sein kann, dass es überhaupt funktioniert.” „Nun, dann wirst du dich wohl gedulden müssen.” „Ich mag es nicht, wenn in diesem Team Dinge hinter meinem Rücken geschehen.” Yuriy hob eine Hand, um ihm eine Haarsträhne aus der Stirn zu streichen. „Aber ich lasse es dir durchgehen, wenn du dafür Miguel erledigst. Schließlich bist du…” Die kalten Finger wanderten seine Wange hinab, schlossen sich um sein Kinn und Yuriy senkte die Stimme, bis sie nur noch ein Wispern war „...mein stärkster Blader.” Kai ließ zu, dass er seinen Kopf herumzog, um ihn direkt anzusehen. Es gab nur wenige Menschen, die sich trauten, ihm so herausfordernd zu begegnen und noch weniger, die er dafür nicht sofort in die Schranken wies. Die spielerische Provokation zwischen ihnen trieb seinen Puls an. Seine ausbleibende Gegenwehr schien auch Yuriy zu gefallen, denn seine Mundwinkel hoben sich ein wenig. „Also gehst du morgen in die Arena und kämpfst für mich, verstanden?” Er unterstrich diese Worte mit einem festen Griff, und Kai ergötzte sich noch etwas an dem Leuchten in seinen Augen. Dann blinzelte er ihm zu. „Aye, Captain.” Doch noch immer ließ Yuriy ihn nicht los. „Schon komisch”, meinte er, „Ich wusste wirklich nicht, woran ich an dir bin. Selbst auf dem verdammten Sofa dachte ich, du würdest mir wegrennen.” „Witzig, dass du das sagst”, murmelte Kai, „Ich wusste ja nicht einmal, ob ich für dich überhaupt eine Option bin.” „Du hast mich ja auch nie gefragt.” „Touché.” Dieser Abend in Madrid war gerade zwei Tage her - die Zeit genügte kaum um zu verstehen, was gerade zwischen ihnen passierte. Oder besser: ob etwas passierte. Kais Gedanken waren im Augenblick mit so viel anderem beschäftigt, nicht zuletzt den Matches, die vor ihnen lagen. Damit sie weiter voran kamen, brauchte er das Wissen seines Leaders. Und der wiederum brauchte ihn ebenso, um sein Ziel zu erreichen - was auch immer dieses Ziel war. Kai hatte schlicht keine Energie, lange zu überlegen, wie er seine Beziehung zu Yuriy interpretieren sollte. Es gefiel ihm, so viel wusste er. Und solange ihre Leistung dadurch nicht beeinflusst wurde, war doch alles in Ordnung. Yuriy zog ihn das letzte Stück zu sich heran. Sofort fanden ihre Lippen sich und sie versanken in einem Kuss, der länger zu werden versprach. Kai löste nun endlich die Hand des anderen von seinem Kinn, nur, um seinerseits nach oben in das rote Haar zu greifen, damit Yuriy den Kopf in den Nacken legte und er an seinen Hals herankam. Er wurde mit einem wohligen Seufzen belohnt. Seine Finger fuhren durch Yuriys Mähne. „Nicht, Kai, meine Haare…Argh…Du…bist scheiße…” Das klang höchsten halb so überzeugend wie es sein könnte. Er wollte gerade noch einmal zupacken, als Yuriy sich versteifte. „Ist das dein Handy?“ Kai richtete sich auf und drehte den Kopf. „Nein“, sagte er, „Das ist deins.“ Plötzlich stieß Yuriy ihn von sich weg, sodass er rücklings auf der Matratze landete. „Scheiße!“, rief er und rannte schon zu seiner Tasche zurück, um hektisch in ihr zu wühlen, „Die Pressekonferenz! Die habe ich total vergessen!“ „Ich kann diese hässliche Fratze nicht mehr sehen”, grollte Boris am nächsten Morgen. Er spähte an Yuriys Kopf vorbei zum nächsten Tisch, wo Barthez Soldiers saßen. Es wirkte, als wäre die Stimmung dort drüben recht trüb. Jeder war in seine eigenen Gedanken vertieft und Barthez saß am Tischende wie ein Aasgeier über der Beute. „Oh bitte”, sagte Kai, „Dein Spiegelbild bist du doch auch gewohnt.” „Halt die Fresse, Hiwatari.” „Willst du mich provozieren, Kuznetsov?” „Hört auf”, ging Yuriy dazwischen, doch er machte sich nicht einmal die Mühe, die Stimme zu heben. „Ich helfe Hiwatari nur, sich auf den Kampf einzustimmen, Yura.” „Ich brauche keine Cheerleader!” „Haltet bitte einfach das Maul, ja?!” Yuriy seufzte und begann, sich die Schläfen zu massieren. Kai und Boris warfen sich einen verwunderten Blick zu, doch keiner von beiden wusste, weshalb ihr Leader heute so angespannt war. Kai konnte sich nicht erklären, warum er ausgerechnet vor dem Match gegen Barthez Soldiers nervös werden sollte. Der einzige fähige Blader in diesem Team war Miguel, und selbst der hinkte im Vergleich zu Leuten wie Max und Rick oder Rei und Lai weit hinterher. Bei seinem Battle gegen Kinomiya hatte er ein paar nette Moves gezeigt, die wesentlich mehr über sein Potenzial verrieten als alle vorigen Runden zusammen. Dennoch war er, während Barthez das Team ständig zu Betrügereien angestiftet hatte, komplett von allen anderen abgehängt worden - und der Rest seines Teams erst recht. Für Kai war er interessant, weil sein Death Gargoyle ein Feuer-Bit-Beast war. Es gab nicht viele neue Blader, die ihm nachhaltig im Gedächtnis blieben. Anders als Kinomiya mit seiner Beyblade-Klasse hatte er auch nie daran gedacht, sein Wissen irgendwann weiterzugeben. Bei Miguel aber dachte er, wenn er ihm hier und da ein paar Tricks verraten würde, könnte der Blonde es ziemlich weit bringen. Zunächst aber musste ihm gezeigt werden, wer die Herrin des Feuers war, und das war unbestreitbar seine Suzaku. „Privjet!” Ihre Blicke hoben sich, denn niemand von Neo Borg hatte gesprochen. Es war Max, der zu ihnen herüber gekommen war, in Begleitung von Emily. Boris verzog missbilligend das Gesicht, doch Kai ignorierte ihn und bot den Amerikanern einen Stuhl an. Max steckte aber nur die Hände in die Taschen und lächelte auf sie hinab. „Ich hatte gehofft, dich mal kurz entführen zu können, Kai”, sagte er, „Und Emily wollte dich nach einem Date fragen.” „Was? Max!”, rief Emily erbost und holte Luft, um sich zu erklären. „Boris. Zu dir wollte ich.” Der Angesprochene verschränkte die Arme. „Ich brauche das Rezept für deine Legierung.” „Warum sollte ich dir das geben? Damit die PPB es gegen uns verwenden kann, falls ihr ins Finale kommt?” „Ich will es erst nach dem Turnier, Dummkopf! Es heißt, du bist der beste Tuner hier und unsere bisherigen Legierungen sind Schrott.” „Wow.” Boris lehnte sich nun vor, „Kannst du das noch mal etwas lauter sagen? Die PPB gibt zu, etwas nicht zu können?” Emily schnaubte verächtlich. „Das heißt noch lange nicht, dass sein Rezept wirklich besser ist als unseres. Ich will nur Vergleichsdaten.” „Schätzchen”, sagte Boris, „Guck dir Wolborg an. Der beste Blade, den ich je entwickelt habe. Und selbst Hiwatari benutzt inzwischen meine Teile. Glaub mir, ich weiß, was ich tue.” „Na bitte. Was ist nun?” „Du kannst mein altes Rezept haben, um das ist es nicht schade…” Das Gespräch ging noch weiter, doch in diesem Moment stieß Max Kai an und nickte in Richtung des Ausgangs. Kai drehte sich zu Yuriy und sah ihn fragend an, woraufhin sein Leader eine flüchtige Geste machte. „Wir bleiben hier noch eine Weile. Ich glaube, ich brauche noch einen Kaffee.” Mit diesen Worten erhob er sich. Kai tat es ihm nach und während Yuriy zur Kaffeemaschine schlenderte, folgte er Max. Max zog zwei Dosen Cola aus dem Automaten, mit denen sie sich nach draußen in den Schatten einer Palme setzten. „Barthez Soldiers…“, meinte er und kassierte einen Seitenblick von Kai. „Ihr wisst über alles Bescheid? Habt ihr die Aufnahmen von Kyoujyu gesehen?“ „Ja“, sagte Kai, „Er ist sogar persönlich zu uns gekommen. Aber ich weiß nicht, ob es etwas nützen wird. Kinomiya hat sie in Madrid ganz schön aus dem Konzept gebracht.“ „Glaubst du, sie ändern ihre Taktik?“ Kai hob die Schultern. „Könnte doch sein, oder? Ich hoffe nur, dass Miguel trotzdem antritt. Alle anderen in diesem Team sind nicht zu gebrauchen.“ „Zu viele technische Patzer“, sagte Max nickend, „Zu unerfahren. Mit Fairplay hätten sie nicht die geringste Chance.“ „Dafür sind sie der Publikumsliebling“, meinte Kai und deutete zum Eingang des Stadions, der sich in ihrer Sichtweite befand. Dort tummelte sich bereits eine bunte Masse. „Sind das Cosplayer?“ Max kicherte nur ungläubig und nahm einen Zug aus seiner Dose. Kai musterte ihn erneut von der Seite. Der Blonde benahm sich vielleicht wie immer, sah aber nicht so aus. „Du hast zu wenig geschlafen“, stellte er fest. „Ich schlafe seit Tagen zu wenig“, entgegnete Max, sein Lächeln verschwand beinahe gänzlich. „Es ist ziemlich tough dieses Jahr. Habe ich dir eigentlich jemals dafür gedankt, dass du den Leuten bei unserem Match gesagt hast, sie sollen das Maul halten?“ „Hast du nicht, aber ein Kaffee wäre nett“, sagte Kai und bekam einen Klaps gegen den Oberarm. Wieder ließ er den Blick zu der Masse von Cosplayern wandern. Barthez Soldies waren, zugegeben mit mehr als ein wenig Zutun von Rick, am schlechten Ruf des amerikanischen Teams Schuld. Sobald die PPB das Stadion betrat, wurden sie verbal von den Menschen zerpflückt. Natürlich ging das einem sonnigen Gemüt wie Max mit der Zeit unter die Haut. Kai erinnerte sich an die Atmosphäre purer Feindseligkeit, die ihr Match überschattet hatte. Nach den durchwachten Nächten wegen Yuriys Zusammenbruchs waren seine Nerven zu gespannt gewesen, um auch noch ein schwieriges Publikum, das die ganze Zeit schimpfte, aushalten zu können. Später hatte Boris gemeint, dass er ein ziemlich beeindruckendes Volumen hatte für jemanden, der so wenig sprach. Max neben ihm rutschte ein wenig hin und her und holte sich so seine Aufmerksamkeit wieder zurück. Er hatte geahnt, dass sein ehemaliger Teamkollege nicht nur mal eben ein wenig Plaudern wollte. Irgendetwas lag in der Luft. „Hat Kyoujyu erwähnt, dass wir uns in Madrid mit Baihuzu und der BBA Revolution getroffen haben?”, fragte Max schließlich. Kai nickte nur. „Okay, also… Bei diesem Treffen sind ein paar unschöne Sachen zur Sprache gekommen.” „Nämlich?” „Tja, es ging um Yuriy und die anderen. Und um Volkov.” Kai wandte sich ihm zu. „Aber das ist kein Geheimnis.” Immerhin wussten zumindest alle Teams, die schon bei der ersten Meisterschaft dabei gewesen waren, was vorgefallen war. „Schon, aber an die große Glocke hängt es nun auch niemand”, sagte Max. „Die Sache ist die, Kai - Rick ist ziemlich ausgeflippt, als er die Geschichte gehört hat. Er scheint der festen Überzeugung zu sein, dass mit eurem Team irgendwas nicht stimmt. Vermutlich ist sein Ego ziemlich angeknackst, weil er gegen dich verloren hat. Aber ich weiß nicht, ob er sich nicht gerade etwas zu sehr in seinen Frust reinsteigert.” Kai runzelte die Stirn. Max wollte es vielleicht nicht direkt sagen, aber er warnte ihn hier gerade ausdrücklich vor seinem eigenen Tagteampartner. „Bist du sicher, dass du mit dem Typen klarkommst?”, fragte er deswegen, doch Max winkte müde ab. „Ja ja. Mach dir um mich keine Sorgen. Pass lieber auf dein eigenes Team auf.” „Oh, wir wissen uns schon zu verteidigen. Hast du sonst noch mal mit Rei oder Kinomiya gesprochen?” Max schüttelte den Kopf. „Ich habe Hiromi ein paar mal zufällig getroffen, aber mehr als Smalltalk war nicht drin.” Kai brummte. Dann war es wirklich nicht nur seine Wahrnehmung. Zwischen den ehemaligen Bladebreakers war es still geworden. Vor allem Kinomiya, ausgerechnet er, hatte sich zurückgezogen. Ob er immer noch beleidigt über ihre Trennung war? Dass Rei keinen Kontakt wollte, war irgendwie nachvollziehbar. Sein Ehrgeiz war nicht zu übersehen. Beinahe war man gewillt, ihm zu sagen, er solle sich beruhigen, damit er sich nicht selbst im Weg stand. Komisch, normalerweise war das immer Kais Problem. „Wir treten als nächstes gegen Baihuzu an”, sagte Max leise. „Das werde ich mir nicht entgehen lassen.” „Ja. Ich hoffe nur, dass Rick sich benimmt…” Darauf erwiderte Kai nichts. Max war nicht auf Tipps angewiesen, und Kai war sich sowieso nicht sicher, ob er in dieser Situation einen guten Rat geben konnte. Die Art und Weise, wie sie Probleme lösten, war bei ihnen zu einem großen Teil grundverschieden. So schwiegen sie einträchtig und leerten ihre Getränkte. Nach einer Weile hob Max die Arme über den Kopf, streckte sich und seufzte. „Okay, genug Trübsal geblasen!”, sagte er entschlossen, „Erzähl mir was Positives, Kai!” „Bitte was soll ich?” „Komm schon, ich brauche ein paar good vibes. Wie läuft es mit Yuriy? Sag mir bitte nicht, dass du ihn immer noch aus der Ferne anschmachtest!” „Ich schmachte nicht!”, entgegnete Kai entrüstet. „Lenk nicht ab. Glaubst du, mir ist nicht aufgefallen, dass du ihn um Erlaubnis gefragt hast, bevor du mit mir mitgekommen bist? Ich meine, ausgerechnet du! Kai - ich komme und gehe wann ich will - Hiwatari! Er hat dich ganz schön im Griff, mein Lieber!” Max lachte, als Kai ihm einen bösen Blick zuwarf. „Jetzt guck nicht so. Ich glaube schon, dass du Chancen bei ihm hättest. Denkst du nicht, er hat vielleicht Interesse?” „Hmm”, machte Kai unbestimmt und verkniff sich ein Grinsen. Als sie in den Speisesaal zurückkamen, war Emily schon wieder zu den PPB All Starz gegangen und Neo Borg saßen über ihre jeweiligen Aufgaben gebeugt. Kai verabschiedete sich von Max und wollte gerade zu den andern gehen, als sich Barthez von seinem Stuhl erhob. Mit ein paar Schritten war er bei den Russen angekommen und stützte sich mit einer Hand auf dem Tisch ab, sodass sie ihn nicht ignorieren konnten. Kai hob die Augenbrauen, dann eilte er zu seinem Team. „...könnt es gebrauchen”, hörte er Barthez noch sagen, als er ankam. Seine Stimme war gesenkt, doch messerscharf. „Eure Leistungen haben schließlich ein wenig gelitten. Aber bei so verbrauchten Beybladern wie euch ist das ja nicht verwunderlich.” Kai konnte nicht anders, als Barthez fassungslos anzustarren, genau wie so ziemlich alle anderen, die im Saal versammelt waren. Sie hatten ihn nicht gehört, fragten sich aber sicherlich, was er kurz vor dem Match mit Neo Borg zu schaffen hatte. Kai zumindest verstand es nicht. Die Mienen seiner Teammitglieder waren wie versteinert. Boris’ Hände waren um die Tischkante gekrallt und Sergeij war auf beunruhigende Weise erbleicht. Barthez ignorierte sie allesamt und lachte gekünstelt. „Nun ja, ich kann es verstehen. Euch fehlt ebenso die harte Hand, die euch führt…” Bei diesen Worten riss Boris die Augen auf. Kai wollte schon nach seinem Arm greifen, da er der festen Überzeugung war, dass der andere sich im nächsten Moment auf Barthez stürzen würde. Doch eine weitaus bedrohlichere Bewegung vollzog sich zu seiner anderen Seite: Yuriy erhob sich, und obwohl er äußerlich ruhig wirkte, umstrahlte eine Aura aus Wut ihn weit. „Barthez”, sagte er leise, „Verschwinde.” „Aber, aber. Ich will mich doch nur unterhalten… Yuriy.” Sein Gesichtsausdruck verriet jedoch, dass mehr dahinter steckte. Am Rande seines Blickfeldes bemerkte Kai, wie Judy und Hitoshi sich näherten. Wahrscheinlich waren sie aufgeschreckt durch Yuriys Angriffshaltung. Warum ließ sich sein Leader so von dem Alten provozieren? „Du musst schon zugeben, du hattest schon bessere Turniere”, fuhr Barthez fort, „Als Beyblader hast du ganz klar den Zenit überschritten. Gut, dass du Hiwatari gekauft hast, nicht wahr? Deine anderen beiden Teammitglieder hier...tja.” Er warf einen mitleidigen Blick auf Boris und Sergeij, „Lange könnt ihr jedenfalls nicht mehr mithalten.” „Was hast du gesagt?“ Yuriys Stimme war kaum noch zu hören und hatte eine Färbung angenommen, die Kai aufs Höchste alarmierte. „Ach komm schon, Yuriy, sieh den Tatsachen ins Auge: Ohne ein wenig...Unterstützung seid ihr hier verloren!” Noch ehe jemand etwas hätte tun können, hatte Yuriy Barthez am Kragen gepackt. Der Alte war vielleicht breiter gebaut, doch Yuriy überragte ihn und entgegen alledem, was Barthez soeben behauptet hatte, wirkte er in diesem Moment wesentlich stärker. „Halt mein Team da gefälligst raus!”, zischte der Rothaarige. Es wirkte, als würde er in den nächsten Sekunden einfach zuschlagen. Und alle sahen zu, ebenso überrascht wie Kai. Das könnte sie die Meisterschaft kosten. In diesem Augenblick wurde ihm alles klar: genau das war Barthez’ Plan. Wenn Yuriy gewalttätig wurde, war das ein guter Grund, sie zu disqualifizieren. Kai wechselte einen Blick mit Boris, der ihm mit einem kurzen Handzeichen bedeutete, sich zurückzuhalten. Wahrscheinlich hatte er ebenso erkannt, was hier gespielt wurde. Und ausnahmsweise hörte Kai auf ihn. Auch Judy hatte sie inzwischen erreicht, begleitet von Hitoshi. „Yuriy, eine Prügelei können wir hier nicht dulden“, sagte dieser, „So ein Verhalten wird Konsequenzen haben.“ „Halt’s Maul!“, zischte Boris und es war sein Glück, dass er Russisch gesprochen hatte. Ihr kurzer Schlagabtausch schien gar nicht bei Yuriy anzukommen. Seine Fingerknöchel waren weiß und wenn man ganz genau hinsah, konnte man seine Hände zittern sehen. Hitoshi blickte nun Kai an und öffnete den Mund, doch er schnitt ihm das Wort ab: „Sei ruhig.“ Nun bewegte sich Sergeij. Er ging zu den Erwachsenen und stellte sich sehr dicht neben Hitoshi, der zuerst irritiert und dann ein wenig eingeschüchtert wirkte. Sergeij nickte Boris und Kai kaum merklich zu. „Yuriy“, sagte Boris nun leise. Sie standen so dicht hinter ihm, dass sie ihn hätten berühren können, doch weder Kai noch Boris wagten, die Hand auszustrecken. Sie warfen sich noch einen Blick zu und Kai war sich nicht sicher, was Boris von ihm wollte: Dass er auch mit ihrem Leader sprach oder ihn notfalls von hinten packte, sollte er die Beherrschung verlieren? „Halt dich da raus!“, entgegnete Yuriy. „Nein, das werde ich nicht“, fuhr Boris fort. In so einer ruhigen Stimmlage hörte man ihn selten reden. Er schien auf jedes Wort bedacht zu sein. „Vergiss nicht, Yuriy, du bist unser Teamchef. Du handelst verantwortungslos. Wenn du ihn zusammenschlägst werden wir disqualifiziert.“ Yuriy atmete aus. „Hör auf, das bringt nichts“, sagte nun auch Kai und versuchte, denselben Ton anzuschlagen, wie Boris. Und tatsächlich schienen ihrer beider Stimmen den Rothaarigen endlich zur Besinnung zu bringen. Kai beobachtete, wie seine Schultern sich entspannten und die Hände entkrampften. Endlich konnte Barthez sich wieder aufrichten. Er fingerte an seinem Kragen herum und versuchte überheblich zu gucken, doch seine Mimik verriet deutlich, dass ihn Yuriy trotz allem nervös gemacht hatte. Ihr Teamchef hingegen stieß noch einmal verächtlich die Luft aus und wandte sich ab, warf noch einen flüchtigen Blick auf sein Team und ging dann an ihnen vorbei auf den Ausgang zu. Sämtliche Augen im Saal waren auf ihn gerichtet und flogen zurück zu Kai und den anderen, als er weg war. „Du mieses Stück Scheiße!”, fauchte Boris auf Russisch und stürzte in Barthez’ Richtung, doch er wurde von Sergeij aufgehalten, der ihn an der Schulter packte. Barthez beugte sich leicht nach hinten, wie um ihm auszuweichen, und grinste schon wieder. Es wirkte mehr denn je wie eine Maske. Erst jetzt fielen Kai Miguel und die anderen auf, die hinter ihrem Coach Aufstellung genommen hatten, puren Schock auf den Gesichtern. Er trat noch einmal an Barthez heran. „Du hast keine Ahnung, welches Glück du eben hattest“, sagte er, bevor er sich umdrehte und Yuriy folgte. „Warte, bleib hier! Lass ihn in Ruhe!“, rief Boris ihm hinterher, doch er beachtete ihn nicht. Er fand Yuriy in ihrem Zimmer, wo er mit dem Rücken an die Wand gelehnt saß, die Beine angezogen. „Alles okay?“, fragte Kai unbeholfen und er nickte. „Danke“, sagte er, „Ich hätte ihn weich geschlagen, wenn ihr nicht dazwischen gegangen wäret.“ Kai machte eine fahrige Bewegung mit den Schultern und musterte seinen Teamchef. In ihm arbeitete es wohl immer noch. Er war angespannt, sein Blick irrte hin und her und heftete sich dann an Kai. Wollte sein Gesicht nicht mehr loslassen. Kai konnte seine Augen nicht vor Yuriys verschließen. „Ich hätte beinahe die Beherrschung verloren“, sagte der Rothaarige, „Ironisch, oder? Ausgerechnet bei einer falschen Bemerkung über die Abtei raste ich aus. Das ist mir…seit einer Ewigkeit nicht mehr passiert. Nicht einmal in Irkutsk, als wir uns geschlagen haben.“ Er konnte seine Hände nicht stillhalten. Obwohl er die Arme verschränkt hatte, krochen seine Finger stetig über seinen Pullover. Sie schienen immer noch zu zittern. „Er hat dich absichtlich provoziert”, erklärte Kai, „Von Anfang an hat er darauf gesetzt, dass wir disqualifiziert werden. Es war wie immer nur ein mieser Trick - und du bist ja nicht darauf reingefallen.” „Weil ihr da wart, Kai“, entgegnete Yuriy, „Was, wenn ihr nicht da gewesen wäret? Oder wenn ich auf euch losgegangen wäre? Auf Boris? Auf dich? Du verstehst nicht, wie das ist. Manchmal ist mein Körper stärker als mein Geist. So tief steckt die Abtei in mir drin.“ „Aber du gehst nicht auf Boris los. Er ist dein bester Freund“, unterbrach Kai, „Und ich… In Irkutsk hast du auch nur einmal zugeschlagen.“ Daraufhin schnaubte Yuriy und lehnte den Kopf nach hinten an die Wand. Er wirkte auf einmal sehr erschöpft. „Diese Weltmeisterschaft bringt alles Schlechte in uns hervor. Erst die Migräne…jetzt das…“ Kai war sich nicht sicher, ob er sich neben ihn setzen sollte, also blieb er, wo er war. „Das stimmt nicht“, sagte er, „Wir spielen fair. Und alle wissen es. Wir sind nicht diejenigen, die betrügen. Yuriy, du bist Kapitän eines Weltmeisterschaftsteams. Und unser Manager. Und aktiver Spieler. Und du machst deine Sache verdammt gut.“ Doch diese Worte schienen an seinem Leader abzuprallen. Von irgendwoher zog Yuriy eine Schachtel Zigaretten und machte Anstalten, eine herauszunehmen, doch seine Finger zitterten. „Nicht hier“, sagte Kai und trat einen Schritt auf ihn zu, um ihn am Oberarm zu packen. „Lass uns rausgehen.“ Er deutete auf die Balkontür und stieß ihn sanft in diese Richtung. „Ich brauche bald was Stärkeres…”, murmelte Yuriy, doch Kai überging es. Wahrscheinlich hatte er auch mehr mit sich selbst gesprochen. Draußen nahm er Yuriy die Zigaretten ab, zog eine aus der Packung und schob sie zwischen seine Lippen, bevor er ihm Feuer gab. „Danke”, nuschelte der Rothaarige und nahm einen tiefen Zug. Kai lehnte sich mit verschränkten Armen an das Balkongeländer. Zum ersten Mal fiel ihm auf, wie sehr sich Hotelzimmer ähnelten. In seinen Erinnerungen verwischten die letzten Tage zu einem diffusen Ereignisstrom. Die Meisterschaftskämpfe waren an ihm vorbeigezogen, denn außerhalb der Arena war so viel mehr passiert. Und trotzdem erschöpften gerade die Matches ihn am Meisten. „Warum hasst du Barthez so?”, fragte er, „Warum ausgerechnet ihn?” „Warum bist du so freundlich zu Miguel?”, entgegnete Yuriy. „Sie sind Arschlöcher, die nur spielen können, wenn sie betrügen. Sie verdienen unsere Anerkennung nicht.” „Hm. Ich glaube, Kinomiya hat sie aufgeweckt”, sagte Kai und meinte das Match in Madrid. „Was noch lange nicht heißt, dass wir uns morgen auf ein Fairplay verlassen können!” „Ist ja gut. Geht es dir jetzt besser?“, fragte Kai, doch er konnte schon sehen, dass Yuriy sich langsam etwas zu entspannen schien. Die Müdigkeit war noch da, aber sie zehrte nicht mehr an ihm. „Du solltest noch ein wenig schlafen, bevor wir losgehen.“ „Ja, Mama.” Kai grinste schief. „Hör ruhig auf mich, ich habe jahrelange Teamlead-Erfahrungen. Bei Kinomiya haben Nickerchen immer Wunder gewirkt.” Aaron hatte gegen Yuriy keine Chance. Die Aggression, die den Rothaarigen an diesem Tag umgab, hatte bis zu ihrem Match nicht nachgelassen. Im Gegenteil, als DJ einen nachlässigen Kommentar zu seinen beiden verlorenen Matches machte, schien er damit alles nur noch zu verschlimmern. Boris zog bei der Bemerkung scharf die Luft ein und selbst Sergeij ächzte. „Irgendwann bringt ihn jemand für sein großes Maul um”, murmelte Boris und Kai konnte nur nicken. An jedem anderen Tag wäre Yuriy so etwas wohl am Allerwertesten vorbeigegangen, aber heute war sein Geduldsfaden knapp vor dem Zerreißen. Zum Glück tobte er sich nur in der Arena aus. Kai, der davon ausging, dass jemand wie Aaron seinem Leader haushoch unterlegen war, beobachtete nicht das Battle, sondern das gegnerische Team. Natürlich hatte Barthez wieder etwas ausgeheckt. Und warum ließ er Miguel nicht antreten? Kai empfand eine ähnliche Beleidigung wie beim Kampf gegen die BBA Revolution in Rom. Schon wieder versuchte irgendein hinterlistiges Arschloch, ihn von einem guten Match abzuhalten. Miguels Augen wanderten in seine Richtung und ihre Blicke trafen sich. Scheinbar war er nicht der einzige, der diese Situation nicht verstand. Nun, wenn es denn unbedingt sein musste, dann würde er mit Claudes Blade das Stadium auswischen und Miguel herausfordern, sobald sich die Gelegenheit bot. In Barthez kam Bewegung. Auf einmal wirkte er aufgeregt, beinahe etwas panisch. Kai fokussierte nun wieder den Kampf und binnen Sekunden war ihm klar, was dort gerade passierte: Aaron rebellierte. Was auch immer sein Coach ihm aufgetragen hatte, er führte den Plan nicht aus. „Ah, jetzt wird es interessant”, sagte Sergeij neben ihm und lehnte sich vor. Während die Zuschauer von allem nichts zu bemerken schienen, verzerrte sich Barthez’ Miene wütend. Das Team allerdings wurde euphorisch: Mathilda ballte die Fäuste, Claudes Augen brannten sich in Aarons Rücken als könne er ihm so Kraft geben und Miguel wirkte, als könne er sich nur sehr schwer davon abhalten, ihn laut anzufeuern. Nun, es war eine nette symbolische Geste, aber Yuriy nahm an diesem Tag keine Gefangenen. Sobald sich der Engine Gear aufgeladen hatte, startete er den Novae Rog. Die Attacke war viel zu stark, und Kai war überrascht, dass sie Aarons Blade nicht komplett vernichtete. Im Stadion herrschte einen Augenblick Stille, bevor der Jubel von Neuem begann. Barthez Soldiers hatten hier nicht wenige Fans, aber Kai wusste inzwischen, dass Neo Borgs Anhängerschaft sehr, sehr laut sein konnte. Als Yuriy zu ihnen zurückkam wirkte er zum ersten Mal wieder etwas gelöster. „Na, hast du noch was für Kai übrig gelassen?”, fragte Boris belustigt. Ihr Leader setzte sich neben ihn und verschränkte die Arme. „Das hat gut getan”, stellte er fest. Kai erhob sich. „Ich geh dann mal die Reste zusammenkehren.” Schon hörte er wieder die ersten Rufe von den Rängen. Seit Madrid waren ihre Fans wohl wirklich inspiriert. Ob er wohl bald Autogramme geben musste? Kurz vor der Bowl fiel ihm auf, dass auf der anderen Seite Tumult entstanden war. Es gab eine lautstarke Auseinandersetzung zwischen Miguel und Barthez. Kai hob die Augenbrauen. Das Glück war ihm an diesem Tag scheinbar hold, denn auf einmal trat nicht Claude, sondern Miguel vor, um das Match zu spielen. Die Anzeigen auf den Monitoren änderten sich binnen Sekunden entsprechend. Kai stieß die Luft aus und konnte nicht ganz verhindern, dass sich sein Mund zu einem Grinsen verzog. Dann standen sie sich gegenüber und er sah die Entschlossenheit in Miguels Gesicht. Der Junge hatte sich diesen Kampf verdient. Er würde ihm zumindest die Chance geben, seine Spezialattacke zu fahren. Auch Suzaku erwachte nun in ihm, vielleicht spürte sie das andere Feuer-Bit-Beast. Auch sie wollte ihre Kräfte zur Schau stellen. Sobald sie ihre Blades gestartet hatten, schoss Death Gargoyle davon. Seinem Namen zum Trotz war er in dem prallen Sonnenschein ein schöner Anblick: Seine Bewegungen waren elegant und gezielt, die rote Legierung glänzte, sodass es wirkte, als zöge er einen leuchtenden Schweif hinter sich her. Kai sparte seine Kräfte und erfreute sich ein wenig an seinem Gegner. Miguel hatte durchaus Potential; sein Blade war gut ausbalanciert und reagierte perfekt bei plötzlichen Richtungswechseln, er erreichte durchaus ernstzunehmende Geschwindigkeit und Miguel wusste, wann er diese drosseln musste, damit ihm nicht die Puste ausging. Darauf konnte man aufbauen. Dann schrie er Kais Namen, schleuderte ihm eine Herausforderung ins Gesicht. Er wollte demonstrieren, was er konnte, auch ohne Barthez. Death Gargoyle brach in Flammen aus - da war sie, die Fire Execution. Kai kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, machte sich aber nicht die Mühe, dem Angriff auszuweichen. Ein Feuersturm kam auf ihn zu, doch im Vergleich zu Suzakus Energie war er nicht mehr als ein warmer Windhauch. Dranzer wurde in das Feuer gesogen und vielleicht sah es von außen so aus, als hätte Miguel etwas ausrichten können - die Rufe seiner Fans wurden jedenfalls lauter. Suzaku versengte Kais Inneres, was zwar unangenehm, für ihre Verhältnisse aber fast schon eine zärtliche Geste war. Sie bezirzte ihn, sie wollte freigelassen werden. Er hielt sie zurück, nur noch etwas. Manchmal mochte er es, sie zu necken. „Denkst du wirklich, diese Flammen könnten meinem Dranzer etwas anhaben?”, fragte er an Miguel gewandt und der andere zuckte zusammen. Death Gargoyles Feuersäule stand zwischen ihnen und womöglich wirkte es, als stünde Kai auf einem Scheiterhaufen. „Ich zeige dir richtiges Feuer.” Und mit diesen Worten ließ er Suzaku gewähren. Sie stieß einen triumphalen Schrei aus, als sie über Dranzer aufstieg, und ihr langer Schweif peitschte einmal quer über Kais Oberkörper - die Rache dafür, dass er sie so lange hatte schmoren lassen. Dann war sie blaues Feuer, und diese Hitze mussten selbst die Menschen auf den Rängen spüren. Der Blazing Gig fuhr auf Death Gargoyle nieder und katapultierte ihn aus der Arena. Kai roch verbrannten Kunststoff. Scheinbar hatte Suzaku es geschafft, die Bowl zumindest teilweise zu schmelzen. Seine Fans waren in begeistertes Kreischen ausgebrochen und auch DJ schrie irgendetwas, während die Arena von einem Wasserstrahl gelöscht wurden. Über den aufsteigenden Dampf hinweg konnte Kai Miguels Gesicht sehen. Der starrte ihn mit offenem Mund an. Eine ähnliche Bewunderung hatte er zuletzt vor Jahren bei Kinomiya gesehen, und irgendwie rührte ihn das. Mit einer flinken Bewegung drehte er sich um und fing Dranzer auf. „Das war eine gute Attacke”, sagte er über die Schulter hinweg, bevor er das Podium verließ. Sie wankten beide, als sie zurück in ihr Zimmer kamen, vermutlich zu gleichen Teilen aus Euphorie und Erschöpfung. Nach seinem Kampf war Kai verschwitzt, auf seiner Haut klebte feiner Sand, den der Wind hier mit sich trug. Er nahm seinen Schal ab und seufzte erleichtert. Suzaku brannte in ihm, sie war schwer im Zaum zu halten nach dem letzten Match. Wahrscheinlich hätte sie noch drei solcher Runden spielen können, doch dann wäre Kai arg in Mitleidenschaft gezogen worden. Ihre Euphorie steckte ihn an und er war zittrig wie eine Flamme im Wind, gleichzeitig rebellierte sein Körper gegen ihre Hitze. Yuriys Gestalt zeichnete sich dunkel vor ihm ab, denn die einzige Lichtquelle war eine der Nachttischlampen. Der Rothaarige streifte sich mit einer nachlässigen Geste die Jacke von den Schultern und warf sie auf den Garderobenständer. „Geh ruhig zuerst”, sagte er und nickte in Richtung des Bads, bevor er sich in einen Sessel fallen ließ. Kai runzelte die Stirn, denn sein Tonfall war recht kühl gewesen, erwiderte jedoch nichts und begann, seine nasse Kleidung auszuziehen. „Kai?” Er hielt inne und sah zu Yuriy. „Warum hast du Miguel ein Kompliment gemacht, nach dem Kampf?”, fragte sein Leader. „Weil er es verdient hat”, antwortete er ungerührt und hob die Arme, um seine Haare zusammenzubinden, was ihm nur mäßig gelang. „Hm. Hat er das, ja?” „Nun, seine Attacke war tatsächlich gut. Das musst du zugeben. Und ich war froh, dass sie fair gespielt haben”, fügte er hinzu. „Aber musst du deswegen gleich Freundschaft mit ihm schließen?”, murmelte Yuriy. Kai sah ihn nur wortlos an. „Yuriy, wir sind gerade ins Halbfinale gekommen. Bedeutet dir das nichts? - Und was ist das mit dir und Barthez Soldiers?”, fragte er schließlich, „Erst die Nummer mit dem Alten, dann hast du Aaron bei eurem Match beinahe zerlegt, obwohl jeder wusste, dass er niemals gegen dich ankommt…” Er ließ den Satz ins Leere laufen. Der andere musterte ihn eindringlich. „Ich bin nicht hier, um meine Zeit mit Sentimentalitäten zu verschwenden.” „Ach so?”, stichelte Kai, „Dann hattest du wohl einen kleinen Aussetzer neulich in Madrid, was?” Yuriy stieß die Luft aus, seine Augenbrauen hoben sich. „Wie ich schon an anderer Stelle gesagt habe”, entgegnete er spöttisch, „Ich habe dich nicht wegen deines hübschen Gesichts in dieses Team geholt, sondern damit du für mich bladest. Solange du deine Arbeit machst, haben wir keine Probleme.” Sein Blick wanderte noch einmal an Kai hinab, dem plötzlich bewusst wurde, dass er seit geraumer Zeit fast nackt vor ihm stand. Er zeigte Yuriy nachlässig den Mittelfinger und bekam ein wölfisches Grinsen zur Antwort, bevor er schließlich ins Bad ging. Als er sich im Spiegel sah, stellte er verwundert fest, dass er Bräunungsstreifen an den Armen hatte. An den seltsamsten Stellen hatte er blaue Flecken, die zu einem großen Teil ebenfalls vom Training herrührten. Einige der Schnitte von seinem Kampf gegen den Felsen in Russland waren immer noch nicht ganz verheilt und hoben sich hell von seinen Unterarmen ab. Das Wasser linderte den dumpfen Schmerz in seinen Gliedern. Für eine Weile hielt er die Augen geschlossen, auch dann noch, als er einen Luftzug im Rücken spürte. Er stellte die Dusche ab und drehte sich erst um, als er hörte, wie Yuriy hinter sich die Türen der Kabine wieder schloss. Auch sein Partner hatte einige Blutergüsse und Schrammen davongetragen, und die Sonne hatte dafür gesorgt, dass sich die Sommersprossen auf seinen Armen und Schultern noch weiter vermehrt hatten. Und dann fielen ihm die alten Narben auf, dünne Striche, wie er sie selbst am Körper trug, kaum sichtbar aus größerer Entfernung. Spuren längst vergangener Matches. Kais Blick wanderte langsam hoch zu Yuriys Gesicht, er musste aufgrund der Nähe den Kopf ein wenig zurücklegen. „Na was?”, sagte er leise. Yuriy machte einen Schritt nach vorn, sein Körper war so kühl gegen Suzakus Hitze, er griff an Kai vorbei und drehte das Wasser wieder auf. „Halbfinale, Baby!”, flüsterte er, während die ersten Tropfen auf sie herabprasselten. Kai stand weit über den Rängen auf dem Dach des Stadions und Blickte hinab auf die Bowl, wo die BBA Revolution und F Sangre gerade ihr Match austrugen. Ihm gegenüber befand sich der Bildschirm, auf dem die Bewegungen der Blades um ein Vielfaches vergrößert gezeigt wurden. So konnte er alles überblicken ohne sich zwischen die Fans setzen zu müssen. Im Zuschauerbereich war einfach zuviel Trubel. Natürlich hatte Kinomiya ein Vierermatch verlangt, nachdem Rei und Max am Vortag ein so großartiges Battle gezeigt hatten. Anfangs hatte Kai gezweifelt, denn er konnte noch immer nicht verstehen, warum jemand überhaupt im Doppel antreten wollen würde. Als die vier dann jedoch anfingen, jeder gegen jeden zu spielen, war eine ganz neue Dynamik entstanden. Sie erinnerte ihn an die Zeit vor den offiziellen Turnieren in Japan, als er mit den Shell Killers durch Bakuten gezogen war und sie so gebladet hatten, wie sie es für richtig hielten. Kinomiya allerdings schaffte es nicht, diesen Eindruck in seinem Match weiterzutragen. Daichi und er waren drauf und dran, da unten gegen die Geschwister zu verlieren - und das war nicht Daichis Schuld. Während der Kleinere sich tapfer hielt, schoss Dragoon durch die Bowl als wäre er von einem Anfänger gestartet worden. Während er beobachtete, wie sich das Drama entfaltete, gingen Kai die verschiedensten Gedanken durch den Kopf. Zum Beispiel, dass die BBA Revolution tatsächlich ein sinkendes Schiff war und er gut daran getan hatte, zu Neo Borg zu gehen - so färbte Kinomiyas Leistung auch nicht auf ihn ab. Andererseits wurde er zunehmend wütend. Das sollte sein stärkster Rivale sein, der Blader, gegen den er seit Jahren versuchte, anzukommen? Das war die Person, wegen der er den ganzen Mist während der Vorrunden auf sich genommen hatte? Takao Kinomiya - der Grund, weshalb er überhaupt hier war? Denn ohne ihn waren die Matches, dieses Turnier, ja, der ganze Sport nichts mehr wert. Er hätte schon längst mit dem Bladen aufgehört, wenn es Kinomiya nicht gäbe. Was er Yuriy in Irkutsk an den Kopf geworfen hatte, war keineswegs gelogen. Kai war müde. Er liebte den Sport, und dennoch war es ausgerechnet das Beybladen, das ihm seine schreckliche Kindheit in der Abtei beschert hatte. Und er sah seine eigene Müdigkeit in seinem Team wiedergespiegelt. Auch Yuriy, Boris und Sergeij waren ausgezehrt von den Jahren, die sie dem Bladen geopfert hatten. Sie waren das älteste Team in diesem Turnier und sie alle waren seit über zehn Jahren in erster Linie - Beyblader. Von Anfang an hatte Kai geahnt, dass dies vielleicht seine letzte Weltmeisterschaft war. Die letzte Chance, Kinomiya zu schlagen. Und eben der vermasselte es da unten gerade richtig. Von seinem Standpunkt aus konnte Kai sehen, dass Rei und Max von ihren Sitzen aufgesprungen waren. Sie waren genauso aufgebracht. Und dann war das Match zu Ende und Dragoon lag im Staub. „Erbärmlich”, murmelte Kai und wandte sich vom Geschehen ab. Er musste nachdenken. Und vor allem brauchte er Schlaf. Kapitel 6: Sydney ----------------- F-Sangre vs. Barthez Soldiers Neo Borg vs. Baihuzu BBA Revolution vs. PPB All Starz „Kai! Hey Kai, warte mal!” Er erkannte die Stimme nicht, die nach ihm rief, doch als er sich umdrehte sah er das Sports-News-Duo, das das Turnier begleitete, winkend auf ihn zurennen. Die beiden hießen Mike und Makoto und waren das einzige Team, das Berichte übers Beybladen produzierte. Wann immer sie eine Moderation brauchten, holten sie DJ dazu, was das Ganze nicht erträglicher machte. Alle Blader, die bei mindestens einer Meisterschaft angetreten waren, kannten die beiden persönlich. Trotzdem konnten sie schlimmer sein als Paparazzi. „Gut, dass wir dich treffen!”, sagte Mike, als sie bei ihm angekommen waren, und Makoto nickte eifrig. „Kommt schon, Leute”, entgegnete Kai, „Heute ist unser freier Tag, lasst uns ein bisschen Privatsphäre.” Bisher war er von Interviews verschont geblieben, da Yuriy tatsächlich auf ihn gehört und das Genehmigungsformular nicht ausgefüllt hatte. Inzwischen tauchte er nicht einmal mehr zu den Pressekonferenzen auf. Umso mehr legten sich die beiden Fernsehleute ins Zeug, um ihn in ein Gespräch zu verwickeln: „Hör dir doch erstmal an, was wir zu sagen haben…” Er seufzte und fuhr sich durchs Haar, das noch immer etwas feucht war. Er hatte sich eine Runde Schwimmen im Pool gegönnt, bevor die anderen Teams auf den gleichen Gedanken kamen. Es war Mikes und Makotos Glück, dass er sich dadurch endlich einmal wieder etwas ausgeglichener fühlte, denn anstatt sie abblitzen zu lassen erlaubte er ihnen tatsächlich, weiterzusprechen. „Pass auf, wir haben wirklich etwas Großes vor”, sagte Mike, „Sogar Daitenji-kacho hat zugestimmt. Wir drehen eine Reportage über Takao Kinomiya! Und natürlich sollen seine engsten Vertrauen auch zu Wort kommen!” Sein Gesicht zeigte nichts als pure Begeisterung für das Projekt. „Die Abschlusssequenz wird am Uluru gedreht. Rei und Max sind auch dabei, und Takao wird euch eine ordentliche Kampfansage machen. Was sagst du? Wir bringen es zur besten Sendezeit im Fernsehen und endlich könnt ihr den Fans den Kern eurer Rivalität zeigen!” „Unglaublich”, entgegnete Kai trocken. „Wann bringt ihr denn mal eine Reportage über mich, hm? Ich bin immerhin schon ein paar Jährchen länger im Geschäft als Kinomiya.” Er verkniff sich ein spöttisches Grinsen, als Mikes Gesichtsausdruck bei dieses Worten sogar noch seliger wurde. „Das wäre ja großartig! Ich sehe es schon vor mir - der große Kai Hiwatari: jetzt sagt er, was er wirklich denkt!” „Ja, sicher, lasst uns das machen”, sagte Kai, „Sprecht halt vorher alles mit meinem Teamchef ab.” Mike sackte zusammen und auch Makotos Mundwinkel fielen nach unten. Sie wussten beide, dass an Yuriy kein Vorbeikommen war. Er würde sie mit ihrer Kamera niemals auch nur in die Nähe seines Teams lassen. „Vielleicht kannst du ja ein gutes Wort für uns einlegen”, schlug Makoto vor und Kai hob nur unbestimmt die Schultern. „Wir werden sehen. Jetzt entschuldigt mich bitte.” Er schob sich an ihnen vorbei und nahm die Stufen zum Hoteleingang. Sobald sich die gläsernen Schiebetüren hinter ihm schlossen, war es wieder kühl. Im Frühstücksraum saßen inzwischen die meisten der anderen Teams. Baihuzu redeten laut durcheinander und Kiki schwenkte etwas, das wie ein Prospekt für einen Zoo aussah. Die PPB hatte sich um Miss Judys Laptop versammelt und sahen sich wahrscheinlich die Daten des Doppelmatches an. Bei F Sangre schien die Stimmung gedrückt, die Geschwister schwiegen sich an. Barthez Soldiers hingegen wirkten gelöst wie nie und Kai vermutete, dass dies zu einem nicht geringen Teil an der Abwesenheit ihres Coaches lag. Gerüchten zufolge hatte Barthez, nun da es unwahrscheinlich geworden war, dass sein Team ins Finale kam, alles hingeschmissen und Miguel die Verantwortung überlassen. Der schien sich auf den ersten Blick schnell an seine neue Rolle zu gewöhnen. Als er Kai sah, winkte er ihm aufgeregt zu - eine Geste, die unerwidert blieb. Stattdessen wurde er sich anscheinend bewusst, was er da eigentlich gerade tat, ließ die Hand wieder sinken und wirkte peinlich berührt. Kai hob belustigt die Augenbrauen. Er hatte schon gemerkt, dass Miguel seit ihrem Match - und vor allem nach dem Lob, das er erhalten hatte - etwas starstruck war. Er wandte sich schließlich seinem eigenen Team zu, das wie immer etwas abseits saß. Sergeij hatte eine Zeitung vor dem Gesicht aufgeschlagen, er wollte sein Englisch durch Lesen verbessern. Boris beugte sich über ein paar Dokumente und kritzelte wilde Berechnungen auf ein leeres Blatt daneben. Und Yuriy, der wohl gerade vom Laufen gekommen war, nippte an seinem Kaffee. Der Blick, den der Kai zuwarf, sagte ihm, dass sein Teamchef Miguels Patzer genau beobachtet hatte. Er war noch immer nicht gut auf Barthez Soldiers zu sprechen und Kai konnte sich nun erst recht keinen Reim darauf machen. Schließlich hatten sie sie sehr eindeutig besiegt, also wo war Yuriys Problem? Selbst Eifersucht hatte er schon in Erwägung gezogen - aber sein Leader war nie und nimmer eifersüchtig auf jemanden wie Miguel. Kai holte sich ebenfalls einen Kaffee und setzte sich zu den anderen. „Morgen, Gentlemen.” Er wollte eine spitze Bemerkung in Yuriys Richtung machen, doch Boris kam ihm zuvor. „Hiwatari, gib mir deinen Blade, ich will da noch ein bisschen was tunen”, sagte er und sah dabei nur kurz von seinen Berechnungen auf. „Kannst du das auch heute Abend machen?”, entgegnete Kai, „Ich brauche Dranzer vorher noch.” „Dann mache ich Wolborg zuerst. Yuriy?” „Ist okay.” Mit diesen Worten stand der Rothaarige auf und nahm seine Tasse. „Ich bringe ihn dir nachher.” „Warte mal”, unterbrach Kai. Yuriy, der im Begriff war, zu gehen, drehte sich noch mal zu ihm. „Können wir davor noch mal zusammen trainieren?” Sein Leader hob eine Augenbraue. „Dass ich diese Worte noch einmal aus deinem Mund hören würde…”, meinte er. „Ja, sicher. In einer Stunde? Ich besorge einen Raum.” „Na dann erzähl mal”, sagte Yuriy Schlag sechzig Minuten später, als er einen der Trainingsräume aufschloss und das Licht anschaltete. „Was verschafft mir die Ehre, von dir nach einem Trainingsdate gefragt zu werden?” Kai ging zur Bowl, doch anstatt sich für ein Battle bereit zu machen, setzte er sich auf das Podest und klopfte einladend auf den Platz neben sich. „Komm her, ich muss mit dir reden.” „Hast du etwa schon genug von mir?” Kai verdrehte die Augen. „Darum geht es nicht.” Der Rothaarige schien neugierig geworden zu sein, denn er sagte nichts, sondern kam der Aufforderung nach und setzte sich. Es war der Moment, auf den Kai schon eine ganze Weile gewartet hatte. Aus verschiedenen Gründen hatte er dieses Gespräch immer wieder hinausgezögert, aber wenn sie jetzt nicht darüber sprachen, war es zu spät. Dennoch fühlte er sich nicht im Mindesten vorbereitet. Er konnte nicht einmal ahnen, wie sein Leader reagieren würde. Vielleicht wies er ihn von sich, vielleicht wurde er aggressiv - vielleicht würde es alles kaputt machen. Doch Kai konnte es sich nicht leisten, seinen Plan zu verwerfen. Er hatte schlicht keinen besseren. „Okay, pass auf”, begann er und drängte alle Zweifel zurück. „Es geht um Attacken. Du kennst den Blazing Gig - ich meine, jeder kennt ihn. Und ich denke, du weißt so gut wie ich, dass er inzwischen kaum noch stark genug sein wird, um Matches zu gewinnen.” Yuriy nickte nur. „Ich habe eine zweite Attacke entwickelt”, fuhr Kai fort, wenn auch etwas zögerlich. „Ursprünglich wollte ich sie erst im Finale anwenden. Die bisherigen Battles waren allerdings anspruchsvoller, als ich erwartet habe. Da wir als nächstes gegen Baihuzu antreten, bin ich nicht sicher, ob ich sie noch länger unter Verschluss halten kann. Und das bringt mich zum eigentlichen Problem.” Yuriy wusste auf Anhieb, was er meinte. „Du brauchst eine neue Attacke”, sagte er, „Eine noch stärkere. Für den Fall, dass es nach Baihuzu noch härter wird.” „Ja. Ich denke darüber schon seit einer Weile nach. Und ich habe da eine Idee, doch ich fürchte, sie wird dir nicht gefallen.” Yuriy verzog kurz den Mund. „Bin ganz Ohr.” Kai sah auf seine Knie hinab. Er verschränkte die Finger und schob die Hände zwischen die Oberschenkel. „Du musst mir zeigen, wie man die Holy Beast Weapon aufbaut”, sagte er schließlich. Yuriy blieb still. Als Kai den Kopf hob, um ihn anzusehen, war kaum eine Regung in seinem Gesicht zu erkennen. Er schien wie erstarrt. Dann jedoch gab er ein langes, tiefes „Hmm” von sich. „Ich ahne, was du denkst”, fing Kai wieder an, „Die Holy Beast Weapon ist keine Attacke, sondern eine von Volkov entwickelte Waffe. Trotzdem - sie hätte nie funktioniert, hättest du nicht gewusst, wie die Energien der Bit Beasts gebündelt werden können. Und genau das muss ich auch wissen. Ich muss Suzakus Energie für einen einzigen Schlag konzentrieren.” Yuriy stand auf. Kais Hände verkrampften sich ineinander, während sein Leader ein paar Schritte ging, sich dann zu ihm umdrehte und sich seufzend durch die Haare fuhr. „Du weißt nicht, was du da von mir verlangst, Kai. Diese Attacke - ich habe mir geschworen, sie nie wieder einzusetzen.” „Das musst du ja auch nicht!”, entgegnete er prompt, denn er hatte mit so einer Aussage gerechnet. „Ich brauche nur einen Teil der Technik. Und ich will sie ja auch nur mit einem einzigen Bit Beast einsetzen, mit Suzaku.” „Darum geht es nicht”, entgegnete Yuriy, „Nicht nur. Es geht auch um Volkov.” Als er diesen Namen aussprach, manifestierte sich sein ganzes Unbehagen in seiner Körperhaltung. Er schlang die Arme um sich und rieb mit einer Hand seine Schulter. „Er hat sich damals wirklich Mühe gegeben, mich auf dieses Level hochzupushen, damit ich in der Lage war, diese Attacke zu kontrollieren. Das Training war...unmenschlich.” „Aber du warst ein Kind”, wandte Kai ein. Seine Worte klangen bei Weitem nicht so überzeugend, wie er sie gerne vorgebracht hätte. Ganz aufgeben wollte er aber auch nicht. „Natürlich warst du zu schwach. Aber jetzt sind wir älter. Und stärker. Meinst du nicht, es ist jetzt sicherer für uns?” „Du kapierst es nicht, oder, Kai?”, fuhr Yuriy ihn an, „Die Holy Beast Weapon - der Krasnaja Kometa, den alle sahen - ist wie ein Geschoss, die Munition. Dir ist klar, was man benötigt, um Munition zu verwenden, oder?” „Eine Waffe”, antwortete Kai leise. „Richtig. Nur, dass in diesem Fall nicht dein Bit Beast diese Waffe ist. Nicht einmal dein Blade. Sondern du selbst.” „Das habe ich verstanden.” „Nein, du hast gar nichts verstanden. Was passiert, wenn du eine Schusswaffe abfeuerst? Es gibt einen Rückschlag. Je größer dein Gewehr desto heftiger der Rückschlag. Bei Krasnaja Kometa ist es genauso. Zuerst würdest du zulassen müssen, dass Suzaku sich so fest mit deinem Geist verbindet, dass du den Schuss lösen kannst. Doch das ist der einfache Teil, denn danach musst du, dein Körper, den Rückschlag abfangen.” „Was passiert, wenn ich nicht - „ „Es zerreißt dich”, unterbrach Yuriy ihn. Kais Augen weiteten sich, doch der Rothaarige fuhr unbeirrt fort. „Entweder, du fängst die geballte Energie ab oder sie vernichtet dich. Als ich dafür trainiert habe, hätte Wolborg mich jederzeit beim kleinsten Fehler töten können. Und wenn es mir nicht gelungen wäre, sie zu lenken, hätten später die Bit Beasts, die du für Volkov gestohlen hast, mich umgebracht.” In seinen Augen lag ein Schmerz, den Kai so noch nicht an ihm gesehen hatte. „Ich hatte keine Wahl. Ich wollte die Holy Beast Weapon niemals entwickeln oder gar anwenden, aber ich musste es.” „Aber-” „Und jetzt willst du, dass ich dir genau das zeige? Wie du dich mit einer Macht verbindest, die so stark ist, dass dein Körper sie unmöglich halten kann?” „Wenn wir ins Finale kommen und gewinnen wollen, gibt es keine Alternativen!”, unterbrach Kai ihn laut, „Denkst du, wir kommen durch dieses Turnier, ohne Risiken einzugehen? Alle unsere Rivalen sind furchtbar stark, und sie werden kontinuierlich stärker. Wir haben beide gewusst, dass er so enden wird. Und deswegen sind wir doch jetzt in einem Team, oder?” Er war nun ebenfalls aufgestanden und ging einen Schritt auf Yuriy zu. „Wir haben uns zusammengetan, weil wir beide nur eines brauchten - einen Partner, dem egal ist, wie hoch der Preis für den Sieg ist.” In Yuriys Mimik ging etwas vor sich, das Kai absichtlich überging. „Mach jetzt bitte keinen Rückzieher, Yuriy.” „Wie stellst du dir das vor?”, entgegnete der Rothaarige leise, „Dir mag egal sein, ob du verletzt wirst, oder Schlimmeres. Du warst schon immer so. Ich gebe zu, du überraschst mich immer wieder mit der Kraft, die in dir steckt - aber sieh dich doch mal an. Wir sind kurz vor dem Ende des Turniers und Suzaku frisst dich förmlich auf. Denkst du, dass wir das nicht bemerken?” Leider hatte er durchaus recht. Je länger sie so intensiv mit ihren Bit Beasts verbunden waren wie jetzt, desto schneller bauten sie körperlich ab. Das ging jedem Blader so. Doch genau deswegen musste Kai genau jetzt das Können sammeln, um Kinomiya zu schlagen! War Yuriy das denn nicht bewusst? Sein Leader hatte ihn eine Weile gemustert, bevor er weitersprach: „Mich musste Volkov mit Medikamenten vollpumpen und in den Inkubator stecken, damit ich es aushielt. Und ob ich es heute noch schaffe, wage ich zu bezweifeln. Nicht einmal Sergeij würde alledem standhalten, und er ist fast doppelt so breit wie du. - Kai. Wenn dir was passiert… Du verlangst von mir, dich geradewegs in eine Katastrophe rennen zu lassen.” Es war schwer, die Wirkung, die diese Worte hatten, zu ignorieren. Sein Ehrgeiz hatte ihn nicht vollständig blind gemacht. Er wollte Yuriy nicht verletzen, und noch weniger wollte er, dass der andere für ihn an diesen dunklen Ort seiner Vergangenheit zurückkehrte. Wenn ihm in diesem Moment eine andere Möglichkeit eingefallen wäre, hätte er gern darauf zurückgegriffen. Aber es gab sie schlichtweg nicht. Mit der Entwicklung seiner noch geheimen Attacke, dem Blazing Gig Tempest, war er an die Grenzen des für ihn Machbaren gegangen. Die einzige Möglichkeit, das noch zu steigern, war, Suzaku noch mehr in sich aufzunehmen - und die Konsequenzen zu ignorieren. Borg war die einzige Organisation, die überhaupt jemals so weit gegangen war. Jetzt würden diese verdammten Experimente endlich ihren Nutzen bringen. Er ging zu Yuriy und zog sanft dessen Arme auseinander. Nur zögerlich lösten sich die Finger des Rothaarigen aus seiner Jacke, in die er sie gekrallt hatte, womöglich ohne zu wissen, was er tat. Kai hielt seine Oberarme in einem festen Griff und sah zu ihm auf. „Es tut mir leid”, sagte er, „Ich habe nicht geahnt, dass du dadurch in so einen Konflikt geraten würdest. Aber du bist der einzige, der mir helfen kann.” Er hätte ihn geschüttelt, wenn es nötig geworden wäre, doch stattdessen zog Yuriy ihn zu sich heran und umarmte ihn. Für eine Weile standen sie einfach so da und Kai fragte sich, was in dem anderen vorging. „Warum jetzt, Kai?”, erklang Yuriys Stimme dicht an seinem Ohr, „Hättest du mich in Irkutsk gefragt oder in Rom, hättest du mich wahrscheinlich überzeugen können. Aber jetzt ist alles...anders zwischen uns. Ich will einfach nicht, dass dir was passiert.” Kai fühlte deutlich, wie sein Herz in seinem Brustkorb schlug und drückte ihn unbewusst fester an sich. Er war innerlich aufgewühlt, denn er wollte nicht beschützt werden, hatte ja nie darum gebeten, und gleichzeitig wollte er in diesem Augenblick einfach alles hinschmeißen. Mit sanftem Druck schob er Yuriy ein Stück von sich weg. Er hatte keine Argumente mehr, bis auf eines: „Yuriy, ich weiß, du willst dieses Turnier genauso sehr gewinnen, wie ich. Keine Ahnung, was dein Grund ist, aber die ganzen letzten Wochen über hat es für dich nur dieses eine Ziel gegeben. Willst du das jetzt wirklich aufgeben?” Sein Gegenüber schloss resigniert die Augen. „Nein. Natürlich nicht.” „Dann denk daran, was für dich auf dem Spiel steht. Es geht hier nicht um … um uns, es geht darum, dieses Match zu gewinnen.” Er hoffte, mit diesen Worten an den Yuriy zu appellieren, der in der Abtei gelernt hatte, alle Sentimentalitäten hintanzustellen. Es war unfair, aber es war notwendig. „Für diese Finale müssen wir stark sein”, murmelte sein Leader und es klang wie ein Mantra. „Dann hilf mir, stark zu werden.” Zwischen Yuriys Augenbrauen entstand eine steile Falte. Für eine Weile war dies die einzige Reaktion, die von ihm kam. Was in seinem Inneren vor sich ging, war nicht zu erkennen. Dann nickte er kaum merklich. Kai atmete aus und lockerte endlich den Griff, denn seine Hände hatten sich in Yuriys Arme gegraben. „Danke.” „Aber dann gibt es kein zurück. Ich hoffe, das ist dir klar”, sagte Yuriy, „Und uns bleibt nicht viel Zeit. Wir müssen sofort beginnen.” „Ich bin bereit.” „Nein, das bist du nicht. Das ist niemand.” Endlich öffneten sich die blauen Augen wieder, doch jetzt war die Unsicherheit aus ihnen verschwunden. Yuriy musterte ihn grimmig. „Aber vielleicht habe ich mich geirrt. Du bist anders als ich. Du hast diesen Willen, und vor allem bist du - ungebrochen.” „Yuriy…”, sagte Kai leise, denn bei diesem letzten Wort durchfuhr ihn ein kurzer Schmerz. Doch der Rothaarige regte sich nicht. „Es ist okay”, sagte er und atmete einmal tief durch, „Beweise mir einfach, dass du das schaffst, Kai. Denn anscheinend muss es so sein: Wir werden ihnen einen neuen roten Kometen bringen.” In Kai stieg triumphaler Übermut auf - gemischt mit Angst. Das ging auch an Suzaku nicht unbemerkt vorbei. Ihre Flammen züngelten in ihm, nervös, aber zuversichtlich. Gemeinsam würden sie an einer Macht teilhaben, die sie so noch nie gespürt hatten - und das Gefühl von Macht hatte sie schon immer beflügelt. Und Yuriy? Er schien nicht ganz fassen zu können, worauf er sich eingelassen hatte, denn er schüttelte leicht den Kopf. Doch dann sah er Kai wieder an und der Tatendrang griff langsam auf ihn über. Auch ihm war klar, dass sie im Begriff waren, etwas wirklich Großes zu tun. Sein Leben in der Abtei hatte ihn gelehrt, nach Macht zu greifen wenn sich die Gelegenheit bot. Und so waren sie jetzt hier. Auf ihren Gesichtern breitete sich gleichzeitig ein gefährliches Grinsen aus. Eines war klar: Bei dieser Weltmeisterschaft gab es niemanden, der bereit war, so viel zu riskieren wie sie. „Wir sind verrückt”, urteilte Yuriy. „Überrascht dich das?”, entgegnete Kai. „Nicht im Geringsten. Aber du bringst alle meine schlechten Seiten zum Vorschein.” „Gut. Ich brauche den Yuriy, der einen Dom aus Eis errichten kann.” Sein Leader schubste ihn leicht in Richtung der Bowl. „Du willst meinen Partytrick sehen? Kannst du haben.” Kai schnaubte belustigt und drehte sich um. Er erwartete, dass Yuriy ihm folgen würde, doch als er auf das Podest kletterte, stieß der andere hinter ihm einen sehr lauten, sehr derben Fluch aus. Erstaunt blickte Kai zu ihm zurück und sah, dass er sich nicht von der Stelle gerührt hatte. Stattdessen ging sein Blick zur Decke. „Das Finale mit Volkovs eigener Waffe gewinnen!”, rief Yuriy, „Oh, das wird gut!” Es war Nachmittag geworden, als sie den Trainingsraum wieder verließen. Kai fühlte sich, als wäre er durch die Mangel gedreht worden, körperlich wie geistig. Seine Beine zitterten bei jedem Schritt, er war zerzaust und verschwitzt. In seinem Schädel pochte der Schmerz. Suzaku sandte heiße Stiche durch seinen Körper, von seinem Unterbauch bis hinauf in die Brust. Manche waren so heftig, dass sein Blick kurz verschwamm. Yuriy ging es etwas besser, doch auch er sah arg mitgenommen aus. Unter seinen Augen hatten sich dunkle Ringe eingegraben. „Kannst du alleine laufen?” Kai nickte stumm, stellte aber bald fest, dass er sich zumindest an der Wand festhalten musste, um voran zu kommen. Irgendwann ließ Yuriy ihn sich auf seine Schulter stützen und legte ihm die Hand leicht auf den Rücken. Langsam kamen sie dem Ausgang näher. „Wir sollten erstmal nicht weitermachen”, fing Yuriy wieder an, „Du brauchst deine Kraft noch für das Halbfinale.” Sein Griff wurde fester, weil Kai in diesem Moment stolperte. „Trotzdem”, urteilte er, „Es ist ein Wunder, dass du überhaupt noch stehen kannst.” „Ich fasse das...als Kompliment auf.” „Darfst du. Du bist verdammt zäh, Kai.” Zum Glück lag das Hotel nur wenige Schritte vom Stadion entfernt. Sie kamen ungesehen dort an, doch auf dem Weg in ihr Zimmer trafen sie auf Michael und Emily. Die beiden starrten sie schockiert an. „Was ist denn mich euch passiert?” „Training, Emily, Training”, ächzte Yuriy und zog Kai weiter den Flur entlang, ohne die PPB-Blader zu beachten. „Braucht ihr irgendwie einen Arzt oder sowas?”, rief Michael ihnen hinterher. „Ich sag dir was wir nicht brauchen - eure Hilfe!”, gab der Rothaarige über die Schulter zurück. Kai bekam von diesem Austausch nur am Rande etwas mit, er war mit sich selbst beschäftigt. Als sie bei ihrer Tür angekommen waren, musste er sich an die Wand lehnen. Plötzlich war ihm schwindelig geworden. Er legte die Hand über die Augen. „Ist dir schlecht?”, fragte Yuriy, der in seinen Taschen nach der Schlüsselkarte suchte. „...ja.” Die Tür ging auf und sein Leader packte ihn am Ellenbogen, denn sobald er sich von der Wand abgestoßen hatte, schwankte er auf der Stelle. „Ich warne dich mal vor, es wäre nicht ungewöhnlich, wenn du dich übergeben musst”, sagte er und Kai stöhnte. Zwei Minuten später hing er hustend über der Kloschüssel. Es ging ihm immer noch beschissen, aber immerhin drehte sich nicht mehr alles um ihn herum. „Keine Sorge, das geht schnell vorbei”, sagte Yuriy hinter ihm, dann fühlte er seine kühle Hand auf der Stirn. „Du glühst ja!” Doch Kai winkte ab. „Das ist nur Suzaku.” „Das kann auf Dauer aber nicht gut für deinen Körper sein.” „Ist Wolborg etwa gut für deinen Körper?”, stellte er die Gegenfrage und Yuriy blieb ihm eine Antwort schuldig. In diesem Augenblick stieg ihm das letzte Mal die Galle hoch. Danach war es endlich vorüber. Während er die Spülung betätigte, ging Yuriy zurück ins Zimmer, um eine Flasche Wasser aus der Minibar zu holen. Kai hörte, wie er irgendetwas aus dem Weg schob. Noch immer war er zu schwach, um aufzustehen. „Hey Yuriy”, sagte er und schaffte es nicht, so laut zu sprechen wie er wollte. „Hm?” „Geht es dir gut?” Yuriy tauchte wieder in seinem Blickfeld auf. Er reichte ihm das Wasser und lehnte sich in den Türrahmen, während Kai trank. „Mir geht es gut”, sagte er dann. „Es ist seltsam, irgendwie… Ich glaube, unser Training könnte mir helfen, darüber hinwegzukommen, was passiert ist.” „Konfrontationstherapie”, sagte Kai schwach und seine Mundwinkel zuckten. Yuriy lachte müde. Einen Augenblick später hielt er inne und sah über die Schulter zurück. Auch Kai hörte es nun - ein leises, rhythmisches Vibrieren. „Kai, dein Handy leuchtet”, stellte Yuriy fest, „Ich glaube, dich ruft gerade jemand an.” „Kannst du sehen, wer?” „Da ist ein Bild von einem Beyblade-Maskottchen auf dem Display.” „Scheiße”, ächzte Kai schwach, „Das ist Kinomiya.” „Takao Kinomiya? Soll ich rangehen?” Er überlegte kurz, bevor er Ja sagte. Kinomiya hatte absolut keinen Grund, einfach nur einen Plausch mit ihm halten zu wollen. Also musste es wichtig sein. Er hörte, wie Yuriy den Anruf entgegennahm. „Ja?” Er sprach Englisch. „Nein, der ist gerade...hm, verhindert.” Es entstand eine Pause, wahrscheinlich redete Kinomiya gerade auf seinen Leader ein. Dann kam Yuriy zu ihm zurück und reichte Kai das Handy. „Ist wohl besser, wenn du mit ihm redest”, sagte er, dieses Mal wieder auf Russisch. Kai nickte nur ergeben und nahm ihm das Gerät ab. Dann lehnte er den Kopf gegen die geflieste Wand. „Kinomiya?” „Wow, du hörst dich scheiße an.” „Du klingst auch nicht gerade besser.” Und das stimmte: Kinomiyas Stimme war schleppend und monoton. „Ist ja gut”, sagte er. „Kai, hör zu. Du hast bestimmt von dieser Reportage gehört, die über die BBA Revolution gemacht werden sollte.” Er brummte. Tatsächlich hatte er seit heute Morgen keinen Gedanken mehr daran verschwendet. „Also - wir haben sie gecancelt. Es war eine blöde Idee. Aber bevor du jetzt wieder sagst, dass du das alles sowieso gewusst hast und mich einen Idioten nennst -“ Bei diesen Worten konnte Kai ein Grinsen nicht unterdrücken. Wäre er nicht immer noch so zittrig hätte er wohl genau das gemacht, was Kinomiya ihm gerade vorwarf. „Ich muss mit euch reden. Mit dir, Max und Rei. Können wir uns treffen? Heute Abend beim Hawkesbury Lookout?” „Warte”, sagte Kai und ließ das Handy sinken. Schwerfällig kam er auf die Beine und ging zu Yuriy, der sich aufs Bett gelegt hatte. „Ich muss heute noch mal weg”, sagte er zu ihm, wobei er vom Japanischen zurück ins Russische wechselte. Sein Gehirn hatte in diesem Moment einige Schwierigkeiten, die Sprachen auseinanderzuhalten. „Ich treffe die anderen am, äh, Hawkesbury Lookout. Wo immer das ist.” „Wie willst du dort hinkommen?”, fragte sein Leader, eine Frage, die Kai in seiner jetzigen Verfassung überforderte. „Keine Ahnung”, antwortete er, „Bus?” Yuriy setzte sich auf. „Ich fahr dich.” „Was?” „Du hast mich doch gehört. Also guck nicht so.” „Okay…”, stammelte Kai und hob den Hörer wieder ans Ohr, um Kinomiya zuzusagen. „Was zur Hölle habt ihr gemacht?” Auf Boris’ Gesicht stand ein Ausdruck puren Horrors, als Yuriy und Kai ihm ihre Blades übergaben. Es war ihm nicht zu verdenken - Dranzer und Wolborg hatten bei ihrem Training ganz schön gelitten. Die Worte ihres Teamkollegen bezogen sich allerdings nicht nur auf den Zustand ihrer Blades, sondern auch auf sie selbst. Kai wusste, dass er noch immer kreidebleich war und Yuriy wirkte, als hätte er drei Nächte lang nicht geschlafen. „Ich erkläre es dir später”, sagte er, „Machst du sie wieder fit? Kai und ich müssen noch mal los.” „Ins Bett gehen müsst ihr, weiter nichts, Yuriy - habt ihr mal in den Spiegel geguckt?” Angelockt von diesen Worten kam nun auch Sergeij hinzu. Er tauchte hinter Boris auf und blinzelte überrascht, als er sie sah. „Hör auf, Mama zu spielen, es geht uns schon wieder besser.” Ihre beiden Teamkollegen wechselten einen Blick. „Ich kann sie auch einfach rüberbringen und einsperren”, schlug Sergeij vor und Boris verzog zustimmend das Gesicht. „Woah - wehe du packst mich an!”, sagte Kai und hob abwehrend die Hände. Dabei merkte er, dass er immer noch unsicher auf den Beinen war. Doch Yuriy kam ihm zur Hilfe und überzeugte die anderen beiden davon, dass sie schon nicht verlorengehen würden. Außerdem würde mindestens Boris wahrscheinlich die ganze Nacht brauchen, um Dranzer und Wolborg wieder zu reparieren, und Sergeij würde ihm sicher zur Hand gehen. Das ließ sich nicht wegargumentieren, und angesichts des nahen Halbfinales nahmen sie zähneknirschend ihre neue Aufgabe an. Nachdem das erledigt war, besorgten sie sich einen Wagen. Yuriy war zwar erst im Februar achtzehn geworden, hatte aber beinahe sofort seinen Führerschein gemacht und ein wenig mehr Geld in die Hand genommen, um auch eine internationale Fahrerlaubnis zu bekommen. Diese kam ihnen nun zugute. Das Hotel vermietete einige Kleinwagen, von denen sie einen bekamen. Mit diesem reihten sie sich nur wenig später in den Feierabendverkehr ein. Kai setzte seine Sonnenbrille auf, während Yuriy auf einen Highway bog und ordentlich beschleunigte. Er war ein ziemlich guter Fahrer und hatte sich auch schnell an das Automatikgetriebe gewöhnt, obwohl er bisher nur mit manueller Schaltung gefahren war. Kai legte den Kopf zurück und entspannte sich. Seine Kräfte waren schon beinahe wieder hergestellt. Sie hatten die Fenster heruntergefahren, anstatt die Klimaanlage einzuschalten, und das Radio ziemlich weit aufgedreht. Wahrscheinlich wirkten sie wie die letzten Checker. Als sie in einem kurzen Stau steckenblieben, zündete Yuriy sich eine Zigarette an und stützte den Ellenbogen an der Tür auf. Kai rutschte in seinem Sitz nach unten und presste die Knie ans Armaturenbrett. „Da sind wir ja richtig weit gekommen“, murmelte er. Sein Leader grinste und nahm die Hand vom Lenkrad, um sie wie selbstverständlich auf seinen Oberschenkel zu legen. „Keine Sorge, wir sind eh früh dran.” Er beobachtete, wie Yuriys Daumen auf seiner Hose hin und her strich, bis die Hand von seinem Bein verschwand, als der Verkehr wieder stockend in Bewegung kam. Kai ertappte sich dabei, wie er die Berührung vermisste. Kurz darauf löste sich der Stau auf und sie fuhren auf beinahe freier Straße in Richtung Stadtgrenze. Es stellte sich heraus, dass der Hawkesbury Lookout ein Aussichtspunkt westlich von Sydney war, von dem man sowohl die Stadt als auch die sie umgebende Natur betrachten konnte. Tagsüber mochte es ein sehr touristischer Ort sein, jetzt am Abend war der Parkplatz kurz unterhalb des Plateaus so gut wie leer. Die ganze Szenerie war in das orangefarbene Licht des Sonnenuntergangs getaucht und am Himmel spielte sich ein ziemlich spektakulärer Wechsel von Hellblau, Gelb und Rosa ab. Sie stiegen aus, setzten sich nebeneinander auf die Motorhaube und blickten eine Weile versonnen nach oben. Es war kühl, doch Kai empfand dies nach dem Training als sehr angenehm. Er räusperte sich, um Yuriys Aufmerksamkeit zu bekommen. „Ich bin dir wirklich dankbar für das, was du heute getan hast”, sagte er, „Also - danke nochmal.” Yuriy hob die Mundwinkel, doch es war kein Lächeln. „Was ich vorhin gesagt habe, war ernst gemeint”, entgegnete er, „Du bist wirklich zäh. Die meisten anderen hätten allein von dem, was ich heute mit dir gemacht habe, genug. Und wir sind auch viel weiter gekommen als ich dachte. Womöglich wirst du tatsächlich bis zum Finale deinen eigenen Kometen haben.” Kai erwiderte zunächst nichts, denn er wusste nicht, ob die Frage, die ihm auf der Zunge lag, angebracht war. Vor seinem inneren Auge stand ein Bild, das er vor dem heutigen Tag zum letzten Mal im Stadion in Russland erblickt hatte. Eine riesige Kuppel aus Eis, die hoch über ihm aufragte. Jeder Laut versickerte in den verwinkelten, glatten Wänden und kaum ein Lichtstrahl gelangte durch sie hindurch. Seine Erinnerungen an das Turnier in Moskau waren noch immer klar, doch es gab einen Unterschied: Damals hatte er das Eis nur von außen gesehen. „Was ich heute von dir gesehen habe, war ziemlich beeindruckend”, fing er schließlich vorsichtig an. „Warum nutzt du diese Techniken nicht in deinen Battles?” Yuriy hob den Blick erneut zum Himmel und ließ sich Zeit mit der Antwort. „Ich habe diese Techniken angewendet, um Menschen zu verletzen”, sagte er dann. „Und irgendwie waren es nie meine Techniken, sondern Volkovs. Momentan bin ich vielleicht nicht so stark, wie ich sein könnte, aber zumindest kommt alles was ich tue von mir selbst. Trotzdem. Inzwischen finde ich den Gedanken gut, dass du einen roten Kometen haben wirst. Vielleicht gelingt es uns, die Holy Beast Weapon in etwas zu verwandeln, das … zumindest nicht den gleichen Schrecken verbreitet.” Kai nickte nur und legte den Kopf in den Nacken. Das war es wohl, was Neo Borg ausmachte: Die Unabhängigkeit von Volkov. Natürlich wollte Yuriy das Turnier ohne die alten Tricks gewinnen. Es hätte ihm vorher klar sein können. Aus den Augenwinkeln sah er, wie der andere sich ihm zuwandte und ihn von der Seite betrachtete. Ihm wurde ein wenig mulmig unter diesem Blick, doch Yuriy machte keine Anstalten, zu sprechen. „Möchtest du ein Foto?”, fragte er schließlich sarkastisch. „Hm. Vielleicht?” Nun drehte er sich zu Yuriy. „Dein Ernst?” „Was? Du siehst hübsch aus in dem Licht. Gar nicht mehr so grau wie vorher. Warte…” Und bevor Kai realisierte, was gerade geschah, hatte der andere sein Handy aus der Tasche gezogen und ein Foto gemacht. Dann drehte er das Gerät herum, um ihm das Display zu zeigen. „Siehst du?” Kai hatte schon bessere Fotos von sich gesehen, aber darauf ging er nicht ein. „Dir ist klar, dass ich jetzt auch eins von dir mache, oder?”, fragte er und holte nun ebenfalls sein Telefon hervor. Es war ein wenig moderner und konnte aufgeklappt werden, dadurch hatte es einen größeren Bildschirm. „Wir können eins von uns beiden machen!”, schlug Yuriy vor. „Das kriegen wir doch nie hin…” „Ach was, gib schon her. Und komm ein bisschen ran zu mir, sonst wird das nichts.” Die ersten Versuche gelangen tatsächlich nicht, denn es war schwieriger als gedacht, das Handy umgedreht so vor sich zu halten, dass sie wirklich beide im Bild waren. „Oh Gott, Yuriy, jetzt hör halt auf!”, rief Kai, konnte sich aber angesichts des wirklich ungünstigen Bildausschnitts, den sie gerade betrachteten, ein Prusten nicht verkneifen. Der Rothaarige hob noch einmal das Handy. „Komm schon, eins noch, na los! - Verdammt, das war der falsche Knopf, was zur Hölle… Lach mich nicht aus!” Doch Kai konnte sich nicht länger zurückhalten und steckte am Ende Yuriy mit an. Der legte einen Arm um ihn und drückte ihn an sich, sodass Kai den Kopf in seine Halsbeuge legen konnte. Es tat gut, sich so nahe zu sein, gerade nach einem Tag wie diesem. „Aah, Yuriy.” „Hm?” „Scheiße romantisch ist das.” „Jep.” Kai zögerte kurz. „Ich mag dich”, sagte er dann. Yuriy lehnte den Kopf an seinen. „Ich dich auch, Zalatoj.” Später lehnte er an der Sonnenuhr, die am höchsten Punkt des Plateaus errichtet worden war, skippte durch die misslungenen Fotos auf seinem Handy und musste immer noch schmunzeln. Es wurde sehr langsam dunkel, doch noch immer waren die anderen nicht aufgetaucht. Bis er schließlich Schritte hinter sich hörte, leicht und sicher. Es war Rei. „Kai?“, sprach er ihn an, „Bist du wegen Takao hier?“ „Ich weiß nicht, wovon du sprichst”, entgegnete er und klappte wie nebenbei sein Handy zu. Rei lächelte müde. „Wie geht’s dir so?“, fragte er dann, „Ich meine, mit Neo Borg. War ziemlich…überraschend. Gelinde gesagt. Du solltest dir wirklich mal angewöhnen, den Leuten Bescheid zu sagen, bevor du das Team verlässt.“ Stirnrunzelnd drehte Kai sich zu ihm. Er hatte jetzt wirklich keine Lust, diese ganze Geschichte noch einmal durchzukauen. „Rei. Bitte.” „Ist ja gut.” Rei schob die Hände in die Taschen und ließ den Blick schweifen. „Tja. Halbfinale, was?”, fing er dann wieder an. Kai brummte. „Ist Lai wieder fit?”, fragte er. „Er hat ja zwischenzeitlich etwas geschwächelt.” „Das gleiche könnte ich von deinem Partner auch behaupten”, entgegnete Rei. „Keine Sorge, Yuriy ist bereit, euch in den Hintern zu treten.” „Etwas anderes habe ich auch nicht erwartet.” Zum ersten Mal klang Reis Stimme nicht mehr gepresst. „Weißt du, egal was das Halbfinale bringt, wir sollten uns danach treffen“, sagte er, „Mit den Teams, meine ich. Lass uns irgendwas machen. Es ist dann aus sportlicher Sicht sowieso alles geklärt zwischen uns. Und, ganz ehrlich, in einem Team, wo dir jeder stundenlang in den Ohren liegen kann, vermisse ich die Gespräche, pardon, die Monologe, die ich in deiner Anwesenheit halten kann.“ Kai zuckte die Schultern. Seine Mundwinkel hatten sich bei Reis letztem Satz ein Stück gehoben. „Okay.“ Kurz darauf stieß Max zu ihnen. Seine Anwesenheit lockerte die Stimmung zwischen ihnen, sowohl von Kai als auch von Rei fiel die letzte Anspannung ab. „Ich hab Rick unten bei Yuriy gelassen, ich hoffe, sie schlagen sich nicht die Schädel ein”, sagte Max und wies mit dem Daumen über die Schulter. „Rei, sag mir bitte nicht, dass du hergetrampt bist oder sowas verrücktes.” „Ich hab ein Taxi genommen!”, antwortete Rei entrüstet, als könnte er nicht glauben, was Max ihm da zutraute. Kai schmunzelte, denn dieser Austausch allein führte ihn zurück zu den vielen Tagen und Nächten, die sie als Team miteinander verbracht hatten. Rei reiste tatsächlich ziemlich oft per Anhalter, wenn es keine andere Möglichkeit gab, und Max machte sich selbst im Nachhinein immer viel zu viele Sorgen, sobald er davon erfuhr. „Habt ihr eigentlich vor heute miteinander gesprochen?”, fragte Kai. Seine ehemaligen Teamkollegen sahen sich pikiert an. „Nicht wirklich”, gab Rei zu, „Ich...hatte viel zu tun mit Baihuzu. Habt ihr?” „Ja”, antwortete Max ungerührt, „Ein paarmal sogar. Was ist mit Takao? Bis auf Madrid hatte ich so gut wie keinen Kontakt zu ihm.” „Nur ganz flüchtig”, sagte Rei und Kai seufzte. „Er hat mich heute angerufen, wegen des Treffens. Ansonsten - nichts.” Rei verzog den Mund und auch Max machte ein vielsagendes Gesicht. Er wusste, was ihnen auf den Zungen lag: Kai hatte ebenso keine Anstalten gemacht, sich bei Takao zu melden. „Das war ziemlich uncool, Leute”, sagte Max schließlich, „Wir waren zwei Jahre lang ein Team. Das hätten wir besser lösen können.” Ob Rei sich ebenfalls am liebsten mit ein paar Ausreden verteidigt hätte, wusste Kai nicht. Sie gaben beide nur ein wenig aussagekräftiges Brummen von sich. „Ich glaube nicht, dass es gut ist, vor dem Finale noch irgendein Drama vom Zaun zu brechen”, meinte Rei, „Wir sollten abwarten, wie die Stimmung nach dem Turnier ist.” Er sagte es zwar nicht, doch Kai wusste, was er meinte: Die wirkliche Frage war, ob die Bladebreakers noch einmal zusammenkommen würden oder ob das, was passiert war, zu schwer wog, um noch mal zusammenzuarbeiten. Kai hätte zu diesem Zeitpunkt keine Antwort darauf gewusst. „Leute.” Max deutete den Hügel hinunter. „Dort kommt Takao.” Unbewusst richtete Kai sich auf, stellte sich gerader hin. Es war unverkennbar Takao mit dem Basecap und der roten Jacke. Etwas jedoch war anders im Vergleich zu den letzten Tagen. Takao war nicht er selbst gewesen, sondern müde und launisch und uninspiriert. Er hatte wie abgestumpft gewirkt, als hätte ein schmutziger Nebel ihn eingehüllt. Dieser Nebel war nun verschwunden. Als er sich vor ihnen aufbaute, erkannten sie, dass sein Elan zurückgekehrt war. Er ließ Dragoon von seinem Starter zischen und der Blade drehte rasend schnell Kreise vor ihnen. Kai hob die Augenbrauen. Es schien, als hätte der Weltmeister sich wieder gefangen. „Ich verspreche euch, ich werde alles geben!”, sagte Takao und viel mehr musste auch nicht gesagt werden. Ein Schwur hing in der Luft. Kai spürte, wie Suzaku auf die anderen drei Bit Beasts reagierte. Byakko, Genbu, Seiryu - er konnte ihre Auren in der Luft fühlen und wie Suzaku sich mit ihnen verband. In diesem Moment waren sie wieder ein Team und jeder von ihnen konnte ahnen, was die anderen drei dachten. Sie alle wollten sich beweisen, sie alle wollten diese Rivalität, die zwischen ihnen herrschte. Es musste geklärt werden, ein für allemal. Dann konnten sie, vielleicht, wieder als eine Einheit Kämpfen. Kai senkte den Kopf, sodass ihm die Haare vors Gesicht fielen, und schloss kurz die Augen. Ihm war schwindelig, hinter seinen Lidern tanzten bunte Flecken, in seinen Ohren war ein Rauschen, das nur sehr, sehr langsam wieder verklang. Er spürte Suzaku, und auch wenn sich der Rauch im Beystadium noch nicht vollständig gelichtet hatte wusste er, dass Dranzer noch immer rotierte. Hatte er gewonnen? So schnell? Viel Zeit konnte nicht vergangen sein, auch wenn sein Körper geschunden war wie nach mehreren Stunden intensiven Trainings. Rei hatte ihm keinen einzigen Augenblick gelassen, um nachzudenken, eine Strategie aufzubauen. Sobald er meinte, eine Lücke in der Verteidigung des anderen zu sehen, musste er dies sofort ausnutzen, bevor sie sich wieder schloss. Keine Zeit, um zwei Züge vorauszuplanen oder auch nur zu versuchen, ein Muster in den Angriffen des anderen zu erkennen. Rei war verdammt gut. Endlich drangen wieder Geräusche zu ihm durch. Das Stadion war in Lärm getaucht und DJ brüllte unmittelbar neben ihm irgendetwas ins Mikro. Kais Augen fokussierten Dranzer, der nun zu erkennen war, und dann bemerkte er Driger, der ebenfalls noch immer Kreise zog. Ein ungläubiger Laut entwich ihm. Rei war nicht geschlagen. Aber wo war er? Vorsichtig hob er den Blick. Dort waren Baihuzu, aufgelöst wie er sie noch nie gesehen hatte. Und das wollte etwas heißen, waren sie doch ein Team, das seine Emotionen wie auf einem Banner vor sich her trug. Mao diskutierte heftig mit DJ und erst jetzt dämmerte Kai, dass dieser gerade versuchte, ihn zum Sieger des Matches zu erklären. Warum? Driger war doch noch da… Und dann sah er ihn. Rei. Er lag bäuchlings auf der anderen seite der Bowl und rührte sich nicht. Lai stand hinter ihm und es schien ihn seine gesamte Willenskraft zu kosten, nicht zu seinem Partner zu laufen. Denn wenn er das Podest betrat, würde sein Team disqualifiziert werden. Wie lange lag Rei schon dort? Hatte wirklich er, Kai, ihn so zugerichtet? Kai spürte Panik in sich aufsteigen. Sein Atem begann zu zittern. Dieser Anblick - die zerstörte Bowl, Rei dort mit dem Gesicht im Dreck - und die Schreie, diese verdammten Schreie um ihn herum, zogen Parallelen, die nur in seinem Kopf existierten. Kämpfe bis zum Tod. Beybattles, nach denen niemand sagen konnte, wohin die Verlierer gebracht wurden - und niemand fragte, warum diese Jungen dann nie wieder gesehen wurden. Die Angst, mit der sie angetreten waren und die während des Battles in den eigenen Eingeweiden wütete, und dann die Erleichterung, gewonnen zu haben, die irgendwann alle Sorge um das Schicksal des Gegners überwog. Kai wusste, dass diese verzweifelte Angst ihn noch heute beeinflusste. Wenn er in die Ecke getrieben wurde, brachte sie ihn dazu, anzugreifen, sich so lange zu wehren bis er wieder frei war. Er musste diese Gedanken stoppen. Sein Atem ging unruhig und zischend und es war nur dem Geräuschpegel zu verdanken, dass niemand es bemerkte. Und dann regte Rei sich. Sein Team bemerkte es als erstes und zunächst erkannte er nur dank ihrer überschwänglichen Reaktion, dass sein Gegner wieder zu sich kam. Kurz darauf sah er es selbst. Unendlich langsam kam Rei wieder auf die Beine, machte einen unsicheren Schritt zur seite, dann stand er fest. Kai fixierte ihn, atmete einmal tief durch. Er war froh, dass der andere es geschafft hatte. Gleichzeitig bereitete er sich so gut es ging auf das vor, was nun kam. Rei war wie Kinomiya. Mochte er auch beinahe geschlagen sein - wenn er sich wieder aufrappelte, war sein Konter stärker als alles zuvor. Er hatte die Eigenschaft, seine Kraft sprunghaft zu vergrößern. Das war das Gefährliche an ihm. Kais Haut begann zu kribbeln. Die Luft um ihn herum knisterte, während Rei Energie für eine Attacke sammelte. Dann schoss Driger davon, beseelt von Byakko, zuckte leuchtend durch die Bowl. Unbewusst hielt Kai den Atem an, jeder Nerv war auf Dranzer ausgerichtet, seine ganze Aufmerksamkeit galt den Ausweichmanövern, die er fahren musste, um Driger zu entkommen. An Angriff war noch nicht einmal zu denken. Natürlich funktionierte das nicht lang. Rei kesselte ihn ein und landete schließlich einen mächtigen Schlag. Im letzten Moment stemmte Kai sich gegen die Druckwelle - ausweichen war nicht möglich. Eine Wolke aus Staub und Rauch hüllte ihn ein, winzige Steinsplitter bohrten sich in seine Haut. Wahrscheinlich hatte Dranzer bei seinem Aufprall die Bowl beschädigt. Auf einmal knickten seine Knie ein, ein kurzer Anflug von Schwäche. Er fing sich mit beiden Händen ab und verhinderte so, ganz zu Boden zu gehen. Dann hörte er das Sirren seines Blades vor sich. Er war also noch immer ungeschlagen. Gut. Der Rauch verzog sich und Kai kam wieder auf die Beine. Ihm gegenüber war Rei, schwer atmend, und schien seinen Augen nicht trauen zu können. Sie musterten sich stumm. In diesem Moment wurde Kai klar, dass er tatsächlich alles in diesen Kampf investieren musste, was er hatte. Keine Geheimnisse mehr, keine Asse im Ärmel. Rei hatte es geschafft, das Letzte aus ihm herauszuholen. Also schön. Er griff an seinen Hals und nahm seinen langen, weißen Schal ab, der ihn merklich beengte. Es war mehr eine symbolische Geste, doch die Bewegungsfreiheit war nötig für das, was als nächstes kam. Spätestens jetzt wussten alle im Stadion, dass es ernst wurde. Stille trat ein. Doch auch Rei hatte noch nicht alles gezeigt. Er startete einen neuen Angriff. Byakko hüllte ihn in schillerndes, grünes Licht, das Kais gereizten Augen weh tat. Dann war Driger verschwunden. Seine Rotation hatte sich derart erhöht, dass niemand mehr imstande war, seinen Bewegungen zu folgen. Jedoch war er noch immer zu hören. Kais Sinne waren nun bis zum Äußersten angespannt. Manchmal schien die Luft zu flirren oder etwas schimmerte plötzlich im Licht der Scheinwerfer. Driger. Er wartete ab, ob sich sein Verdacht bestätigte. Ja! In seiner Brust regte Suzaku sich triumphierend. Sie wollte fliegen, sie wollte kämpfen. Es war soweit: Die Wochen in Irkutsk, das ewige Anrennen gegen den Felsen, das Training während des Turniers - alles fand in dieser Sekunde sein Ende: Durch seine Adern schoss Hitze, dann ließ er Suzaku frei. Sie legte ihre Flügel um ihn, ihre Präsenz war wie ein sicherer Kokon. Er spürte die zarten, warmen Federn über seine Arme und sein Gesicht streichen, ein kurzer Moment, den sie nur in Kämpfen wie diesen teilten, wenn sie sich manifestierte. Sie nahm sich immer Zeit für diese Begrüßung, wenn sie in seine Welt trat, immer. Dann hüllte sie ihn in ihre Flammen. Kai liebte dieses Gefühl. Es war, als würde er tatsächlich verbrennen, in Suzakus Energie aufgehen. Sie war überall, füllte die ganze Umgebung aus, und vor allem war sie gleichzeitig in ihm. Es war ein Rausch, sie waren eins und er hatte für einen Augenblick Anteil an ihrem unendlichen Wissen und ihrer Kraft. Wie sollte dieses Band noch verstärkt werden? Er spürte, dass sie seinen Körper mit Leichtigkeit vernichten konnte, und es wäre okay gewesen, denn was bedeutete schon ein irdisches Leben angesichts dieser Macht? Das alles dauerte nur wenige Sekunden an - dann sandte er den Blazing Gig Tempest in Reis Richtung. Suzaku breitete ihre Schwingen aus und fuhr auf das Stadium nieder. Und Byakko musste sich vor ihr beugen. Ihre Euphorie durchfuhr Kai wie ein Schauer, während Driger in die Höhe geschleudert wurde und Rei beim Herabstürzen nur knapp verfehlte. Sein Haarband zersprang und das schwarze Haar fiel kaskadenartig hinab. Kai hatte gewonnen. Suzaku war verschwunden, sie zog sich langsam in ihn zurück. Es war kaum auszuhalten. So gut es sich anfühlte, wenn er sie fliegen ließ, so schrecklich war es, sie wieder in sich aufzunehmen. Sein Körper brannte, und dieses Mal war da keine Euphorie, sondern nur nackte Erschöpfung. Ein Würgreiz kroch seine Kehle hinauf und er presste die Lippen fest aufeinander, um ihn zu unterdrücken. Dranzer schoss hoch, damit er ihn auffangen konnte, dann drehte er sich abrupt um. Er musste weg von hier. „Kai!” Das war Reis Stimme, schwach und dennoch fest und stolz. Der Ruf ließ ihn innehalten, doch er hatte nicht die Kraft, zurückzublicken. „Viel Glück für das Finale!” Er reckte die Faust, in der er noch immer seinen Blade hielt, in die Luft. Zu mehr war er nicht mehr imstande. Dann stieg er die Stufen hinab und lief an seinem Team vorbei. Boris und Sergeij standen direkt neben der Bowl und schienen etwas zu ihm zu sagen, doch ein hohes Rauschen breitete sich in seinem Kopf aus und verschluckte alle Geräusche. Yuriy sah er nicht. Es kostete den verbleibenden Rest seiner Kraft, einen Fuß vor den anderen zu setzen, bis er schließlich im dunklen Gang zu den Umkleidekabinen stand. Dort brach er zusammen. Sein Körper schlug hart gegen die Wand und er rang panisch ein paar Mal nach Luft. Erst dann öffnete er die Hand, um zu sehen, wie viel Schaden Dranzer genommen hatte. Der Blade hatte einige tiefe Kratzer. Je länger er ihn ansah, desto schlimmer wurde die Übelkeit, die in ihm aufstieg. Ein Klopfen riss ihn aus dem Schlaf. Müde blinzelte Kai gegen die Dunkelheit an, doch sie verschwand nicht. Es war Nacht geworden und Yuriy war nicht da. Wieder ein Klopfen. Schwerfällig richtete er sich auf, stieg aus dem Bett und ging, unsicher vor Müdigkeit, zur Tür. Als er öffnete, standen Boris und Sergeij vor ihm. „Wir müssen reden“, sagte Boris und Kai ließ sie ein, schaltete nebenbei auch gleich das Licht an. „Wo ist Yuriy?“, fragte er und rieb sich noch einmal die Augen. In seinem Körper breitete sich langsam der dumpfe Schmerz aus, den das Match gegen Rei hinterlassen hatte. „Das tut nichts zur Sache“, entgegnete Boris, der sich inzwischen in einen der Sessel gesetzt hatte und auffordernd zu Kai hochsah. Sergeij lehnte sich neben dem Fenster an die Wand. „Während du hier herumgekomat hast, haben wir uns mit ihm unterhalten. Über euch.“ Diese Worte ließen Kai seine Müdigkeit vergessen. Es war unmissverständlich, warum die beiden hier waren. Kurz wurde er wütend. Warum passierte das ausgerechnet jetzt, nach diesem Match? - Doch er hatte damit gerechnet, dass es irgendwann so kommen würde. Es war jetzt genauso gut wie zu jedem anderen Zeitpunkt. Er suchte Boris‘ Mimik und Körperhaltung nach Anzeichen für Aggression ab, doch er fand keine. „Er…hat euch alles erzählt?“, fragte er schließlich zögernd und nahm wieder auf seinem Bett Platz. „Ja“, antwortete Boris, „Zumindest alles Nötige, denke ich. Nicht, dass ich Details wissen will.” „Und warum seid ihr dann hier?” Dabei wanderte sein Blick zu Sergeij, der ihn ausdruckslos erwiderte. Boris seufzte und lehnte sich vor, stützte die Ellenbogen auf die Oberschenkel. „Die Sache ist die, Kai…ich war nicht wirklich verwundert, als er mit der Sprache rausgerückt ist. Um ehrlich zu sein mache ich mir schon länger Gedanken darüber, warum er sich so wenig für…Frauen interessiert.“ Kai sagte nichts und ein unangenehmes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Er war müde, er hatte keine Lust auf eine Grundsatzdiskussion. Doch es war klar, dass es irgendetwas gab, das Sergeij und Boris durch den Kopf ging, es wollte nur keiner aussprechen. Also ging Kai irgendwann in die Offensive: „Was ist los? Sind wir in euren Augen jetzt keine richtigen Männer mehr?” „Verdammt, Hiwatari, das bist du sowieso nicht!”, entgegnete Boris prompt. Doch dann war es Sergeij, der versuchte, alles in Worte zu fassen. Und das war gut so, denn Kai hätte am liebsten die Faust in Boris’ Gesicht versenkt. Es war sein Glück, dass er zu erschöpft dafür war. Sergeij kam einen Schritt näher und setzte sich auf die Armlehne des Sessels. „Yuriy hatte generell nie viel Interesse an anderen Menschen”, sagte er, „Wahrscheinlich ist Volkov daran Schuld. Yuriy und er standen sich sehr nahe. Vielleicht hat Yuriy ihm vertraut, wir wissen es nicht. Er spricht nicht darüber. Und das ist das Problem.” Seine Kiefermuskeln traten hervor. „Yuriy vertraut niemandem so einfach, doch inzwischen scheint er dir zu vertrauen, und das viel zu sehr.” Für Kai wurde in diesem Augenblick klar, warum seine Teamkollegen ihn allein aufgesucht hatten. „Ihr denkt, ich bin ein schlechter Einfluss”, stellte er fest. „Ihr schiebt es auf Yuriys verdorbene Kindheit, dass er gar nicht anders kann, als sich mir in die Arme zu werfen - einem treulosen, männerfressenden Arschloch.” Er verzog den Mund. „Selbst ihr müsstet doch wissen, dass das so nicht funktioniert.” „Es passt nicht zu Yuriy, sich Hals über Kopf in so etwas reinzuwerfen”, fuhr Boris ihn an, „Ganz gleich, ob er jetzt tatsächlich … schwul wäre oder was auch immer. Es passt nicht zu ihm und deswegen haben wir uns gefragt - was hast du mit ihm gemacht?” Kai hob die Augenbrauen. Ein bisschen konnte er die beiden ja verstehen. Es musste sie verwirren. Boris’ letzte Frage war so ehrlich hilflos gewesen, dass er beinahe etwas Mitleid bekam. „Habt ihr Yuriy denn mal direkt danach gefragt?”, sagte er, „Ob er Männer mag, meine ich.” Boris seufzte und rieb sich mit der Hand übers Gesicht. „Ja”, antwortete er, „Und es war sehr viel Vodka nötig, um das zu tun. Er hat damals verneint, aber… Yuriy hat schon immer Dinge verschwiegen.” „Er hat nicht verneint”, brummte Sergeij da, „Du hast nur ein Nein hören wollen. Er hat gesagt, er macht sich über so etwas keine Gedanken.” Kai schwieg, denn er wusste nicht, was er hätte beitragen können. Boris wirkte in diesem Moment sehr pikiert und Sergeij hatte auf vielsagende Weise den Mund verzogen. Wäre es keine so ernste Situation gewesen, hätte er vielleicht lachen mögen. Neo Borg konnten manchmal solche Idioten sein. „Erwartet ihr jetzt von mir, dass ich die Sache beende?”, sagte er, obwohl das für ihn erst recht nicht in Frage käme, wenn es ihm irgendwer zu befehlen versuchte. Und vor allem wäre das keine Lösung. Doch dieses Mal überraschten die anderen beiden ihn wirklich. Sie warfen sich einen kurzen Blick zu, dann räusperte Sergeij sich. „Ich glaube, ja, im Grunde wollten wir das”, sagte er, „Aber ich glaube, uns ist allen klar, dass … das so nicht funktioniert, wie du so schön gesagt hast.” „Ganz ehrlich, Hiwatari, ich kann mir absolut nicht vorstellen, was er an dir findet”, fügte Boris hinzu, „Aber fest steht auch, dass er Frauen nie so angesehen hat, wie dich. Und als er dich nicht umgebracht hat, als du ihm nach der Sache mit Barthez hinterhergelaufen bist, wurde uns einiges klar.“ An seinen Nasenflügeln entstanden kleine Falten; er wirkte befremdet, aber nicht angeekelt. „Ich wünschte, du hättest ihn da irgendwie … reingezogen, denn dann könnte ich dir einfach die Fresse polieren. Es scheint nun aber so, als ob Yuriy bei klarem Verstand ist.” „Kam mir bisher auch so vor”, entgegnete Kai trocken. „Wie dem auch sei”, sagte Sergeij, „Ich weiß auch nicht, was das ist mit euch. Vielleicht eine Spielerei, vielleicht habt ihr nur ein bisschen Spaß. Was auch immer, ich will nur sagen - pass ein bisschen auf mit ihm. Eben weil … weil es Yuriy ist.” Kai sah von einem zum anderen, wie sie vor ihm aufragten, müde und doch wachsam. Sie hatten bei diesem Turnier ebenfalls schon einiges durchgemacht, auch ohne selbst gekämpft zu haben. Wahrscheinlich wurde das viel zu wenig gewürdigt. Und nun wurde ihm auch etwas anderes bewusst: Nicht nur Yuriy sorgte sich um das Team, Boris und Sergeij trugen ebenfalls ihren Teil dazu bei, dass die Einheit nicht zerfiel. Sie passten auf ihren Teamchef auf. „Ihr werdet mir wahrscheinlich nicht glauben, aber ich will tatsächlich nichts Böses”, sagte Kai, „Und ich glaube schon, dass Yuriy weiß, was er tut.” „Mag ja sein”, erwiderte Boris, „Aber das heißt noch lange nicht, dass ich dir nicht den Hals brechen kann, wenn du ihn verletzt.” Kai schmunzelte. „Nun, ich denke, ich habe verstanden”, sagte er. Kai hatte Rei immer für einen ziemlichen Beau gehalten, beinahe schon für eine ästhetische Erscheinung, der kein äußerer Umwelteinfluss etwas zuleide tun konnte. Er hatte sich wohl geirrt. Als sie sich ihm und dem Team näherten, erkannte Kai deutlich die Blessuren, die ihr Kampf auch auf ihm hinterlassen hatte. Rei war außerdem noch recht blass, so wie er selbst, nur dass es bei ihm aufgrund seiner normalerweise sonnengeküssten Haut gleich noch ein wenig ungesünder aussah. Trotzdem lächelte er ihnen fröhlich entgegen, ganz so, wie Kai ihn kannte, nicht, wie er sich den Kameras während der letzten Wochen präsentiert hatte. Unerbittlich und stark. Jetzt schien ihm die sprichwörtliche Last des Turnieres von den Schultern genommen worden zu sein. Unwillkürlich fühlte Kai leisen Neid in sich aufsteigen. „Wie geht es dir?“, fragte er unverbindlich nach einer kurzen Begrüßung und Rei tat alles mit einem Wink ab, erzählte stattdessen, dass es Lai weitaus schlimmer getroffen hatte und er froh war, dass dieser sich nun endlich eine längere Pause gönnen durfte. Dieses Turnier zehrte an ihnen, auch wenn sie nicht direkt an den Battles beteiligt waren: Ein kurzer Blick auf Mao verriet Kai, dass auch sie Nächte durchwacht haben musste, genauso wie Gao und Kiki, die permanent zwischen Ärgerlichkeit und Zufriedenheit schwankten. Schließlich war die Weltmeisterschaft nun für sie vorbei. Da die meisten von ihnen noch zu jung waren, um das Nachtleben auszukosten, beschlossen sie, in einen nahegelegenen Park zu gehen und sich dort einen Platz im Gras zu suchen. Während die Baihuzus vorauseilten, schlenderten die Neo Borgs ein wenig hinterher. Allerdings fanden Lai und Mao sich irgendwann bei den Russen ein, während Kai und Rei in der Mitte liefen und sich leise unterhielten. „War es für dich auch so schwer, Teamchef zu sein?“, fragte Rei, „Manchmal denke ich, die Verantwortung ist zu groß, und das trotz Taos, der uns ja schon viel von dem organisatorischen Kram abnimmt.“ „Ihr wart schwerer zu hüten als ein Sack Mücken“, sagte Kai, „Aber man konnte sich daran gewöhnen. Und ich hab euch ja auch immer etwas stiefmütterlich behandelt.“ „Untertreib nicht; du warst eine ziemliche Rabenmutter.“ „Ja, weil ihr es auch jedes Mal sofort geschafft habt, irgendwie Mist zu bauen, sobald ich euch aus den Augen gelassen hab!“ Rei lachte, doch als er „Das stimmt!“ hinzufügte, sah er etwas trübsinnig aus. Kai sprach ihn nicht darauf an, er konnte sich denken, woran der andere gerade dachte. „Es war vieles leichter damals“, sagte Rei schließlich. Kai hob unverbindlich die Schultern. Bei sich dachte er, dass Rei es sich selbst nicht leicht machte mit seinem Ehrgeiz und den Ansprüchen, die er dadurch an Lai und die anderen stellte. Aber wer war er, dass ausgerechnet er ihm das vorhielt? Schließlich hatte er gerade erst seinen eigenen Teamchef förmlich dazu gezwungen, ihm eine potenziell tödliche Attacke beizubringen… Aus den Augenwinkeln sah er, wie Rei einen Blick zurück warf. „Du bist zufrieden mit deinem Team, oder?“, stellte der Schwarzhaarige fest, „Mit Neo Borg. Yuriy ist ein guter Tagteampartner für dich. Das sieht man an euren Battles.“ „Ja, weil wir nie im Tagteam spielen“, entgegnete Kai belustigt, „Und nicht viel reden. Zumindest nicht während der Matches.“ „Aber ihr streitet auch nicht.“ Darauf erwiderte Kai nichts. Er wusste, dass Rei und Lai Schwierigkeiten gehabt hatten – jeder wusste das. Es lag wohl auch an den Rängen, die sie im Team Baihuzu einnahmen und vielleicht auch an der veränderten Hierarchie. Schließlich war auch Lai Teamchef gewesen. „Yuriy und ich haben oft gestritten“, sagte Kai leise, „Am Anfang. Er hat mir eins aufs Maul gegeben.“ „Uh, was?“ Das Geräusch, das von Rei kam, schien ein mühsam in Schnaufen umgewandeltes Auflachen zu sein. „Ich hatte ein Veilchen“, ergänzte Kai. Jetzt lachte Rei wirklich. Ein paar Minuten später fanden sie einen Platz auf der Wiese im Park, der groß genug für sie alle war. Es stellte sich heraus, dass beide Teams zuvor für Kekse und andere Snacks gesorgt hatten, sodass ein großer Haufen knisternder Tüten in der Mitte ihres Kreises entstand; doch als Boris eine Plastikflasche hervorzauberte, die, wie er kurz darauf gestand, Wodka enthielt, wurde er von Mao mit einem bösen Blick gestraft und empfing die pflichtschuldig von Yuriy ausgesprochene Rüge mit theatralisch zwischen die Schultern eingezogenem Kopf. Die Flasche wurde trotzdem kurze Zeit später geöffnet und machte die Runde. Die aufkommende Dunkelheit wurde mit Kerzen verscheucht. Sobald Team Baihuzu bemerkte, dass die Russen ihnen nicht bei jeden zu laut gesprochenem Wort den Kopf abreißen würden und tatsächlich über Gesichtsmuskulatur verfügten, taute es merklich auf. Wahrscheinlich tat auch der Alkohol sein übriges. Rei erzählte, schon leicht lallend, ein paar Anekdoten aus dem Turnier im China Tower von vor zwei Jahren. Spätestens, nachdem er detailverliebt erläuterte, wie er Takao eines schönen Tages mit einer Chilischote geweckt hatte, war jede Anspannung verflogen. Irgendwann stieß Boris Yuriy und Kai an und deutete verstohlen auf Sergeij, der sich tatsächlich mit Mao in gebrochenem Englisch über Gemüsepfannenrezepte unterhielt. „Schön, sie so zu sehen”, murmelte Rei, sodass Kai glaubte, es als einziger gehört zu haben. Vielleicht meinte der andere sein gesamtes Team, doch seine Augen ruhten auf Mao. Er kannte eigentlich die ganze Geschichte von Rei und Mao. Es hatte damit angefangen, dass er Rei eines Tages wegen mangelnder Konzentration beim Training zur Seite genommen hatte. Bei einer Tasse Tee hatte der ihm lang und breit von einer Beziehung, die keine sein konnte, erzählt – es war ein Problem, dass Rei nur noch selten Zeit in seiner Heimat verbrachte, und irgendwie hatten anscheinend beide Angst, dass ihre Freundschaft leiden könnte, wenn sie einen Schritt weiter gingen. Kai jedenfalls war irgendwie froh gewesen, dass sein einziges Problem zu diesem Zeitpunkt die Balance seines Blades war. „Seid ihr immer noch nicht zusammen?”, fragte er daher unumwunden. Daraufhin errötete Rei und griff hastig nach der Wodkaflasche, die just in diesem Moment an ihn weitergereicht wurde. Er nahm einen viel zu großen Schluck, zwang diesen aber hinunter, anstatt sich vor den anderen die Blöße zu geben. Boris, der das bemerkt hatte, machte ein beifälliges Geräusch, bevor er ihm die Flasche abnahm. „Kai, so einfach ist das nicht!”, sagte Rei schließlich. „Ich glaube, sie hat auch ein wenig Angst vor Lais Reaktion.” „Wieso das denn; ihr Bruder weiß doch seit Jahren, dass sie in dich verschossen ist. Und du in sie.“ „Keine Ahnung… Ich denke, sie hat Angst, dass meine Freundschaft mit Lai dadurch beeinflusst werden könnte oder so.“ Er warf ihm einen missmutigen Blick zu. „Es ist halt nicht so einfach, wenn man miteinander aufgewachsen ist. Das kannst du nicht vergleichen mit so Sachen wie - wie You Know Who.” „Rei, jetzt fang doch bitte nicht wieder- ” „Wer ist You Know Who?”, wurde er unterbrochen. Von ihnen unbemerkt hatte Yuriy sich zu ihnen gebeugt. Wahrscheinlich lauschte er ihrem Gespräch schon seit einer ganzen Weile - sie waren der Einfachheit halber bei Englisch geblieben. „Kais Ex”, entgegnete Rei und Kai, der zwischen beiden saß, zuckte kurz zusammen. Yuriy hob eine Augenbraue. „Kais Ex ist Lord Voldemort?” „Mann! Er hat dir nicht davon erzählt?” Reis Hand fuhr auf Kais Arm nieder. „Okay, nimm dir Popcorn und lehn dich zurück - Von mir erfährst du alles!” Wahrscheinlich kam es ihm gelegen, dass er endlich von seinem eigenen Beziehungsdrama ablenken konnte. Oder es war die schiere Schadenfreude; immerhin gab es nicht oft Gelegenheiten, Kai bloßzustellen. Jedenfalls wurde er plötzlich ziemlich eifrig. „Ich glaube nicht, dass das nötig ist”, sagte Kai, „Du verträgst den Wodka wohl nicht…” „So schlimm?”, kam es leise von Yuriy, doch Rei missverstand die Frage. „Schlimm? Also, der Typ an sich eigentlich nicht - eigentlich überhaupt nicht, wenn du mich verstehst”, sagte er und zwinkerte Yuriy zu. „Ich meine, ich glaube schon, dass ich ganz objektiv beurteilen kann, ob Männer attraktiv sind. Und lass mich dir sagen, Kai hat da bestimmt den heißesten Jurastudenten des ganzen Jahrgangs gefunden.” „... Ein Student?”, fragte Yuriy langgezogen, „So, so.” Kai konnte ihn lediglich hören, denn er hatte, als er erkannte, dass Rei nicht aufzuhalten war, eine Hand über seine Augen gelegt und den Kopf zwischen die Schultern gezogen. Dies war einer der seltenen Momente, in denen er wirklich gern im Erdboden versunken wäre. „Jaja, ich weiß schon, was du denkst”, fuhr Rei fort, „Aber er war noch gar nicht sooo alt - zweites oder drittes Semester, oder, Kai? Wie lange lief das eigentlich genau? Wir haben ja auch erst davon mitbekommen, als die ganze Sache schon wieder den Bach runtergegangen ist. Und das, mein Lieber, war wirklich Drama!” „Hm. Erzähl mir mehr.” Kai gab Yuriy einen Hieb gegen den Oberarm, doch sein Teamchef ignorierte das. Vielleicht sollte er sich stattdessen auf Rei stürzen? „Oh, der Typ hat ihn ständig angerufen und SMS geschickt. Am Anfang war das ziemlich nervig während des Trainings, weil sein Handy auf laut gestellt war. Hat ständig geklingelt. Der hat ganz schön an dir gehangen, oder, Kai?” „Kann ich mir gar nicht vorstellen”, kam es scheinheilig von Yuriy und Rei lachte. „Ich auch nicht! Aber You Know Who war ganz vernarrt in ihn. Krieg ich noch einen Schluck?” Wieder streckte er die Hand nach dem Wodka aus, der just wieder bei ihnen gelandet war, doch Yuriy war klug genug, die Flasche wie beiläufig in die andere Richtung weiterzureichen. „Das reicht jetzt, Rei”, sagte Kai endlich, und zum Glück hörte der andere auf ihn. Daraufhin konnte er das Gespräch wieder in eine andere Bahn lenken. In den nächsten Minuten wurden die Stimmen um ihn herum lauter und ausgelassener. Kai schloss die Augen, denn die paar Schlucke Alkohol, die er getrunken hatte, machten seine Glieder angenehm schwer. Doch dann beugte Yuriy sich zu seinem Ohr und raunte: „Lass uns ein Stück spazieren gehen.“ Damit war er mehr als einverstanden. Als sie aufstanden, hoben nur Rei und Boris, die direkt neben ihnen saßen, kurz den Blick, die anderen bemerkten wahrscheinlich nicht einmal, wie sie gingen. Nach ein paar Schritten hatte sie die Dunkelheit verschluckt. Selbst die Parkwege waren nur mit wenigen Laternen erhellt. Sie waren nicht die einzigen hier, denn man hörte ab und zu Stimmengewirr von kleinen Gruppen auf dem Rasen. Hier und da leuchtete Glut in einem Grill. Nach einer Weile bogen sie in einen schmaleren Weg ein, wo es immer ruhiger wurde. Zu beiden Seiten wuchs nun dichtes Gebüsch, in dem Zikaden zirpten. Ihre Hände fanden sich ganz von allein, Yuriys Finger verschränkten sich mit Kais und er konnte nicht anders, als, wenn auch ungesehen, zu lächeln. Sie verlangsamten ihren Schritt und schlenderten nebeneinander her. „Boris und Sergeij waren bei dir, nicht wahr?”, fragte Yuriy unvermittelt. „Es tut mir leid, wenn sie dich überrumpelt haben. Nach dem Match gegen Baihuzu haben sie mich ausgefragt. Und ich wollte sie nicht anlügen.” „Schon gut”, sagte Kai. Er dachte an das Gespräch mit ihren Teamkollegen zurück. „Ich bin froh, dass sie es wissen”, fuhr er stattdessen fort, „Obwohl sie, glaube ich, sehr skeptisch sind.” Yuriy verzog den Mund, während sie unter einer Laterne hindurchschritten. „Sie scheinen davon auszugehen, dass sich die Sache nach der Weltmeisterschaft sowieso im Nichts verliert.“ Kai runzelte die Stirn und versuchte, seinen Puls zu ignorieren, der plötzlich schneller ging. Yuriys Griff wurde ein wenig fester - vielleicht bildete er sich das auch nur ein. „Sag mal…”, fing er an, „Was macht ihr dann eigentlich, nach der Weltmeisterschaft?” Bevor der ander jedoch antworten konnte, zog er ihn mit sich zu einer Bank, die in einer Nische zwischen den Büschen stand. Sie setzten sich nebeneinander, doch ihre Blicke gingen nach unten. „Das ist noch nicht ganz klar”, sagte Yuriy schließlich. „Nun. Vanja muss noch seinen Abschluss machen. Sergeij und Boris überlegen, die Aufnahmeprüfungen in Archangelsk zu machen. Vielleicht mache ich das auch. Aber das steht alles noch nicht fest, weil die Studiengebühren ziemlich hoch sind. Das geht jedenfalls nicht ohne Nebenjob.” „Wieso Archangelsk?”, fragte Kai ehrlich verwirrt. Diese Stadt war meilenweit von Moskau entfernt. „Uhm … haben wir wirklich nie darüber gesprochen?” Yuriy wirkte etwas pikiert. „Wir sind vor zwei Monaten umgezogen. Nach Severodvinsk. Moskau ist etwas zu teuer für uns geworden.” Darauf wusste Kai erst einmal nichts zu erwidern. Er hatte tatsächlich immer einfach angenommen, dass die anderen noch in Moskau lebten. Von dort waren sie ja auch nach Irkutsk gekommen. Das war jedoch kein Grund, denn natürlich hatte die Hauptstadt die besten Flugverbindungen. Es war leider auch nicht verwunderlich, dass Moskau zum Wohnen zu teuer wurde. Er kannte die Summen, die im Prozess gegen Borg als Entschädigung ausgezahlt worden waren. Sie reichten aus für ein gutes Leben in einer russischen Kleinstadt und eine ordentliche Grundausbildung. Das Studium war da schon nicht mehr eingerechnet. Und darüber hinaus waren erst recht keine weiten Sprünge möglich. „Aber”, sagte er schließlich langsam, während er im Kopf die Optionen durchging, die seinen Teamkollegen dann noch blieben, „Wenn ihr nicht studiert … dann können sie euch einziehen, oder?” Daraufhin lachte Yuriy kurz und freudlos. „Oh, nein. Wir haben Atteste von Kyrill Pavlowitsch bekommen. Das ist tatsächlich die eine Sache, die ich ihm wirklich nie vergessen werde.” Er beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf die Oberschenkel. „Ganz ehrlich, ich würde lieber sterben als noch eine militärische Ausbildung zu machen”, murmelte er und es klang fast, als würde er eher mit sich selbst sprechen. Als hätte er diesen Satz schon mehr als einmal gesagt. Kai nickte nur. Es war nicht einfach, den Wehrdienst zu umgehen, schon gar nicht, wenn die Finanzen nicht stimmten. Er hatte von einigen Abteijungen gehört, die zum Militär gegangen waren - einfach, weil sie nichts anderes kannten. Oder keine andere Möglichkeit hatten. Es war keinesfalls die beste Lösung, und so war er froh, dass seine Teamkollegen das verhindern konnten. Yuriy drehte sich zu ihm um. „Was ist mit dir? Du gehst doch noch in Moskau zur Schule, oder?” „Bei Moskau. Auf ein verdammtes englisches Jungeninternat“, brummte er, „Und auch nur dort, weil die Abschlüsse weltweit anerkannt werden.” „Nun, immerhin ist es in Russland.“ „Es könnte auch auf dem Mond sein. Wir haben einen Besuchstag im Monat.“ „Woah“, machte Yuriy und Kai nickte noch einmal ungesehen. „Jemand darf zu mir kommen, aber mich lassen sie dort nicht weg“, sagte er, „Also bin ich noch für ein ganzes Jahr eingesperrt. Furchtbar praktisch für Großvater.” „Hm. Und die Zugfahrt nach Moskau dauert fast einen Tag. Mal ganz abgesehen von den Preisen“, sagte Yuriy. Kai verbiss sich, zu ergänzen, dass es wohl zu teuer wäre. Flüchtig dachte er an seinen Großvater, doch ihn um Geld zu bitten war aus mehreren Gründen keine Option. Natürlich sorgte er dafür, dass Kai standesgemäß ausgebildet wurde, daher ja auch die Eliteschule, aber Bares sah er von dem Alten kaum einmal. Durch den Sport ließ sich auch nichts verdienen, sie waren nur Amateure. „Schon ironisch”, meinte er, „Man könnte meinen, es ist einfacher, wenn man im selben Land ist.” Yuriy setzte sich nun wieder gerade hin und legte einen Arm um seine Schultern. Diese Geste war ihnen beiden inzwischen vertraut geworden. Kai rutschte ein bisschen näher an ihn heran. „Weißt du”, sagte Yuriy, „Vielleicht sollten wir uns erst Gedanken darüber machen, wenn es soweit ist.” Kai wusste, was er meinte: Lass uns nicht unsere Köpfe darüber zerbrechen. Wir haben jetzt Wichtigeres zu tun. Einerseits begrüßte er das, denn auch er wollte sich viel lieber auf das Finale konzentrieren - es war eine einfache, erfüllbare Aufgabe. Andererseits schlug sein Herz immer noch unangenehm deutlich und eilig. Und dann war da noch dieser Gedanke, den er eigentlich nicht zu Ende bringen wollte. Es war ihm nicht egal, was nach dem Turnier aus ihnen wurde. Kapitel 7: Bakuten I -------------------- Kai blinzelte müde, als das plötzliche Rucken, das durch das Flugzeug ging, sobald es auf der Landebahn aufgesetzt hatte, ihn aus dem Schlaf riss. Er spähte aus dem Fenster und sah, wie sie auf das Terminalgebäude des Flughafens Tokio-Narita zurollten. Vor vier Wochen hatte er diese Stadt Richtung Russland verlassen – irgendwie wollte er nicht recht glauben, dass er nun zurückkehren sollte. Der Flug von Sydney nach Japan hatte neun Stunden gedauert, und nun stand ihnen noch eine Busfahrt nach Bakuten bevor, durch Tokios Vororte bis ans Meer. Das konnte gut und gerne zwei weitere Stunden dauern. Yuriy saß neben ihm und schlief tief und fest; vor ein paar Stunden hatte er sich im Halbschlaf an ihn geschmiegt - was erstaunlich war bei ihrem Größenunterschied, doch sein Leader besaß anscheinend die Gabe, sich richtiggehend zusammenzufalten - und Kai hatte ihn nicht wecken wollen, also hatte er sehr still dagesessen und war schließlich ebenfalls eingenickt. Ein bisschen bereute er das nun, denn sein Rücken fühlte sich sehr verspannt an. Um ihn herum regten sich die anderen Flugreisenden. Die Beyblade-Teams beanspruchten beinahe die halbe Maschine für sich, da sie dieses Mal alle denselben Flug genommen hatten. Nur Barthez Soldiers waren nicht mehr bei ihnen, sondern bereits auf dem Weg zurück nach Europa. Jetzt bewegte sich auch Yuriy und nahm den Kopf von seiner Schulter. „Oh sorry“, murmelte er und gähnte. „Wie spät ist es?“ Kai wusste es nicht. Flüge nach Westen waren seltsam, denn auch wenn sie einen halben Tag in der Luft waren, waren offiziell nur wenige Stunden vergangen. Es musste also früher Nachmittag sein. Zerzaust und müde kletterten sie in den Bus, den die BBA für sie bereitgestellt hatte, und die meisten schliefen auf der Fahrt nach Bakuten erneut ein. Rick, der schräg vor Kai saß, fiel der Kopf nach hinten und er begann, laut zu schnarchen. Niemand hatte die Energie, ihn zu rütteln, damit er aufhörte. In Bakuten hingen überall Plakate, die das Finale der Weltmeisterschaft ankündigten, und Kinomiyas Gesicht leuchtete ihnen vielfach entgegen. Kinomiya. Wenn alles so lief, wie er es sich vorstellte, würde das kommende Battle ihr letztes werden, und er zweifelte keinen Moment lang, dass die BBA Revolution es ins Finale schaffen würde. Kai wusste nicht, ob er sich darüber freute oder Angst davor hatte. Er war müde, unglaublich müde, nicht allein wegen der letzten Wochen. Es waren Jahre voller emotionaler und kräftezehrender Kämpfe, die auf ihm lasteten. Und schon jetzt gab es eine Fülle junger Beyblader, die die nächsten Turniere überfluten würden. Hatte er die Geduld, sich noch einmal gegen alle zu behaupten? Natürlich hatte er einen gewissen Ruf, doch gerade das lockte andere, ihn herauszufordern. Und er war nicht wie Kinomiya, er konnte sich nicht vorstellen, sein ganzes Leben dem Sport zu widmen. Es musste also sein. Diesen nächsten Kampf musste er gewinnen. Der Bus hielt schließlich vor dem Hotel, in dem die meisten Teams untergebracht waren. Die BBA Revolution würde allerdings im Kinomiya-Dojo bleiben und auch Max und Judy kehrten nach Hause zurück. Es entstand ein kleiner Tumult, als sie alle ihre Gepäckstücke suchten und sich vorerst voneinander verabschiedeten. Kai schulterte seine Tasche und drehte sich zu seinem Team um. Für den Nachmittag war eine Besprechung der Teammanager mit Daitenji angekündigt worden, zu der Yuriy gehen musste. Sergeij und Boris wirkten übernächtigt, sie hatten noch vor dem Flug die Daten des Halbfinales ausgewertet, damit Kai und Yuriy sie für die Kalibrierung ihrer neuen Blades nutzen konnten. Vermutlich würden sie in ihre Betten fallen und den Rest des Tages verschlafen. „Geht schon mal vor“, sagte Yuriy zu ihnen. Sie warteten, bis alle anderen im Hotel verschwunden waren. „Wir sehen uns morgen“, sagte Kai schließlich und Yuriy nickte. „Im Trainingsraum.“ „Im Trainingsraum.“ Sie sahen sich an und Kai wollte ihn zum Abschied küssen, doch die Wahrscheinlichkeit gesehen zu werden war einfach zu hoch. Doch dann streckte Yuriy die Hand aus und griff nach seiner. Kurz streichelte sein Daumen über Kais Handrücken, dann ließ er wieder los. „Du gehst zu…Voltaire?“, fragte er und Kai nickte. „Es ist okay“, sagte er, als er den Gesichtsausdruck des Rothaarigen bemerkte. „Er ist schließlich mein Großvater. Wir kommen klar.“ „Das glaube ich dir schon. Ah…“ Yuriy seufzte und rieb sich den Nacken. „Es wird seltsam ohne dich.“ Er warf ihm einen ungewohnt offenen Blick zu, auf den Kai mit einem Grinsen reagierte, obwohl es sich kurz anfühlte als würde ein heißer Stein in seinem Magen liegen. „Ja…“, murmelte er und hielt inne, wusste nicht, ob er die nächsten Worte aussprechen konnte. „Ihr könnt auch mit zu mir kommen. Also, nur wenn ihr wollt.“ Yuriys Mine verdüsterte sich. Er dachte an Voltaire. Vermutlich würde Kais eigenes Team niemals einen Fuß in das Haus seines Großvaters setzen. Sie hatten darüber gesprochen, doch Kai konnte nicht viel mehr sagen, als dass er mit Voltaire zurecht kam und sich der Alte zum Besseren gewandelt hatte, wenn auch nur mit Hilfe langer, anstrengender Therapiesitzungen. Und es war das, was Kai wollte, denn obwohl sein Großvater und er keine innige Beziehung pflegten, ließ er ihm alle Freiheit, die er brauchte. „Ich weiß nicht, Kai“, sagte Yuriy schließlich leise, „Das geht bestimmt nicht gut.“ „Okay.“ „Aber ich schreibe!“ Der Rothaarige hielt das Prepaid-Handy hoch, das die BBA ihm gestellt hatte, damit er in Japan erreichbar war. Sein altes war nicht mit den örtlichen SIM-Karten kompatibel. Kai grinste. „Ruf mich lieber an“, entgegnete er. In diesem Moment sah er, wie ein dunkles Auto mit getönten Scheiben langsam aus einer Seitenstraße fuhr. „Oh. Ich muss los.“ Yuriy öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, doch dann schüttelte er nur den Kopf und lächelte. „Bis morgen.“ Kai hatte gerade auf dem Rücksitz Platz genommen, als es zum ersten Mal in seiner Hosentasche vibrierte. Du bist so ein Snob, weißt du das. Limousinenservice und alles. Voltaires Anwesen lag am Rand der Stadt. Kai verbrachte nur noch dann Zeit in diesem Haus, wenn es sich nicht anders einrichten ließ. Den größten Teil des Jahres über wohnte er sowieso im Internat. Und in den Ferien blieb er möglichst oft bei irgendwelchen Bekannten – nicht zuletzt bei Kinomiya. Es war schon vorgekommen, dass das gesamte Team wochenlang im Dojo hauste. Deswegen war auch sein Zimmer recht karg eingerichtet, er nutzte es eher als Stauraum. Einen Koffer, in dem sich seine Uniformen und andere Kleidung für die Schulzeit befanden, packte er eigentlich nur zum Waschen aus und sofort wieder ein, bereit zur nächsten Abfahrt. An den Wänden gab es keine Dekoration bis auf ein großes Poster von David Bowie: Sein helles Gesicht scharf abgehoben vom grauen Hintergrund, die großen Hände platziert wie eine Marionette, die gleich zu einer Verbeugung gezwungen wird; die Augen starr ins Nichts blickend. Er ließ sein Gepäck in einer Ecke seines Zimmers fallen und zog sich das Shirt über den Kopf. Es war, als läge eine dicke Staubschicht auf seiner Haut. Seine Beine schmerzten von den vielen Stunden, die er in dem engen Flugzeugsitz verbracht hatte, und er hatte einen schlechten Geschmack im Mund. Also ging er nur in Shorts gekleidet quer über den Flur ins Bad, um zu duschen. Unwillig warf er einen Blick in den Spiegel. Seine Haare waren plattgedrückt und schlaff und die blauen Dreiecke, die er gewissenhaft bei jedem Turnier trug, waren an den Rändern verschmiert. Er feuchtete die Spitze eines Handtuchs an, um sie abzuwischen. Es dauerte lange. Eigentlich wollte er schon seit einiger Zeit auf diese Bemalung verzichten, doch sie hatte sich derartig zu seinem Markenzeichen entwickelt, dass sich die Presse nur so auf ihn stürzen würde, wenn er es tat. Er hatte sogar schon Fans gesehen, die sie nachahmten, und das war ihm etwas unheimlich, denn er hatte nicht erwartet, derart leidenschaftliche Anhänger zu haben. Er wollte kein Vorbild sein. Jedoch hatte seine Bemalung auch einen großen Vorteil: Ohne sie wurde er kaum erkannt. Wenn er also keine Lust hatte, auf der Straße angesprochen zu werden, ließ er sie weg, zog sich anders an und band die Haare zusammen anstatt sie mit viel Spray zu fixieren. In New York hatte er so einen Spaziergang gemacht und war geradewegs an Emily und Michael vorbeigeschlendert, ohne dass diese ihn eines Blickes gewürdigt hatten. Das Handtuch war voller Farbflecken, als er fertig war. Auf seinen Wangen lag nur noch ein leichter blauer Schimmer, der seinem Gesicht etwas Krankhaftes verlieh. Unter seinen Augen hatten sich dunkle Ringe eingegraben und seine Lippen waren rissig von der trockenen Luft im Flugzeug. Vermutlich hatte er abgenommen, und das obwohl er vor jedem Turnier versuchte, Muskeln aufzubauen. Eine größere Masse half dabei, den verschiedenen Elementen, die einem aus dem Stadium entgegenschlugen, zu trotzen. Normalerweise stand sein Körper die Strapazen gut durch und veränderte sich erst wieder, wenn er nach dem Finale sein Training umstellte. Doch diese Weltmeisterschaften waren härter als alles, was er bisher erlebt hatte. „Du wirst zu alt für den Scheiß, Kai“, sagte er zu seinem Spiegelbild, bevor er zur Zahnbürste griff. Überraschenderweise war an diesem Tag auch Voltaire zu Hause. Ebenso oft wie Kai war er irgendwo anders, auf Geschäftsreisen oder blieb in der kleinen Wohnung, die er sich in der Zentrale der Hiwatari Corporation im Süden Tokios eingerichtet hatte. Doch dieses Mal hatte er sich wohl Mühe gegeben und wollte ihn in Empfang nehmen. Und so ging er, als er ausgepackt, etwas gegessen und kurz geschlafen hatte - also wirklich keinen anderen Grund fand, es noch weiter hinauszuzögern - zum Arbeitszimmer seines Großvaters und klopfte an. Der Raum war nur spärlich beleuchtet, auf dem Schreibtisch stand eine Lampe und über einen Lesesessel in der Ecke beugte sich eine Stehleuchte. An den Wänden standen zum Bersten gefüllte Bücherregale, einige dienten nur als Statussymbole, in anderen befanden sich Aktenordner. Hinter dem Schreibtisch befanden sich zwei Fenster, und zwischen ihnen, direkt über Voltaires Kopf, hing ein kleiner Rembrandt in einem breiten, vergoldeten Rahmen. Die altmodische Einrichtung wurde nur durchbrochen von einem großen Flachbildschirm, auf dem Voltaire, wie Kai wusste, auch die wichtigsten Beyblade-Turniere verfolgte. Als er eintrat, blickte sein Großvater ihm entgegen. „Ah, da bist du ja wieder“, sagte er, als hätte er nicht auf die Minute genau gewusst, wann Kai zurückkommen würde. Er winkte ihn zu sich, und Kai setzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber. Voltaire verschränkte die Arme. „Also… Finale, hm?“, fragte er. „Hm.“ Der Alte musterte ihn. „Das ist gut. Und werdet ihr gewinnen?“ Kai hob die Schultern. „Vielleicht. Denke schon.“ „Du hast gut gekämpft mit Team Neo Borg“, sagte Voltaire, „Wenn Yuriy seine Sache gut macht, könntet ihr Weltmeister werden.“ Er nickte bloß, und das waren auch die wärmsten Worte, die er von Voltaire erwarten konnte. Sein Großvater war unglaublich unbeholfen in solchen Gesprächen. Seit ihre Familientherapie geendet hatte, hatten sie ihre Konversation wieder auf ein Minimum reduziert. Vielleicht würde Voltaire irgendwann sterben ohne zu wissen, dass Kai nicht nur Frauen anziehen fand, aber es war wahrscheinlich auch besser so. Es ging ihn auch nichts an. Er hatte erwartet, dass ihre Unterhaltung nicht viel länger werden würde, doch überraschenderweise hob Voltaire erneut an: „Ich wusste immer, dass du dort gut hineinpasst. Schon damals…” Er unterbrach sich, doch Kai hob den Kopf. „Sprichst du von der Abtei?” Der Alte verlor nie auch nur ein Wort über diese Zeit. Auch deswegen war es für Kai kaum möglich, seine spärlichen Erinnerungen einzuordnen. Er hatte schon angenommen, dass er irgendwann in Voltaires Archiven nach den alten Aufzeichnungen suchen musste, um zu verstehen - womöglich erst nach dessen Tod. „Du solltest von Anfang an ein Mitglied von Borg sein”, sagte Voltaire, doch das wusste Kai längst. „Und Yuriy wäre dein Partner gewesen. Zu zweit hättet ihr die meisten Kämpfe gewonnen, und Boris oder Sergeij hätten nur noch den Rest erledigen müssen.” Auf seinem Gesicht breitete sich das freudlose Grinsen aus, das Kai so gut kannte; mehr Freude hatte sein Großvater kaum einmal gezeigt. „Im Grunde genommen habt ihr jetzt von allein das getan, was Volkov und ich uns immer gewünscht haben.” „Wie schön”, entgegnete Kai sarkastisch, „Wir haben immer gehofft, euch euren Lebenstraum doch noch zu erfüllen.” Voltaire reagierte kaum auf diese Stichelei, hob lediglich die Augenbrauen - ein Mienenspiel, von dem Kai wusste, dass es mit der Zeit auf ihn übergegangen war. Es gab so viele kleine Dinge, die es unmöglich machten, seinen Familiennamen zu verleugnen. „Nun, es hat mich schon erstaunt”, fing sein Großvater schließlich wieder an. „Ich war sicher, dass, nach allem, was passiert ist, vor allem mit Black Dranzer, ihr nicht noch einmal auf diese Art und Weise zusammenarbeiten würdet. Es schien mir immer, als wäre zu viel Neid zwischen euch.” „Neid? Wieso ausgerechnet das?” „Wegen Black Dranzer natürlich. Ich hätte wissen müssen, dass er dich neidisch machen würde. Schließlich warst du damals schon unendlich ehrgeizig.” Er ließ den Satz ausklingen und seufzte. „Ich verstehe nicht, wovon du sprichst”, sagte Kai kühl und versuchte, sich seine Verwirrung nicht anmerken zu lassen, „Black Dranzer war für mich bestimmt, also worauf sollte ich bitte neidisch gewesen sein?” Voltaire hob den Kopf und sah ihn durchdringend an. Sein Gehirn schien zu arbeiten und seine Lippen bewegten sich stumm, als würde er nach den richtigen Worten suchen. „Tja, da hast du wohl recht”, sagte er dann, „Schlussendlich war Black Dranzer immer dein.” Kai wurde ungeduldig. Das Gespräch dauerte schon zu lange an für seinen Geschmack, und außerdem hatte er ausgerechnet jetzt so gar keine Kapazität, sich mit Voltaire über seine verpfuschte Kindheit zu unterhalten. Er würde ihn nach dem Finale zur Rede stellen. „Darf ich gehen?”, fragte er. Voltaire zögerte kurz, dann nickte er und machte einen Wink mit der Hand. „Ich muss sowieso noch arbeiten.” Das überraschte Kai nicht. Sein Großvater würde wahrscheinlich auch bei der Arbeit sterben. Es grenzte ja schon an ein Wunder, dass er Kai nicht darauf angesprochen hatte, wann er gedachte, seine eigene Tätigkeit bei Hiwatari Enterprises wieder aufzunehmen. Ja, der Alte hatte es tatsächlich geschafft, ihn so weit zu bringen, und das mit dem einzigen Instrument, mit dem er sichergehen konnte, dass Kai es nur schwer ablehnen konnte: Beyblade. Trotz der Misere mit Borg hatte Voltaire in den letzten Jahren viel Geld in eine Tochterfirma der Hiwatari Enterprises gesteckt, die sich auf die Herstellung von Beyblade-Teilen spezialisierte - VolTech. Und weil er ein so gerissener alter Hund war, hatte er Kai zu dessen sechzehnten Geburtstag dreißig Prozent der Firmenanteile überschrieben. Das war genug, um sich dafür zu interessieren, wie viel Gewinn sie brachte, aber zu wenig, um ernsthaft etwas ausrichten zu können. Aber so sorgte er dafür, dass Kai den Großteil seiner Zeit in Japan in der Firma verbrachte. Sein Handy vibrierte, als er auf dem Weg zurück zu seinem Zimmer die Galerie entlangging. Natürlich war es Yuriy, und diesen Namen auf dem Display zu sehen hob Kais Stimmung augenblicklich. „Hey“, sagte er langgezogen und ärgerte sich sofort über diesen Tonfall. „Hi. Äh, hier ist dein Anruf. Was machst du?“ An der Wand stand eine niedrige Bank, auf die Kai sich setzte. Er starrte das Portrait an, das sich ihm gegenüber befand. „Ich habe ein überlebensgroßes Bild von Voltaire vor mir. Ich hoffe, deine Aussicht ist besser.“ „Kann mich nicht beklagen. Das Zimmer ist groß, das Bett in Ordnung und ich sehe das Meer. Aber eins ist komisch weißt du.“ „Na was denn?“ „In letzter Zeit war da immer so ein Typ, der ständig seine dreckigen Kaffeebecher auf dem Tisch stehen gelassen hat.“ „Keine Ahnung, wen du meinst“, sagte Kai und Yuriy lachte. Die Härchen auf seinen Armen stellten sich auf. Er konnte nicht still sitzen, also stand er wieder von der Bank auf und lief in Richtung seines Zimmers. Am anderen Ende hörte er Yuriy ausatmen. Vielleicht rauchte er. „Ist seltsam ohne dich.“ Kai zog die Zimmertür hinter sich zu und brummte zur Antwort. „Komisch, wieder hier zu sein“, sagte er dann. „Wie war das Meeting?“ „Uninteressant. Es ist so, wie wir vermutet haben – Kinomiya wird gegen F Sangre antreten müssen. Keine Ahnung, warum sie mich überhaupt dabei haben wollten. Kinomiya, also der Bruder, und Romero haben sich ziemlich beschwert, aber es gibt nun mal keine andere Möglichkeit.“ „Warum beschwert?“, hakte Kai nach, während er sich auf das breite Fensterbrett setzte. Von hier aus sah er die Stadt, über der der Himmel inzwischen rot leuchtete. „Das Timing ist ungünstig“, antwortete Yuriy, „Das zusätzliche Battle muss am selben Tag stattfinden wie das Finale. Angeblich kann die BBA die Arena nicht für einen Tag mehr buchen, weil vorher irgendein Popsternchen da drin ein Konzert gibt.“ „Hm“, machte Kai. „Ich weiß, dass dir das nicht gefällt. Mir auch nicht. Aber was wäre die Alternative? Ein Dreier-Battle? Das willst du nicht.“ „Nein“, gab er zu. Wenn es um seinen Kampf mit Kinomiya ging, waren F Sangre nur im Weg. „Morgen gibt die BBA eine Pressekonferenz, auf der die Entscheidung verkündet wird“, fuhr Yuriy fort, „Du musst nicht kommen.“ Kai lachte freudlos. „Ja, danke.“ Wieder schwiegen sie einvernehmlich und mit einem Mal glaubte Kai, keine einzige Sekunde mehr in diesem Haus verbringen zu können ohne wahnsinnig zu werden. Er musste raus. „Bist du müde?“, fragte er. „Hellwach“, entgegnete Yuriy, „Wieso?“ „Soll ich dir die Stadt zeigen?“ Bakuten war ruhig bei Nacht. Es gab nur ein kleines Zentrum, in dem sich die meisten Bars und einige Spielhallen befanden. Die Schulen lagen alle eher außerhalb, am Hafen gab es ein großes Industriegebiet und die Parks befanden sich in der Nähe des Kanals. Dazwischen lagen Wohnviertel mit niedrigen Häusern, über die engen Straßen spannten sich die Stromleitungen. In regelmäßigen Abständen leuchteten die Getränkeautomaten. Sie holten sich gekühlten grünen Tee und ein paar Snacks aus einem Konbini, was länger dauerte als gedacht, denn Yuriy war fasziniert von der Auswahl und fragte Kai alle paar Sekunden, was genau sich in den verschiedenen Tüten befand, die er ihm hinhielt. Schließlich zogen sie in Richtung Hafen, bis Kai vor einer leeren Lagerhalle stehenblieb, die halb im Dunkeln lag. „Willst du mich ermorden?“, fragte Yuriy spöttisch. Zur Antwort stieß Kai ihm nur den Ellenbogen in die Rippen. Die Lagerhalle gehörte zu Voltaires Firma, wurde jedoch nicht mehr genutzt. Vor einigen Jahren hatte er sich hier eingerichtet, zusammen mit seinem ersten Beyblade-Team. „Die Shell Killers“, erklärte er dem Rothaarigen, der anerkennend den Mund verzog. „Das wusste ich gar nicht. Was ist aus ihnen geworden?“ „In alle Winde verstreut, nachdem ich Teamcaptain bei den Bladebreakers wurde.“ Inzwischen war ein neuer Zaun um das Gebäude gezogen worden, sodass sie nicht mehr hineinkamen. Also gingen sie zurück, wanderten ziellos durch die Straßen, vermieden jedoch das Zentrum. Manchmal schreckten sie Katzen auf, die dann vor ihnen von Schatten zu Schatten huschten. „Ich hätte nicht gedacht, dass es stimmt“, sagte Yuriy irgendwann, „Aber hier wirkt wirklich alles wie gerade aufgeräumt.“ „Ja“, sagte Kai, „Es ist schrecklich. Sei froh, dass du die ganzen Warnschilder nicht lesen kannst.“ „Hm. Mir gefällt es besser als Severodvinsk… oder Moskau. Dort haben wir schon in Ljublino gewohnt und jetzt... in einer verdammten Chruschtschoba. Du kannst es dir vorstellen.“ Ljublino gehörte nicht zu den beliebtesten, dafür aber zu den günstigen Stadtteilen. Kai blieb um eine Antwort verlegen und nahm einen weiteren Schluck Tee. Sie kamen an jenem Park vorbei, in dem Takao vor der Weltmeisterschaft Kindern Lektionen im Beybladen erteilt hatte. Kai blickte eine Weile zu dem winzigen Stadium hinab. Das alles schien auf einmal unglaublich lang her zu sein. Er hatte seine Tage damit verbracht, im Gras zu liegen und den gedämpften Geräuschen aufeinanderschlagender Blades zu lauschen. Er hatte You Know Who kennengelernt und war ein paarmal mit ihm ausgegangen. Sein Date wusste nichts über das Beybladen. Assoziierte nichts mit dem Namen Kai Hiwatari. Und so war es auch leicht gewesen, ihm glaubhaft zu machen, er sei schon achtzehn. Sie hatten sich meist abends in Parks getroffen und getrunken. Dass der andere irgendwann darauf spekulierte, ihn mit nach Hause zu nehmen, war ihm am Anfang nicht klar gewesen. Im Nachhinein betrachtet war das wohl ziemlich naiv. Schließlich war der Tag gekommen, an dem er regelrecht geflohen und in seiner benebelten Verwirrung bei Takao gelandet war. So war alles aufgeflogen, noch bevor ihm überhaupt bewusst wurde, was dieses „Alles“ eigentlich implizierte. Und nun stand er hier, und Yuriy neben ihm. „Lass uns runter zum Fluss gehen“, schlug er vor. Es war der altbekannte Ort, an den sich die Bladebreakers zurückzogen, um zu Trainieren. Der Deich, die Treppe und das kurze Uferstück waren spärlich beleuchtet von Straßenlaternen. Sie setzten sich auf eine Stufe in halber Höhe und wickelten einige der Süßigkeiten aus. Kai schob sich irgendetwas in den Mund, das sich dann als zähes Mochi entpuppte. „Ich muss dir was sagen“, sagte Yuriy in diesem Moment. Kai, der immer noch kaute, sah ihn bloß an, damit er weitersprach. „Ich habe Daitenji gebeten, mir ein neues Visum zu besorgen.“ Kai schluckte, wusste aber nicht, was er sagen sollte. Erst langsam wurde ihm die Bedeutung der Worte bewusst. „Du gehst nicht zurück nach Russland? Aber wie…?“ Yuriy wandte sich ab und sah zum Kanal, als er fortfuhr. „Sergeij, Boris und ich haben geredet. Wir haben zu Hause keine Verpflichtungen. Wenn wir zurückgehen, suchen wir uns Jobs und versuchen, über die Runden zu kommen, bis wir es an der Uni versuchen können. Keiner von uns hat Lust darauf. Aber wenn wir, zumindest für eine Zeit, für die BBA arbeiten, ist das gutes Geld, und leicht verdient.“ Nun wandte er sich doch zu Kai. „Und die Kohle können wir allemal gebrauchen. Daitenji kann uns Arbeitsvisa beschaffen, und dann können wir hier in Japan bleiben, zumindest bis September...“ „…wenn ich wieder zur Schule muss“, beendete Kai leise. Er starrte Yuriy an, der unter seinem Blick immer unsicherer wirkte. „Wir haben auch mit Ivan gesprochen”, fuhr er fort, „Es wäre schön, wenn er herkommen könnte, aber er wird wohl in Severodvinsk bleiben und dort die Stellung halten. Dadurch ist mit unserer Wohnung aber auch alles geregelt. Außerdem soll der Kerl lernen, damit er den dämlichen Abschluss schafft. Das kriegt er ziemlich sicher nicht hin, wenn er hier ist.” Langsam sickerte die Information durch Kais Gedanken. Team Neo Borg blieb in Japan. Yuriy blieb hier. Der andere hatte sein Schweigen wohl falsch gedeutet, denn seine nächste Frage klang etwas zaghaft: „Was hältst du davon?“ Anstatt zu antworten packte Kai ihn am Kragen und zog ihn zu sich, um ihn – endlich! – zu küssen. Nach einigen Sekunden hielt Yuriy kurz inne. „Du schmeckst nach Zucker.“ Kai schnaubte bloß und küsste ihn wieder. Er wusste im ersten Moment nicht, was er fühlte. Die Frage, wie es nach der Weltmeisterschaft mit ihnen weitergehen sollte, hatte auf ihm gelastet. Er merkte erst jetzt, wie sehr. Plötzlich war alles leicht, leicht und wirr. Er hatte es sich nicht eingestehen wollen, doch nun war es unmöglich, sich weiter etwas vorzumachen: Er war verliebt in Yuriy. Und augenscheinlich war Yuriy verliebt in ihn. Der heiße Stein war zurück in seinem Magen und zog ihn nach unten, sodass er in einem Farbwirbel immer tiefer zu fallen schien – „Kai?“ Sie fuhren auseinander. Kurz sah er Yuriy an, der ganz außer Atem war, dann wandten sie sich gleichzeitig um. Am oberen Ende der Treppe standen Rei und Mao. Sie waren wie erstarrt, hatten sich wohl genauso erschreckt wie sie selbst. Doch Rei schaffte es schnell, sein Erstaunen zumindest zu überspielen. Er runzelte die Stirn und deutete abwechselnd auf Kai und Yuriy. „Ist es das, was ich denke, das es ist?“, fragte er. Wäre Kai mit irgendeinem anderen Menschen hier gewesen, er hätte bloß die Augen verdreht und Rei angefahren, dass er sie doch bitte in Ruhe lassen solle. Es war ihm immer egal gewesen, was andere von ihm hielten, und außerdem wusste in diesem speziellen Fall sein ehemaliger Teamkollege bereits alles, was er wissen musste. Doch nun war Yuriy bei ihm und er hatte keine Ahnung, wie er mit einem unfreiwilligen Outing umgehen würde. Sein Blick wanderte von Reis Gesicht, das mildes Interesse spiegelte, zu Maos, in dem eine deutliche Mischung aus purem Schock und Scham stand. Er wog gedanklich mögliche Erwiderungen gegeneinander ab, kam aber nicht mehr dazu, eine von ihnen auszusprechen. „Ich weiß nicht, was du denkst, Kon.“ Es war Yuriy, der das sagte, „Aber ich denke, ihr stört.“ Kai drehte sich überrascht zu ihm um. Sein Begleiter sah herausfordernd zu dem anderen Paar hoch und Rei stieß die Luft aus, während Mao neben ihm immer noch verdattert von einem zum anderen blickte. Sie rührte sich, machte ein oder zwei unsichere, kleine Schritte zur Seite, und erst durch diese Bewegung war zu erkennen, dass Rei ihre Hand hielt. Für Kai war klar, warum die beiden mitten in der Nacht unterwegs waren, aber diese Geste schien alles noch einmal zu bestätigen. Womöglich fühlten sie sich ebenso erwischt wie Yuriy und er selbst. „Tja“, sagte Rei schließlich langsam, „Was machen wir jetzt?” Abgesehen von der anfänglichen Überraschung schien ihn wirklich nichts aus der Ruhe bringen zu können. Ob Max ihm gegenüber etwas angedeutet hatte? Es wäre nicht verwunderlich, zwischen den ehemaligen Bladebreakers blieb nichts lange geheim. Also handelte Kai proaktiv. Er stand auf und hielt Yuriy auffordernd die Hand hin, um ihn mit sich die Treppe hinauf zu ziehen. Erstaunlicherweise ergriff der Rothaarige sie arglos. Vielleicht gefiel es ihm, Mao und Rei noch ein wenig mehr zu schocken. „Wie wäre es damit”, schlug Kai vor, als sie bei den anderen angekommen waren, „Wir haben euch nicht gesehen und ihr habt uns nicht gesehen. Und ihr dürft die Treppe haben.” Jetzt erröteten sowohl Mao als auch Rei unverkennbar. Letzterer warf dem Mädchen einen fragenden Blick zu, und Mao nickte. „Ich denke, das ist in Ordnung”, sagte sie. Sie musterte die beiden vor sich noch einmal eingehend. Kai spürte, wie Yuriy betont langsam den Arm um ihn legte. Von Mao kam ein ungläubiges Geräusch. „Ich hätte eher erwartet, Takao und Hiromi hier zu sehen als euch beide“, gab sie zu. „Oh glaub mir, die brauchen noch eine Weile um sich zu finden”, sagte Rei gespielt verzweifelt. Das Kichern, in das Mao daraufhin ausbrach, klang ein wenig gekünstelt. Yuriys Griff wurde fester und Kai nahm es als Zeichen, dass er das Gespräch beenden wollte. Diese Situation war ja auch unangenehm genug. „Also dann”, sagte er und zum Glück verstanden alle den Wink. Sie verabschiedeten sich etwas unbeholfen und dann verschwanden Kai und Yuriy in der Dunkelheit, während das andere Paar unter der Laterne zurückblieb. Erst als sie außer Hörweite waren, hielten sie kurz inne, dann prusteten sie fast gleichzeitig los. „Gott, wie peinlich!“, sagte Yuriy. Auch Kai merkte, wie die Anspannung von ihm abfiel. „Hiromi und Kinomiya? - Was ist eigentlich gerade passiert?“, fragte er ehrlich ratlos. Was auch immer, es war Grund genug, um eine zu rauchen, also begann er, in seinen Taschen nach Zigaretten zu suchen. Doch er kam nicht weit, denn unvermittelt packte Yuriy ihn am Ellenbogen und zog ihn in einen weiteren Kuss. Sie standen in der Dunkelheit und Kai fühlte mehr als dass er sah. Seine Hände und sein Gesicht waren kalt, doch Yuriys Lippen ausnahmsweise einmal das ganze Gegenteil, und nach einer Weile meinte er, den grünen Tee auf der Zunge des anderen zu schmecken. Er drückte sich an ihn und schob die Hände unter seine Jacke, den Rücken hinauf. Der Griff seiner Finger ließ Yuriy erschauern. Sie lösten ihre Münder voneinander, blieben jedoch in ihrer Umarmung stehen. „Kommst du mit mir ins Hotel?“, fragte Yuriy. Kai hielt inne. Natürlich wollte er, und in seinen Gedanken tauchten mehrere Versionen des weiteren Verlaufs dieser Nacht auf, eine wilder als die andere. Doch wenn man ihn morgen dort sah, würde es Fragen geben. „Ist das eine gute Idee?“, meinte er deswegen und Yuriy brummte unwillig, bevor er das Gesicht in seinem Haar vergrub. Wieder war er ihm so nahe, dass der den Duft seiner Kleidung und seiner Haut riechen konnte. Kai schloss die Augen. „Was hast du denn mit mir vor?“, fragte er dann. „Hmm“, machte Yuriy langgezogen, sein Mund war jetzt ganz nahe bei Kais Ohr. „Lass dich überraschen.“ Niemand begegnete ihnen. Selbst die Rezeption war nicht besetzt, obwohl aus einem der hinteren Räume ein Lichtschein drang. So leise wie möglich schlichen sie sich durch die Lobby und riefen den Fahrstuhl. Dieser kam jedoch mit einem lauten Gong zum Stehen, was sie erst erschreckte und dann, als sie schon in der Kabine standen, erneut zum Lachen brachte. Im Gang, der zu Yuriys Zimmer führte, lag dicker Teppich, der ihre Schritte beinahe vollständig dämpfte. Er hatte ein hässliches, grauviolettes Muster und an den Wänden zwischen den Türen hing ebenso hässliche abstrakte Kunst. Schließlich schloss Yuriy einen der Räume auf, schob ihn hinein und zog die Tür hinter sich zu. Als Kai sich wieder zu ihm umdrehte, lächelte der andere ihn verschmitzt an. Das Licht war gedämmt, die blauen Augen wirkten seltsam hell und folgten seinen Bewegungen, während Kai sich auf das Bett setzte. Dann kam Yuriy zu ihm, beugte sich über ihn und drückte ihn nach hinten, während sie sich küssten. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich derart nahe waren, sie hatten inzwischen schon viel Zeit in einigen Hotelbetten so verbracht. Kai überlegte, ob er Yuriy das Shirt über den Kopf ziehen sollte, doch er war sich nicht sicher, was er damit vielleicht einleitete. Und ob es nicht noch etwas zu früh dafür war. Der Körper des Rothaarigen reagierte zuverlässig auf seine Berührungen, das war ihm schon vor geraumer Zeit aufgefallen, aber wie in einem stummen Einverständnis gingen sie nie über einen gewissen Punkt hinaus. Was nicht hieß, dass er es nicht wollte - grundsätzlich wollte er sehr viel, und es half nicht, dass Yuriy wirklich schnell herausgefunden hatte, wie er ihn komplett aus der Fassung bringen konnte. Heute schien außerdem etwas anders zu sein. Vielleicht lag es an dem Treffen mit Mao und Rei. Oder daran, dass sie nun auch nach dem Finale Zeit miteinander verbringen würden. Jedenfalls schienen ihre Küsse und Berührungen intensiver zu sein als sonst. Nach einer Weile lösten sie sich dennoch voneinander. Stumm musterten sie sich und Kai hob die Hand, um nach einer der roten Haarsträhnen des anderen zu greifen. Der Blick aus den blauen Augen machte ihn auf eine angenehme Art nervös; er konnte noch immer nicht ganz fassen, was hier zwischen ihnen lief, und wie gut es sich anfühlte. „Du hast ganz schön was angerichtet, Kai.” Er hob die Augenbrauen. „Hm?” „Mit mir.” „Oh.” Er ließ die Strähne los und Yuriy schob sie mit der Hand aus seinem Gesicht. „Ich habe mich schon gefragt, ob ich dich…” Kai hielt inne. „Ich dachte, es wäre eine gute Idee, aber ich bin nicht sicher – Du scheinst manchmal so verwirrt.“ Es dauerte eine Weile, bis er eine Antwort erhielt, und das machte es nicht besser. Schließlich seufzte Yuriy. Er legte sich neben ihm auf den Bauch und bettete die Wange auf seine verschränkten Arme. „Ich bin verwirrt“, sagte er dann, „Ich bin seit Jahren verwirrt. Ich meine...während wir in der Abtei waren, war es nie ein Thema, ob wir andere Menschen anziehend finden. Aber seit wir draußen sind - manchmal kommt es mir vor, als drehe sich die Welt um nichts anderes.“ Kai drehte den Kopf, damit sie sich ansehen konnten. „Warst du mit jemandem zusammen, nach dem Ende von Borg?”, fragte er vorsichtig. Das war etwas, was er schon länger wissen wollte, nur war nie die Gelegenheit da gewesen, darüber zu sprechen. „Boris schleppt mich ständig auf irgendwelche Partys”, antwortete Yuriy, „Er hat ziemlich viele neue Leute kennengelernt. Ein paar Mal wollte er mich schon verkuppeln, aber das hat immer nur so mäßig funktioniert. Also ja, ein paar Frauen gab es schon…” „Also magst du beides?” Wieder seufzte Yuriy. „Ganz ehrlich: Keine Ahnung. Ich bin bisher mit Frauen ausgegangen, weil die meisten das so machen. Ich hab das nie in Frage gestellt, es war einfach, hm...nicht wichtig für mich.” Kai sagte zunächst nichts. Für ihn hatte es keinen Zeitpunkt X gegeben, an dem er erkannt hatte, dass er auch auf Männer stand. Er hatte es irgendwie immer gewusst, oder zumindest hatte es ihn nicht überrascht, als sich zu den rein schwärmerischen Gedanken dem eigenen Geschlecht gegenüber irgendwann auch sexuelle gesellten. Und als er dann tatsächlich seine ersten Erfahrungen mit Kerlen gemacht und diese sich ziemlich gut angefühlt hatten, war das Bestätigung genug. Wie es Yuriy ging, konnte er höchstens in Ansätzen nachvollziehen. „Ich glaube, Boris hat sich in dem Bezug mehr Sorgen um mich gemacht als ich selbst”, fuhr der Rothaarige fort. „Für mich hätte es gut und gerne so weitergehen können. Ich nehme mir ja, was ich brauche, und dann ist gut. Aber jetzt bist du hier. Und das ist schon ein bisschen krass. Ich fange jetzt erst langsam an zu realisieren, was das alles...bedeutet.” „Hör mal, es tut mir leid wenn ich dich irgendwie -” „Tut es nicht”, unterbrach Yuriy ihn und er hatte recht. Kai schaffte es nicht, zu bereuen, was zwischen ihnen passierte. „Okay, nein, tut es nicht”, wiederholte er und hob die Schultern, „Entschuldigung, du bist halt heiß.” „Danke. Erzähl mir mehr.” „Damit du dir was darauf einbilden kannst?” „Bisschen Ego streicheln tut doch gut.” „Dann erzähl du mir doch was!” Daraufhin kam keine Antwort von Yuriy. Kai nahm schon an, er hätte ihn zum Schweigen gebracht und wollte sich mit einem zufriedenen Grinsen auf die Seite drehen, als er doch noch mal zu Sprechen begann. „Du bist einfach… Keine Ahnung. Ich hab noch kein Wort dafür gefunden.” Yuriy setzte sich auf und schwang sich aus dem Bett. Kai meinte, dass seine Wangen gerötet waren, doch der andere wandte ihm den Rücken zu und suchte scheinbar etwas in seiner Tasche. Dann kam er zurück, in der Hand ein Paket Tabak und Zigarettenpapier. Kai öffnete schon den Mund, um zu fragen, ob er sich inzwischen keine fertigen Zigaretten mehr leisten konnte, als er sah, dass sich in der Tüte nicht nur Tabak befand. „Wie hast du das denn durch die Sicherheitskontrolle bekommen?”, fragte er, während Yuriys lange Finger schon die Füllung in das Papier legten und in Form brachten. „Geheimnis”, antwortete der Rothaarige. Nachdem er das Papier kurz mit der Zungenspitze angefeuchtet und noch einmal gedreht hatte, hielt er einen stabilen Joint in der Hand. „Hat mir Kyrill Pavlowitsch empfohlen”, erklärte er schließlich ungefragt, „Angeblich gibt es erste Studien mit medizinischem Marihuana bei psychischen Problemen. Alles noch nicht ausgereift, aber Kyrill Pavlowitsch meinte, ich soll es mal probieren. Ich mach’s nicht oft, aber jetzt brauche ich das mal.” „Zu mir hat er sowas nicht gesagt”, meinte Kai und klang dabei fast ein wenig beleidigt. Yuriy stand auf und ging zum Fenster. Dieses reichte bis zum Boden, doch es gab keinen Balkon, sondern nur ein hüfthohes Gitter. Der Rothaarige winkte ihn zu sich. „Willst du auch? Hilft super gegen die Nervosität vor dem Finale.” „Sicher.” Kai hielt normalerweise nichts davon, sich die Sinne zu vernebeln, aber sie waren mehrere Stunden vom nächsten Termin entfernt - und außerdem würde er zu nichts Nein sagen, das die Gedanken zum Finale, die ständig in seinem Hinterkopf kreisten, zum Verstummen brachte. Sie zogen den dicken Vorhang hinter sich zu, damit der Rauch nicht ins Zimmer geweht wurde, und lehnten sich an den Fensterrahmen. Yuriy zündete den Joint an und nahm einen tiefen Zug, bevor er ihn an Kai weiterreichte. „Hast du eigentlich schon mal?”, fragte er und Kai nickte. „Was meinst du, was in der Schule vor der Sessia los ist”, entgegnete er. Vor den Prüfungen war den meisten seiner Mitschüler jedes Mittel recht, um zu entspannen. Eigentlich mochte Kai den Geruch nicht, doch manchmal hatten sich selbst für ihn Gelegenheiten ergeben. „Du bist also auch nervös”, stellte er fest und kam damit auf Yuriys Aussage von vor ein paar Minuten zurück. „Vor dem dem Finale meinst du? Ja, sicher”, entgegnete der Rothaarige. „Ich will nicht noch einmal gegen diesen Affenjungen verlieren.” „Er hat wirklich deinen Ehrgeiz geweckt, hm?” „Eventuell.” Yuriy blies einen Schwall rauch aus, dann ließ er Kai wieder ziehen. Nach einer Weile spürte er, wie er innerlich ruhig wurde. Yuriy hatte eine angenehme Mischung gefunden, oder es lag an der Sorte, denn sein Leader rauchte sicher nicht den gleichen Mist, mit dem die Leute bei ihm im Internat dealten. Der Rauch wurde schnell weggeweht, denn sie befanden sich in einem der höheren Stockwerke und ein scharfer Wind zog um das Gebäude. Das hatte allerdings auch zur Folge, dass Yuriy mehrere Male neu anzünden musste. „Sag mal”, begann Kai, als einmal mehr das Klicken des Feuerzeuges neben ihm erklang, „Was sind das für Probleme, für die Kyrill Pavlowitsch dir Gras verschreibt?” „Angststörung”, antwortete Yuriy ungerührt. Der Joint steckte in seinem Mund und fing gerade wieder Feuer. Vielleicht war es auch das Verdienst der Droge, dass er antwortete ohne lange nachzudenken. „Auch so ein Tick aus der Abtei. Ganz am Anfang haben total viele Dinge - und ich meine wirklich alltägliche Sachen - Panikattacken bei mir ausgelöst. Das ist schon viel besser, aber wenn ich gestresst bin, kann es schlimmer werden. Gerade Beyblade-Turniere sind eigentlich überhaupt nicht gut für mich. ” Er grinste müde. „Und oft kann ich nicht einschlafen. Hast du das nicht?” „Nein. Nicht so.” Kai verschwieg, dass bei ihm das Gegenteil der Fall gewesen war. Nach dem Zusammenbruch von Borg und dem Untergang der Abtei; nachdem ihm klar geworden war, welche Rolle Voltaire bei der ganzen Sache gespielt hatte; als er realisiert hatte, dass ein großer Teil seiner Kindheitserinnerungen über lange Jahre in seinem Kopf vergraben waren und er womöglich nie alle von ihnen bergen konnte - da hatte er nur noch schlafen wollen. Er war lethargisch geworden, und Kyrill Pavlowitsch hatte seine liebe Mühe gehabt, herauszufinden, wie er Kai am besten in den Hintern treten konnte. Eine Zeitlang hatte er Tabletten genommen, Aufputscher allerdings, damit er morgens überhaupt aus dem Bett kam. Das war inzwischen zum Glück nicht mehr nötig, doch er bewahrte für den Notfall noch einen Filmstreifen auf. Er wollte Yuriy nach ihrer Kindheit fragen. Wollte wissen, ob er sich zumindest an die wichtigen Sachen richtig erinnerte, oder ob es da noch mehr gab. Aber er hielt sich zurück. Es war der falsche Zeitpunkt. Und seine Gedanken begannen schon abzuschweifen. Sie schwiegen, während sie zu Ende rauchten, und nachdem Yuriy den letzten Stummel am Geländer ausgedrückt hatte, lehnten sie sich über das Gitter und betrachteten die Stadt. Weiter hinten breitete sich schwarz das Meer aus und hier und da waren Sterne zu sehen, wenn auch die meisten dank der Lichtverschmutzung verborgen blieben. Ihre Arme berührten sich und Kai genoss die Nähe des anderen. Er spürte dem Gefühl von Leichtigkeit nach, das nun in ihm war. Wenn er jetzt an das Finale der Weltmeisterschaft dachte, waren damit weder Nervosität noch Druck verbunden. Er würde gegen Kinomiya antreten und einer von ihnen würde gewinnen. So einfach war das. Und wenn er verlor? Dann würde es einen neuen Plan geben. Wenn er gewann? Nun… Er lachte leise. „Was ist los?”, fragte Yuriy. „Ich habe nur gerade festgestellt”, sagte Kai, „Ich habe keine Ahnung, was ich machen soll, wenn ich gegen Kinomiya gewinne.” „Was?” „Nein, ganz im Ernst! Was macht man, wenn man Weltmeister ist?” „Du bist unglaublich!” Jetzt lachte auch Yuriy und es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich wieder zusammenreißen konnten. Irgendwann wurde es draußen hell. Sie lagen im Bett, Kai hatte den Kopf an Yuriys Schulter gelehnt und der Rothaarige den Arm um ihn gelegt. Sie hatten nur kurz geschlafen und waren wach geworden, als der Himmel sich gerade zu verfärben begann. Das Fenster ging nach Westen, also würden sie den Sonnenaufgang zwar nicht sehen, dafür aber das Meer, wie es ebenfalls einen Pastellton annahm. Kai bewegte sich. „Ich muss bald los“, sagte er. Wenn es zu spät wurde, lief er Gefahr, Reportern in die Arme zu laufen, die für die Pressekonferenz am Vormittag anreisten. „Ich schmuggle dich schon raus“, sagte Yuriy leise. Kai erwiderte nichts, sondern lächelte in sich hinein. So vieles hatte sich in nur einer Nacht geändert. Er war nach Japan zurückgekommen mit dem nagenden Gefühl, dass nun bald alles vorbei war – erst die Weltmeisterschaft, und dann das Zusammensein mit Yuriy, weil Neo Borg wieder zurück nach Russland mussten. Auch wenn er das Finale und den Kampf gegen Kinomiya herbeisehnte, hatte er sich gleichzeitig gewünscht, noch einmal vier Wochen mehr zu haben. Doch nun schien es, als würde ihre beste Zeit überhaupt erst nach dem Turnier beginnen. Er richtete sich auf und streckte sich. „Ich muss gehen.“ Von dieser Position aus konnte er sich im Spiegel sehen, der über dem kleinen Schreibtisch an der Wand hing. Der Anblick war im Vergleich zum Vortag nicht besser geworden: Seine Frisur war komplett ruiniert und sein Gesicht hatte einen fiebrigen Glanz. Er fuhr sich ein paarmal durch die Haare, doch das brachte nicht viel. „Willst du meinen Pullover haben? Der hat eine Kapuze“, schlug Yuriy vor und er nickte. Also standen sie beide auf. Yuriy zog einen schwarzen Hoodie aus seiner Tasche und kroch dann wieder unter die Bettdecke, während Kai seine Kleidung richtete. „Wann sehen wir uns später?“, fragte er, nachdem er den Kopf durch den Halsausschnitt des Pullovers gesteckt hatte. „Training um zwei“, antwortete Yuriy. „Sklaventreiber.“ „Auch wenn wir rummachen, ich bin immer noch dein Teamchef.“ „Jaja.“ Kai setzte sich noch einmal auf den Rand des Bettes, um ihm einen Kuss zu geben, der sehr ausgiebig wurde. „Danke für die Nacht“, murmelte der Rothaarige, als sie sich lösten. „Wirst du jetzt romantisch?“ „Ich möchte ab sofort bitte immer mit dir romantisch kiffen.“ „Wusste ich’s doch“, sagte Kai und fügte hinzu: „Wenn das jemand rauskriegt werden wir so was von disqualifiziert.” „So was von”, wiederholte Yuriy grinsend. So verabschiedeten sie sich und Kai trat hinaus auf den Flur, wo zum Glück niemand zu sehen war. Dabei mussten auch die anderen Zimmer hier an die BBA vermietet worden sein. Doch es war noch früh und er schätzte, dass die meisten nach dem Flug am Vortag lange schlafen würden. Leise ging er über den Teppich und rief den Fahrstuhl. Während er wartete, verschränkte er die Arme und bemerkte dabei, wie sehr der Pullover nach Yuriy roch. Die Türen glitten auf, doch im Fahrstuhl stand schon jemand. Es war Mao. „Oh“, machte sie nur, als Kai eintrat und sie mit einem Ruck nach unten fuhren. „Also wenn du hier bist, heißt das, ich habe das heute Nacht nicht geträumt.“ „Hn“, entgegnete Kai, „Warum bist du schon wach?“ „Ich bin auf dem Weg in mein Zimmer.“ Er zählte eins und eins zusammen. Sie musste bei Rei gewesen sein, aha. Stumm musterte er sie und Mao errötete mit einem Mal. „Starr mich nicht so an!“ „Sorry.“ Sie schwiegen. Der Fahrstuhl kam zum Stehen und die Türen glitten auf. Mao stieß sich von der Wand ab und trat auf den Flur, drehte sich aber noch einmal zu ihm um, hielt mit einer Hand die Tür davon ab, wieder zuzugehen. „Du und Yuriy – ich wollte nur sagen, ich finde das okay.“ Kai war ehrlich überrascht. „Danke. Ich dachte, wir hätten dich ernsthaft in Schockstarre versetzt.“ „Oh nein. Ich meine, ich wusste von dir. Nur nicht von Yuriy.“ „Hat Rei was gesagt?“ Sie zögerte, bereute vielleicht ihren letzten Satz, denn Kai hatte recht scharf geklungen. „Nein, nicht Rei“, sagte sie dann. „Takao ist was rausgerutscht. In Madrid. Wir hatten uns alle an einem Abend getroffen, weil die BBA Revolution diese Aufnahmen von Barthez Soldiers hatten.“ Kai unterdrückte ein entnervtes Stöhnen. Kinomiya, natürlich. Also hatte er nicht nur über ihre Vergangenheit in der Abtei geplaudert, sondern auch über Kais Liebesleben. Dieser Kerl besaß in etwa so viel Feingefühl wie ein Holzlöffel. „Also wissen jetzt alle, worauf ich so stehe?“ „Nein!“, beeilte sich Mao zu sagen, „Also, Baihuzu und die PPB All Starz waren da. Und Takao hat nur gesagt, dass du…dass du mit Männern ausgehst.“ Nun gut, viel mehr war ja auch nicht zu sagen, und viel mehr wusste Kinomiya nicht. Und es war ja allein Kais Schuld, dass die Bladebreakers überhaupt davon Wind bekommen hatten. Sein weinseliger Auftritt nach seinem vermasselten Date hatte einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Seine eigenen Erinnerungen an diesen Abend waren alkoholbedingt etwas verworren, aber er wusste noch, dass er von allen Seiten bedrängt worden war. Denn natürlich waren sie alle dort gewesen und einigermaßen geschockt, ihn so zu sehen. Irgendwann war er so genervt, dass er ihnen entgegen geschrien hatte, was passiert war, und dann hatten sie zumindest für ein paar Minuten nicht gewusst, was sie sagen sollten. Der nächste Morgen war erst recht unangenehm gewesen, doch bald hatte er festgestellt, dass das mehr an seiner Trunkenheit lag als an der Tatsache, dass er sich mit Männern traf. Ihm ging auf, dass Kinomiya womöglich gar nichts Böses wollte, wenn er solche Dinge ausplauderte. Der Champion hat Menschen nie verurteilt, sein einziger Fehler war, dass er annahm, alle anderen besäßen genauso viel Akzeptanz wie er selbst. Mao ließ ihn endlich weiterfahren und er beeilte sich, um ungesehen aus dem Hotel zu kommen. Er zog sich die Kapuze über den Kopf und wandte sich vor dem Gebäude nach rechts, wo ein kleiner Park lag. Dahinter kam eine größere Straße, auf der er ein Taxi anhielt, das ihn nach Hause brachte. Er ließ sich auf den Rücksitz fallen und lehnte den Kopf an. Die Straßenlaternen waren noch angeschaltet, doch der Himmel war bereits hellblau und hinter den Hügeln ging die Sonne auf. Und auf einmal war er sicher, dass er jetzt, in diesem Moment, trotz allem, glücklich war. Er konnte gar nicht erwarten, dass dieses verdammte Turnier endlich zu Ende ging. Kapitel 8: Bakuten II - Finale I -------------------------------- F Sangre vs. BBA Revolution Battle Royal BBA Revolution vs. Neo Borg Das letzte Training vor dem Finale. Das BBA-Zentrum war für die Öffentlichkeit geschlossen worden, damit die Teams unbehelligt blieben. Doch natürlich hatte sich die Presse vor allen Eingängen positioniert. Selbst durch die Hintertür kam man nicht mehr ungesehen hinein. Kai wollte ursprünglich mit der U-Bahn fahren, doch Daitenji persönlich hatte im Vorhinein angerufen und ihm davon abgeraten. In der Stadt wimmelte es von Fans. Und so ließ er sich doch mit dem Wagen bringen und bekam einen unfreiwillig großen Auftritt, denn sobald er aus dem Auto stieg brandete ein Meer aus Blitzlicht und schreienden Reportern um ihn. Ein paar Schritte weiter standen Fans. Eine derart große Menge war neu für ihn. Zwar gehörte er zu den bekanntesten Beybladern der Welt, doch der Sport war nie wirklich populär gewesen – bis jetzt. Dank der Weltmeisterschaft und der riesigen PR-Maschine der BBA boomte das Bladen und plötzlich waren sie alle kleine Stars. Kai musste sich wohl oder übel an die gestiegene Aufmerksamkeit gewöhnen. In den vergangenen Jahren schien es einen Konsens unter Fans gegeben zu haben, der besagte, dass niemand ihm zu nahe kommen sollte, da alle von seiner Abneigung gegen laute Menschenmassen wussten. Die neuen Fans hatten davon natürlich keine Ahnung. Er holte tief Luft und drängte sich durch die Leute. Zuerst murmelten, dann schrieen sie seinen Namen, als sie ihn erkannten. Hände streckten sich nach ihm aus und manche bekamen seinen Schal zu fassen, ließen jedoch immer los, bevor sich der Stoff allzu sehr spannte. Als er den Blick hob, erstaunte es ihn ein wenig, so viel Begeisterung in ihren Gesichtern zu sehen. Ein paar kleine Jungs starrten ihn mit offenen Mündern an, einer von ihnen trug ein Basecap, auf der schon Autogramme anderer Blader prangten; Kai konnte Max’ krakeligen Schriftzug erkennen. „Kai!”, rief ein Mädchen, das gleich daneben stand, „Kai, bitte!” Etwas in ihrer Stimme ließ ihn innehalten. Sie hatte so eindringlich geklungen. Aus den Augenwinkeln sah er einige Mitarbeiter der BBA, die zu ihm spähten und wohl sehen wollten, ob er Hilfe brauchte. Er konnte sich einfach zu ihnen durchschlagen. Oder sollte er zu seinen Fans gehen? Die Frage war lächerlich; Kinomiya und die anderen gönnten sich gern ein Bad in der Menge, er hatte sich bisher aber immer zurückgehalten. Viele Menschen trauten sich auch schlichtweg nicht, ihn anzusprechen. Und doch standen sie jetzt hier. Was sollte er zu ihnen sagen? Worüber zur Hölle sprach man mit Fans? Nun war es jedoch zu spät, darüber nachzudenken, denn beinahe unbewusst war er auf das Mädchen und die Kleinen zugegangen. Ihre Augen weiteten sich, doch zum Glück verkniff sie sich ein Kreischen. Stattdessen wurde sie plötzlich ziemlich fahrig. „Oh shit”, nuschelte sie langgezogen, wahrscheinlich war sie genauso wenig vorbereitet auf diese Begegnung wie er. Sie rührte sich nicht, ebenso wie die Jungs um sie herum, und so entstand ein sehr seltsamer Moment, in dem Kai und seine Fans sich einfach nur musterten, unschlüssig, was zu tun war. „Hm, ich glaube, in solchen Situationen lässt man sich Autogramme geben”, schlug er schließlich vor und augenblicklich kam Bewegung in das Mädchen. Sie griff nach dem Jungen mit dem Basecap und schob ihn nach vorn. „Das ist mein Bruder Ginka! Bitte unterschreib auf seiner Mütze, das wäre das Größte für ihn!” Der Rotzlöffel nickte heftig und riss sich das Cap vom Kopf, um es ihm hinzuhalten, zusammen mit einem Stift. „Danke, danke, danke!”, murmelte seine Schwester, während Kai seine Unterschrift zwischen die von Max und Julia setzte, „Und - das war ein großartiges Match in Sydney! Wir haben die Hitze deiner Attacke gespürt, das war so cool!” „Ihr wart dort?”, fragte Kai und gab dem Kleinen die Mütze zurück. „Ja, wir wollten unbedingt alle Teams sehen, nicht nur das Finale!”, sagte das Mädchen. „Aber so eine weite Reise…”, murmelte er und dachte zurück an den anstrengenden Flug von Sydney hierher. Doch sie hob nur die Schultern. „Es war toll. Danke! - Ähm… darf ich ein Foto machen?” Kai wurde unbehaglich bei dem Gedanken, nun auch noch neben seinen Fans posen zu müssen. „Nein!”, sagte er, vielleicht ein bisschen zu schnell, und schob noch ein „Sorry” hinterher. Doch das Mädchen blieb davon unbeeindruckt. „Okay, schade. Aber danke nochmal!” Und ihr Bruder nickte wieder sehr heftig. Dann ließen sie ihn gehen. Kurz darauf kamen ihm einige Mitarbeiter der BBA zur Hilfe, die die anderen davon abhielten, ihm hinein zu folgen. Der Lärmpegel fiel auf ein erträgliches Maß zurück, sobald sich die Türen hinter ihm schlossen. Die ganze Eingangshalle war voller Blader. Weiter hinten unterhielten Max und Rei sich mit Kinomiya. Als Max ihn erkannte winkte er ihm überschwänglich zu, aber noch bevor Kai die Hand heben konnte drehten sich auch die anderen beiden zu ihm um. Es war eine Szene wie aus einer Erinnerung an die Bladebreakers. Rei lächelte ihn an. Kinomiyas Gesichtsausdruck blieb seltsam undeutbar - dabei hatte Kai geglaubt, bereits jede seiner Gefühlsregung zu kennen: Es hatte Augenblicke gegeben, in denen bei Kinomiya buchstäblich die Sonne aufging, wenn er Kai sah, und wieder andere, in denen das genaue Gegenteil passierte. Manchmal fluchte er unterdrückt (oder auch ganz offen), manchmal wirkte er ertappt oder nervös, manchmal ballte er die Hände zu Fäusten, als wolle er sich auf Kai stürzen. Und heute - war das ein nachdenkliches Gesicht? Vielleicht erwarteten sie, dass er zu ihnen hinüber ging und das alte Bild von den Bladebreakers vervollständigte. Doch diese Entscheidung blieb ihm erspart, denn in diesem Moment trat jemand dicht neben ihn und er atmete den Geruch von Haarspray und Zigaretten ein. „Na was ist hier los, Klassentreffen?”, fragte Yuriy. Als Kai sich umdrehte waren dort auch Boris und Sergeij. Boris wirkte übernächtigt, doch Yuriy war so voller Elan wie schon lange nicht mehr. „Wir haben Halle fünf. Rebyata, poydem!” Ihr Leader scheuchte sie vor sich her und Kai blieb keine Zeit, sich noch einmal nach seinem ehemaligen Team umzusehen. Während sie sich einen Weg durch die Eingangshalle bahnten, tauschte Kai einen Blick mit Boris und hob fragend die Augenbrauen. „Ich hab das Teil fertig, das du wolltest”, sagte der Grauhaarige knapp, „Deinen neuen Spin Gear.” „Du hast es also geschafft, Kuznetsov”, entgegnete Kai ehrlich anerkennend. Boris war wirklich ein Genie. Er hatte schon nicht mehr damit gerechnet, den Spin Gear zu bekommen. In seiner Tasche befanden sich, neben allen anderen Teilen seines neuen Dranzers, alternative Turbos, die jedoch bei weitem nicht das konnten, was er sich gewünscht hatte. Nun war Kai froh, dass er nicht auf sie angewiesen war. Sie betraten ihre Trainingshalle und Boris reichte ihm eine kleine Pappschachtel. „Wundere dich nicht über das weiße Zahnrad, es ist ein altes von Wolborg”, sagte er, „Und ich will dabei sein, wenn du ihn ausprobierst, klar?!” Eine Stunde später hatte Kai seinen Blade vollständig zusammengebaut und die Feinjustierung abgeschlossen. Währenddessen gewann Yuriy drüben in der Bowl ein Trainingsmatch nach dem anderen. Er war wirklich gut in Form und Kai ertappte sich dabei, wie er regelmäßig von seiner Arbeit abschweifte, um ihm einfach nur zuzusehen. Irgendwann machten sie eine kurze Pause und Sergeij und Boris verließen die Halle, um mehr Wasser zu besorgen. Kai stand auf und ging zu Yuriy, der sich auf das Podest gesetzt hatte. Der Rothaarige war verschwitzt, schien ansonsten aber bei Kräften zu sein. Er hatte seine Jacke ausgezogen, über dem Ausschnitt seines schwarzen Shirts glänzte seine Haut. Feine Haarsträhnen klebten an seinen Schläfen. Sein Atem ging noch immer schwer, als er nun zu Kai aufsah, der sich eingestehen musste, dass ihm dieser Anblick durchaus gefiel. „Ein neuer Dranzer, hm?”, fragte Yuriy und nickte mit dem Kopf in Richtung des Tisches, an dem Kai gearbeitet hatte, „Willst du eine Proberunde?” „Die habe ich Boris versprochen.” Außerdem würde Wolborg Gefahr laufen, ernsthaft Schaden zu nehmen, und das konnten sie sich nicht leisten. Das letzte Training vor einem wichtigen Kampf wurde nie mit voller Intensität durchgeführt - das Risiko, einen Blade zu beschädigen oder sich zu verletzen war viel zu hoch. Kai setzte sich neben Yuriy. „Du solltest für heute aufhören”, sagte er. Yuriy nickte und blickte versonnen ins Leere. „Wirst du es tun?”, fragte er dann und Kai wusste sofort, was er meinte. „Den roten Kometen? Ja, wenn es sein muss. Und ich schätze, es muss.” „Vermutlich”, bestätigte Yuriy. „Aber ich denke, du bist soweit. Ich habe dir alles gezeigt, was ich weiß. Versprich mir nur eins” Und damit drehte er sich zu Kai. „Tu es nur, wenn du dir absolut sicher bist. Du darfst keine Sekunde lang zweifeln, ansonsten richtest du Suzakus Energie gegen dich.” „Ich weiß…”, murmelte Kai, obwohl er sich noch immer nicht vorstellen konnte, dass seine Suzaku ihm ernsthaft Schaden zufügen würde. Aber das war nicht die Antwort, die Yuriy hören wollte. Also setzte er noch einmal an: „Ich werde vorsichtig sein.” Der andere glaubte ihm nicht, das war klar. Aber nun war es zu spät für Versprechen dieser Art. „Soll ich dir ein Geheimnis verraten?“, fragte Yuriy nach einer kurzen Pause. Kai schmunzelte und brummte, doch die nächsten Worte des anderen waren ernster als er erwartete: „Kurz nach dem Finale in Moskau habe ich etwas gelesen, über Robert Oppenheimer.“ Neugierig geworden wandte Kai sich ihm wieder zu. „Als damals in den USA seine erste Atombombe getestet wurde, hat er sich angeblich an eine Stelle aus einer hinduistischen Schrift erinnert. Darin streiten ein Gott und ein Prinz darüber, ob der Prinz in einen Krieg ziehen soll oder nicht. Der Prinz will es nicht, aber der Gott behauptet, nicht der Prinz entscheide über Leben und Tod, sondern er selbst. Er verwandelt sich in ein Monster und sagt –“ „Now I am become Death, the destroyer of worlds“, beendete Kai den Satz. In der Schule hatten sie über die Bhagavad Gita gesprochen, in einem ansonsten ziemlich unsinnigen Religionskurs. So wie Oppenheimer es zitiert hatte, war die Übersetzung falsch, aber das war wohl nicht Yuriys Punkt. „Was ist damit?“ „Es haben mich ziemlich viele Leute gefragt, wie es war, die Holy Beast Weapon einzusetzen“, sagte Yuriy, „Die BBA. Die PPB. Volkov. Aber es ist schwer zu beschreiben. Ein Gefühl, für das es keine Worte gibt. Du wirst verstehen, was ich meine. Rückblickend erschien mir das Zitat aber eine gute Metapher zu sein.“ Kais Hals war trocken geworden, er presste die Zunge gegen den Gaumen. „Aber letztendlich habe ich nie jemandem davon erzählt – es sollte niemand außer mir wissen, wie die Holy Beast Weapon sich anfühlt. Jedenfalls bis jetzt.“ Kai sagte nichts. Er dachte an die Worte. Now I am become Death, the destroyer of worlds. Sie schwiegen eine ganze Weile, bevor Yuriy schließlich wie aus dem Nichts das Thema wechselte: „Nur noch ein Match, dann ist es vorbei.” Es hörte sich nicht traurig an, im Gegenteil. „Hm”, machte Kai, weil er nicht ganz schlau aus seinem Tonfall wurde. Er legte seine Hand auf Yuriys, einfach weil er ihn berühren wollte. Er war schon den ganzen Tag unruhig. Es gefiel ihm nicht, dass morgen zwei Matches ausgetragen werden würden. Selbst wenn Kinomiya F Sangre schlug, wäre er danach geschwächt. Kai wollte einen fairen Kampf zwischen ihnen, denn falls er nur gewann, weil Kinomiya nicht auf der Höhe war, war sein Sieg bedeutungslos. Yuriy musste gesehen haben, wie sich sein Gesichtsausdruck veränderte. „Ich bin sicher, Sumeragi und Kinomiya gewinnen ihr Match morgen”, sagte er, „Und dann bekommen wir beide unsere Revanche.” „Aber findest du nicht, dass es ein ungleicher Kampf sein wird?” Yuriys Blick wurde eisig. „Ich weiß, du bist da anderer Meinung”, antwortete er, „Aber für mich zählt nur eins: Diesen Titel zu gewinnen! Ganz gleich, ob meine Gegner einen Nachteil haben oder nicht.” Kai runzelte die Stirn, wieder einmal fiel ihm auf, mit welcher Vehemenz Yuriy davon sprach, Weltmeister werden zu wollen. Irgendetwas, sei es sein Tonfall oder der fest entschlossene Ausdruck in seinen Augen, gab ihm das Gefühl, dass mehr dahinter steckte als sein Leader zugab. „Was ist los, Yuriy?”, versuchte er es also ein letztes Mal, und als der andere Verwunderung vorgab, verschränkte er die Arme. „Tu nicht schon wieder so, als wüsstest du nicht, wovon ich spreche. Du willst nicht bloß Daichi besiegen. Oder Ruhm und Ehre. Verdammt, ich glaube, du willst nicht einmal wirklich Weltmeister sein! Also warum ist dieser Sieg so wichtig für dich?” Sein Gegenüber seufzte. Er hob die Hand und strich Kai über die Wange. „Ich kann es dir nicht sagen”, antwortete er schließlich. „Noch nicht. Aber ich muss dieses Turnier gewinnen, und dafür brauche ich dich. Also mach bitte keine Dummheiten.” „Wieso sollte ich?” „Ich kenne dich gut genug um zu wissen, dass dein verdammter Stolz zu Dummheiten führt, Kai.” Darauf erwiderte Kai nichts, denn dieses Versprechen konnte er ihm nicht geben. Der Gedanke, Kinomiya allein wegen eines unfairen Vorteils zu besiegen war ihm unerträglich. Er neigte den Kopf Yuriys Hand entgegen und schloss die Augen. „Wirst du es mir nach dem Finale sagen?”, fragte er. Yuriys Daumen fuhr leicht über seinen Mund und er beugte sich ein Stück vor. „Okay”, flüsterte er, bevor er ihn küsste. Wer verführte wen? Tat Kai es, um Yuriy denken zu lassen, er würde seinen Vorteil gegenüber Kinomiya ausnutzen? Oder Yuriy, um Kai davon abzuhalten, weitere Fragen zu stellen? Wie auch immer es war, es gelang keinem von ihnen, sich darüber zu ärgern, dass das auch noch funktionierte. „Das gefällt mir nicht.” Er spürte, wie Yuriys Blick sich in ihn bohrte, doch er ignorierte es. Boris und Sergeij drehten sich zu ihm um, sie konnten ihr Erstaunen nicht verbergen. Die BBA Revolution hatte soeben das Match gegen F Sangre gewonnen. Ihnen blieb eine Stunde bis zum finalen Battle. „Was ist los mit euch beiden?”, fragte Boris, „Es läuft doch alles wie ihr es euch gewünscht habt.” „Noch dazu sind sie geschwächt”, fügte Sergeij hinzu. Yuriy verschränkte die Arme. „Ihr kennt die BBA Revolution. Wenn sie angeschlagen sind, kämpfen sie umso härter.” Dann sah er Kai erneut an, dieses Mal mit einer stummen Warnung, und Kai schloss kurz die Augen. Er musste das ignorieren. „Boris, Sergeij”, sagte er, „Ich muss euch um einen Gefallen bitten.” Er wechselte einen langen Blick mit Boris. Sein Gegenüber hob die Augenbrauen, er verstand, was Kai von ihm wollte, doch vielleicht konnte er es nicht glauben. Kai hoffte, an seinen Ehrgeiz und seinen Stolz zu appellieren, von dem Boris weitaus mehr besaß als Sergeij. Mit den richtigen Worten konnte man ihn recht schnell dazu bekommen, zu tun was man wollte. Tatsächlich reckte er kurz darauf ein wenig das Kinn und sagte: „Okay.” In diesem Moment knallte Yuriys Hand auf den Tisch, sodass sie alle zusammenzuckten. „Nein!”, sagte er laut zu Kai, „Du wirst nicht vor dem Finale gegen sie antreten!” Kais Brust wurde eng, weil Suzaku auf einmal von unten gegen sein Zwerchfell presste. Hitze stieg ihm in den Kopf. „Yuriy, es ist mein Match und meine Entscheidung!”, rief er. „Und ich bin dein Teamchef und ich erlaube es nicht!” Er hatte gar nicht gemerkt, dass sie beide aufgesprungen waren. Plötzlich standen sie sich gegenüber, den Tisch zwischen sich. Kai wusste, Yuriy konnte es ebenso wenig fassen wie er selbst, dass sie nach so langer Zeit wieder an diesem Punkt angelangt waren. Bei diesem sinnlosen Kräftemessen. Doch er war sich sicher, er würde sich mit seinem Leader schlagen, wenn es sein musste, denn sein Stolz ließ nicht zu, dass er so gegen Kinomiya antrat. Erstaunlicherweise war es Boris, der ihm beisprang. „Hör mal, Yura, lass ihn doch”, sagte er, wobei seine Augen in Kais Richtung zuckten, „Wir müssen sowieso noch den neuen Spin Gear testen.” „Das hättet ihr euch vorher überlegen sollen”, knurrte Yuriy. „Ich weiß, das Timing ist echt mies. Aber ganz ehrlich - ich warte seit Wochen darauf, Hiwataris dämliches Fressbrett einzudellen. Und jetzt bittet er sogar freiwillig darum. Sorry, aber spätestens wenn du zu deinem Match gehst, knöpfe ich ihn mir vor.” Sergeij, dessen Aufmerksamkeit auf Kai gelegen hatte, drehte sich jetzt doch zu seinem Teamkollegen. Auch Yuriy starrte Boris aus weit aufgerissenen Augen an, es schien unmöglich, dass seine Empörung sich noch steigern konnte. Dann wandte er sich abrupt ab. „Boris”, sagte er über die Schulter hinweg, „Komm mit.” Der Angesprochene seufzte und erhob sich schwerfällig. Er klopfte Sergeij kurz auf die Schulter, wie um zu sagen, dass er sich keine Sorgen machen sollte, dann verschwand er mit Yuriy vor der Tür. Kai stieß die Luft aus und merkte, wie sich seine Hände entkrampften. Auch Suzaku sank wieder zurück, sein Gesicht fühlte sich kühler an. Doch in seinem Magen blieb ein unterschwelliges Lodern. „Keine Sorge”, sagte Sergeij hinter ihm, „Die sind gleich wieder da, und dann kriegst du dein Battle.” „Wieso bist du dir da so sicher?” Woher sollten sie wissen, was die beiden dort draußen besprachen? Vielleicht würde Yuriy endlich sein Schweigen brechen und seinem besten Freund erklären, warum er so besessen von ihrem Sieg war. Dann würde wenigstens einer wissen, was ihn so umtrieb. „Ich kenne sie schon fast mein ganzes Leben. Es ist immer so.” Also war am Ende Boris der einzige, der Yuriy ins Gewissen reden konnte. Beinahe war Kai erleichtert – schließlich bedeutete das, dass es überhaupt jemanden gab, dem Yuriy sich komplett öffnen konnte. Und mit ein bisschen Glück würde das heute zu seinem Vorteil enden. Zum ersten Mal hoffte er, Boris möge die richtigen Worte finden. Sergeij behielt Recht. Nach ein paar Minuten kamen die beiden wieder zurück und Yuriy ließ sich schwer auf seinen Stuhl fallen, während Boris zu seinem Platz schlenderte. Doch anstatt triumphal wirkte er eher nachdenklich, etwas angespannt. „Also schön”, sagte Yuriy schließlich und verschränkte die Arme, „Du kriegst dein Battle, Kai.“ Weiter nichts, nicht einmal eine Erklärung zu seinem Sinneswandel. Er wirkte alles andere als zufrieden mit seiner Entscheidung. „Wir machen dich fit für Kinomiya”, fügte Boris hinzu, „Und dann lässt du deinen Krasnaja Kometa fliegen.” „Seinen was?” Sergeij fiel anscheinend aus allen Wolken. Kai erkannte an Yuriys Gesichtsausdruck, dass er Boris erzählt haben musste, für was sie in den letzten Tagen heimlich trainiert hatten. Bisher hatten sie diese Information unter Verschluss gehalten, je weniger Leute davon wusste desto besser. Er hätte nicht erwartet, dass sein Leader nun das Schweigen brach. Was sollte das überhaupt? Er hatte nicht vor, den Krasnaja Kometa gegen Boris und Sergeij einzusetzen – es würde schlichtweg nicht gehen, ohne dabei mindestens den Raum, in dem sie sich befanden, in Schutt und Asche zu legen. Seine Teamkollegen maßen ihn jetzt stumm, als wollten sie abschätzen, ob er der Attacke gewachsen war. Doch er lehnte sich nur zurück und schloss die Augen. Sollten sie doch denken was sie wollten. Suzaku hüllte ihn in eine angenehme Wärme, als wollte sie ihm sagen, er solle sich nicht von den anderen aus der Ruhe bringen lassen. Sie lenkte seine Gedanken auf das Match und er versank beinahe automatisch in ihnen, redete sich ein, den Fokus zu brauchen. „Na gut”, sagte Yuriy einige Zeit später, „Ich muss los.” Sie verließen mit ihm den Raum und liefen ein Stück den nur halb ausgeleuchteten Gang entlang. Das Gemurmel der Menge im Stadion war hier überall zu hören wie ein gleichmäßiges Brodeln. Kai merkte, wie seine Sinne sich schärften, er wollte hinaus und endlich seinen Kampf beginnen. Wie viele Wochen hatte er nun darauf hingearbeitet? Doch nein, es waren nicht bloß Wochen gewesen, sondern Jahre. Seit dem Tag, an dem Kinomiya ihn bei den japanischen Meisterschaften, noch bevor die Bladebreakers überhaupt gegründet worden waren, geschlagen hatte, sehnte er sich diesen Moment herbei. Den perfekten Höhepunkt seiner Beyblade-Laufbahn. Oder eher einen perfekten Abschluss? „Knöpf’ ihn dir ordentlich vor, Yura”, sagte Boris und boxte dem Rothaarigen gegen die Schulter. Der erwiderte mit einem müden Lächeln: „Keine Sorge.” Dann sah er Kai an und in ihrem stummen Austausch lag mehr als sie mit Worten sagen konnten. Yuriy war ausgezehrt nach den letzten Wochen, es musste auch für ihn eine Erleichterung sein, dass das kommende Match sein letztes war. Wolborg nagte an ihm wie Suzaku an Kai. „Lass mein Team heil”, sagte er schließlich, „Wir sehen uns dann dort draußen.” Kai nickte und griff kurz nach Yuriys Hand. In diesem Moment war ihre Auseinandersetzung von vorhin vergessen und für eine Sekunde bereute er seine Entscheidung, den Kampf seines Partners nicht zu sehen. Er wollte dort sein, bei ihm. Yuriy drückte seine Hand, bevor er sich aus seinem Griff löste. Dann drehte er sich zum Eingang ins Stadion um, ein helles Viereck, das hinter ihm gähnte. Er hatte schon die ersten Schritte in diese Richtung gemacht, als Kais Ruf ihn noch einmal innehalten ließ: „Yuriy!” Der Rothaarige blickte über die Schulter zurück. „Davai!”, sagte Kai grinsend und Yuriy schnaubte, bevor er ein letztes Mal winkte. Beinahe sofort fielen seine Mundwinkel wieder hinab. Sie warteten nicht, bis ihr Teamchef im Licht verschwand. Kai winkte Boris und Sergeij mit sich und führte sie tiefer in das Innere des Gebäudes. Keiner von beiden stellte unnötige Fragen, als sie einen versteckten Raum erreichten, in dem sich eine Bowl befand. Kai hatte sich schon vor Jahren zufällig nach einem weitaus unbedeutenderen Turnier hierher verirrt und kehrte seitdem immer zurück, wenn er Ruhe brauchte und alleine trainieren wollte. Erst als die schwere Metalltür hinter ihnen zufiel, hob Boris die Stimme. „Einen Krasnaja Kometa also”, sagte er. „Seid ihr beide eigentlich total bescheuert, Hiwatari? Wie hast du Yuriy dazu bekommen, dazu ja zu sagen?” „Das braucht dich nicht zu interessieren”, entgegnete Kai kühl. „Es interessiert mich aber. Yuriy sollte sich nicht mehr als nötig an die ganze Scheiße mit Volkov erinnern müssen.” Boris verschränkte die Arme. „Hast du ihn deswegen die ganze Zeit bezirzt?” „Das hat nichts miteinander zu tun!”, sagte Kai und spürte augenblicklich, wie auch Suzaku sich in ihm aufbäumte. Wenn er nicht aufpasste, würden sie beide sich gegenseitig binnen Sekunden hochschaukeln und ihn dazu bringen, um sich zu schlagen, egal ob nun verbal oder nicht. Boris hob die Hände. „Ist ja gut, spei‘ nicht gleich Feuer.“ Seine Stimme klang jedoch bei Weitem nicht so selbstsicher wie sonst. Irgendetwas in Kais Ausbruch musste ihn verschreckt haben. Auch Sergeij wirkte zögerlich. „Seid ihr jetzt zu feige oder was?“, fuhr Kai sie an, dann ging er zur Bowl, die im Halbdunkel vor ihnen gähnte. Suzakus Ungeduld war auf ihn übergegangen. Er zog Dranzer und den Starter aus seiner Innentasche und machte sich bereit. „Kai, bist du sicher, dass…“, setzte Sergeij an, doch Boris unterbrach ihn: „Egal jetzt.“ Auch er hatte nun seinen Starter in der Hand und klickte Falborg auf, während er zur Bowl ging. „Jetzt wird abgerechnet, kleiner Zarewitsch.“ Das war eine Herausforderung nach seinem Geschmack. Sie starteten ihre Blades. Mit einem metallenen Knirschen kam Dranzer in der Bowl auf und raste funkensprühend davon. Die Augen der anderen beiden folgten seiner Spur. Sie spürten es: Das war nicht mehr der Blade, mit dem Kai in Sydney Rei besiegt hatte. Dieser hier verhielt sich anders, wie von roher Kraft beseelt. Kai sah ein Zögern in Boris‘ Gesicht, das jedoch beinahe sofort wieder verschwand. Falborg ging zum Angriff über, schoss auf Dranzer zu und drängte ihn zurück. „Ha!“, entfuhr es ihm, „Großes Maul und nichts dahinter, aber das kennen wir ja.“ „Reiz‘ mich nicht, Boris“, sagte Kai, „Reiz‘ mich nicht.“ Suzaku war wach und bereit, sie sandte tastende, brennende Finger durch seine Eingeweide und machte unmissverständlich, was sie wollte: kämpfen. Dieser Gedanke überschattete bald alle anderen. Als Falborg ihm das nächste Mal zu Leibe rückte, hielt Dranzer ihn auf. Mit einem kleinen Schlenker wehrte er ihn ab, jedoch nicht für lange. Eines musste man ihm lassen, Boris konnte blitzschnell aufeinanderfolgende Attacken fahren. Vor ein paar Wochen hätte das noch problematisch für Kai werden können, doch nun war ihm, als könne er voraussehen, was sein Gegner als nächstes tun würde. Er wehrte jeden Schlag ab. Auch Boris ging irgendwann auf, dass er ihn nicht treffen konnte, und er stieß einen frustrierten Laut aus. Sein hitziges Gemüt würde ihm noch zum Verhängnis werden. „Ist das alles was du kannst?“, fragte Kai höhnisch, „Kein Wunder, dass Yuriy deinen Platz im Tagteam an mich gegeben hat.“ „Halt dein dummes Maul!“, fuhr Boris ihn an und Falborg mimte seine Wut. „Sonst was? Rennst du zu Yuriy und weinst dich aus?“ Er hoffte darauf, dass Boris nun in die Vollen ging und seinen Stroblitz ausführte, doch seltsamerweise passierte das genaue Gegenteil. Falborg ließ von Dranzer ab und brachte etwas Abstand zwischen sie beide. Verwundert hob Kai den Blick. „Du hältst dich für so besonders, oder, Hiwatari?“, fragte Boris leise, „Immer noch derselbe kleine Prinz wie damals. Denkst du, du kannst mit uns machen, was du willst, nur weil Yuriy dir einen Moment zu lang auf den Hintern gestarrt hat?“ „Oh bitte, Boris, mach dich nicht lächerlich.“ Dranzer schoss vor und brachte Falborg aus der Bahn, doch der beschleunigte und wich den nächsten Schlägen geschickt aus, bevor er konterte. Seine Präzision war bewundernswert; es gab nicht viele, die Dranzer bei einer derartigen Geschwindigkeit noch erwischen würden. Trotzdem war seine Durchschlagkraft zu gering, er konnte ihm nicht viel anhaben. „Weißt du, was sie in der Abtei gesagt haben, als du wieder aufgetaucht bist?“, fragte Boris. „Es gab da ein ziemlich unschönes Gerücht über dich. Dass Voltaire keine Verwendung für dich hatte. Dass er dich loswerden wollte. Weil du schlichtweg zu schwach warst.“ Kai runzelte die Stirn. Was sollte das? Er hatte damals gemerkt, wie die anderen Kinder feindselig hinter seinem Rücken getuschelt hatten und hatte es schlichtweg ignoriert. Zumindest, bis er festgestellt hatte, dass sie nicht nur flüsterten, sondern auch über ihn lachten. Für einen Moment verlangsamte Dranzer sich, und sofort schlug Falborg in ihn ein. „Deine eigene Familie hat dich an die Abtei verkauft.“, fuhr Boris unbeirrt fort, „Und für Voltaire warst du nur Kanonenfutter für Black Suzaku. Alle haben das geglaubt. Als du dann gegen Sergeij verloren hast, war das nur Bestätigung.“ „Warum erzählst du mir diesen Scheiß?“, fragte Kai gereizt, er spürte einen Stich bei diesen Worten. Dranzer attackierte seinen Gegner kurz, aber heftig. Noch immer vertrug Kai es nur schwer, wenn man ihn schwach nannte, noch dazu im Zusammenhang mit der Abtei, wo Schwache gar nichts zählten. Und diese Erinnerungen waren, im Gegensatz zu allen anderen, noch frisch genug, um den Frust erneut in ihm aufkommen zu lassen. Boris‘ Grinsen verschwand nicht, es wurde sogar noch breiter. „Oh, ich dachte, du wüsstest gern, wie dieses Gerücht entstanden ist“, sagte er, „Oder besser: Wer es verbreitet hat.“ „Boris!“, erklang auf einmal Sergeijs warnender Ruf. Kai sagte nichts. Seine Zähne waren aufeinander gepresst und Suzaku brodelte wie heiße Lava in seinem Magen. Boris legte den Kopf schief. „Es war Yuriy.“ Es war, als hätte jemand einen Stein in die Lava geworfen: Sie spritzte in alle Richtungen, in jede Faser seines Körpers. „Das ist nicht wahr!“ Enttäuschung schwappte über ihn, seine Emotionen schluckten fast alle rationalen Gedanken. Irgendwo sehr weit hinten in seinem Kopf flüsterte etwas, dass er überreagierte, aber die Wut, die in ihm aufwallte, war so viel stärker. „Oh, jetzt wein‘ doch nicht“, sagte Boris, „Yuriy macht ständig so etwas. Je nachdem, ob er dich braucht oder nicht. Du weißt ja, wie… nett er sein kann, wenn er sich was davon verspricht. Aber scheinbar kennst du ihn nicht gut genug. Sonst wärst du nicht so überrascht.“ Die Art und Weise, wie er die Worte aussprach, machten diese zu kleinen, eisigen Geschossen, die sich in Kai bohrten und seinen Zorn noch weiter anfachten. Wenn Boris hoffte, ihn zu verunsichern und zu schwächen, so ging das nach hinten los: Suzakus Macht wuchs immer weiter an. Doch das schien Boris nicht zu bemerken, denn er machte immer noch weiter. „Naja, es wundert mich nicht. Immerhin wissen alle, dass man dir nicht trauen kann. Yuriy will halt nur ein bisschen Spaß, bevor du bei der nächstbesten Gelegenheit wieder zu Kinomiya zurückrennst.“ „Warum sollte ich dir glauben?“ Kais Stimme bebte. „Weil er es mir gesagt hat.“ Für einen Augenblick sah er buchstäblich rot. Als Boris diese Worte aussprach, riss Suzaku die letzten Schranken ein, die Kai ihr gegeben hatte. Später würde er sich nicht erinnern können, was in diesen Sekunden geschah. Seine Wahrnehmung setzte erst wieder ein, als Falborg sich mit einem lauten Krachen in die Wand hinter Boris bohrte, während der ihn aus weit aufgerissenen Augen anstarrte. Die ganze Szene wurde von einer Flammensäule beleuchtet, die kurz darauf in sich zusammenfiel. Alles war still. Dann bemerkte Kai, wie schwer er atmete. Er musste sich zwingen, seine Hände zu entkrampfen. „Verdammt, Kai“, keuchte Boris, der sich nicht von der Stelle gerührt hatte, „Du weißt, dass ich nur Müll geredet habe, oder?“ „Was?!“ Plötzlich stand Dranzer erneut in Flammen und Boris wich zurück, als der brennende Blade nur sehr knapp an ihm vorbeizischte. Selbst Kai war überrascht davon, welches Eigenleben Dranzer entwickelt hatte. Aus den Augenwinkeln bemerkte er eine Bewegung. Sergeij ging auf sie zu und stellte sich neben Boris, Seaborg bereit zum Kampf. „Was machst du?“, fragte Boris. „Es ist besser so“, entgegnete Sergeij, „Er kann so nicht auf Kinomiya losgehen.“ Boris‘ Blick wanderte von seinem Teamkollegen zu Kai, wo er lange verweilte. Dann nickte er langsam. „Okay. Ich hole Falborg.“ Kai rührte sich nicht. Während Dranzer leuchtende Kreise zog, wartete er einfach ab, versuchte, zu verstehen, was gerade passiert war. Dieses Mal war Boris wirklich zu weit gegangen, seine Beleidigung hatte ihn an einer sehr empfindlichen Stelle getroffen und saß noch immer tief. Kai, vielleicht aber auch Suzaku, sann auf Rache. Schließlich kam Boris zurück, Falborg steckte schon wieder auf seinem Shooter. Sergeij und er gaben sich ein kaum merkliches Zeichen, dann starteten sie gleichzeitig ihre Blades, die mit Wucht in der Bowl einschlugen. Kurz kam Kai in den Sinn, dass Dranzers Ausdauer beachtlich gestiegen war, immerhin hatte er einige Schläge eingesteckt und sich die ganze Zeit über gedreht – von seiner Angriffsstärke hatte er trotzdem nichts eingebüßt. Die ersten Attacken prallten einfach an ihm ab. „Lass sie frei, Kai“, sagte Sergeij, „Lass Suzaku fliegen!“ Wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen kam Seaborg ihm wieder näher, dabei leuchtete sein Bit Chip auf. Als der große Wal sich über der Bowl zu erheben begann, fühlte Kai Suzaku tief in seinem Inneren. Sie reagierte auf Seaborg, aber anders als sie auf Seiryu und die anderen reagieren würde oder auf völlig fremde Bit Beasts. Er spürte es nicht zum ersten Mal, es musste ein irgendwie geartetes Band zwischen Suzaku und den Borg Bit Beasts geben, das er sich allerdings nicht erklären konnte. Und er erinnerte sich an den Moment, in dem er Seaborg ebenfalls so über sich hatte aufragen sehen. An das Gefühlt einer ohnmächtigen Wut, nicht nur auf Sergeij, sondern vor allem auf seinen Großvater und die ganze Borg. Und trotzdem verloren zu haben - Für ihren Kampf war das egal. Alles war egal geworden. Endlich erlaubte er Suzaku, ihre Hülle zu verlassen. Sie umschloss ihn mit ihren flammenden Schwingen, die den ganzen hohen Raum in rotes Licht tauchten. Dann ging sie auf Seaborg los, während die Blades in der Bowl erbittert miteinander rangen. Auch Boris mischte sich jetzt wieder ein und rief Falborg. Dranzer und Suzaku wurden eingekeilt. Kai spürte ihren Druck körperlich, zwischen seinen Ohren bereitete sich ein nervtötendes Ringen aus, das alle Geräusche schluckte. Er sah, wie sich die Münder seiner Teamkollegen bewegten. Aus Seaborg brach ein Geysir hervor und Falborg produzierte messerscharfe Windböen, die über die Bowl auf ihn zu fegten. Eine kombinierte Attacke? Beinahe hätte er gelacht, doch es war nicht sein, sondern Suzakus Hohn, der in ihm wiederhallte. Er konnte nicht sagen, wo sein Geist aufhörte und ihrer begann, und erst recht nicht, wer von ihnen die Oberhand hatte. Aber das machte nichts, sie wollten beide nur eins: dieses Battle gewinnen. Suzaku stieg in die Luft und alle Blicke folgten ihr. Ihr Licht blendete, doch Kai hatte sie schon immer ohne schmerzende Augen anblicken können. Er sah, was anderen verwehrt blieb, die feinen, goldenen Federn, die bei jeder Bewegung kleine Funken sprühten, die glänzenden Klauen, die brennenden Augen. Sie war so schön. Dann wurde sie Feuer. Suzaku stieß hinab auf die Blades und alles versank in ihrer Zerstörungswut. Das hohe Ringen wurde endlich leiser, wollte aber einfach nicht verschwinden. Das Gebrüll der Fans bekam er nur am Rande mit, genauso wie Yuriys Gesichtsausdruck, der eine seltsame Mischung aus Überraschung, Sorge und Wut war. Sein Leader war ziemlich mitgenommen. Kai sah, wie sein Mund sich bewegte, doch die Frage kam nicht bei ihm an. Er wandte den Blick von ihm ab und fokussierte das Podest mit der Bowl, das vor ihm aufragte. Dort war Kinomiya. Auch in dessen Gesicht stand leichter Schock und Kai ging auf, dass er vielleicht schlimmer aussah als er selbst annahm. Nun, Boris und Sergeij hatten schließlich ganze Arbeit geleistet, das musste man ihnen lassen. Er schleppte sich die Stufen zur Bowl hoch und machte sich bereit, doch DJ schien noch immer ganz verdattert von seinem Auftritt zu sein. Beinahe hätte Kai ihn angefahren, damit er sich endlich bewegte. Er hatte schon viel zu lange auf diesen Moment gewartet und seine Geduld war am Ende. Außerdem befürchtete er, dass seine Hände anfangen könnten zu zittern, sobald auch sein Körper begriff, was in diesem Augenblick auf dem Spiel stand. Ein mechanisches Knacken erklang und mit einem Mal hörte auch das Ringen in Kais Kopf auf. Plötzlich prasselten alle Geräusche in der gewohnten Lautstärke auf ihn ein, die Fans und Daitenjis Stimme, die durch die Arena hallte. Es dauerte allerdings ein paar Sekunden, bis der Inhalt seiner Worte für Kai Sinn ergab, und gerade als er verstanden hatte, dass sie ein neues Stadium bekommen würden, löste sich auch schon der Boden um ihn herum auf. Kurz wurde ihm schwindlig. In seinen Gliedern pulsierte der Schmerz und Suzaku, das fühlte er nun erst bewusst, lag wie eine große, glühende Kohle in ihm. Das Brennen war in letzter Zeit nie abgeklungen, er hatte sein Bit Beast Tag und Nacht spüren können wie einen Parasiten, und mittlerweile hatte er sich sogar schon daran gewöhnt. Doch das Battle vorhin hatte sie erstarken lassen. Sie brannte, und er mit ihr. Manchmal, für Momente, die höchstens so lang waren wie ein Blinzeln, rückte er selbst in den Hintergrund, betrachtete die Funktionen seines Körpers, als hätte er nichts damit zu tun, und Suzaku übernahm die Führung. Sie lenkte ihn, ihre Gedanken waren auf Seiryu gerichtet und es gab nichts, womit er sie hätte aufhalten können, wenn sie aus ihm herausbrechen würde. Doch dann fasste er sich wieder und machte sich bemerkbar, sodass sie ihn nicht ignorieren konnte. Sie brauchte ihn, und auch deswegen durfte sie seinen Körper nicht beschädigen. Das Stadium tat sich unter ihm auf, eine kleine Einöde, Staub, Sand und Fels. Genug Freiraum, um große Attacken fahren zu können. Genug Hindernisse, um es spannend zu machen. Die BBA hatte sich wirklich übertroffen. Kinomiya war nun weiter von ihm entfernt, doch selbst jetzt konnte er sehen, wie seine Mundwinkel sich hoben. Vermutlich dachten sie beide dasselbe - dieses Stadium war perfekt. Kai besah sich seinen Gegner. Er war unschlüssig, was er fühlte, und sein Hirn war zu beschäftigt mit anderen Eindrücken: die Schmerzen, das Brennen, die Geräusche. Vielleicht war es gut, dass ihm die Fatalität dieses Moments nicht gänzlich bewusst war. Nur am Rande, und viel zu spät, hatte er wahrgenommen, dass Yuriys und Sumeragis Match im Unentschieden geendet hatte. Als wäre der Druck nicht so schon groß genug. Energisch schob er diese Gedanken nach hinten, es war nicht wichtig. Was zählte, war das Hier und Jetzt und dieser Kampf. Es war ihnen nie schwer gefallen, einen Grund zum Streiten zu finden. Wenn Kai ehrlich zu sich war, dann hatte er sogar einen ziemlichen Spaß daran, Kinomiya mit scharfen Kommentaren aus der Fassung zu bringen. Und es funktionierte ja so leicht. Dafür rächte sich der andere, indem er sein Wissen über Kais Empfindsamkeiten gnadenlos ausnutzte, wenn es sein musste. Doch in einer Sache waren sie sich absolut einig: Wenn sie sich bei einem Beyblade-Match gegenüberstanden, ging es nur darum. Keine Sprüche, keine Tricks. Nur reines, brutales Kräftemessen. Und so begann ihr Kampf. Ohne zu zögern schickten sie Dranzer und Dragoon in einen ersten, direkten Angriff. Als die Blades sich in der Mitte des Stadiums trafen, entstand ein Rückstoß, der Kai beinahe von den Füßen riss. In letzter Sekunde warf er sich dagegen, doch es blieb keine Zeit, einen festen Tritt zu fassen, denn schon folgte die nächste Welle. Auf den Rängen keuchten und schrien die Zuschauer. Kais Gedanken rasten, mit so einer Energie hatte er nicht gerechnet. Kinomiya wirkte ebenfalls verblüfft, als ihre Blicke sich trafen. Waren sie so stark geworden, dass ihre Blades sich nicht mehr berühren konnten, ohne eine Explosion auszulösen? Kai sah Verwirrung, aber kein Zögern in Kinomiyas Augen, während um ihn herum schon das Gestein zu bröckeln begann. Sein Gegner war nicht bereit, den Kampf wegen ein paar Schallwellen abzubrechen. Auf sein stummes Kommando hin drängte Dranzer Dragoon ab und machte sich die losen Felssplitter, die sich überall verteilten, zunutze. Dragoon blieb zwischen ihnen stecken und das verschaffte Kai eine kurze Atempause - zumindest, bis der gegnerische Blade durch das Gestein brach. Eine Schrecksekunde lang dachte Kai, er könnte die Attacke nicht abwehren, dann zuckte Suzakus Hitze durch ihn und irgendwie gelang es ihm, blitzschnell zu reagieren. Dranzer traf Dragoon im richtigen Winkel und der weiße Blade schoss davon, direkt auf Kinomiya zu. Einen Augenblick später war die Luft voller Steinsplitter und Staub. Kai war noch mit sich beschäftigt. Wie war das eben passiert? Für einen Moment hatte er das Battle aus Suzakus Augen gesehen, viel detaillierter und auch viel langsamer. Etwas Ähnliches war beim Kampf gegen Boris geschehen. War das das Ergebnis ihrer neuen, engen Bindung? Es schien, als hätte er alle Zeit der Welt, sich einen Schlag zu überlegen und ihn auszuführen. Und eigentlich hatte er Dragoon nicht so heftig zurückschlagen wollen… Als der Staub sich legte, lag Kinomiya unter ihm in der Arena. Vom BBA Team kamen erschrockene Ausrufe und kurz dachte Kai daran, wie Hiromi ihm nach dem Kampf die Leviten lesen würde. Dann rappelte Kinomiya sich wieder auf. Er war unversehrt, natürlich. Es würde ihn nicht wundern, wenn Seiryu die Luft so manipulierte, dass er nie hart fallen musste. Kai ließ ihm keine Zeit, sich zu erholen. Kaum hatte er den Gedanken geformt, stand Dranzer in Flammen. Es war unheimlich, wie mühelos sein Blade reagierte, eine Zeitverzögerung zwischen Befehl und Ausführung war quasi nicht mehr vorhanden. Dranzer schoss vor, doch um Dragoon begann die Luft zu wirbeln. Der Sturm war bei weitem nicht der stärkste, den Kinomiya beschwören konnte, doch die sandige Arena tat ihr Übriges. Kai musste sich mit den Armen abschirmen als der Staub ihn einhüllte. Und dann spürte er, wie der Boden unter ihm wegbröckelte. Es blieb keine Zeit, sich darauf vorzubereiten, dass er fiel. Er kam seitlich auf den Felsen und Überbleibseln einer Empore auf, ein schmerzvolles Zischen entwich ihm, dann riss der Schwung seinen Körper mit sich. Er rollte den Rest des kleinen Abhangs hinunter und blieb benommen auf dem Rücken liegen. Jetzt bloß schnell wieder auf die Beine kommen. Es war eine uralte Predigt, die er noch aus Abteizeiten kannte, und sie galt für Battles und Prügeleien gleichermaßen: Wenn du einen Schlag einsteckst, steh schnell wieder auf, sonst bleibst du unten. Und so zwang Kai seine Beine und Arme, ihn wieder hochzustemmen und zu tragen. Und es ging weiter. Angriff, Abwehr, Angriff, Abwehr. Auf seltsame Art war dieser Kampf wie alle anderen, folgte dem immer gleichen Schema aus Aktion und Reaktion und Prävention. Es gab immer noch zwei Seiten und immer noch eine Arena und immer noch rangen sie darum, wer der Stärkere, Schnellere, Bessere von ihnen war. Würde sich das jemals ändern? Auch wenn jede Faser seines Körpers auf ihr Battle ausgerichtet war, übermannten Kai Erinnerungen. Es war nur etwas mehr als drei Jahre her, dass er Kinomiya zum ersten Mal in dieser Arena gegenüber gestanden hatte. Etwas war passiert bei diesem Match, das der andere gewonnen hatte. Lange hatte Kai geglaubt, nur sein Ego wäre angekratzt, denn er war es nicht gewöhnt, zu verlieren. Noch dazu gegen ein Kind wie Kinomiya es damals war. Doch es steckte mehr dahinter. Kinomiya war wie der Wind, wankelmütig und schwer zu greifen, und wann immer Kai dachte, endlich wieder die Oberhand zu gewinnen, schlug er mit der Stärke eines Orkans zurück. Es war ihm nie gelungen, ihn wirklich zu besiegen, trotz der vielen Schwächen. Und auch wenn er oft nicht verstand, warum Kinomiya die Dinge tat, wie er sie tat, auch wenn er sich über ihn ärgerte oder seine bloße Nähe manchmal einfach nicht aushielt, waren sie Freunde. Und der Grund, warum er vor Kinomiya floh, war, dass der ihn besser kannte als alle anderen. Takao Kinomiya hatte die Fähigkeit, ihn komplett zu durchschauen. Das Unheimliche war: Für Kai war Kinomiya oft ein komplettes Rätsel. Seine Sorglosigkeit, sein Vertrauen zu anderen faszinierten ihn, und er ertappte sich bei dem Gedanken, genauso sein zu wollen, vielleicht nur für einen Tag. Ob das Leben so besser war? Kinomiya jedenfalls schaffte es nicht zuletzt durch diese positive Grundeinstellung, ihn immer und immer wieder zu besiegen. Es war das einzige, das Kai beim Beybladen antrieb: Noch stärker zu werden, um Kinomiya endlich beweisen zu können, dass er gut genug war. Bei ihm hatte er immer das Gefühl, nicht nur ein besserer Blader, sondern auch ein besserer Mensch sein zu müssen. Auch sein Rivale schwächelte manchmal, das war ganz natürlich bei seiner Flatterhaftigkeit, doch Kai würde nicht zulassen, dass er von jemand anderem besiegt wurde als ihm. Wenn er nur eines für ihn tun konnte, nämlich dafür zu sorgen, dass auch er irgendwie besser wurde, dann war es alle Anstrengungen wert. Suzaku presse von innen gegen seine Organe und löschte alle Erinnerungen aus. Er war wieder im Hier und Jetzt, denn sie wollte frei sein und kämpfen. Er konnte sie nicht länger zurückhalten. Sobald sie über Dranzer aufstieg, spürte Kai Seiryus Energie. Normalerweise bemerkte er die Bit Beasts seiner Gegner nicht in dieser Intensität. Bei Genbu, Byakko und Seiryu war es seit jeher anders. Und so fuhr auch die Kraft des Drachen durch ihn, verwirbelte Suzakus Flammen. Sie setzten zur finalen Attacke an, Dragoon entfachte einen Sturm, doch Kai war darauf vorbereitet. Nun endlich würden sein Training und Boris’ präzise Arbeit Früchte tragen. Dranzers feine Rädchen begannen zu arbeiten, flüchtig dachte Kai an das weiße Zahnrad, das eigentlich zu Wolborg gehörte, dann wurde der Spin Gear aktiviert und ein Flammenwirbel brach aus seinem Blade. Kinomiyas Galaxy Storm hielt ihn auf, natürlich tat er das. Der Turbo war bald aufgebraucht, doch anstatt sich danach zurückzuziehen setzte Kai zu einer weiteren Attacke an. Er hatte bei Weitem noch nicht alles gezeigt. Ein kurzes Rucken ging durch seinen Blade und er hörte das zweite Klicken des Spin Gears, dann ging Dranzer in den Reverse Turbo. Von Kinomiya, und vermutlich nicht nur von ihm, kam ein überraschter Aufschrei. Kapitel 9: Bakuten III - Finale II ---------------------------------- We knew the world would not be the same. A few people laughed, a few people cried, most people were silent. I remembered the line from the Hindu scripture, the Bhagavad-Gita: Vishnu is trying to persuade the Prince that he should do his duty and, to impress him, takes on his multi-armed form and says, „Now I am become Death, the destroyer of worlds.“ I suppose we all thought that, one way or another. (Robert Oppenheimer) Kaum zu glauben, dass diese Attacke unwirksam war. Gott, Boris würde sauer sein. Der ganze Aufwand, nur, um schon nach wenigen Minuten einen neuen Gleichstand zu haben. Beide Blades lagen reglos im Staub und Kinomiya und er standen sich schwer atmend gegenüber. Kai spürte keinen Schmerz mehr, nur noch Hitze, die in ihm pulsierte. Ohne das Training mit Yuriy hätte die Verbindung mit Suzaku niemals so stark werden können. Ob Kinomiya Seiryu in gleicher Weise spürte? Und wenn ja, wie hatte er dieses Band aufbauen können? Kai schüttelte leicht den Kopf, diese Fragen würden ihn jetzt nicht weiter bringen. Langsam hob er die Hände und nahm seinen Schal ab, der schwere Stoff sank unbeachtet neben ihm zu Boden. Kinomiyas Basecap war ihm vom Kopf geweht, nun hob er sie auf und klopfte den Staub ab, bevor er sie wieder überstülpte. Dann holten sie ihre Blades zurück, bereit für die nächste Runde. „Das ist Wahnsinn”, raunte Kinomiya ihm zu als sie sich gleichzeitig vorbeugten, um nach Dranzer und Dragoon zu greifen. „Angst, Kinomiya?”, flüsterte er zurück. „Träum weiter, Kai!” „Hn”, machte er und ein Grinsen grub sich in seine Mundwinkel. Ja, es stand einiges auf dem Spiel, und nicht nur für sie beide - dennoch hatte er in diesem Augenblick verdammt noch mal Spaß. Dann jedoch wurden sie von Daitenji unterbrochen. Kai traute seinen Ohren kaum, als der Alte tatsächlich Anstalten machte, sie beide zu den Gewinnern des Turniers zu erklären. Suzaku ließ wilde Flammen in ihm aufzüngeln und er hatte kurz das Gefühl, Feuer speien zu können wenn er nur den Mund öffnen würde. Doch dann waren es Worte, die aus ihm herausbrachen, seine ganze Entrüstung und Wut. Es war nicht fair, diesen Kampf nun als unentschieden zu werten, nicht nach den ganzen Strapazen, durch die er in den letzten drei verdammten Jahren gegangen war! Kinomiya blieb seltsamerweise stumm. Vielleicht erstaunte ihn Kais Ausbruch. Doch von den anderen Teams, die nun von ihren Sitzen aufsprangen, bekam er Zustimmung. Rei und Max waren da und die anderen Mitglieder von Baihuzu und den PPB All Starz. Daichi kreischte irgendwas. Sein eigenes Team konnte Kai nicht finden, aber irgendwie hatte er das Gefühl, dass sie hinter ihm waren. Er wollte sich nicht umdrehen, um nachzusehen. Schließlich und nach einigem Zögern gab Daitenji nach. Dann stand wirklich wieder alles auf null. Eine zweite Chance, unglaublich: Wie viele Chancen brauchte er denn noch, um Kinomiya zu besiegen? Ihm war, als hätte sein Leben in den letzten Jahren nur aus dem Warten auf diese Chancen bestanden. Die Blades krachten aufeinander, dieses Mal waren sie für die freigesetzte Energie gewappnet. Noch mehr Felsen brachen, flogen um sie herum, doch Kinomiya schien es genauso wenig zu merken wie Kai, wenn sie von Steinen getroffen wurden. Der Wind hob erneut an, verwirbelte sich und bildete eine Säule, die bis zu Decke – wo zur Hölle war die Decke der Halle geblieben? Kai hatte keine Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, wenn er auch ahnte, dass es zum Teil seine Schuld war, dass nun helles Sonnenlicht auf die Arena herabfiel. Bis Seiryus Unwetter dräuten und den Himmel bedeckten. Wieder spürte er den Drachenatem auf seiner Haut – er durfte ihn nicht zu nahe an sich heranlassen. Mit dem erneuten Blazing Gig Tempest stieg Suzaku über Dranzer auf. Um Dragoon bildete sich in buchstäblicher Windeseile der Orkan des Galaxy Turbo Twisters. Kai fühlte, wie er an seiner Kleidung zerrte. Immer mehr Staub wurde aufgewirbelt und er musste heftig dagegen anblinzeln. Wo nahm Kinomiya diese Stärke her? Er musste doch mindestens so ausgelaugt sein wie Kai selbst. Er war sich sicher, wenn sie das Battle in diesem Moment abbrachen, würde er einfach das Bewusstsein verlieren. Nur Suzakus Energie hielt ihn noch auf den Beinen, sein Körper war am Ende. Im letzten Moment gab sein Bit Beast ihm eine Eingebung, Dranzer bewegte sich in präzisem Gleichklang mit seinen Gedanken und seine Zan-Attacke zerschnitt den Orkan. An eine Atempause war jedoch nicht zu denken. Sie gingen einfach weiter aufeinander los. Kai fühlte, wie ihm die Sinne schwanden. Er spürte seinen Körper nicht mehr. Sein Sichtfeld war von einem hellen Flimmern erfüllt, ein Leuchten, das ihm durch den Kopf stach, dann war alles dunkel. Nein, er war nicht ohnmächtig. Aber wo war er? Kurz meinte er, wieder mit Yuriy zu trainieren, abgeschirmt von dessen Dom aus Eis – doch dafür war es viel zu warm. Und dieses Glitzern über ihm – waren das Sterne? Takao war hier. Er stand nur ein paar Schritte von ihm entfernt. Lächelte. Die Arena war verschwunden und mit ihr das ganze Stadion, selbst die Blades waren nicht mehr da. Doch die Präsenzen ihrer Bit Beast umschlangen sie noch immer. Hatten Seiryu und Suzaku diese Welt erschaffen? Ihm lagen Fragen auf der Zunge, doch er konnte nicht sprechen. Das einzige, das in dieser Umgebung sicher war, war Takao. Mochte alles andere auch nur ein Trugbild sein, er war da. Wie immer. Ihre Blicke bohrten sich ineinander und ein tiefer, innerer Friede erfüllte Kai, den er so noch nie gespürt hatte. Nicht einmal in Yuriys Armen. Die kleine Stimme in seinem Kopf, die ihn stets ermahnte, besser und stärker sein zu müssen als alle anderen, verstummte. Sie hinterließ eine Leere, eine Stille, ein erleichterndes Schweigen. Dann durchfuhr Suzaku seinen Körper, machte ihn sich zu Eigen. Er wurde zu ihrem Feuer, alles in ihm stand in Flammen und er glaubte wirklich, er würde verbrennen. Für einen Moment war er sich sicher, sie würde ihn opfern, um Seiryu zu schlagen. Stattdessen wuchs der Krasnaja Kometa. Suzaku lenkte ihn, ihre Kraft fuhr durch ihn wie ein Fluss durch ein verengtes Bett – dafür hatte er trainiert, doch er hätte sich nicht ausmalen können, wie es wirklich war, diese Attacke auszuführen. In diesem Moment glaubte er Yuriy jedes Wort – nur eine falsche Bewegung und sein Körper würde zerreißen. Ob Suzaku ihn trotz allem schützte? Sie waren nun eins, und dank ihrer Sinne spürte er nun auch all die anderen Bit Beasts in unmittelbarer Nähe. Seiryu natürlich, er war wie ein Leuchtturm im Dunkeln, dann Genbu und Byakko und Gaia… Wolborg, Falborg und Seaborg. Die anderen verschwammen zu einer diffusen Masse, doch sie waren da. Hinter ihm stieg unheilvoll der rote Komet auf. Sein Licht fiel auf Takao, in dessen Mimik sich die Erkenntnis widerspiegelte. Was sah er? Sah er nur Kai oder sah er, wie die Metamorphose vonstattenging, in der er sich befand? Ihm war, als würden ihm geisterhafte neue Gliedmaßen wachsen und Suzaku diktierte seinem Körper die Form. Alles war konfus, und gleichzeitig war da eine Klarheit in seinem Bewusstsein, die er so nicht kannte. Sein Blick schärfte sich, auf einmal erschien Takaos Gesicht ihm so nah, als stünde er direkt vor ihm. Wie immer stürzte Takao sich kopfüber in seinen Abgrund. Das letzte, was Kai sah, war Seiryu, der wie ein rasender Pfeil auf ihn zugeschossen kam. Dann, fand er sich auf dem Rücken liegend wieder. Die Sterne leuchteten noch immer an dem Himmel über ihm, sein Blick war noch immer phantastisch klar. Ihm war, als könne er das ganze Universum erfassen. Und auch der Friede in ihm hielt an. Takao lag neben ihm, so nah, dass ihre Arme sich berührten. Das Gefühl von Takaos Haut an seiner war unendlich intensiv, als könne er in den anderen hineinspüren, seine Emotionen erahnen. Der gleiche Friede. Die Fröhlichkeit, die ihn an tanzende Blätter im Wind erinnerte. Auch in Takao war Dunkelheit, natürlich, doch nicht in diesem Moment. Und was war mit seiner eigenen Dunkelheit, die so viel mehr Raum einnahm? Auch sie – verschwunden, stattdessen nur ein Schwelen wie von Glut in ihm. Er hatte immer gedacht, wenn seine Dunkelheit verschwand, hinterließe sie nur endlose Leere. Er wollte sich umdrehen und Takao in seine Arme ziehen. Immer war er das einzige gewesen, an dem Kai sich festhalten konnte. Warum mussten sie sich dann ständig bekämpfen? Vielleicht war es einfach ihre Art, Zuneigung auszudrücken. Und schließlich waren sie beide auch Kinder ihrer Welt. In ihrem irdischen Leben würden sie wohl immer wieder aneinander geraten. Als Kai sich aufsetzte, spürte er keinen Schmerz, obwohl sein Körper arg mitgenommen sein musste. Der Blick ging weit in die Ferne, der Sternenhimmel erstreckte sich bis an die Grenzen seines Bewusstseins. Es war schwindelerregend, und so wandte er sich ab und sah das einzige an, das ihm in dieser Traumdimension Halt gab: Takao. Dessen Blick war nach oben gerichtet und so voller Neugier und Erstaunen, dass sich ein Lächeln in Kais Mundwinkel setzte. In diesem Augenblick begann das Ziehen. Als würde jemand nach seiner Seele greifen und sie wieder dorthin bringen, wo sie hingehörte. Die Sterne verblassten, gingen auf in einem Schein, das zunächst wie die Morgenröte wirkte, doch dann war alles Licht. Und der Schmerz prasselte auf ihn ein. Sein Körper zog ihn schwer auf die Erde, in seiner Lunge war ein trockenes Pfeifen, jeder Muskel schrie und pulsierte in einer Hitze, wie sie nur Suzaku verursachen konnte. All das übermannte ihn. Er versuchte, es auszuhalten, dagegen anzukämpfen, sich zu fassen. Doch es half nichts. Endlich wurde ihm schwarz vor Augen. श्रीभगवानुवाच | कालोऽस्मि लोकक्षयकृत्प्रवृद्धो लोकान्समाहर्तुमिह प्रवृत्त śrī-bhagavān uvāca kālo 'smi loka-kṣaya-kṛt pravṛddho lokān samāhartum iha pravṛttaḥ The blessed one said: I am the full-grown world-destroying Time, now engaged in destroying the worlds (Bhagavad-Gita xi:32) Kai schleppte sich den Gang entlang bis zu den Umkleiden. In der Ferne war immer noch der donnernde Jubel zu hören. Sie feierten Takao. Sein Mund verzog sich, ob nun zu einem Lächeln oder vor Schmerz war ihm selbst nicht ganz klar, wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem. Ihm war heiß. So verdammt heiß. Er wusste, die Temperatur hier im Stadion war angenehm, sogar eher kühl, doch er konnte kaum atmen. Schließlich erreichte er die richtige Tür und stolperte in den Raum hinein. Drei Köpfe drehten sich zu ihm um, drei Augenpaare musterten ihn. Er hielt inne. Aus irgendeinem Grund hatte er nicht damit gerechnet, sie hier zu sehen. Boris sprach als erster. „Mann, siehst du scheiße aus, Hiwatari.” Mehr als ein Keuchen bekam er nicht heraus, wenn er noch länger zögerte, würden seine Beine unter ihm nachgeben. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen und ließ sich dann neben Yuriy auf die Bank fallen. Boris und Sergeij sahen auch ziemlich mitgenommen aus - und erst jetzt erkannte er mit einem kleinen Stich Reue, wie schlimm er sie zugerichtet hatte - doch das war nichts im Vergleich zu ihrem Leader. Yuriy versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, doch er zitterte. Wahrscheinlich würde Kai, wenn er sich noch ein Stück vorlehnte, seine Zähne aufeinander schlagen hören. Wolborg verlangte ihren Tribut. „Hey”, sagte er zu ihm und, nach einem kurzen Zögern, „Snegurotschka.” Ein Lächeln brachte der Rothaarige nicht zustande, doch er verdrehte die Augen. Es herrschte eine seltsame Stimmung zwischen ihnen. Kai fiel es schwer, den anderen in die Augen zu sehen. Sie waren so weit gekommen, hatten sich zusammengerissen und als Team gearbeitet – nur, um kurz vor dem Ziel zu versagen. Kai hasste dieses Gefühl, er war ein paarmal zu oft in Situationen wie diesen gewesen. Nun aber schmerzte ihn seine Niederlage nicht nur um seines Willen, sondern auch, weil sie Neo Borg im Ganzen betraf. Ob sie es wollten oder nicht, er fühlte sich ihnen inzwischen verbunden. Er hatte einen guten Job machen wollen, für das Team, dem er ansonsten ziemlich viel Ärger bereitet hatte. Das nagte irgendwie stärker an ihm als seine eigene Enttäuschung. Boris gesellte sich zu ihnen, ließ sich auf die Bank gegenüber fallen. Der Blick, den er Yuriy zuwarf, war besorgt. „Tja”, meinte er, „Was machen wir jetzt? Wir haben verloren.” Daraufhin schwiegen sie alle. Vermutlich wusste niemand, was zu sagen war. Schließlich kam auch Sergeij, der bisher etwas abseits gestanden hatte, herüber und setzte sich. Dabei konnte er ein leises Ächzen nicht unterdrücken. Kai war versucht, sich bei ihm und Boris zu entschuldigen, wenn schon nicht für das Battle gegen ihn und Sergeij, so doch zumindest dafür, dass er sie danach einfach so zurückgelassen hatte. Seine Eitelkeiten schienen auf einmal so wenig von Bedeutung zu sein, jetzt wo sie alle hier zusammenhockten wie ein einziges Häufchen Elend. „Tja, ich habs vermasselt“, sagte er und meinte damit irgendwie alles, „Was soll ich sagen?“ Boris schnaubte und verschränkte die Arme. „Dieser Kinomiya! Er hätte diesen Kampf nicht gewinnen sollen, sein Sieg ist vollkommen unlogisch! – Ist doch so, oder, Yura?“ „R-richtig”, presste Yuriy hervor, sobald er den Mund öffnete schien er noch weniger Kontrolle über sein Zittern zu haben. „Wir b-brauchen einen n…neuen Plan”, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu. „Wofür?“, fragte Sergeij ehrlich verwirrt und Kai wurde klar, dass auch die anderen beiden noch immer nicht mehr wussten als er selbst. Doch der Gedanke verlor sich, als eine neue Welle von Schmerz über ihn rollte. Sein ganzes Inneres schien sich zu verkrampfen. Und wenn ihm doch nur nicht so unerträglich heiß wäre… „Vielleicht sollten wir ihn in ein Bad stecken”, meinte Sergeij in diesem Moment. „So schlimm war es ja noch nie mit Wolborg.“ Seine Augen, die bis dahin auf Yuriy geruht hatten, wanderten zu Kai. „Dich hat Suzaku auch ganz schön mitgenommen.” Kai nickte nur und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Er musste sich sehr anstrengen, um nicht zu würgen. Daran, jetzt etwas zu sich zu nehmen, wollte er nicht einmal denken. Die Hitze in ihm brachte nicht nur seinen Kreislauf durcheinander, sondern drückte ihm auch auf den Magen. Als er die Hand wieder auf die Bank legte, berührte er versehentlich Yuriys Finger mit seinen. Sie waren eiskalt, doch für seine erhitzte Haut war es wie Balsam. Bevor er seine Hand wegziehen konnte, packte Yuriy sie und obwohl ihn die Kälte schüttelte, war sein Griff fest. Nach ein paar Sekunden bemerkte Kai erstaunt, wie das Zittern nachließ. Sein Partner seufzte kurz, wahrscheinlich hatte er nicht einmal bemerkt, dass er es tat. Ihre Blicke trafen sich. Kai merkte, dass sich der Nebel seiner Gedanken aufzulösen begann, während sich erfrischende Kühle über seine Haut ausbreitete. Gleichzeitig konnte er förmlich beobachten, wie es hinter Yuriys Stirn arbeitete. Einen Moment später hatten sie wohl beide denselben Einfall, denn sie fuhren wie gestochen auseinander, jedoch nur, um hastig ihre Jacken auszuziehen. „He, was zur Hölle macht ihr -?”, setzte Boris an, doch da lagen sie sich schon in den Armen. Kai spürte die Kälte, die Yuriy abstrahlte, durch den dünnen Stoff ihrer Shirts und schloss erleichtert die Augen. Das tat so verdammt gut. „Du bist so warm”, seufzte Yuriy. „Interessant“, hörte er Sergeij sagen, „Suzaku und Wolborg können anscheinend ihre Kräfte gegenseitig wieder ins Gleichgewicht bringen. Es ist wirklich selten, dass Bit Beasts so exakt aufeinander reagieren.“ „Nun, aber es ist auch kein Wunder, oder?“, entgegnete Boris. Kai, der sie nicht sehen konnte da sein Kopf auf Yuriys Schulter lag, runzelte die Stirn. Dann löste er sich von dem anderen, der nun wieder wesentlich ruhiger wirkte. Das Zittern jedenfalls kam nicht zurück und ihm war, als wären seine Hände nicht mehr ganz so eisig. „Also Yuriy“, sagte er, „Dein großer Plan ist gescheitert, wir sind nicht Weltmeister. Was nun?“ „Ja Chef, was nun?“ Ihr Leader ließ den Blick von einem zum anderen schweifen; vielleicht überlegte er, was oder wie viel er sagen konnte. „Ganz ehrlich“, meinte er dann, „Ich habe wirklich keine Ahnung.“ „Nun, das höre ich allerdings zum ersten Mal“, brummte Boris. Kai schwieg. Seine Kräfte ließen nach und er merkte, wie immer weniger von dem, was gesagt wurde, bei ihm ankam. Er sank noch ein wenig mehr gegen Yuriy und fühlte das Vibrieren seiner Stimme, als er sprach: „Immerhin bleiben wir hier. Wir sollten die Zeit nutzen und Kinomiya einfach noch ein wenig im Auge behalten.“ Falls das Gespräch dann weiterging, blendete Kai es aus. Doch ihm schien, dass auch die anderen sich nur schwer wach halten konnten. Ihre Worte kamen ihm sehr langgezogen und träge vor. Das einzige, was jetzt noch half, war tiefer, traumloser Schlaf. Und zwar für sie alle. Routiniert band Kai seinen Schlips und zog ihn fest. Er war daran gewöhnt, Anzüge zu tragen, denn wann immer er die Zentrale von Hiwatari Enterprises betreten musste, war er für den Anlass gekleidet. Voltaire wollte es so. Nach mehreren Wochen, in denen er wesentlich lockere Kleidung getragen hatte, engte ihn sein Outfit nun aber ein. Sein Hemd war weiß, hatte allerdings schwarze Knöpfe, dazu hatte er ein Jackett in Hellgrau mit schwarzem Revers gewählt. Der Schlips war schmal und, genau wie Hose und Schuhe, dunkel. Er trug keine Streifen im Gesicht und hatte seine Haare gebändigt, bereute aber, keine Zeit für einen Friseurbesuch gefunden zu haben. Er trat einen Schritt zurück und sah noch einmal in den Spiegel. Die Anstrengung des Finalkampfes war ihm immer noch deutlich anzusehen: Seine Wangen wirkten eingefallen und seine Augen lagen tief in den Höhlen. Alles in allem schaffte er es aber, einen ganz passablen Anblick abzugeben. Besser würde es jetzt jedenfalls nicht mehr werden. Es blieben noch zwei Stunden, bis sie sich alle in der BBA-Zentrale versammelten, wo ein Saal für sie vorbereitet worden war. Er würde sich mit seinem Team treffen, bevor sie gemeinsam zur Party gingen. Sein Magen knurrte - am allermeisten freute er sich in diesem Moment aufs Essen. Ob er dann lange genug wach bleiben konnte, um zu erleben, was auf der Tanzfläche passierte, stand noch gänzlich in den Sternen. Das Match gegen Kinomiya war einen Tag her, und obwohl er seitdem beinahe nichts anderes getan hatte als zu schlafen fühlte er sich noch immer ausgelaugt. Eine Stunde später stieg er am Hintereingang des Hotels aus dem Wagen und eilte nach drinnen, bevor irgendwelche Reporter ihn bemerkten. Er nahm den Fahrstuhl nach oben und atmete, als er vor Yuriys Zimmer angekommen war, noch einmal durch, bevor er klopfte. Sein Leader öffnete ihm die Tür - „Hey Kai, du bist früh…” - und brach mitten im Satz ab. Kai erging es ähnlich. Für einen Moment waren sie beide wie gebannt von dem Anblick des jeweils anderen. Yuriy trug einen mitternachtsblauen Anzug und ein schwarzes Hemd, die dunklen Farben betonten seine große, schmale Statur und brachten sein Haar zum Leuchten. „Ähm...wow”, entfuhr es Kai. „Ja...du aber auch”, entgegnete Yuriy, dann trat er zur Seite. Bevor Kai an ihm vorbeigehen konnte, streckte er den Arm aus und zog ihn zu sich heran, um ihn kurz zu küssen. „Du riechst anders”, stellte er daraufhin fest und Kai lächelte ihn nur an. Dann setzte er sich auf das Sofa. „Bist du schon fertig?” Yuriy deutete auf seine Frisur. „Sieht das für dich fertig aus?” Er verkniff sich eine Antwort, denn er fand tatsächlich, dass bereits jede Haarsträhne an ihrem Platz lag, aber was wusste er schon. Yuriy ging ins Bad und von seiner Position aus konnte er beobachten, wie der andere mit seiner roten Mähne kämpfte. Sie hatten seit dem vorigen Abend aus purer Erschöpfung nur wenig miteinander kommuniziert. Im Halbschlaf hatte Kai noch eine Nachricht an Yuriy geschickt und sogar Antwort erhalten. Erst heute Morgen fiel ihm auf, dass beide Texte beinahe nur aus Tippfehlern bestanden. Für mehr als die Verabredung vor der Party hatte es nicht gereicht. Und so war dies der erste Moment, in dem sie wieder ungestört reden konnten. Er räusperte sich. „Kann ich dich was fragen?“ „Hm?“ „Boris hat mir bei unserem Battle etwas erzählt. Es ist dämlich, aber… es beschäftigt mich.“ „Na was denn?“ Yuriy schien nicht im Geringsten beunruhigt von Kais Worten zu sein, er zupfte an seinen Haaren herum ohne ihn auch nur anzusehen. Kai stand jetzt doch auf und ging zu ihm, um sich in den Rahmen der Badezimmertür zu lehnen. „Er hat behauptet, du hast in der Abtei ein ziemlich mieses Gerücht über mich verbreitet, als ich zurückgekommen bin“, sagte er, „Es ging wohl darum, dass ich zu schwach sei und Black Suzaku mich schon erledigen würde.“ „Oh. Ja, das stimmt.“ Kai blinzelte. Er hätte nicht damit gerechnet, dass Yuriy alles so leichthin zugab. Sein Gegenüber musste seine Reaktion bemerkt haben, denn endlich wandte er sich ihm zu. „Hör mal, Kai“, sagte er, „Ich war erstens ein Kind und zweitens verdammt sauer auf dich. Du bist einfach in die Abtei reinstolziert, hast dir Black Dranzer gekrallt und angefangen, meine Battles zu übernehmen. Was denkst du denn, was ich mache – den Kopf einziehen und so tun, als ginge mich das alles nichts an?“ Er verschränkte die Arme und sah auf Kai herab, der sich abwandte. „Mir ist schon klar, was deine Beweggründe waren. Ich wusste nur nicht, wie hinterhältig du sein kannst.“ „Hmm. Warum habe ich das Gefühl, dass da noch mehr ist? Was hat Boris noch gesagt?“ „Eventuell, dass ich in dieser Weltmeisterschaft nur Mittel zum Zweck für dich bin.“ Jetzt lachte Yuriy und Kai warf ihm einen beleidigten Blick zu, der aber komplett an ihm abprallte. „Natürlich habe ich dich ausgenutzt!“, rief er aus, „Und du mich, oder etwa nicht? Ich brauchte einen starken Blader in meinem Team und du brauchtest einen guten Partner, um gegen Kinomiya antreten zu können. Das war von Anfang an der Deal. Hätte ja keiner ahnen können, dass…“ Er brach ab, als er Kais Gesichtsausdruck bemerkte. Dann legte er den Kopf schief. „Ach Kai. Komm her.“ Und er zog ihn in eine Umarmung. „Da hat Boris ja genau die richtigen Knöpfe gefunden, was?“ Kai brummte missmutig, allein der Duft, der aus Yuriys Kleidung stieg, stimmte ihn schon versöhnlich. Er kam sich ziemlich dumm vor und bereute, das Thema überhaupt erst zur Sprache gebracht zu haben. Die Antworten fielen nicht unbedingt so aus, wie er es sich erhofft hatte. „Sorry. Ich wollte das nur klären.“ „Und ist es jetzt geklärt?“ Er riss sich zusammen. „Ja. Aber von jetzt an trau ich dir höchstens so weit wie ich dich werfen kann.“ Er machte eine Pause. „Obwohl. Selbst das ist noch zu viel.“ „Was soll das denn bitte heißen?“ „Dass du zwar lang bist, aber nichts weiter. Ich würde dich werfen können.“ „Pff, wetten?“ Anstatt zu antworten schlang Kai seine Arme fester um Yuriys Taille und schaffte es tatsächlich, ihn ein Stück hochzuheben. Sein Leader quittierte das mit einer entsetzten Lautäußerung und ein wenig Gestrampel. „Ist ja gut, ist ja gut! Lass mich runter!“ Sobald Kai ihn losgelassen hatte, strich er sich über das knittrige Jackett. „Bozhe my… Du bist ja fast wie Sumeragi, klein und aufgepumpt.“ „Wie bitte?“, sagte Kai entrüstet, doch er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. In diesem Moment klopfte es erneut an der Tür. Yuriy fluchte leise. „Kannst du aufmachen? Ist bestimmt Boris.” Dann drehte er sich noch mal zum Spiegel um. Es waren tatsächlich ihre Teamkollegen. Sergeij trug klassisch Schwarz-Weiß, während Boris einen dunkelroten Anzug mit einem weißen Hemd gewählt hatte, der ihm erstaunlich gut stand. Aus seiner Brusttasche lugte ein graues Einstecktuch. „Hiwatari! Und ich war so sicher, dass du zwei Stunden zu spät auftauchst!” Er schob sich an ihm vorbei und Sergeij schloss die Tür. „Hey Yuriy, Sergeij hat Alkohol bekommen! Sie haben ihn nicht mal nach dem Ausweis gefragt, weil er so böse geguckt hat.” Mit diesen Worten stellte er eine Tüte auf dem Tisch ab. Yuriy kam aus dem Bad und schien endlich zufrieden mit seinem Äußeren zu sein. „Sehr gut. Da drüben auf dem Schrank sind Gläser.” „Ist aber Shochu, keine Ahnung wie das schmeckt. Der Verkäufer hat gesagt, es ist wie Wodka, aber irgendwie glaube ich ihm nicht.” „Das ist genau wie Wodka”, sagte Kai. „Wollt ihr euch vor der Party besaufen?” „Nein, Hiwatari, wir wollen anstoßen”, antwortete Boris tadelnd und reichte ihm ein Glas, „Unter anderem auch auf dein Match, also mach dich locker.” Tatsächlich fanden sie, bevor sie sich auf den Weg zur BBA machten, mindestens vier Dinge, auf die sie anstoßen konnten. Den neuen Plan, von dem Yuriy in seinem Delirium am Tag zuvor gesprochen hatte, erwähnten sie mit keinem Wort, vielleicht war das Absicht. Und auch Kai verdrängte diesen Gedanken schließlich, denn spätestens als er sich mit den anderen in das Auto zwängte merkte er, dass er schon etwas benebelt war. Sergeij bekam den Beifahrerplatz und Yuriy und Boris nahmen ihn auf der Rückbank in die Mitte. Boris zog ihn noch eine ganze Weile damit auf, dass er offensichtlich nichts vertrüge; sein Redeschwall riss nur einmal kurz ab, als Yuriy die Hand auf Kais Oberschenkel legte. Doch er fing sich schnell wieder. Durch die Reihen der Reporter, die auch vor der BBA-Zentrale auf sie warteten, ging ein Raunen, sobald sie aus dem Wagen stiegen. Blitzlicht flimmerte über sie hinweg und ein sehr höflicher Mitarbeiter bat sie darum, sich für ein Gruppenfoto aufzustellen. Innerlich seufzte Kai. Die Tage, in denen er ohne seine Gesichtsbemalung nicht erkannt wurde, waren wohl gezählt. Dann wurden sie nach drinnen geführt. Die Eingangshalle sah noch so aus wie vor dem Finale, als sie das letzte Mal hier gewesen waren. Doch auf der rechten Seite befand sich eine offene Doppeltür, aus der Musik bis zu ihnen drang. Der Saal - sonst ein öffentlicher Trainingsraum - war ein wenig hergerichtet worden, die geschmückte Tafel in der Mitte zog alle Aufmerksamkeit auf sich. Das Licht war gedimmt und über ihnen schwebte schon eine Diskokugel, die kleine, flirrende Punkte streute. Das Essen war wie zu erwarten gut. Die BBA hatte sich bemüht, das Menü international zu halten, und bis auf ein paar seltsame Kombinationen war das auch gelungen. Daitenji hielt eine kleine Ansprache, bei der er für alle ein paar lobende Worte übrig hatte, und zeigte sich überzeugend traurig über das Fehlen von Barthez Soldiers. Nach dem offiziellen Teil wurden sie gebeten, zu den Tischen zu gehen, die an den beiden langen Seiten des Raumes aufgestellt worden waren, damit die Tafel entfernt werden konnte. Dort entstand nun die Tanzfläche. Im hinteren Teil befand sich eine Bar, zwar improvisiert, aber mit einem langen Tresen und passenden Hockern. Das Licht wurde noch ein wenig mehr heruntergedreht und die ersten bunten Spots irrten über den Boden. Boris überredete Yuriy und Sergeij, sich für eine heimliche Raucherpause nach draußen zu stehlen. Kai nutzte den Moment, um sich von ihnen abzusetzen und zu Max und Rei zu gehen, die gemeinsam an einem der kleineren Tische saßen, jeder ein Getränk vor sich. Auch Hiromi stieß nun zu ihnen. „Hey Kai”, begrüßte ihn Max, „Gut siehst du aus!” Er selbst hatte die obersten beiden Knöpfe seines Hemdes schon längst geöffnet; Rei neben ihm war wie immer umwerfend in seinem dunklen Blazer und dem Hemd mit Mandarinkragen. „Und du bist auch hübsch, Hiromi!” Sie hatte sich tatsächlich herausgeputzt und trug ein helles Blau. „Ich kann Takao später gerne darauf aufmerksam machen, sollte er es nicht selbst bemerken…” „Max, wie oft denn noch - ich will nicht verkuppelt werden!”, rief Hiromi, doch selbst im Zwielicht war zu erkennen, wie sie rot anlief. „Wo hast du Mao gelassen?”, fragte Kai Rei, der über seine Schulter nach hinten deutete. Seine Freundin stand dort und unterhielt sich mit Emily, und sie sah bezaubernd aus mit hochgestecktem Haar und dem eleganten Kleid. Rei und Kai sahen sich über den Tisch hinweg an und tauschten ein wissendes Grinsen. Das entging Hiromi natürlich nicht. „Hab ich was verpasst? Was soll das Machogehabe?” Doch sie winkten beide ab. Max lachte auf und schlug Rei auf die Schulter. „Erzählt lieber, wie es jetzt weitergeht bei euch! Feiern wir bald das Revival der Bladebreakers?” „Hmm”, machte Rei langgezogen, „Ich denke, ich werde erst einmal mit Baihuzu zurück nach China gehen. Das hatte ich sowieso vor. Und dann - mal sehen! Was ist mit dir?” „Oh, ich bleibe in Japan”, antwortete Max, „Business as usual. Ich glaube, Mom würde mich gerne weiter im Team behalten, aber momentan stehen auch keine weiteren Turniere an. Deswegen bin ich eigentlich offen für alles.” Rei nickte, dann breitete sich Schweigen aus. Als Kai ihre Blicke auf sich spürte merkte er, dass er nun an der Reihe war. „Was ist dein Plan, Kai?”, fragte Hiromi schließlich. Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. „Ich bleibe auch hier”, sagte er, „Zumindest für den Rest des Sommers. Mein Team übrigens auch.” „Wie, Boris, Sergeij und Yuriy gehen nicht zurück nach Russland?” „Daitenji hat Arbeit für sie”, erklärte Kai, „Direkt bei der BBA.” Es entstand eine kurze Pause. „Oho”, machte Max, dann riss er die Augen auf, „Ohooo! Das sind ja mal Neuigkeiten!” Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, was er dachte. Und auf einmal wurde Kai klar, dass Rei ausgeplaudert haben musste, was sich in der Nacht vor dem Finale ereignet hatte. Er sah seine ehemaligen Teamkollegen böse an, und ihre Reaktionen waren Antwort genug: Max strahlte übers ganze Gesicht und Rei versuchte, unschuldig zu wirken, was ihm aber überhaupt nicht gelang. „Das wird ein Nachspiel haben”, sagte er zu dem Schwarzhaarigen, doch Max ächzte übertrieben. „Komm schon, Kai, ich hätte es doch eh erfahren!” „Jungs, wovon zur Hölle sprecht ihr?”, fragte Hiromi, „Ich glaube, an mir sind in letzter Zeit wirklich Dinge vorbeigegangen. Hey! Was habt ihr miteinander ausgeheckt?” „Später, Hiromi”, sagte Rei und tätschelte ihre Hand. „Ich erzähle es dir, wenn Kai weg ist”, fügte Max hinzu, woraufhin Kai ihm wortlos drohte. „Achtung Leute, er macht den bösen Blick!“ Automatisch duckten sich alle drei unter den Tisch, selbst Hiromi machte mit. Es war einer der vielen Running Gags, die Kai nicht vermisst hatte. Er verdrehte die Augen und wartete, bis die anderen kichernd wieder auftauchten. Sehr zufrieden mit sich griff Max nach seinem Glas, das vermutlich Cola enthielt, und trank es zur Hälfte aus. „Euch ist schon klar, dass ihr nachher noch tanzen müsst, oder?”, fragte er dann in die Runde. „Ach kommt schon, Leute…” „Keine Einwände, Kai! Ich habe dem DJ schon gesagt, dass er nachher unseren Song spielen soll!”, unterbrach Max ihn. Es gab tatsächlich ein Lied, das die Bladebreakers scherzhaft als „ihren” Song bezeichneten, seit sie durch Zufall festgestellt hatten, dass sie wirklich alle zu einhundert Prozent textsicher darin waren. Und es wäre auch nicht das erste gemeinsame Mal auf der Tanzfläche für sie. Kai stand bei dem Thema auf verlorenem Posten, seit er sich zum ersten Mal von den anderen zu einem Klubbesuch überreden lassen hatte. „Ist ja gut, Maxie, aber bitte blamier uns dann nicht mit deinen Disco-Moves”, sagte er. „Jaja!”, rief der Blonde, „Schon klar, der große Kai Hiwatari tanzt sowieso nur ironisch! Hauptsache du verschwindest nicht wieder kurz vor…” Seine Worte verloren sich, während sein Blick über Kais Schulter hinweg ging. Dann hob er die Hand. „Heeey, Takao! Komm rüber!” Kai wandte sich um, gerade noch rechtzeitig, um das Grinsen in Takaos Gesicht zu sehen, bevor es wieder zusammenfiel, als sich ihre Blicke trafen. Der Weltmeister hielt inne, schien kurz zu überlegen und wandte sich dann doch ab, um in eine andere Richtung zu gehen. Kai drehte sich zurück zu den anderen, beinahe war er versucht, sich zu entschuldigen, denn ganz offensichtlich hatte er es dieses Mal sogar ohne jedwede Intention geschafft, Takao den Abend zu vermiesen. Doch seine ehemaligen Teamkollegen trugen einen traurig-wissenden Ausdruck im Gesicht. Er seufzte. „Na los”, sagte Rei leise, „Geh zu ihm.” Max nickte bekräftigend. „Ja. Tanzen können wir später. Ihr zwei müsst reden. Na los!” Er machte eine Kopfbewegung in die Richtung, in die Takao verschwunden war. Kai brummte, erhob sich jedoch und hielt nach dem Dunkelhaarigen Ausschau. Er entdeckte ihn an einem Stehtisch etwas weiter weg, wo er nachdenklich ins Leere starrte. „Okay…”, murmelte er, bevor er begann, sich einen Weg durch den Raum zu bahnen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Yuriy und die anderen wieder hereinkamen. Sein Leader winkte ihm kurz zu, doch er machte eine abwehrende Geste, woraufhin der andere nur die Schultern hob. Dann war Kai bei Takao und damit beschäftigt, herauszufinden, wie zur Hölle er das Gespräch beginnen sollte. Er schob die Hände in die Hosentaschen und sagte: „Hi.” „Hi, Kai.” Die erste Pause entstand. Verstohlen musterte Kai sein Gegenüber, der trotz des festlichen Anlasses noch immer Jeans trug, dazu allerdings ein Hemd und Jackett. „Tja”, begann er dann erneut. „Du hast es also geschafft. Schon wieder.” „Ha! Ein Champion hält sein Wort!” Der Tonfall war nicht überzeugend, und das merkte selbst Takao, denn er hüstelte verlegen. „Nein. Jetzt im Ernst, Kai, du… Du warst großartig.” Er sah ihn flüchtig an. „Danke für das Match.” „Hn.” Kai verschränkte die Arme. „Ich muss dir wohl auch danken. Und gern geschehen.” Es gab so viel mehr, über das sie hätten reden können. Aber irgendwie war es schon immer so, dass sie sich dann am besten verstanden, wenn sie sich gegenseitig in der Bowl bekriegten. Mit Worten war das bei ihnen weitaus schwieriger. Kai war froh, dass Takao ihm seinen Weggang von der BBA Revolution nicht mehr vorwarf. Das bedeutete eine Entschuldigung weniger für ihn. Immerhin hätte es ihr Finalmatch gar nicht erst gegeben, wenn er geblieben wäre. „Hör mal, Kai“, sagte Takao da, und zwar so leise, dass er es beinahe nicht bemerkt hätte, „Ich hatte in dieser WM ganz schön viele Durchhänger. Das hatte nicht nur damit zu tun, dass ihr alle das Team verlassen habt. Wobei das natürlich auch ein Grund war. Es war ziemlich scheiße.“ Kai brummte wieder. Dem hatte er nichts hinzuzufügen. „Ich habe mich sehr oft sehr alleingelassen gefühlt“, fuhr Takao fort, „Und das, obwohl Kyoujyu, Hiromi und mein Bruder da waren. Und Daichi! Aber es ist nunmal nicht dasselbe, wie mit euch. Jedenfalls war es manchmal ein ganz schöner Krampf. Ich will nur sagen… Von dem Moment an, da ich wusste, dass du sicher im Finale bist, wusste ich wieder, warum ich hier bin. Kai, ich wollte dieses Battle einfach so sehr! Nicht nur aus Rache oder um zu zeigen wie stark ich bin – ich wollte einfach nur mit dir kämpfen. So wie wir es immer tun.“ Er brachte ein kleines Lächeln zustande. „Sorry, ich weiß nicht wie ich es anders sagen soll…“ „Ich weiß, was du meinst“, unterbrach Kai ihn. Er wusste es ganz genau. Wieder waren sie eine Weile stumm, sahen sich unschlüssig an. Kai haderte mit sich, ob er Takao auf die Traumdimension ansprechen sollte, in die es sie beide versetzt hatte. Vielleicht hatte das Ganze ja nur in seinem Kopf stattgefunden? Schließlich gab er sich einen Ruck. „Was ist eigentlich passiert? Ich meine, während des Battles. Hast du auch…“ „Sterne gesehen?“, fragte Takao und kratzte sich verlegen am Kopf. „Ich dachte, ich hätte mir das eingebildet. Also war es…wirklich? Waren wir wirklich dort?“ „Vielleicht hat es was mit den Bit Beasts zu tun“, sprach Kai seine Gedanken laut aus, „Aber für alle anderen scheint das Battle einfach weitergegangen zu sein. Nur ganz kurz hat man wegen des grellen Lichts nichts sehen können – das haben Rei und Max gesagt.“ „Ja, Hiromi und die anderen auch“, sagte Takao. „Scheint, als wäre das unser kleines Geheimnis.“ Er grinste ihn schief von unten an und kurz kam der Takao zum Vorschein, den Kai kannte. Seine Mundwinkel hoben sich. „Ja, scheint so.“ Es würde ihnen wahrscheinlich sowieso nie jemand glauben, wenn sie erzählten, was passiert war. Außenstehende würden es auf ihre überstrapazierten Körper und den hohen Stresslevel schieben. Doch eins wusste Kai sicher, dort zwischen den Sternen mit Takao war er so ruhig gewesen wie wohl noch nie in seinem Leben. Seitdem fragte er sich, wie stark die Verbindung des anderen mit seinem Bit Beast war. Es schien ihm so leicht gefallen zu sein, die Einheit von Kai und Suzaku zu durchbrechen. Womöglich wusste Takao es nicht, doch seine Intuition musste es über die Jahre ermöglicht haben, dass Seiryu sich unglaublich schnell mit ihm verbinden konnte. Und so stand ihm dessen unendliche Kraft zur Verfügung. Wofür Kai durch lange, qualvolle Trainingseinheiten gehen musste, machte Takao instinktiv. Unglaublich. „Ich habe deine Attacke übrigens wiedererkannt“, sagte sein Gegenüber in diesem Moment, als hätte er Kais Gedanken erraten, „Glaub mir, so einen Anblick vergesse ich nicht. Schließlich war das damals mein erster Finalkampf in einer Weltmeisterschaft. Hat Yuriy dir geholfen?“ „Ich habe ihn darum gebeten“, antwortete Kai schlicht und auf Takaos Gesicht stand kurzes Erstaunen. Dann lächelte er schon wieder. „Wow. Nicht schlecht.“ Letztendlich hatte es nichts genützt. Wie immer war Takao als der Stärkere mit dem Sieg davongegangen. Aber anders als bei den vorigen Malen hielt Kais Frust sich in Grenzen. Er konnte es sich selbst nicht erklären, doch es schien, als wäre es bei ihrem Kampf letztendlich gar nicht ums Gewinnen gegangen, auch wenn er sich nicht sicher war, worum stattdessen. Irgendwann würde er sicher wissen, was das alles zu bedeuten hatte. „Ich weiß nicht, was ich zu ihnen sagen soll”, sagte Takao plötzlich und sah zu Rei und Max. „Sie haben das Finale genauso verdient. Aber ich bin wirklich froh, dass du es warst.” „Ich glaube, das wissen sie”, entgegnete Kai, „Und sie akzeptieren es. Du solltest zu ihnen gehen.” „Ich habe mich so daneben benommen. Scheiße.” Er hob die Augenbrauen, sagte aber nichts. Vermutlich erwartete Takao auch keine Erwiderung. „Aber du hast wohl Recht, ich sollte rübergehen.” Langsam aber sicher verflog die düstere Nachdenklichkeit aus dem Gesicht des anderen und Takao wurde wieder völlig er selbst. Er atmete tief durch und sah sich um. „Wo ist Daichi? Er hat ziemlich viel Nachtisch gegessen, ich hoffe, er hat sich nicht übernommen...oh, da ist er ja. Bei Yuriy.” Als er das sagte, hob Kai den Kopf. Tatsächlich, die beiden saßen auf Barhockern, was bei ihrem immensen Größenunterschied ein recht seltsames Bild abgab. Daichi gestikulierte wild in der Luft und Yuriy beobachtete ihn mit spöttisch gehobenen Augenbrauen. Doch selbst von Weitem war zu erkennen, dass sie den jeweils anderen wertschätzten. Für eine Weile waren Kai und Takao versunken in den Anblick, den ihre Partner boten. Dann stemmte Takao die Hände in die Seiten. „Dieser Daichi! Ich kümmere mich mal um ihn, bevor er deinen Teamchef aus Versehen erschlägt.” Er brüllte den Namen des Jüngeren und Kai konnte geradeso verhindern, dass er zusammenzuckte. Auch ein paar andere Köpfe drehten sich zu ihnen um, das Verhalten des Champions löste einige Lacher aus. Takao war da schon längst davongeeilt, zog Daichi vom Hocker und stürmte mit ihm im Schlepptau zum Tisch von Max, Rei und Hiromi. Kais Blick wanderte zu Yuriy, der diesen, noch ganz verdattert vom plötzlichen Ende seines Gesprächs, erwiderte. Dann setzte Kai sich ebenfalls in Bewegung, um Daichis Platz einzunehmen. „Na, kaufst du mir einen Drink?” Yuriy lachte. „Nichts lieber als das. Ich fürchte nur, die Drinks hier sind erstens kostenlos und zweitens ohne Alkohol.” Er beugte sich zu Kais Ohr. „Boris hat aber einen Flachmann dabei.” Das Gefühl des warmen Atems an seinem Hals löste bei Kai einen wohligen Schauer aus. Er winkte dem Barkeeper und bestellte sich ein Wasser, denn langsam wurde es warm. Yuriy folgte jeder seiner Bewegungen, dabei lächelte er unergründlich in sich hinein. Sie schwiegen, Kai spielte mit dem Wasserglas, das zwischen ihnen stand und an dem binnen Sekunden Kondenstropfen hinunterliefen. Hinter ihnen sammelten sich immer mehr Blader auf der Tanzfläche. Die bunten Leuchten waren nun greller und hatten angefangen zu blinken. Während Yuriys Gesicht zu einem großen Teil im Licht der Bar lag, wurde seine Schulter schon in wechselnde Farben getaucht. Schließlich streckte der Rothaarige den Arm aus, angelte einen der Eiswürfel aus Kais Glas und schob ihn in den Mund. Dann drehte er sich auf seinem Hocker, sodass er beobachten konnte, was auf der Tanzfläche passierte. Die Ellenbogen stützte er auf dem Tresen ab. Kai hatte das Gefühl, sich niemals an diesem Menschen satt sehen zu können. Nur ganz langsam gelang es ihm, wieder zu sich zu finden und zu realisieren, was um sie herum geschah. Die Party war in vollem Gang. Die Musik kam aus den vergangenen Jahrzehnten, vielleicht wollte der DJ den Älteren im Raum einen Gefallen tun; die Teenager ließen sich davon allerdings nicht beirren und hüpften mehr oder weniger graziös zu den altmodischen Rhythmen auf und ab. Als Kai sich ebenfalls umdrehte, sah er als erstes Boris und Sergeij auf der Tanzfläche. Sie sorgten für einige Entgleisungen in den Minen der Leute um sie herum, doch blamieren taten sie sich natürlich nicht. Das Tanzen lag ihnen im Blut. Und auf einmal tauchte Julia auf, um nach Sergeijs Hand zu greifen und ihn mehr zur Mitte zu ziehen. Boris breitete die Arme aus und sah ihnen hinterher, dann machte er wohl oder übel alleine weiter. Rei und Mao schmiegten sich ein Stück weiter links aneinander und schienen gar nicht mitzubekommen, dass sich die Musik nicht wirklich für einen romantischen Paartanz eignete. Miss Judy und Max’ Vater hingegen schienen in ihre Jugend zurückversetzt worden zu sein. Sie ernteten für ihren Tanz spontan Applaus vom amerikanischen Team. Alles in allem herrschte ein ziemlicher Tumult. Ohne es zu merken begann Kai, mit dem Fuß im Takt zu wippen. Yuriy verzog den Mund zu einem Grinsen. „Sollen wir tanzen gehen?” „Hmmm…” „Ach na los, komm schon!” Der Rothaarige sprang von seinem Hocker und machte eine lockende Handbewegung, während er rückwärts auf die Tanzfläche zuging. Schließlich seufzte Kai und stand ebenfalls auf. „Aber ironisch, klar?!”, sagte er, als er bei Yuriy angekommen war. Die Wahrheit war, Kai tanzte gerne. Vor den Bladebreakers konnte er das inzwischen ohne Probleme zeigen, bei komplett Fremden machte es ihm auch nichts aus, aber die Anwesenheit so vieler flüchtig Bekannter war irgendwie seltsam. Nach ein paar Sekunden stellte er jedoch fest, dass alle ziemlich mit sich selbst beschäftigt waren, und das half. Dann richtete er seine volle Aufmerksamkeit auf Yuriy. Vielleicht hatten sie noch betont ironisch angefangen, bald darauf war es ihnen jedoch egal, wie sie aussahen. Es war kein enger Tanz, nur manchmal legte sich Yuriys Arm um ihn und sie schaukelten für ein paar Takte gemeinsam hin und her, ab und an berührten sich ihre Hände. Es war wie ein Spiel mit dem Ziel, den jeweils anderen möglichst oft heimlich anzufassen. Kai überlegte, ob er Yuriy zu den Toiletten lotsen und sich in irgendeiner Kabine von ihm an die Wand drücken lassen sollte. Er hätte in diesem Moment ziemlich viel für einen langen, intensiven Kuss gegeben, oder sogar ein bisschen mehr. Irgendwann tauchte Max in seinem Blickfeld auf und gab ihm breit grinsend einen doppelten thumbs up. Als Takao ihn wenig später entdeckte, rief er nur „Whoo, Kai!”, was wohl eher der Tatsache galt, dass er überhaupt auf der Tanzfläche war, und winkte, bevor er wieder von jemand anderem abgelenkt wurde. Und auf einmal stand Boris neben ihnen und schlang die Arme um ihre Schultern. Wahrscheinlich hatte er schon etwas tiefer in seinen Flachmann geguckt. „Tovarischi! Da seid ihr ja!”, rief er, dann beugte er sich vor und zog sie näher zu sich heran. „Yuiry. Hast du Gras?” „Aber Boris!”, gab dieser gespielt entrüstet zurück, „Das ist Medizin!” „Komm schon, nur ein bisschen! Ich tausche gegen Shochu!” Er blickte verschwörerisch in die Runde. „Ich habe draußen die zweite Flasche versteckt.” „Wir könnten uns Mixer von der Bar mitnehmen”, meinte Kai, woraufhin Boris ihm kräftig auf die Schulter schlug. „Ich mag, wie du denkst, Hiwatari!” „Sollten wir Sergeij Bescheid sagen?”, fragte Yuriy und sah über die Schulter. „Ich glaube, der ist beschäftigt, Yura, lass ihm seinen Spaß.” „Ist ja gut, ist ja gut…” Zehn Minuten später saßen sie im Dunkeln auf der Feuertreppe, die zum Hinterhof führte, tranken Shochu mit Zitronenlimonade und ließen eine Zigarette kreisen. Das Gras hatte Yuriy im Hotel gelassen. Boris schien jedoch schon wieder vergessen zu haben, dass er überhaupt danach gefragt hatte. Kai zog seinen Schlips aus und öffnete die oberen Knöpfe seines Hemdes. Zeit, sich ein wenig lockerer zu geben. Seine Haut war am Hals bereits nass vom Tanzen, und so brachte die kühle Luft hier draußen ein wenig Erleichterung. Yuriy gab die Zigarette an ihn weiter, und während er an ihr zog, spürte er, wie die Hand des anderen zu seinem Hinterkopf wanderte. Er fuhr ihm durchs Haar und begann dann, seinen Nacken zu massieren. Kai lehnte sich in die Berührung und streckte den Arm aus, um Boris die Zigarette zu geben. Der blies einen langen Strom Qualm aus und musterte sie. „Wollt ihr das eigentlich offiziell machen?”, fragte er dann. „Ich meine, es ist bald schon nicht mehr zu übersehen. Man trifft euch ja kaum noch alleine.” Yuriys Hand rutschte tiefer, blieb auf Kais unterem Rücken liegen. „Hm, keine Ahnung...”, sagte er und warf dem Rothaarigen einen Blick zu. War er vorher angenehm beschwipst gewesen, fühlte er sich schlagartig wieder nüchtern. Er erinnerte sich an ihr Gespräch in Sydney, und plötzlich wurde ihm bewusst, dass ihre Probleme nicht einfach verschwunden waren, nur weil Neo Borg ein paar Wochen länger in Japan blieben. Sie waren lediglich aufgeschoben. Dabei wollte er es gern offiziell machen, allein, um die Gerüchteküche im Keim zu ersticken. Aber auch, weil doch bitte die ganze Welt sehen sollte, dass Yuriy Ivanov sein Freund war. „Da habe ich wohl einen Nerv getroffen”, stellte Boris fest. „Ich habe nur gedacht, wenn wir jetzt länger hier sind, wird sich das wohl ergeben. Deine kleinen BBA-Freunde scheinen ja eh schon alles zu wissen, Kai. Das Problem ist nur, was machen wir, wenn wir wieder zurückgehen?” Dabei sah er Yuriy an. „Du kennst meine Meinung, Yura.” „Und die wäre?”, hakte Kai nach, obwohl er es sich denken konnte. „Nichts sagen, bevor wir zurück in Russland sind”, antwortete Yuriy an Boris’ Stelle, „Oder noch besser: Es komplett geheim halten.” „Wie stellst du dir das vor? Früher oder später wird es Gerüchte geben.” „Ja. Aber vielleicht ist es besser, wenn es nur Gerüchte sind. Ich glaube nicht, dass wir uns einfach als Paar zeigen können. Nicht...dort.” Kai nickte nur und wechselte einen langen Blick mit Yuriy. Auch Japan war in dieser Hinsicht nicht das Paradies auf Erden. Noch dazu wollte er sich nicht ausmalen, wann sein Großvater wohl sagen würde. „Mir gefällt das auch nicht”, sagte Yuriy, „Aber Boris hat Recht. Allein durch die Weltmeisterschaft werden wir so viel Aufmerksamkeit bekommen, wenn wir wieder zurück sind - wir bekommen ja jetzt schon Anfragen für Interviews.” „Sie werden uns garantiert einmal wie die goldene Kuh durchs Dorf treiben”, ergänzte Boris, „Wir sind dann kurz die guten Parny, bevor sie uns wieder vergessen.” „Ich verstehe schon. Aber was machen wir mit den Leuten da drin?” Kai deutete zur Tür, die zurück in den Saal führte, „Ich meine, alle, die nach morgen noch hier sind, wissen es sowieso.” „Ganz ehrlich, Kai”, sagte Boris, „Willst du, dass ein Rick Anderson von euch erfährt? Oder jemand, der so gern mit der Presse spricht wie die Fernandez-Zwillinge? Oder jemand, den du kaum kennst, Kiki zum Beispiel?” Da hatte er definitiv einen Punkt. Kai griff nach seinem Glas, das noch halb gefüllt war mit Alkohol-Zitrone, und leerte es in einem Zug. Er war hier eine kleine Berühmtheit und Yuriy und die anderen hatten ein Leben in Severodvinsk, und es wäre naiv zu glauben, dass es keine Konsequenzen haben würde, wenn ihre Beziehung dort durch die Medien ging. Hier und jetzt, auf der klapprigen Treppe, konnten sie das Problem allerdings nicht lösen. Das schien auch Boris eingesehen zu haben, denn er schenkte ihnen allen großzügig nach. „Es tut mir leid, wenn ich euch die Stimmung vermiest habe”, sagte er entschuldigend, während er den Shochu mit Limonade aufgoß. „Ich muss das ja auch alles selbst noch richtig in den Kopf kriegen. Es ist schon irgendwie irre. Ich meine” Er hob sein Glas und trank, ohne zu prosten. Das war ein sicheres Zeichen dafür, dass der Alkohol ihn doch schon im Griff hatte. „Yuriy! Du bist mein bester Freund, ich liebe dich aus ganzem Herzen und will nur, dass du glücklich bist. Blabla. Also sag mir” Er machte eine Kunstpause. „Was findest du bitte an Hiwatari?” Auch Kai trank erneut, um seine Verlegenheit zu überspielen. Er bemerkte wohl, wie der andere ihn von der Seite musterte, konzentrierte sich aber ganz auf sein Getränk. „Boris”, sagte Yuriy schließlich tadelnd, „Hast du ihn dir mal angesehen?” „Hm-hm. Er bekleckert sich gerade mit Brause.” „Gar nicht wahr!”, verteidigte Kai sich, musste sich aber ein paar Tropfen vom Kinn wischen. „Ja, okay. Hiwatari” Boris deutete mit dem Finger auf ihn. „Was findest du an Yuriy?” Als Kai sich nun zu Yuriy drehte, erwiderte der seinen Blick unumwunden. In diesem Moment hätte er sehr viele Dinge aufzählen können. „Hast du ihn dir mal angesehen?”, antwortete er stattdessen, während sie sich weiter betrachteten. Yuriys Mund verzog sich zu einem Lächeln. „Ich sehe hier nur zwei besoffene, verknallte Idioten”, sagte Boris, „Und ich hätte wirklich nie damit gerechnet, mal in so eine Situation zu kommen.” „Kai, möchtest du knutschen? Ich glaube, sowas hat Boris auch noch nie gesehen…” „Yura, bitte! Ich hab gesagt, ich muss mich langsam daran gewöhnen! Könnt ihr nicht mit Händchenhalten oder sowas anfangen?” Doch sie achteten schon nicht mehr auf sein Gezeter. „Es wird ihn schon nicht umbringen”, meinte Kai. Dann verwickelte Yuriy ihn in einen ziemlich intensiven Kuss. „Oh mein Gott! Leute!”, rief Boris, „Okay...das...das sieht weniger widerlich aus als ich dachte, aber es ist mega seltsam und...Dinge, die ich nie erleben wollte...Könnt ihr bitte aufhören? Hey!” Er bespritzte sie mit ein paar Tropfen aus seinem Glas, und das brachte sie tatsächlich zum Ende. Kai fing an, sich lautstark zu beschweren, doch dann ging quietschend die Tür über ihnen auf. „Kai!” Es war Max. „Hör auf, verbotene Dinge zu machen und komm! Sie spielen unseren Song!” Tatsächlich war im Hintergrund bereits die bekannte Melodie zu hören. Kai sprang auf. Oh je, er war betrunken. Das würde peinlich werden. „Verdammt - Warte Max, ich komme!” Kapitel 10: Bakuten IV - Juli I ------------------------------- Später würden sie sagen, dieser Sommer war gleichzeitig der schönste und der schlimmste. Nach der Weltmeisterschaft, so dachten sie, stünde ihnen ein ganzer Monat zur Verfügung, für das was zwischen ihnen war, für das, was vielleicht noch kommen sollte. Hätten sie gewusst, dass ihnen stattdessen gerade einmal zwei Wochen bleiben sollten, sie hätten sicher vieles anders gemacht. Die BBA brachte Team Neo Borg in einem kleinen Gästehaus unter, das von einer älteren Dame, Kobayashi Yukiko, geführt wurde. Sie war zunächst nicht sehr begeistert davon, ausgerechnet drei Russen aufzunehmen, doch dann merkte sie schnell, wie nützlich diese im Haushalt sein konnten. Binnen weniger Tage waren alle ihre flackernden Glühbirnen ausgewechselt und ein paar gefährlich herumhängende Kabel erneuert. Die Kommunikation war etwas umständlich, denn die Alte sprach ausschließlich und die jungen Männer kein Wort Japanisch (selbst mit dem Namen ihrer Gastgeberin hatten sie anfangs so ihre Schwierigkeiten), sie arrangierten sich aber bald mit aussagekräftigen Handzeichen. Gleich in den ersten Tagen organisierte Daitenji einen Sprachkurs für sie, doch dieser lief eher schleppend, nur ein paar Alltagsfloskeln blieben dauerhaft hängen. Bei der BBA war einiges für sie zu tun. Boris machte den Kindern in seinen Beyblade-Kursen Angst und Bange, doch die kleinen fanden das so cool, dass sie sich einfach nicht verjagen ließen. Außerdem verdiente er sich eine goldene Nase, indem er irgendwelchen reichen Teenagern die Blades auftunte. Sergeij unterstützte ihn am ersten Tag noch bei den Kursen, fand dann jedoch heraus, wo die beim Training beschädigten Bowls repariert wurden und half lieber dort mit. Und Yuriy wurde von Kyoujyu beschlagnahmt. Dieser hatte einige neue Versuchsreihen gestartet, um die Erkenntnisse aus der Weltmeisterschaft aufzubereiten, und brauchte jemanden, der seine präzisen Anweisungen ausführen konnte. Kai hingegen wurde von der Alltagsrealität eingeholt. Zu Hause warteten nicht einer, sondern mehrere dicke Briefumschläge auf ihn, die Aufgabenblätter zur Vorbereitung auf das nächste Schuljahr enthielten. So blieb ihm nichts anderes übrig, als tagsüber so viel abzuarbeiten wie möglich, damit er seinen Notenschnitt auch im letzten Schuljahr halten konnte. Am späten Nachmittag nahm er sich das Rad, um in einem waghalsigen Tempo von Voltaires Anwesen bergab in die Stadt zu rollen und die anderen im BBA-Zentrum zu treffen. Die Abende verbrachten sie zusammen, meist in Kobayashi-sans Haus, bis die Alte Kai hinauswarf, denn sie duldete keine Übernachtungsgäste. Es war dann schon längst dunkel, wenn er sich den Berg wieder hochkämpfte, doch es war Juli und die Nächte warm. Bakuten war eine kleine Stadt; nicht so klein, dass jeder jeden kannte, aber klein genug, um aufzufallen, wenn man anders war als die meisten Leute. Neo Borg stachen zweifellos aus der Masse heraus, sobald sie sich vor die Tür wagten. Sergeij mit seinen fast zwei Metern konnte gar nicht nicht auffallen und wurde regelmäßig angehalten, weil irgendjemand Fotos mit ihm machen wollte. Boris konnte sich nur davor retten, indem er sehr, sehr böse dreinblickte, was er daher auch unentwegt tat. Und auch nach Yuriy drehten sich die Menschen auf der Straße scharenweise um, denn er war nicht nur ziemlich groß, sondern eben auch sehr blauäugig und vor allem sehr rothaarig. Selbst Kobayashi-san hatte Kai gleich am Anfang zur Seite genommen und ihn gefragt, ob das etwa alles „echt” sei. Später bekam er zufällig mit, wie sie vor den Nachbarinnen mit diesem Wissen prahlte. Es war Donnerstag, als er Max vor der BBA-Zentrale traf, wo dieser ebenfalls gerade sein Fahrrad anschloss. „Hey Kai, nettes Bike”, grüßte er. „Ich bin mit Takao und Daichi verabredet, willst du dazukommen? Man sieht dich echt wenig Bladen in letzter Zeit.” Kai lehnte ab, unter dem Vorwand, dass er viel zu beschäftigt mit seinen Lernpaketen war. In Wirklichkeit wusste er ganz genau, dass, wenn Takao und Max ihn erstmal in die Finger bekamen, sie ihn für den Rest des Tages in Beschlag nehmen würden. Wie schon so oft durchschaute sein Gegenüber ihn aber sofort. „Komm schon, Kai - Du kannst die anderen doch mitbringen. So verbringst du trotzdem Zeit mit Yuriy.” Er grinste ihn an. „Wir bladen eine Runde, und dann gehen wir bei Kyoujyus Eltern Ramen essen - na?” „Du wirst sowieso nicht locker lassen, oder?” „Nope.” „Okay, ich frage die anderen.” Max jubelte kurz und knuffte ihn noch einmal in den Oberarm, bevor er zu den Trainingshallen davonstürmte. Kai schlug die entgegengesetzte Richtung ein, lief an der Rezeption vorbei und in den hinteren Teil des Gebäudes, wo sich die Testräume befanden. Kyoujyu hatte sich dort mit der Zeit ein eigenes kleines Labor eingerichtet. Kai konnte ihn durch eine Scheibe sehen, die Tür zum Raum stand offen und so war alles zu hören, was drinnen gesagt wurde. Kyoujyu saß vor zwei großen Monitoren, seinen Laptop neben sich. Hinter dem Schreibtisch befand sich eine Arena, an der Yuriy stand. Beide hatten ihm den Rücken zugewandt und Kyoujyu beschrieb dem Rothaarigen ganz genau, in welchem Winkel er den Test-Beyblade starten sollte. Den Horror, den er noch während der Weltmeisterschaft vor Yuriy hatte, schien er komplett vergessen zu haben. „Ein bisschen höher noch, so zehn Grad, und dann den Arm ein Stück weiter nach rechts rotieren - vergiss nicht, es soll ein schneller Start werden!” Kai war sich sicher, dass Yuriy gerade heimlich die Augen verdrehte. Er grinste in sich hinein und hob die Faust, um genau in dem Moment, als sein Freund die Ripcord zog, an die Scheibe zu klopfen. Natürlich vermasselte Yuriy den Start, denn er war, genauso wie Kyoujyu, zusammengezuckt. Letzterer raufte sich die Haare und drehte sich mit einem strafenden Gesichtsausdruck zu ihm um. „Mensch, Kai! Jetzt müssen wir das alles nochmal machen!” „Ja, aber nicht mehr heute”, entgegnete Kai, der sich nun mit verschränkten Armen in den Türrahmen lehnte, „Ich bin sicher, er hat schon genug Starts für dich gemacht.” „Das ist nicht so einfach, ich messe immer eine ganze Reihe von Shoots, bei denen ich graduell Veränderungen vornehme, da kann er nicht einfach so ein paar Stunden Pause machen, sonst kommt er aus dem Flow!” „Wenn du nicht aufpasst, bekommt er ein Karpaltunnelsyndrom, dann kannst du gar nichts mehr mit ihm machen.” „Ich habe zwar kein Wort verstanden, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ihr über mich redet, also hört bitte auf”, mischte Yuriy sich ein. Er legte den Blade und Shooter auf den Tisch. „Lass uns für heute Schluss machen, Kyoujyu. Hattest du nicht ohnehin noch was vor?” Der Jüngere starrte ihn eine Sekunde lang verwirrt an, dann schrie er plötzlich auf. „Richtig, oh mein Gott!” Er sprang von seinem Stuhl und klappte hastig seinen Laptop zu. „Wie spät ist es? Schon fast vier? Oh nein, Mist! Ich muss mich beeilen!” So ging es noch eine Weile weiter, während er verschiedene Kabel, Speicherkarten und andere Datenträger in seine Tasche stopfte. Dann drückte er Yuriy den Laborschlüssel in die Hand, damit er abschloss, verabschiedete sich und stürmte hinaus. Als sie allein waren, zog Kai langsam eine Augenbraue hoch. „Hat er ein Date?” „So ähnlich”, antwortete Yuriy, „Er erzählt ständig was von einem Idol, eine Sängerin, glaube ich. Irgendwas war heute, weshalb er pünktlich nach Hause wollte. Eine Liveübertragung im Fernsehen oder so. Ich konnte nicht alles verstehen, seine Aussprache ist nicht die beste - und das will was heißen, wenn ich das sage.” Kai hob nur die Schultern und grinste. Er fand Yuriys russischen Akzent, der sehr deutlich hervortrat, wenn er Englisch sprach, ziemlich sexy. Seine Stimme war wie eine raue Katzenzunge, auf eine sehr angenehme Art und Weise. Dass Kyoujyu überhaupt im Bilde war, welche Sternchen gerade angesagt waren, hatte er hingegen nicht gewusst - aber irgendwie verwunderte ihn sein Fangehabe auch nicht. Auf eine verquere Art passte es. Sie machten sich auf den Weg, um Boris und Sergeij zu suchen, die ebenfalls für heute fertig sein mussten. Am frühen Abend wurden die Trainingshallen immer zu voll, um Kurse zu geben, und momentan wurden sie regelmäßig von Fans eingekesselt. Die Wirkung des Finales hatte noch längst nicht nachgelassen. Es war also klar, dass ihre Teamkollegen keineswegs irgendwo in der Nähe des Eingangs auf sie warteten, im Gegenteil. Sie versuchten es zuerst bei der Feuertreppe und wurden sofort fündig. Boris und Sergeij hockten dort, Zigarette im Mundwinkel und eine Tüte Sonnenblumenkerne zwischen sich. „Ihr seid solche Gopniki”, urteilte Yuriy, „Was sollen denn die Leute denken?” „Tu doch nicht so fein, du willst doch bestimmt auch ein paar” Boris hielt ihm die Tüte hin und Yuriy griff tatsächlich hinein. Währenddessen wanderte Boris’ Blick zu Kai. „Sag mal, Hiwatari, kann es sein, dass du jeden Tag dünner wirst?” „Kann sein, dass dich das nichts angeht, Kuznetsov”, gab Kai zurück. Wahrscheinlich lag der Eindruck vor allem an den Klamotten, die er trug. Eines stimmte aber: Die letzten Weltmeisterschaftskämpfe hatten seinen Körper buchstäblich aufgezehrt. Vermutlich lag es an Suzaku, die ihn belastete. Er hätte rund um die Uhr essen müssen, um diesen Effekt aufzuhalten. Auch jetzt noch war ihr Einfluss auf ihn stärker als normalerweise, nur langsam begann sich wieder alles einzupegeln. Da er aber nun einmal gerade andere Sorgen hatte, hatte er beschlossen, seine körperliche Verfassung fürs erste zu ignorieren. „Habt ihr Daitenji heute gesehen?”, fragte Yuriy, den Mund voller Kerne. Sergeij hielt ihm eine Tasse für die Schalen hin, natürlich konnten sie die in Japan nicht einfach auf den Boden spucken. „Heute nicht”, antwortete Boris, „Er scheint fast nur in irgendwelchen Meetings zu sein.” „Hm.” „Du kannst sicher einen Termin bei ihm bekommen”, schlug Kai vor, doch Yuriy zuckte die Schultern. „Schon gut. Ich wollte nur wissen, was er macht.” „Hm”, machte nun seinerseits Kai, doch sein Freund schien nicht gewillt, sich zu erklären. Also wechselte er das Thema und wiederholte Max’ Einladung in die Trainingshalle. Seine Teamkollegen waren davon wenig begeistert. „Ich habe heute 362 Starts gemacht”, sagte Yuriy, „Dreihundertzweiundsechzig! In vier Stunden! Ich habe definitiv genug gebladet - und ja, diese Worte aus meinem Mund! Streicht euch den Tag rot an.” „Ich glaube, wir könnten alle mal eine Pause vertragen”, brummte Sergeij. „Wollen wir nicht morgen frei nehmen? Ich würde gern nach Tokio fahren.” Sergeij traf tatsächlich einen Nerv. Boris hatte sowieso genug von den Kids und Yuriy nur auf eine Gelegenheit gewartet, um Kyoujyus ausufernden Versuchsanordnungen zu entkommen. Tatsächlich hing es nur an Kai, der etwa zwei Sekunden mit sich und der Frage, ob er die verlorene Zeit zum Pauken aufholen konnte, rang. Und so nahmen sie am Freitag den Zug nach Tokio. Sie hatten nicht wirklich einen Plan, doch Kai fand, dass Shibuya und Shinjuku für einen ordentlichen Kulturschock reichen würden. Er behielt Recht und erhielt obendrein einen kleinen Bonus: Noch nie hatte er einen solchen Ausdruck auf Boris’ Gesicht gesehen. Sein Teamkollege bekam den Mund gar nicht mehr zu. Ihn endlich einmal sprachlos zu erleben, nach all den Zankereien zwischen ihnen, war Balsam für Kais Seele. Nachdem sie ein, zwei Stunden durch die Straßen gelaufen waren, nur, um die schiere Größe und Belebtheit dieser Stadt zu erfassen, schlug Sergeij vor, zum Meiji-Schrein zu gehen. Es stellte sich heraus, dass er sich schon längst über Tokio belesen hatte und eine ganze Reihe von Sehenswürdigkeiten besuchen wollte. Boris versuchte, einen Witz darüber zu machen, doch der passte nicht, da er selbst zu beeindruckt von seinem Teamkollegen war. Als schon halb beschlossen war, dass sie sich auf den Weg zum Schrein machen würden, hakte Kai sich bei Yuriy unter, um ihn ein Stück zu sich zu ziehen. „Willst du dorthin?”, flüsterte er ihm ins Ohr, „Oder soll ich dir noch was anderes zeigen?” „Gibt es dort wo du hinwillst Koffein?”, stellte sein Freund die Gegenfrage. „Zufälligerweise ja.” Während ihrer kleinen Unterredung waren Boris und Sergeij schon fast zwischen den anderen Menschen verschwunden. Sergeij schien genau zu wissen, wo er hinmusste. „Ich glaube, sie kommen ohne uns zurecht”, meinte Yuriy, „Ich kann Boris ja auch eine SMS schreiben.” „Sehr gut, komm!”, sagte Kai und zog ihn in die entgegengesetzte Richtung. Er lotste den Rothaarigen durch ein paar Straßen und Gassen, bis sie schließlich in Shinjuku ni-chome landeten. Das Viertel war tagsüber etwas verschlafener als abends, denn die vielen Bars, die es hier gab, waren noch geschlossen. Dennoch wanderten einige Touristen herum. „Wo zur Hölle willst du mit mir hin?”, fragte Yuriy irgendwann. Vielleicht hatte er die einschlägigen Werbeposter entdeckt, die manchmal hier hingen. „Wir sind schon da”, entgegnete Kai und blieb vor einer Fassade mit großen Fenstern stehen. „Ein Café?”, fragte der andere, doch Kai hob den Zeigefinger. „Ein queeres Café. Na los, rein mit dir.” Er hatte einen nicht unerheblichen Teil seiner Freizeit an diesem Ort verbracht. Es war seine Anlaufstelle, wann immer ihm in Bakuten (oder bei Hiwatari Enterprises) die Decke auf den Kopf fiel. Das Café war modern und schlicht eingerichtet und die Barista verstanden etwas von ihrem Job. Es gab immer ein paar Leute, die einfach nur an ihren Tischen arbeiteten. Oder Grüppchen, die miteinander abhingen. Da es ein beliebter Anlaufpunkt für Dates war, sah man auch viele Paare - in verschiedenen Konstellationen. Und sobald der Tag dem Ende zuging bestanden gute Chancen auf einen Flirt, vor allem für die Jüngeren, die noch nicht in Bars reingelassen wurden. Den Typen hinter dem Tresen hatte er vorher noch nie gesehen, aber ein Mädchen in der Küche winkte ihm zu. „Hey Kai, wo warst du denn so lange?”, rief sie. Ein paar andere Gesichter waren ihm auch bekannt - man traf hier schnell immer wieder auf dieselben Leute. Sie bestellten sich Kaffee und setzten sich in den hinteren Teil des Raumes, Kai mit dem Rücken zur Tür. Er beobachtete Yuriys Reaktion auf die neue Umgebung. Sein Freund sah sich neugierig um und schien recht angetan von dem, was um ihn herum passierte. „Schön hier”, urteilte er, „Ich bin nicht sicher, ob besser als der Schrein, aber schön.” „Ich sag dir, warum es besser ist als der Schrein”, entgegnete Kai, „Ich kann das hier machen.” Mit diesen Worten beugte er sich über den Tisch und hauchte dem anderen einen Kuss auf die Lippen. Und so hatten sie ihr erstes richtiges Date. Es tat gut, wieder etwas Zeit für sich zu haben. In den letzten Tagen waren meist auch Boris und Sergeij da, und überhaupt war so viel Neues für Neo Borg im Gange, dass sie kaum einmal zu Ruhe gekommen waren. Sie einmal getrennt voneinander anzutreffen, musste momentan an ein Wunder grenzen. Kai war froh, dass Yuriy sich nun entspannte. Sie sprachen über seinen Eindruck von Japan, über Kobayashi-san und die Wohnung und über Kyoujyus verrückte Experimente. Irgendwann verschränkten sich ihre Hände auf der Tischplatte und es war schön, einfach nur so dazusitzen. „Ich habe übrigens mit Max und Takao gesprochen”, sagte Kai irgendwann, „Sie sagen, dass Daitenji im Moment wirklich viel unterwegs ist. Es ist also nicht verwunderlich, dass du ihn nie zu Gesicht bekommst.” „Hm”, machte Yuriy, „Weißt du, wo er sich herumtreibt?” Kai legte den Kopf schief. Sein Leader hatte nie ein besonderes Interesse am Leiter der BBA gezeigt und es war ein wenig seltsam, dass er nun damit anfing. Aber er kannte auch nicht alle Details der Absprachen, die der Alte mit Neo Borg getroffen hatte. „Die BBA funktioniert ein bisschen wie Hiwatari Enterprises”, sagte er schließlich, „Es gibt einen Chef, aber eben auch ein Board von Leuten, die irgendwie Anteile an der Firma haben. Wahrscheinlich rennt Daitenji gerade von einem zum anderen, um die Ergebnisse der Weltmeisterschaft zu präsentieren. Könnte mir vorstellen, dass es Möglichkeiten für neue Deals gibt, vielleicht ein paar Ankäufe oder Verträge mit Partnern. Wir wurden ja alle ziemlich gefeiert in den Medien. Kann sein, dass du etwas warten musst, bis du wieder einen Termin bei ihm bekommst.” „Ach, darum geht es mir gar nicht”, entgegnete Yuriy, „Es interessiert mich nur, was er so treibt. Meinst du, wir bekommen etwas davon mit, wenn sich etwas bei der BBA verändert?” „Früher oder später schon”, antwortete Kai und wiegte den Kopf, „Daitenji bemüht sich eigentlich immer, den Bladern möglichst früh alles mitzuteilen.” „Ah. Gut.” Mit diesen Worten schien das Thema für Yuriy geklärt, denn er hob die Tasse, um einen Schluck zu trinken. „Das ist echt guter Kaffee!” Kai kam nicht dazu, noch einmal nachzuhaken. Sein Handy, das auf der Tischplatte lag, vibrierte kurz. Er warf nur einen nachlässigen Blick darauf, doch als er den Namen auf dem Display sah, zog er überrascht die Augenbrauen hoch. Dann klappte er das Gerät auf. Wer ist denn dieser hinreißende Rotschopf, den du da bei dir hast? XO, stand dort. Kai hob den Kopf und sah sich verstohlen um, entdeckte den Absender jedoch nicht. „Yuriy”, sagte er deswegen, „Kannst du mal unauffällig checken, ob irgendwo hinter mir ein großer Typ mit dicken Oberarmen und Brille ist?” „Das muss ich gar nicht”, entgegnete der andere, „Steht am Tresen. Hat mir vorhin zugezwinkert. Wieso?” „Der Arsch”, murmelte Kai und drehte sich auf seinem Stuhl. Tatsächlich. Dort war der Kerl und nahm einen Pappbecher Kaffee entgegen mit diesen großen, gepflegten Händen, die Kai vor gar nicht allzu langer Zeit ziemlich schwach gemacht hatten. Als der andere seinen Blick bemerkte, winkte er ihm zu und grinste. Kai lächelte und zeigte ihm den Mittelfinger. „Das ist mein Ex”, erklärte er, als er sich wieder zu Yuriy umwandte. Der starrte nun doch ganz unverhohlen. „Das ist der dunkle Lord?” „Ja. Tut mir Leid, ich hätte ahnen müssen, dass er hier auftauchen könnte.” Er behielt für sich, dass dies überhaupt erst der Ort war, an dem sie sich kennengelernt hatten. „Willst du gehen?” „Nein. Es ist ein bisschen komisch, dass er mit mir flirtet, aber das kann ich ignorieren.” Die Frage war eher, ob Kai das ignorieren konnte. Sein Freund lehnte sich zurück und sah ihn belustigt an. „Soso, Jurastudenten mit dicken Oberarmen und Dreitagebart also.” „So wie du das sagst, klingt es plötzlich ziemlich pervers.” „Keine Sorge. Ich frage mich nur, wie ich in dieses Schema passe.” Kai ließ sich Zeit mit der Antwort. Derartige Metagespräche über sein Liebesleben zu führen war noch ziemlich neu für ihn, vor allem, da er zunächst einmal behaupten würde, kein Schema zu haben. Andererseits hatte er seit einiger Zeit das Gefühl, dass Yuriy ihm zunehmend solche Fragen stellte, vielleicht auch, um sie mit seinen eigenen Ansichten abzugleichen. „Eigentlich mache ich mir darüber keine Gedanken”, sagte er schließlich, „Aber Max ist der Meinung, mein Schema wäre, ich zitiere” Er hob während er sprach der Reihe nach drei Finger, „Größer als ich, älter als ich, zeigt mir wo es langgeht. Und, naja, da passt du schon rein.” „Hast du gerade zugegeben, dass du auf mich hörst?”, fragte Yuriy, „Und da dachte ich, das liege an meinen unvergleichlichen Fähigkeiten als Teamcaptain.” Kai hob die Schultern, dann sank er ebenfalls zurück gegen die Stuhllehne, nicht ohne zuvor noch einen flüchtigen Blick über die Schulter zu werfen. You Know Who war zum Glück bereits gegangen, und er entspannte sich wieder. Er fragte sich, ob er den Frauen, mit denen Yuriy etwas angefangen hatte, auch irgendwie ähnlich war. Eine Weile haderte er mit sich, ob er diesen Gedanken laut aussprechen sollte, doch dann kam Yuriy ihm zuvor: „Hattest du Sex mit ihm?” Kai öffnete den Mund, bevor er überhaupt wusste, was er antworten sollte, und da er so schnell keine Worte fand, starrte er einen Augenblick lang nur. „Uhm”, machte er langgezogen, „Definiere … Sex?” „Naja, Sex halt.” Jetzt war es Yuriy, der unsicher wirkte, „Ich meine, was - „ „Ich hab ihm einen Blowjob gegeben”, unterbrach Kai und nahm seine Tasse. Während er trank, entschied er, dass dieser Moment genauso gut war wie jeder andere, um weiter ins Detail zu gehen. „Ich hatte schon Sex”, stellte er deswegen klar. „Ich meine, mehr als das eben. Es gab da eine Person vor, Gott, zwei Jahren? Wir haben eine Zeitlang oft miteinander rumgehangen, und dann ist es halt passiert, weil wir beide keinen Bock hatten, zu warten, bis es irgendwann auf uns zukommt.” Er war nicht stolz darauf, ärgerte sich aber auch nicht darüber, wie es gelaufen war. Sie hatten es danach noch ein paar Mal getan, bevor sie sich aus den Augen verloren hatten. Und jetzt war er nur froh, einen Haken an diese Sache machen zu können. Zum Glück schien sein Freund ihn nicht verurteilen zu wollen. „Bei mir war es auch nicht so spannend”, erzählte er. „Es war nach der Abtei. Ich war betrunken, sie war betrunken - ganz ehrlich, ich weiß nicht einmal, ob es wirklich passiert ist. Und so was passiert mir wirklich selten. Jedenfalls waren wir am nächsten Morgen der festen Überzeugung, dass wir miteinander geschlafen haben, und dann haben wir es gleich nochmal gemacht - also war spätestens da alles geklärt.” „Klingt, als wären wir beide richtig große Romantiker”, sagte Kai und verzog den Mund. Yuriy lachte leise. In diesem Moment erinnerte Kai sich daran, wie sie in Kairo zusammen in der engen Duschkabine gestanden hatten. Kaltes Wasser war über sie gelaufen und hatte ihn geschockt, denn sein Körper war so warm gewesen dank Suzaku. Dann hatte er zum ersten Mal Yuriys Haut an seiner gespürt und während sie sich sehr lange geküsst hattet, wussten sie doch nicht, wohin ihre Hände durften und wohin nicht. Selbst jetzt war er sich noch nicht immer sicher, ob er das richtige tat, aber bisher schien es zumindest nicht falsch gewesen zu sein. Und wenn Yuriy ihn berührte, war es in den meisten Fällen sogar sehr erwünscht. „Kai?” Er fühlte Yuriys Hand an seiner und sah zu ihm auf. „Sollten wir miteinander schlafen?” Er legte den Kopf schief, so wie sein Freund die Frage gestellt hatte klang es seltsam, aber er glaubte, zu wissen wie sie gemeint war. Was Yuriy soeben ausgesprochen hatte, hatte er schon sehr, sehr oft gedacht. Und nie gewusst, ob er es so direkt sagen konnte. Obwohl er seit geraumer Zeit sicher war, dass er irgendwann mit einem Mann schlafen würde, hatte er auch ein wenig Angst davor. Was, wenn irgendetwas schief ging? Wenn es einem von beiden wehtat, und zwar so sehr, dass man es nicht einfach ignorieren und weitermachen konnte? Vielleicht mussten sie beim ersten Mal ja auch gar nicht in die Vollen gehen - es würde das Ganze einfacher zu bewältigen machen. „Ja, warum nicht?”, sagte er also und schickte den Worten noch ein Lächeln hinterher, „Aber ich warne dich: So viel Erfahrung mit Männern habe ich dann doch nicht.” „Wie praktisch; geht mir genauso.” Yuriy grinste und Kai verdrehte die Augen. „Aber im Ernst… Wir können doch einfach ausprobieren, was uns gefällt - oder?” „Sicher. Solange wir genug Gleitgel und Kondome haben.” „Ich weiß, wo Boris’ Vorrat ist.” „Oh mein Gott.” Kai verzog das Gesicht, dann steckte Yuriys Lachen ihn an. Einige der anderen Gäste drehten sich zu ihnen um, sodass sie sich schnell über ihre Tassen beugten und versuchten, leiser zu sein. Kai starrte auf die Tischplatte, doch er nahm sich vor, dieses Bild von eben, wie Yuriy lachte, nicht zu vergessen. Lächelnd drehte er die Tasse in den Händen. „Worüber denkst du nach?”, fragte Yuriy. „Ach… Ich dachte nur, wie krass es ist, hier mit dir zu sitzen. Hätte mir das jemand vor ein paar Wochen gesagt… Ich meine…” Er unterbrach sich kurz und sah auf. „Warum ich, Yuriy? Ich habe nie ganz mitbekommen, wann du gemerkt hast, dass du mehr von mir willst.” „Oh, ich glaube, das war irgendwann zwischen ‘Ohne mich könnt ihr dieses Turnier nicht gewinnen’ und ‘Es tut mir leid, dass ich das Battle gegen Sumeragi vergeigt habe’”, antwortete Yuriy und lachte angesichts Kais pikierter Miene schon wieder. „Und wenn du wissen willst, warum…” Er stützte das Kinn in die Hand. „Hm, schwer zu beschreiben. Vielleicht, weil du immer so schön Konter gibst, wenn Boris dich beleidigen will. Vielleicht, weil weder der sibirische Winter noch ein Schlag ins Gesicht noch eine Niederlage deinen Stolz brechen können. Oder, weil du mit deinen Bladebreakers auf der Tanzfläche ziemlich peinlich zu ‘eurem’ Song abgehst, obwohl du sonst der coolste Typ der Welt bist.” Er schnaubte kurz. „Und hübsch bist du bei alledem auch noch, also was soll die Frage?” „Also hübsch ist so ziemlich der letzte Begriff, mit dem ich mich selbst beschreiben würde”, murmelte Kai. „Verzeih, du bist natürlich ein ganzer Mann, so wie Vin Diesel, quasi.” „Was, du kennst Vin Diesel, aber von Labyrinth hast du noch nie was gehört? Du hast echt eine selektive Wahrnehmung.” „Fängst du schon wieder damit an? Was ist so besonders an diesem Film?” „Vier Worte”, sagte Kai und stieß seinen Zeigefinger im Takt auf die Tischplatte. „David Bowie in Strumpfhosen.” Yuriy kniff die Augen zusammen und ließ den Blick über ihn wandern. Vielleicht versuchte er immer noch, sich ein Bild von Kais Männergeschmack zu machen. Dabei gab es da gar nicht viel zu verstehen: You Know Who fand er auf rein körperlicher Ebene attraktiv. Er hatte ihn anfassen wollen, diesen sehr großen und sehr harten Körper spüren und endlich einmal herausfinden, wie es war, jemandem zumindest in diesem Bezug unterlegen zu sein. Klar, smart war sein Ex auch, aber eher auf die langweilige Art, was längerfristig nichts brachte. Kai hörte gern zu; wenn jemand gut reden konnte, wurde er schwach. Er mochte den Klang bestimmter Stimmlagen. Und äußerliche Attraktivität entstand für ihn vor allem dadurch, wie jemand sich bewegte, wie diese Person sich gab. Eine selbstvergessene Geste konnte ihn mehr in den Bann schlagen als ein ebenmäßiges Gesicht. „Erinnerst du dich an Kolja?”, fragte Yuriy plötzlich und riss Kai aus seinen Gedanken. „Nikolai Petrowitsch? Er war in der Abtei. Ein paar Jahre älter als wir.” Er dachte nach, dann tauchte ein Junge aus den tiefen seines Gedächtnisses auf. Blond, breitschultrig, ziemlich stark. „Ja, glaube schon”, sagte er. Dann runzelte er die Stirn, suchte nach noch mehr Erinnerungen. „Ah, Kolja, klar. Der, der immer Zigaretten vertickt hat, oder? Sergeij hat ständig mit ihm herumgelungert.” „Genau.” Yuriy hielt einen Moment inne. „Der hatte verdammt schöne Augen.” „Ah. Das weiß ich nicht mehr”, sagte Kai, doch er schmunzelte. „Weißt du, was aus ihm geworden ist?” „Nein. Er hat die Abtei verlassen, als er alt genug war. Ich glaube, er ist zur Armee gegangen.” Wie immer, wenn sie auf die Abtei zu sprechen kamen, drückte es die Stimmung. Sie wussten beide, dass es so gut wie unmöglich war, herauszufinden, wo Kolja mit den schönen Augen jetzt war. Oder ob er überhaupt noch lebte. Doch bevor sie allzu tief in ihren düsteren Gedanken versinken konnten, klingelte erneut ein Handy, diesmal Yuriys. „Oh oh”, machte er, bevor er abnahm, „Borjuschka! Was ist los?” Er sah Kai mit hochgezogenen Augenbrauen an, während Boris’ Stimme selbst für letzteren noch zu hören war, so laut sprach er. Anders als erwartet klang ihr Teamkollege jedoch nicht erbost über ihre lange Abwesenheit, sondern ziemlich aufgeregt. Yuriys Miene wurde starr und Kai legte die Hand auf seinen Unterarm, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. „Was ist los?” Yuriy ließ das Handy sinken. „Daitenji wurde rausgeschmissen”, sagte er, „Und die BBA ist verkauft.” Es war wie der sprichwörtliche schlechte Traum. Kaum dass der Wechsel an der Spitze der BBA bekannt wurde, rissen sie das alte Trainingscenter ab. Selbst Kai tat der Anblick der Brachfläche weh; er hatte sich sehr oft über dieses viel zu kleine und viel zu alte Gebäude geärgert, doch es war nun einmal immer die einzige Anlaufstelle für sie als Blader gewesen. Manchmal hatte er sogar heimlich dort übernachtet, wenn sowohl Takao als auch Voltaire zu viel für ihn waren. Und jetzt war das alles - weg. Sie versuchten ihr bestes, irgendetwas in Erfahrung zu bringen. Kai tauschte sich mit den anderen Bladebreakers aus, doch diese wussten genauso wenig wie er. Als er seinen Teamkollegen davon erzählte, wurde Yuriy noch fahriger als ohnehin schon; es war nicht zu übersehen, dass er seit Schließung der BBA komplett neben sich stand. Er fing an, ständig Nachrichten auf seinem Handy zu tippen, etwas, das er sonst nie tat. Man sah ihn für gewöhnlich sowieso nie mit einem Telefon in der Hand, nun war es quasi immer präsent. Während er auf dem Gerät herumdrückte, ließ sich von Nervosität bis Zorn eine ganze Bandbreite von Emotionen in seinem Gesicht ablesen. All das führte sogar so weit, dass Boris Kai zur Seite nahm und darauf ansprach, doch der konnte sich auch keinen Reim darauf machen. Yuriys Verhalten machte die ganze Situation noch schlimmer, denn mit ihm fehlte der Ruhepol des Teams. Selbst Sergeijs Nervenkostüm schien darunter zu leiden, seine Aura war wie die eines Vulkans kurz vor dem Ausbruch. Es hätte Kai nicht gewundert, wenn ihm irgendwann einfach die Hand ausrutschen würde, sobald ihn jemand unerwartet berührte. Also machte er lieber einen Bogen um ihn, und um Boris sowieso. Wenn es Yuriy schlecht ging, ging es Boris zum Kotzen. Als hätte er alle Stabilität verloren. Boris verstand nicht, was mit ihrem Teamchef los war, und er war derjenige, der dies am allerwenigsten akzeptieren konnte. Ein paar Mal wirkte es, als wolle er sich einfach auf Yuriy stürzen und sein Geheimnis aus ihm herauspressen. Kai konnte es ihm nicht verübeln. Er selbst versuchte, seinen Freund für ein klärendes Gespräch beiseite zu nehmen, doch der wich ihm jedes Mal aus. Es verletzte ihn, ja, aber er schluckte seinen Frust herunter und wartete. Ihnen blieb eh nichts anderes übrig als zu warten, Tag um Tag um Tag. KNN übertrug alle Entwicklungen zuverlässig und quasi in Echtzeit, also saßen sie, wenn sie sich nicht irgendwo anders nach Neuigkeiten und Gerüchten umhörten, in Kobayashi-sans Haus vor dem Fernseher. - Bis Yuriy plötzlich aufsprang und fluchte. Während ihre erstaunten Blicke ihm folgten, hob er sein Handy zum Ohr und starrte zu ihnen zurück, seine Miene unleserlich bis auf die Frustration, die sie alle fühlten, dann wurde am anderen Ende der Hörer abgehoben. „Vanja!”, rief Yuriy, „Was zur Hölle machst du die ganze Zeit? Sag mir endlich, wo er ist, verdammt!” Sergeij und Boris sahen sich an, Sergeijs Mund formte noch einmal den Namen Vanja. Warum rief Yuriy Ivan drüben in Russland an? Sie beugten sich vor und Kai stellte den Fernseher auf stumm. Yuriy allerdings beachtete sie schon nicht mehr. „Was soll das heißen, du hast ihn verloren?” Es entstand eine Pause, als Ivan sprach. „Schelesnogorsk? Meine Güte, da gibt es doch gar nicht so viele Möglichkeiten… Was ist mit Anatolij, vielleicht weiß der was… Hm, ja, das hätte ich auch zuerst angenommen… „ Während Ivan redete, begann Yuriy im Zimmer auf und ab zu gehen. Als er sich erneut in ihre Richtung drehte, biss er nervös auf seine Unterlippe. Was auch immer Ivan zu berichten hatte, es war nichts Gutes. „Wann?... Scheiße… Ja, ja, versuch das. Und bete, dass er dort auftaucht. Wenn nicht… Ja. Ich rufe dich an. Bis dann.” Er beendete das Gespräch und starrte ins Leere, das Telefon immer noch in der Hand. Dann ließ er sich zurück auf die Tatami-Matten fallen und strich sich durch die Haare. Auf einmal sah er müde und ausgezehrt aus, viel schlimmer noch als nach dem Finalmatch. „Yuriy”, sagte Sergeij sehr ruhig, „Was ist los?” Ihr Leader sah sie alle der Reihe nach an, sein Mund bewegte sich, doch er schwieg. Was auch immer er gerade in Erfahrung gebracht hatte, er schien eine Weile zu brauchen, um die Informationen selbst verarbeiten zu können. „Rede endlich!” Boris’ Stimme war lauter als die seines Teamkollegen. Es wirkte, als hätte er Yuriy am liebsten gepackt und geschüttelt, damit er aus seiner Lethargie erwachte. „Seit Wochen warte ich, dass du mit der Sprache rausrückst und mir erzählst, was du die ganze Zeit treibst - sieh mich nicht so an, denkst du, ich merke nichts von deiner Geheimnistuerei? Du hättest mich während des Turniers nicht auf die Bank setzen dürfen, wenn du nicht wolltest, dass ich dich beobachte! Und Vanja weiß davon? Ausgerechnet Vanja? Was zur Hölle geht hier vor sich?” Kai hielt sich zurück. Er beobachtete die Szene vor sich: Yuriy, der offensichtlich nach einem letzten Ausweg suchte, um nicht aussprechen zu müssen, was er wusste; der aber erkennen musste, dass Boris ihn nicht davonkommen lassen würde. Sein Team würde keiner seiner Ausreden mehr Glauben schenken, er hatte ihre Geduldsfäden zum wahrscheinlich ersten Mal überspannt. Warum war er nicht einfach für das Telefonat nach draußen gegangen? Nun, es war sowieso vorbei, vielleicht hatte er das schon geahnt. Jetzt griff Boris wirklich nach Yuriys Shirt. Er hielt ihn nur fest, als hätte er Angst, dass ihr Leader aufspringen und verschwinden könnte, doch der sah einfach nur mit versteinerter Miene zu ihm auf. Boris beugte sich noch ein Stück vor. „Rede.” Und zum ersten Mal schaffte Yuriy es nicht, seinem Blick standzuhalten. Er senkte den Kopf und griff nach Boris’ Hand, um sie von seiner Kleidung zu lösen. „Ist ja gut”, murmelte er. Boris sank wieder zurück in den Schneidersitz und Sergeij und Kai kamen etwas näher, sodass sie alle um den niedrigen Tisch herum saßen, während der Fernseher unbeachtet hinter ihnen flimmerte. Eine seltsame Stille breitete sich aus, während Yuriy nach Worten suchte; irgendwo weiter hinten im Haus hantierte Kobayashi-san laut herum. Yuriy holte tief Luft. Dann stieß er sie wieder aus, ohne gesprochen zu haben. „Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.” „Vielleicht erklärst du uns, was du mit Vanja im Schilde führst”, schlug Sergeij vor. „Gut.” Yuriy sah erst ihn, dann Boris an. „Vanja beobachtet Volkov.” Kai war genauso überrascht wie seine Teamkollegen. „Aber Volkov ist im Knast!”, entfuhr es Boris, doch seine Stimme klang bereits, als würde er sich selbst nicht mehr glauben. Und Yuriy schüttelte langsam den Kopf. „Er ist frei. Schon seit einer ganzen Weile. Fragt mich nicht, wie er das geschafft hat, wahrscheinlich hat er irgendwelche Lügenmärchen erzählt und mit Geld gewedelt. Dann haben sie ihn klammheimlich rausgelassen.” „Und woher weißt du davon?” Yuriy seufzte. „Er hat mich kontaktiert”, antwortete er, „Das muss eines der ersten Dinge gewesen sein, die er draußen getan hat. Wir waren noch in Moskau und mitten in der Therapie. Er rief mich an und fragte, ob ich… zurückkommen will.” Dabei verzog er den Mund. „Zurückkommen”, wiederholte er. Kai lief allein bei der Vorstellung von Volkovs Stimme ein Schauer über den Rücken. Dessen Beweggründe lagen für ihn klar auf der Hand: Yuriy war immer sein Liebling gewesen. Er musste glauben, dass sein bester Schüler sich nichts sehnlicher wünschte, als die guten alten Abteizeiten wieder aufleben zu lassen. Da hatte er die Rechnung allerdings ohne Takaos Charme gemacht, der schon längst auf Team Borg wirkte. „Ich habe ihm gesagt, dass er sich ficken soll”, sagte Yuriy wie zur Bestätigung, „Ich frage mich bis heute, wie er nur denken konnte, dass… Ach, lassen wir das. So wusste ich jedenfalls, dass er auf freiem Fuß war, und ich war mir damals schon sicher, dass er irgendwann wieder irgendetwas versuchen würde. Also habe ich ihn beobachtet. Boris, Sergeij.” Wieder sah er sie direkt an. „Ich konnte es euch nicht sagen. Unser Leben war schon so schwer genug. Ivan wusste es zuerst auch nicht. Aber dann wurde es immer komplizierter, Volkov im Auge zu behalten. Ich habe also alle Abteijungen kontaktiert, die ich kannte, vor allem die, von denen ich wusste, dass sie nicht so schlimm dran waren wie wir. Ihr wisst ja, wie weit wir verstreut sind. Einige haben mir geholfen - Vadim in Omsk, Ljoscha in Krasnodar, Jewgenij in Wladiwostok und noch ein paar andere. Wir konnten seine Spur von Moskau nach Noworossijsk verfolgen, dann ist er weiter nach Osten gezogen. Als Vanja dazukam, war er gerade in Tscheljabinsk und ich dachte, er würde sich irgendwo in Sibirien ein Versteck für den Rest seines Lebens suchen. Vanja hat mitbekommen, wie ich mit den anderen telefoniert habe.” Yuriys Mund verzog sich sehr kurz zu einem Grinsen. „Natürlich wollte er dann auch mitmachen. Er meinte, es sei schon okay, weil er ja nicht mehr bladet. Als würde ihn das vor irgendetwas schützen.” Sie seufzten kollektiv, als sie an Ivan dachten. Kai kannte seine Geschichte nur zum Teil. Fakt war, dass er zu viele Narben, innerlich wie äußerlich, von der Abtei behalten und deswegen den Sport aufgegeben hatte. „Jedenfalls haben wir es Vanja zu verdanken, dass wir von seinen Plänen erfahren haben”, sagte Yuriy, „Zusammen mit Ljoscha hat er es irgendwie geschafft, seinen E-Mail-Account zu hacken. Ein paar Tage lang konnten sie mitlesen, bevor er es gemerkt hat. Doch jetzt haben wir seine Spur komplett verloren.” Noch einmal strich er sich fahrig durchs Haar. „Das letzte Mal haben wir ihn in Schelesnogorsk aufgespürt. Vielleicht ist er von dort einfach in die Taiga abgetaucht, dann wäre er kein Problem mehr für uns. Aber wenn mein Verdacht richtig ist, tut er das genaue Gegenteil.” Kai, der inzwischen ahnte, worauf das alles hinauslief, stützte die Arme auf den Tisch und kam näher. „Hat Volkov was mit dem Verkauf der BBA zu tun?”, fragte er. „Ganz ehrlich: Ich bin nicht sicher”, sagte Yuriy, „Aber es gibt einige Zeichen, die darauf hindeuten.” Er machte eine kurze Pause. „Während wir beide schon in Irkutsk waren, hat Vanja noch mehr Nachforschungen angestellt und unter anderem mit Ralf Jürgens gesprochen. Jürgens hatte keine Ahnung, aber Vanja fand heraus, dass Barthez mit Volkov angebandelt hat.” Als er das sagte, wurde Kai einiges klar: Warum Barthez Yuriy in Kairo so provoziert hatte. Und warum Yuriy dessen Team so zutiefst verabscheute, obwohl Miguel und die anderen ihm nie etwas getan hatten. Das alles ergab auf einmal Sinn. „Die Teilnahme von Barthez Soldiers an der Meisterschaft war nur ein Test”, fuhr Yuriy fort, „Wofür genau, weiß ich noch nicht. Aber wenn mein Verdacht stimmt und… Volkov die BBA übernehmen will… Es wäre ein logischer Schachzug. Er wollte schon vorher ein Team etablieren, mit ihm den Titel gewinnen und dann seine neue Organisation gründen. Was ist besser fürs Image, als dabei von den Weltmeistern unterstützt zu werden?” Boris brummte und auch Kai nickte zustimmend. Wenn Volkov es wirklich nicht lassen konnte und wieder Pläne schmiedete, so brauchte er neue Verbündete. Yuriy hatte ihm klar gezeigt, dass er nichts mehr von ihm wissen wollte, und da war er sicher nicht der einzige. Also hatte er sich mit anderen machthungrigen alten Männern zusammengetan. Wie immer. Dann kam Kai ein neuer Gedanke, der ihn augenblicklich erstarren ließ. Wie hatte er so blind sein können! „Deswegen wolltest du den Titel gewinnen!”, sagte er zu Yuriy, „Um Volkov aufzuhalten.” Boris und Sergeij runzelten beinahe zeitgleich die Stirn, für sie war das wohl noch nicht klar. „Als Weltmeister hätten wir Volkov niemals unterstützt”, erklärte Kai, „Er kann vielleicht jedem anderen etwas vorspielen, aber nicht uns. Und wir haben eine Menge Fans. Wenn wir den Titel geholt und uns dann deutlich gegen Volkov ausgesprochen hätten, hätte er viel schwerer Fuß fassen können.” „Richtig”, bestätigte Yuriy, „Nur war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar, dass die BBA-Blader viel weniger von den Tätigkeiten des Managements mitbekommen, als wir damals. Es sind zwei getrennte Welten. Unser Einfluss ist marginal. Inzwischen fürchte ich, dass auch der Titel keinen Unterschied machen würde.” Er rieb sich die Augen, offensichtlich am Ende seiner Ausführungen. Wieder entstand Stille, sie alle mussten erst einmal verdauen, was sie gerade erfahren hatten. Yuriy hatte also all das von Anfang an gewusst und versucht, das Schlimmste zu verhindern. Barthez besiegen, den Titel holen, an Volkov dranbleiben. Kein Wunder, dass er zeitweilig so verbissen war. Kai konnte nicht verhindern, dass er sich ausgenutzt fühlte - ohne die Bedrohung durch Volkov hätte Yuriy ihm womöglich nicht verraten, wie der Krasnaja Kometa funktionierte. Viel mehr noch, wahrscheinlich wäre er einfach mit Boris als Partner angetreten und hätte ihn nie ins Team geholt. Doch er verscheuchte den Gedanken, es war nicht der richtige Augenblick für ein angekratztes Ego. Viel wichtiger war doch, ob Yuriy Recht hatte und tatsächlich Volkov für den Untergang der alten BBA verantwortlich war. Und wenn ja, was sie dann tun würden. „Wir müssen die anderen warnen”, sagte er langsam. „Wenn Volkov da draußen ist und wieder Blader rekrutiert, dann müssen wir Takao und die anderen davon in Kenntnis setzen.” Doch Yuriy schüttelte den Kopf. „Es ist schon schlimm genug, dass ihr jetzt davon wisst. Das hier hat nichts mit Kinomiya zu tun, also sollten wir ihn da nicht mit reinziehen. Es ist allein mein…” „Unser Problem!”, unterbrach Boris ihn. Yuriy öffnete den Mund, doch er machte eine unwirsche Geste, um ihn zum Schweigen zu bringen. „Wenn du richtig liegst und wirklich Volkov hinter all dem steckt, dann werden wir ihn dem Erdboden gleich machen, sobald er sich zu erkennen gibt. Kurz und schmerzlos - für uns zumindest.” „Und wie wollt ihr das tun, hm?”, brauste Kai auf, „Auf dem BBA-Gelände bauen sie gerade einen verfickten Wolkenkratzer - wenn es Volkov ist, dann hat er verdammt noch mal Verbündete und Geld! Was wollt ihr machen, in sein Büro marschieren und ihm den Schädel einschlagen? Außerdem…” Er atmete einmal durch, um sachlich weitersprechen zu können, „Wer sagt denn, dass sich unsere...Freunde… nicht auch mit Volkov verbünden? So wie Barthez Soldiers? Die meisten von ihnen kennen doch gar nicht das ganze Ausmaß von Borg. Wir haben uns nie bemüht, diese Informationen zu streuen.” „Was willst du denn tun, Kai?”, fragte Yuriy, „Zu Kinomiya gehen und ihm unsere ganze, abgefuckte Lebensgeschichte erzählen, nur damit er sich ja nicht auf Volkov einlässt? Mal abgesehen davon, dass er sicher schon einiges weiß - Kinomiya ist nicht so naiv, und er ist nicht wie wir. Er wird sich von Volkov nicht einlullen lassen, und die anderen auch nicht.” Kai war sich der Ironie dieser Situation bewusst: Ausgerechnet Yuriy, der Takao vor zwei Jahren noch vernichten wollte, hatte nun mehr Vertrauen in ihn als Kai, von dem der Champion doch behauptete, er wäre sein Freund. War Yuriy einfach zu verblendet von dem Match damals, oder schätzte Kai Takao völlig falsch ein? Er wusste in diesem Moment nur eins, und zwar, dass er kein Risiko eingehen wollte. Er hasste es, sich machtlos zu fühlen. „Ja, aber was machen wir denn jetzt?”, sagte er also und stellte verwirrt fest, dass er lauter war als er sein wollte. Er sah von einem zum anderen, zuletzt blieb sein Blick an Yuriy hängen und für einen Moment meinte er, den ganzen verrückten Plan an seinen Augen ablesen zu können. „Wir warten”, sagte Yuriy, „Und wenn Volkov hinter der Sache steckt, vernichten wir ihn mitsamt seiner Organisation.” Dann tauchte Daitenji wieder auf. Takao fand es durch Zufall heraus, anscheinend hatte der ehemalige BBA-Präsident sich regelrecht vor ihnen versteckt. Es war viel Überzeugungsarbeit nötig, ihn in das Dojo zu locken. Die wenigen Informationen, die Daitenji preisgab, streute Takao in die Runde. Wenn der Alte wusste, an wen die BBA verkauft worden war, so sagte er das nicht, sondern gab nur ein paar kryptische Bemerkungen von sich. „Was sollen wir tun?”, fragte Takao geradeheraus. Sie hatten sich am Aokigawa-Kanal getroffen, direkt neben der Brücke, unter der Kai und Takao ihr erstes Match überhaupt gespielt hatten. Bei der Treppe, auf der er Yuriy geküsst hatte; ihm war, als sei dieser Moment eine Ewigkeit her. Nun saßen Max und Daichi an genau dieser Stelle, Kyoujyu und Hiromi zwei Stufen darüber. Takao ließ Dragoon auf dem sandigen Boden Kreise ziehen und Kai stand mit verschränkten Armen daneben. „Was sagt dein Team, Kai?”, kam es von Max und er hob die Schultern. „Abwarten”, nuschelte er. „Ist wirklich nichts aus Daitenji herauszubekommen?” „Abgesehen davon, dass es morgen wohl eine Pressekonferenz gibt - nein”, antwortete Hiromi. „Wir gehen auf jeden Fall hin!”, beschloss Takao und ließ Dragoon in seine Hand springen, dann sah er Kai an, „Oder?” Er wandte den Blick ab. „Wir werden uns die Übertragung ansehen”, sagte er, woraufhin sein Gegenüber die Stirn runzelte. Er konnte ihm schlecht erzählen, dass Neo Borg, sollte Volkov wirklich auftauchen, keineswegs in seiner unmittelbaren Nähe sein wollten. Während sie sich hier unterhielten, versuchte Kais Team noch immer, Volkov wieder aufzuspüren, doch es schien unmöglich. Yuriys Netz aus ehemaligen Abteijungen war zu grobmaschig um Russland komplett abzudecken. Volkov musste irgendwie entkommen sein, und das bedeutete nichts Gutes. „Ich kann nicht glauben, dass sie wirklich eine Profi-Liga aufbauen wollen!”, entfuhr es Max in diesem Moment, „Ich meine, come on - Beyblade war immer ein Amateursport! Was soll das?” „Jemand will offensichtlich Geld mit euch verdienen”, sagte Kyoujyu, doch Hiromi fügte etwas düster hinzu: „Mit euch? Denkst du, die neue BBA wird sie alle zu Stars machen?” Kai gab ihr im Stillen Recht. Nur sehr wenige der aktuellen Blader besaßen auch nur annähernd etwas wie Starpotential, und er zählte sich selbst absolut nicht dazu. „Das heißt, sie würden uns ersetzen”, sagte er, „So wie Daitenji.” „Aber so einfach geht das doch nicht!”, brauste Takao auf. „Du hast doch gesehen, wie schnell das ging.” Kai machte eine vage Bewegung mit dem Kopf. „Es hat nicht mal eine Woche gedauert, um die BBA komplett umzukrempeln. Glaub mir, wenn du an den richtigen Hebeln sitzt, geht alles.” Er musste es wissen, bei Hiwatari Enterprises und ihren vielen Töchtern lief es ja nicht anders. „Kai.” Takao kam näher und hob die Hand, wie um sie auf seine Schulter zu legen, hielt sich dann aber zurück. „Wenn du etwas wüsstest, würdest du es uns doch sagen, oder?” Er setzte den Gesichtsausdruck auf, den sie alle von ihm gewöhnt waren, stoische Neutralität. „Wenn ich etwas sicher wüsste, würde ich es euch sagen”, wiederholte er und hoffte, Takao würde sich damit zufrieden geben. Es gefiel ihm nicht, seine Freunde jetzt anzulügen - zumal sie gemeinsam einfach stärker waren und es nicht schaden konnte, sich abzusprechen. Doch Yuriy bestand auf seiner Geheimhaltungsstrategie, als würde die Bedrohung durch Volkov erst dann Wirklichkeit werden, wenn sie es laut aussprachen. Nun, in den letzten Wochen hatte er gelernt, sich Yuriy zu fügen, also schwieg er. „Ich wünschte, Rei wäre hier”, sagte Max in diesem Augenblick, „Ich würde mich sicherer fühlen, wenn wir alle zusammen wären.” Aber Rei, und mit ihm Byakko, war in China, zusammen mit Baihuzu. Sie waren, wie die anderen Teams, kurz nach der Abschlussparty abgereist, und es hatte so geklungen, als würde Rei erst zum Jahreswechsel wieder nach Japan kommen wollen. Sein Heimatdorf war so abgelegen, dass man ihn nicht einfach anrufen konnte; auf seine Hilfe mussten sie also wohl oder übel verzichten. „Ich habe ihm eine E-Mail geschickt, aber wer weiß, wann er das nächste Mal in sein Postfach sieht”, sagte Kyoujyu. „Mehr als warten können wir jetzt nicht tun.” Als Kai am nächsten Tag zu seinem Team stieß, lag so viel Unbehagen in der Luft, dass er es körperlich spüren konnte. Sie wechselten kaum ein Wort, doch die Blicke, die sie sich zuwarfen, sprachen Bände. Ivan hatte sich gemeldet, ebenso wie eine Reihe anderer Kontakte, doch auch heute gab es keine Neuigkeiten. Kai wusste ebenfalls nichts zu berichten. Kurz bevor die Übertragung der Pressekonferenz beginnen sollte, gingen sie zum Rauchen in den Garten. Boris und Sergeij blieben zurück, als würden sie ahnen, dass ihre Teamkollegen ein paar Minuten für sich brauchten. Kai nickte in Richtung von Yuriys Hand. „Gras?” „Aber hallo. Ich sehe mir diese Pressekonferenz nicht unvorbereitet an.” „Also gehst du davon aus, dass es Volkov sein wird.” Yuriy stieß den Rauch aus und wandte den Blick ab, doch dann nickte er. „Ganz ehrlich, wer sonst? Voltaire?” „Es wäre ihm zuzutrauen”, meinte Kai und hob die Schultern, „Aber ich wüsste nicht, was seine Motivation sein sollte.” Er sah sich nach etwas um, woran er seinen Zigarettenstummel ausdrücken konnte und hockte sich, in Ermangelung von etwas Besserem, schließlich hin, um das Bodenpflaster zu nutzen. Seine Beine fühlten sich heute seltsam schwach an, sodass er froh war, einen Grund zu finden, um nicht mehr stehen zu müssen. Doch dann hielt Yuriy ihm auffordernd die Hand hin. „Ich habe mich noch gar nicht für den Ausflug ins Café neulich bedankt”, sagte er, als er Kai hochzog und ihn dann weiter festhielt. Ihre Finger verschränkten sich. „Tut mir leid, dass wir das nicht wiederholen konnten.” Kai brachte ein schiefes Lächeln zustande. „Das können wir ja tun, wenn das hier alles vorbei ist.” Er trat noch etwas näher an seinen Freund heran und Yuriy löste sich aus seinem Griff, jedoch nur, um den freien Arm um ihn zu legen und ihn an sich zu ziehen. So verharrten sie, während er ebenfalls die letzten Züge von seiner Zigarette nahm. Dann erklang schließlich Boris’ Stimme: „Hey, es fängt an!” Kai fühlte, wie ihm der Hals eng wurde, als sie nach drinnen gingen und sich um den Fernseher versammelten. Boris hatte ein Feuerzeug in der Hand, mit dem er unentwegt herumspiele; es war nervtötend, denn immer wenn das Plastik auf die Tischplatte schlug, gab es einen lauten, dumpfen Ton von sich. Doch niemand sagte Boris, dass er damit aufhören sollte. Sergeijs Miene war versteinert und Yuriy hatte begonnen, sehr leicht zu zittern. Das erste, was auf dem Bildschirm zu sehen war, war der Name der neuen Organisation: BEGA. Beyblade Entertainment Global Association. Kai stieß die Luft aus. „Globale Unterhaltung”, sagte er, „Das sagt ja schon alles.” „Aber seit wann braucht eine Unterhaltungsagentur so viel Security?”, murmelte Boris. Richtig. Diese ganze Show kam harmlos daher - immerhin hatten sie Blader DJ als Clown engagiert und alles in rosa und gelb dekoriert - aber irgendetwas schien ganz und gar verkehrt. Die schiere Größe der neuen Headquarters. Die kleine Security-Armee in ihren BEGA-Jacken. Dann füllte sich das Bild mit Qualm, und aus ihm heraus rannte ein Mädchen mit türkisblauen Haaren und riesigen, glänzenden Augen. Musik setzte ein. „Was zum - ?”, entfuhr es Boris. Yuriy hob eine Augenbraue. „Das ist doch diese Sängerin, in die Kyoujyu so verknallt ist…” „Wirklich?”, fragte Kai. Er hatte sie noch nie gesehen, geschweige denn den Song gehört - wobei es auch unmöglich war, jedem Trend und jedem Idol zu folgen, das durch dieses Land getrieben wurde. Dennoch… die ganze Nummer war ja niedlich, aber was hatte das bitte mit dem Beybladen zu tun? „Ist das ein verdammtes Ablenkungsmanöver oder was?” „Sie wollen uns einlullen”, murmelte Yuriy. „Wenn die Kleine seit Wochen in den Charts herumgeistert - und scheinbar kennen die meisten sie, so wie das Publikum da abgeht - dann ist das hier von sehr langer Hand geplant. Eine richtige Marketingmaschine, um die Menschen positiv auf BEGA zu stimmen.” „Und es wäre eine ähnliche Nummer wie mit Barthez Soldiers”, überlegte Boris laut. Er schloss die Hand so fest um sein Feuerzeug, dass es knackte. Für ein paar Minuten hatte Kai nicht darauf geachtet, was sich im Fernseher abspielte. Als er nun wieder hinsah, war er nur milde erstaunt, Takao, Max und Daichi vor der Kamera zu sehen. „Was ist denn da los?” „Stellt sich raus, die Kleine ist eine Pro-Bladerin”, sagte Sergeij. Sie alle wechselten einen wissenden Blick. Das süße Idol hatte Takao provoziert, um einen Showkampf zu bekommen, natürlich. „In Moskau gab es auch Showkämpfe”, sagte Yuriy, und Kai spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Ja, bei diesen Showkämpfen hatte er Baihuzu und die PPB besiegt. Mit Black Dranzer. Volkov stand auf Machtdemonstration. Dieser Showkampf hier verlief allerdings ganz anders. Die Musiker-Blader verloren haushoch gegen den Champion und seine Freunde, und es gelang der Sängerin, überzeugend niedlich die Niederlage ihrer Band einzusehen. In diesem Moment nahm der Schrecken seinen Lauf. Die Kamera schwenkte zum Eingang des neuen Gebäudes, und da war er - Wladimir Volkov, als hätte die Hölle ihn ausgespuckt. Das Feuerzeug in Boris’ Hand zerbrach, das Benzin tropfte auf den Tisch. Yuriy schnappte nach Luft. Kai sah, wie Volkovs Mund sich bewegte, doch in seinen Ohren war plötzlich ein Rauschen, das nur von Boris’ plötzlichem Ausruf durchbrochen wurde: „Sergeij!” Er fuhr herum. Sergeij - der große, sanfte Sergeij, dieser Fels in der Brandung - saß zusammengekrümmt, als wolle er sich vor einem Angriff schützen. Die Arme erhoben und den Kopf unter ihnen versteckt. Die Augenlider fest zusammengepresst. Sein Atem war außer Kontrolle, schnell und abgehackt. Yuriy sprang sofort auf und stürzte zu ihm, während Boris immer noch starrte, mit einem Ausdruck blanken Horrors im Gesicht. Auch Kai hatte noch nicht begriffen, was gerade passierte. Volkvos Gesicht schwebte zwischen ihnen, redete und redete; schließlich riss Kai sich los und packte die Fernbedienung. Erst jetzt merkte er, dass er zitterte. Dann schaltete er das Gerät aus. Es machte kaum einen Unterschied, noch immer erfüllten Sergeijs panische Atemzüge den Raum. Yuriy war nun direkt vor ihm und hatte eine Hand auf seine Schulter gelegt. Als er sprach, klang seine Stimme ruhig und bestimmt, doch Kai konnte sehen, wie viel es ihm abverlangte, sich nicht seiner eigenen Furcht hinzugeben. „Seryoga, hör mir zu”, sagte Yuriy, „Das ist nur eine Angstattacke. Du kennst das. Alles ist gut. Wir sind hier. Aber du musst jetzt bitte versuchen, ruhig zu Atmen. Okay? So, wie Kyrill Pawlowitsch es dir gezeigt hat.” Er warf Boris einen Blick zu, der sich nun auch aufraffte und eine Hand auf Sergeijs Rücken legte, ihn ganz leicht tätschelte. Währenddessen sprach Yuriy weiter: „Du schaffst das. Ja, genau so. Ganz tief einatmen. Und wieder ausatmen. Sehr gut. Und noch mal.” Von Sergeij kamen nun längere, aber immer noch röchelnde Atemgeräusche. Yuriy drehte den Kopf zu Kai. „Hol mal ein Glas Wasser, bitte. Seryoga, willst du eine Tablette? … Nein? Okay.” Er nickte Kai noch einmal zu, der inzwischen aufgestanden war und nun in die Küche ging, froh, dass er etwas tun konnte. Als er ein Glas gefunden und gefüllt hatte, wurde ihm auf einmal schwindelig, sodass er sich kurz an der Spüle abstützen musste. Er legte eine Hand auf die Augen, nach ein paar Sekunden war alles vorbei. Doch nun war das Engegefühl in seinem Hals zurück; am liebsten hätte er angefangen zu heulen. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Sein nächster Atemzug war ein trockenes Schluchzen. Er kniff die Augen zusammen und krallte sich noch mehr in das Edelstahlbecken, musste alle Energie aufbringen, um sich zu beruhigen. Schließlich konnte er sich wieder entspannen, doch das Zittern kam nun umso stärker zurück. Die letzten Minuten hatten seinem Körper alles abverlangt. Er trug das Glas zurück und gab es Yuriy. Sergeij hatte die Knie angezogen und seine Stirn gegen sie gelehnt, seine Arme um die Beine geschlungen. Ein Bild absoluter Erschöpfung. Yuriy berührte ihn kurz, um ihm das Glas aufzudrängen. „Du musst was trinken, los.” Widerwillig stürzte Sergeij das Wasser hinunter. „Brav”, sagte Yuriy und konnte sich tatsächlich ein kurzes Grinsen abringen. „Willst du dich hinlegen? Boris, fass mal mit an.” Eine Viertelstunde später saßen Boris, Yuriy und Kai auf dem Engawa und starrten, jeder in seine eigenen Gedanken versunken, in den sich langsam rot färbenden Himmel. Es gab nicht viel zu sagen. Ihre schlimmsten Befürchtungen hatten sich bewahrheitet. Vor ein paar Minuten hatte Kai einen Blick auf sein Handy geworfen und mehrere Nachrichten von Takao gesehen, die sich sicher auf das heute Erlebte bezogen. Er hatte nicht die Kraft, ihm jetzt zu antworten. In seinem Kopf herrschte eine eigentümliche Leere, er hatte es aufgegeben, sich zu fragen, warum das alles passierte. Ein bisschen beneidete er Sergeij darum, dass er schlief; am liebsten würde er die Außenwelt jetzt aussperren, einfach schlafen, bis all das vorbei war. Würde es jemals vorbei sein? Wie um seine Gedanken zu bestätigen, stand Boris auf. „Es tut mir leid”, sagte er, „Ich werde jetzt eine Tablette nehmen und mich hinlegen. Ansonsten werdet ihr mit mir nichts anfangen können.” Er sah auf Yuriy hinab. „Vielleicht solltest du das auch tun.” Ihr Teamchef nickte. „Später. Ich muss noch mit Kai reden.” Boris schien davon nicht so überrascht wie Kai selbst. Er hob nur die Schultern und verließ sie. Sie hörten, wie er erst ins Bad, dann in die Küche und schließlich in den Raum ging, wo ihre Futonbetten ausgebreitet waren. Während er im Haus rumorte, schwiegen sie weiterhin. Dann, als schließlich alles still war, wandte Kai sich Yuriy zu. „Und?” „Kobayashi-san wird dich bald rauswerfen”, sagte Yuriy. „Dein Ernst? Darüber machst du dir Gedanken? Ich bin sicher, wenn wir ihr die Situation erklären-” „Ich will, dass du gehst.” Kai schloss den Mund, er wusste nicht, was er erwidern sollte. Yuriys Worte versetzten ihm einen Stich. „Du musst etwas für mich tun”, fuhr der Rothaarige fort. „Versuche, herauszufinden, ob Voltaire mit Volkov unter einer Decke steckt. Von irgendwoher muss er Geld bekommen haben.” Richtig, daran hatte Kai noch gar nicht gedacht. Ihm wurde schlecht. Was, wenn sein Großvater schon wieder in irgendwelche Machtspielchen verwickelt war? Konnte das sein, nach allem, was sie als Familie durchgemacht hatten? Er zwang sich, sachlich zu bleiben. „Okay, ich kümmere mich darum. Was werdet ihr tun?” „Oh, ich denke, wir sehen uns das alles mal aus der Nähe an. Vielleicht finden wir noch ein bisschen was heraus. Und dann machen wir einen Plan, wie wir BEGA stürzen.” „Hm.” Irgendetwas an Yuriys Tonfall gefiel ihm nicht, doch er konnte nicht sagen, was genau es war. Er sah auf die Uhr. „Voltaire ist in Tokio, aber ich bin ziemlich sicher, dass er heute Nacht nach Hause kommt. Ich werde dir die Infos morgen besorgen können.” „Gut.” Wieder Schweigen. Kai regte sich unbehaglich. „Das war doch nicht alles.” „Nein.” Zum ersten Mal sah Yuriy ihn wieder direkt an. Er wirkte müde - und traurig. „Ich will, dass du das Team verlässt, Kai.” „Was?!” „Bitte.” Er verschränkte die Arme. „Oh nein, vergiss es! Warum zur Hölle sollte ich das tun?” Yuriy legte den Kopf schief. „Weil du mir vertraust?”, sagte er und lächelte müde. Kai schnaubte nur. „Yuriy, wenn du mich aus dem Team raushaben willst, musst du mich schon rausschmeißen. Und das kannst du offiziell nur, wenn du es der BBA meldest. Oh! Die BBA gibt es nicht mehr. Tja. Sieht so aus, als würdest du mich nicht mehr loswerden können.” „Kai…” Er streckte die Hand nach ihm aus und berührte sein Gesicht; in diesem Moment schien endlich etwas in ihm zu brechen. Seine Mimik löste sich auf und kurz sah Kai, wie verzweifelt sein Freund war. Dann zog Yuriy ihn an sich und vergrub den Kopf an seinem Hals. Instinktiv schloss Kai ebenfalls die Arme um ihn. Er konnte nicht verhindern, dass eine unbestimmte Angst in ihm aufstieg - wie konnte Yuriy denken, dass er das Team in so einer Situation verlassen würde? Er verstand nicht. Er verstand es einfach nicht. „Du musst das nicht alleine tun”, sagte er schließlich. „Du hast Boris, Sergeij und Ivan, die würden dir bis in die Hölle folgen, wenn es sein muss. Und du hast mich. Ich gehe nicht weg.” Doch es war, als hätte Yuriy gar nicht zugehört. „Es ist deine Entscheidung, Kai”, murmelte er gegen seine Haut, „Wenn du das Team verlassen willst - tu es einfach. Bitte.” „Okay…”, sagte Kai; etwas anderes blieb ihm ja kaum übrig. Sie verharrten eine Weile in ihrer Umarmung, dann richtete Yuriy sich wieder auf, lehnte die Stirn an Kais. Der fühlte sich von dieser Geste überwältigt, erst recht, als Yuriy auch noch lächelte - als wäre er in diesem Augenblick das einzig Gute auf der Welt. „Zalatoj”, sagte er leise, und Kais Herz fing an zu rasen, er wusste nicht, ob aus Angst oder Zuneigung. Instinktiv lehnte er sich vor und küsste Yuriy, und für ein paar Sekunden konnte verdrängen, dass mit dem heutigen Tag wieder alles Chaos und Horror war. „Pass auf, Snegurotschka”, sagte er, als sie sich wieder lösten, „Wir treten Volkov in den Arsch, und zwar gemeinsam. Und sobald wir das erledigt haben, gehen wir beide auf ein Date. Ein scheiße romantisches Date.” Yuriy fing leise an zu lachen und auch Kais Mund verzog sich zu einem verzweifelten Grinsen. „Und danach nehme ich dich mit zu mir und wir treiben es die ganze Nacht. Verstanden?” „Die ganze Nacht”, bestätigte Yuriy. Kapitel 11: Bakuten V - Juli II ------------------------------- Bist du noch wach? Das blaue Licht des Displays stach in seinen Augen. Er wartete. Yuriy schrieb nicht zurück. Kai seufzte und klappte sein Handy zu. Sofort hüllte die Dunkelheit ihn ein, erst nach einer ganzen Weile konnte er die unterschiedlichen Schattierungen von Schwarz wieder ausmachen. Über der Stadt hing eine Wolkendecke, die das Licht zurückwarf. Der Himmel war von einem schmutzigen Orange und Tokio in der Ferne schuf ein Morgengrauen wo keines war. Die Sonne würde erst in ein paar Stunden aufgehen, Stunden, die er irgendwie überbrücken musste. Normalerweise konnte Kai gut einschlafen, was vor allem an den vielen kräftezehrenden Trainingseinheiten lag. Sein Körper war daran gewöhnt, schnell zur Ruhe zu kommen wann immer es möglich war. Doch heute war es nicht möglich. Seine Muskeln waren angespannt und wann immer sich der Sturm seiner Gedanken für einen Augenblick legte, bemerkte er, dass er die Zähne aufeinanderpresste. Sein Kiefer fühlte sich schon ganz verkrampft an. Immerhin, die halbe Nacht hatte er schon hinter sich gebracht, bevor er sich dazu entschloss, Yuriy zu kontaktieren. Doch der hatte wahrscheinlich auch einfach ein Schlafmittel genommen - im Gegensatz zu Kai kannte er Situationen wie diese und konnte damit umgehen. Seufzend setzte Kai sich auf und schlug die Decke zurück. Griff nach seinem Telefon, vorsichtshalber, falls sich sein Freund doch noch meldete, und setzte sich mit angezogenen Beinen auf das Fensterbrett. Soichiros Haus war wie eine europäische Villa, drei Stockwerke, Portland-Stein, Stuck, Satteldach, Erkerfenster. Wenn es nicht von hohen Bäumen umgeben wäre, wäre es beinahe von überall in Bakuten aus zu sehen. Von den Giebelfenstern aus hatte man dafür beste Sicht auf die Stadt. Der neue BEGA-Tower ragte über alle anderen Gebäude des Zentrums hinaus. Kai war immer noch schleierhaft, wie das so schnell hatte gehen können. Doch nun war der Turm da, seine Glasfronten reflektierten den Schein, ein rotes Licht blinkte an seiner Spitze. Er war wie ein Dolch, den jemand in seine Welt gerammt hatte. Volkov hätte es niemals nach Japan schaffen sollen. Allein die Tatsache, dass er hier war, nahm Kai jegliches Gefühl von Sicherheit. Für ihn war Volkov auf ewig nicht nur mit seiner Vergangenheit, sondern auch mit Moskau verbunden. Nun holte er Kai in mehr als einem Sinn ein. Doch während sein Körper unter Strom stand, waren seine Gedanken in einem Knoten gefangen, den er nicht lösen konnte. Es gab Bilder, die ihm bekannt waren, die nun aber immer und immer wieder zu ihm zurückkehrten. Dazwischen - frustrierende Leere. Diese Leere hatte ihn nie gestört, er hatte einfach vermieden, sich allzu intensiv mit ihr zu beschäftigen. Nein, es ging ihm nicht gut. Am Nachmittag hatte er sich zusammengerissen, vor allem angesichts der Reaktionen seiner Teamkollegen, doch auch ihn hatte das Erlebte komplett aus der Bahn geworfen. Zum ersten Mal bereute er es, auf Yuriy gehört und die anderen verlassen zu haben. Für sie machte es vielleicht keinen Unterschied, ob er nun bei ihnen war oder nicht - er aber fühlte sich so allein wie schon lange nicht mehr. Er würde sie und Kobayashi-san davon überzeugen müssen, dass er dort bleiben durfte, alles war besser als in diesem, ausgerechnet diesem, Haus herumzusitzen. Sein Telefon leuchtete auf. Kais Herz schlug etwas schneller, sollte er Glück haben und Yuriy antwortete ihm? Es war eine Nachricht von Takao. Bist du wach? Alles in Ordnung bei dir? In seinem Hals wurde es eng. Dummkopf, dachte er, was denkst du denn? Aber es war schön, dass jemand fragte. Alles ist sehr verwirrend, schrieb er zurück, was der Wahrheit immer noch am nächsten kam. Ein paar Sekunden später rief Takao an. Kai zögerte, doch dann überwog der Wunsch, eine bekannte Stimme zu hören und er nahm ab. „Was ist los?” „Ich kann nicht aufhören, darüber nachzudenken, was heute passiert ist”, sagte Takao leise. „Tja.” „Was sagen Yuriy und die anderen dazu?” „Was glaubst du?”, entgegnete Kai, „Sie sind...geschockt. Gelinde gesagt.” Takao seufzte und es blieb eine Weile still zwischen ihnen. Kais Blick wanderte wieder über die Stadt, über die veränderte Skyline. „Was hat Volkov dir erzählt?”, fragte er dann. Takao berichtete kurz, wie er Volkov in den BEGA-Tower gefolgt war. Anscheinend hatte er sofort ein Battle angezettelt, doch dann hatte Volkov ihm eine Geschichte aufgetischt, wie er seine Organisation zum Wohle aller Beyblader aufstellen wollte. Es war abstrus. „Weißt du”, sagte Takao, „Wenn es nicht Volkov wäre, wäre die Idee gar nicht mal so schlecht. Ich meine, ich kann einfach nicht erkennen, inwiefern er so was für seine fiesen Pläne ausnutzen will.” „Alles viel zu schön, um wahr zu sein”, murmelte Kai, dem schon wieder die Reaktionen der anderen vor Augen standen. Allein das strafte Volkovs Worte Lügen. „Denkst du?” In diesem Moment hätte er Takao am liebsten geschüttelt. Dann fiel ihm ein, dass es zu einem nicht unerheblichen Teil seine eigene Schuld war, dass bei diesem nicht sofort alle Alarmglocken schrillten, wenn Volkov wieder auf der Bildfläche erschien. Die BBA, und nicht zuletzt er selbst, hatte die außenstehenden Blader immer von den Geschehnissen nach dem Zusammenbruch der Abtei abgeschirmt. Also unterdrückte er sein schweres Seufzen. „Weißt du, Takao”, sagte er, „Ich vertraue Volkov nicht, niemals. Aber vielleicht müssen wir erst mal sehen, was seine nächsten Schritte sind. Auf jeden Fall sollten wir jetzt nicht überstürzt handeln.” Er unterdrückte ein Gähnen; mit einem Mal überkam ihn die Müdigkeit, als hätte ihn seine Energie zusammen mit seinen Worten verlassen. Von Takao kam ein unzufriedenes Brummen. „Du sagst mir doch, wenn sich bei euch was tut, oder?” Er rieb sich die Augen. „Hmm”, machte er. Soichiro war nicht da. Das war unerwartet, aber nicht ungewöhnlich. Vielleicht unternahm er gerade einen Spaziergang durch den Garten hinter dem Haus, der so verwildert war, dass nur ein paar schmale Wege überhaupt genutzt werden konnten. Soichiro liebte seinen Garten nicht, und seit er keine Gäste mehr empfing, bezahlte er auch keinen Gärtner mehr, doch er hatte die guten Eigenschaften des Gehens erkannt. Es war anzunehmen, dass er dabei nicht so sehr auf seine Umwelt achtete, viel mehr über angeblich wichtige Belange nachdachte, die mit sehr viel Geld zu tun hatten. Kai wusste das und zögerte daher nicht lange, als er feststellte, dass sein Großvater nicht in seinem Büro war. Schon vor Jahren hatte er herausgefunden, wo der Alte den Schlüssel versteckte, und ein paar Mal hatte er bereits davon Gebrauch gemacht. Hatte sich in den kühlen, knarzenden Ledersessel gesetzt und ganz langsam nach hinten sinken lassen, bis sein Rücken gegen die harte Lehne stieß. Dann konnte er die Welt sehen wie Soichiro es tat. Sie erschien ihm beklemmend und blass. Er wusste, dass sich in der untersten rechten Schublade des Tisches eine Flasche Cognac befand (der scheußlich schmeckte) und in dem schmalen Fach direkt unter der Schreibfläche ein Foto seines Vaters in wesentlich jüngeren Jahren (nein, zwischen ihm und Kai gab es keine sonderliche Ähnlichkeit; Susumus Nase hatte eine ganz andere Form und sein Kinn war seltsam knubbelig, genau wie Soichiros). Ansonsten hatte er nichts in dem Raum angefasst, erst recht keinen der vielen Aktenordner, die die Wände bedeckten. Er ahnte ja, was darin stehen könnte und war nicht bereit, sich mit diesen Informationen auseinanderzusetzen. Kai ließ die Tür einen Spalt breit offen, damit er das Klacken von Soichiros Gehstock hören und rechtzeitig verschwinden konnte. Wie immer war die Luft im Raum trocken und abgestanden, doch die Morgensonne ließ alles etwas freundlicher erscheinen. Er umrundete den Tisch und überlegte, wo er mit der Suche beginnen sollte. Vor ihm ausgebreitet lagen Schriftstücke, viele davon mit dem Briefkopf der Firma versehen und auf die letzten Tage und Wochen datiert. Vorsichtig hob er hier und da eine Seite an, immer darauf bedacht, nichts durcheinander zu bringen oder falsch zu platzieren. Die wenigen Worte, die er aufschnappte, während er die Blätter überflog, ließen nichts Verdächtiges erahnen. Außerdem waren die meisten der Dokumente auf Englisch oder Japanisch verfasst, auch das sprach nicht unbedingt für eine geheime Korrespondenz zwischen Soichiro und Volkov. Soweit Kai wusste, hatten sich die Wege der beiden Männer sehr kurz nach dem Untergang von Biovolt getrennt. Besser gesagt, Soichiro hatte sich Volkovs entledigt, sobald klar wurde, dass nichts von ihrem gemeinsamen Projekt mehr zu retten war. Dank seines Geldes und seiner Anwälte hatte er das Schlimmste verhindern können, wie immer, und so hatte sich eigentlich kaum etwas in seinem, ihrem, Leben verändert. Einmal abgesehen von den Therapiesitzungen vielleicht, doch die waren inzwischen auch vorbei. Natürlich hatte Soichiro nur das auferlegte Minimum an Sitzungen durchgehalten; für ihn musste das die größte Strafe gewesen sein. Nun, immerhin hatte er so überzeugend gute Miene zu bösem Spiel machen können, dass Kai bei ihm bleiben durfte. Seitdem gingen sie sich, mit Ausnahme weniger unangenehmer Versuche, ein zivilisiertes Gespräch zu führen, aus dem Weg. Und augenscheinlich war auch die Freundschaft zwischen seinem Großvater und Volkov bisher nicht erneuert worden. Nach ein paar Minuten erkannte Kai, dass auf der Schreibtischplatte nichts von Belang lag. Also ging er in die Hocke und machte bei den Schubladen weiter: Cognac und Susumu waren an ihrem jeweiligen Platz, wenn auch die Flasche etwas leerer schien. Erst im letzten Fach fand er etwas, das ihn kurz innehalten ließ: ein grellbuntes Stück Papier, auf dem eine Übersicht der Weltmeisterschaften zu sehen war. Die einzelnen Spiele und Konstellationen sowie die Gewinnerteams mussten per Hand eingetragen werden. Soichiro hatte den Plan gewissenhaft ausgefüllt. Es dauerte eine Weile, bis Kai ihn wieder zusammenfaltete und zurück an seinen Platz legte; der Fund verwirrte ihn, erst recht als ihm auffiel, dass sein Großvater jeden Sieg von Neo Borg mit einem kleinen Stern markiert hatte. Er erhob sich wieder, schob die Hände in die Taschen und drehte sich langsam um die eigene Achse, den Blick auf die Regale gerichtet. Er musste sich zwingen, genauer hinzusehen. Kyrillische Buchstaben vor seinen Augen, die nur langsam die Form von Wörtern annahmen. Russische Geschäftspartner, Kaufverträge für Immobilien, Puschkin-Gedichte (ein Versteck für Bargeld, da war er sich sicher) und zwischen alledem ein schmales, ledernes Album mit dem Titel „Sotchi 1979” in goldenen Lettern. Und dann, ganz an den Rand gedrängt, eine unscheinbare Mappe, der Farbton ein fleischiges Rosa, den es heute nicht mehr gab, schon gar nicht in Japan. Kai fühlte etwas wie Resignation, erst jetzt bemerkte er, wie sehr er darauf gehofft hatte, einfach nichts zu finden. Dann hätte er Soichiro Fragen gestellt, unbefriedigende Antworten erhalten und wäre mit diesen zu Yuriy zurückgegangen. Sobald sein Blick auf die Mappe gefallen war, gab es diese Option nicht mehr. Ignorieren konnte er seinen Fund auch nicht, das war er seinem Team schuldig. Also streckte er schließlich, nach einigen Sekunden des Zögerns, die Hand aus und zog die Akte aus dem Regal. Der Geruch des Papiers stieg ihm sofort in die Nase, als er die Mappe öffnete, Überbleibsel eines Landes, das es nicht mehr gab. Es hatte Jahre gedauert, bis die nationalen Papiervorräte aufgebraucht waren, manchmal kamen noch heute ein paar Bündel zum Vorschein, die in irgendwelchen Kellern herumgelegen hatten. Kein anderes Papier hatte diesen Geruch, oder diesen von den Seitenrändern zur Mitte kriechenden Gelbton, oder diese Weichheit. Die Blätter waren hauchdünn, etwas fleckig, die Schrift mit einer Schreibmaschine eingerammt, beinahe konnte er das Rattern hören, während er die Buchstaben betrachtete. Erst dann fügten sie sich zusammen. 13. Dezember 1995 G0501M021985: Abschluss Phase 5, Freigabe für RAS07. Beachten: Erneutes EKG durchführen zur letztmaligen Überprüfung der Belastbarkeit. Wenn Werte in Ordnung, Empfehlung für Verkürzung von RAS07-I und schnelles Voranschreiten in RAS07-II und RAS07-III. G0511M081986: Abschluss Phase 5, Freigabe für RAS07. Beachten: Möglichst häufige Kontakte in RAS07-I zur Etablierung der Routinen. Ab RAS07-II testen auf Verbindungsmöglichkeit mit BGX09 „Frostic Dranzer”. In dieser Art war die gesamte Seite beschrieben, kleine, scharfe Buchstaben neben einem breiten Rand. Kai wartete auf eine Reaktion, irgendeine, doch sein Körper verhielt sich vollkommen normal. Das einzige, das er mit Sicherheit fühlte, war Verwirrung. Er wusste, woher diese Aufzeichnungen stammten, ahnte sogar, wer sie verfasst hatte - doch sie zu lesen war wie der Versuch, eine fremde Sprache zu verstehen. Eine Weile starrte er auf die Abfolge der Buchstaben und Zahlen am Beginn eines jeden Absatzes; natürlich hatte er einen Verdacht, wer sich hinter diesen verschlüsselten Identitäten verbarg. Doch auch mit diesem Wissen konnte er nicht sagen, wovon genau die Rede war. Er hatte nie von RAS07 gehört, geschweige denn von BGX09. War Frostic Dranzer ein weiteres Borg-Bit-Beast, das irgendwo da draußen lauerte? Er hatte angenommen, dass alle Experimente abgebrochen worden und keine Bit Beasts mehr übrig waren. Dieser Gedanke kam ihm jetzt sehr naiv vor. Er blätterte durch die Akte, fand aber nur weitere Aufzeichnungen der immer gleichen Art. Jemand hatte akribisch Tagebuch zu einer Gruppe Personen gemacht. Er konnte mindestens zehn verschiedene Zahlen-Nummern-Kombinationen ausmachen; gegen Ende der Aufzeichnungen verschwand jedoch ungefähr die Hälfte von ihnen, während die verbliebenen längere Einträge bekamen. Ende Januar 1996 brachen die Einträge plötzlich ab. Die letzte Seite war nur zur Hälfte beschrieben. Ob die anderen mit diesen Unterlagen mehr anfangen konnten als er? Kai war sich ziemlich sicher, dass sein Team die Geheimsprache Borgs verstand. Sie hatten genug Lebenszeit mit Volkov verbracht. Und im Gegensatz zu ihm hatten sie sich intensiv mit dem auseinandergesetzt, was mit ihnen passiert war. Er sollte die Akte mitnehmen, vielleicht war sie nützlich. Mit diesem Entschluss klappte Kai den Hefter zu und wollte ihn beiseitelegen, um weiter zu suchen. Vielleicht fanden sich zwischen den anderen Ordnern noch mehr solcher Aufzeichnungen. Er wandte den Kopf zur Seite und sah, wie das Licht von draußen über die Buchrücken und das Holz der Regale strich. Wie Staub in der Luft tanzte. Und dann fiel ihm etwas auf: Eines der Regalbretter warf einen ungewöhnlichen Schatten. Kai runzelte die Stirn und trat näher; die Seitenstütze schien in der Mitte eine Kerbe zu haben. Er folgte ihrem Verlauf über seinen Kopf hinweg, dann knickte sie jäh in einem rechten Winkel ab. War das etwa…? Kai streckte die Hand aus und berührte das Holz, drückte dagegen und spürte, wie es leicht nachgab. Als er den Druck verstärkte, ließ sich das Regal etwa einen Zentimeter nach hinten rücken. Ein leises Klicken erklang, dann kam ihm das Möbelstück wieder entgegen, schwang leise auf wie eine Tür und gab eine Öffnung frei. Ungläubig hob Kai die Augenbrauen; er wusste, sein Großvater hatte so seine geheimen Verstecke, aber etwas derart Elaboriertes hätte er nie und nimmer erwartet. Hinter dem Regal befand sich ein kleiner, fensterloser Raum. Eine nackte Glühbirne hing von der Decke und Kai streckte sich, um sie einzuschalten, traute sich jedoch nicht, weiter hineinzugehen, teils aus Angst davor, dass die Tür hinter ihm zufallen würde, teils, weil sich alles in ihm sträubte, herauszufinden, was sich hier befand. Die Glühbirne funktionierte; ein leises Sirren ging von ihr aus und ihr dumpfes Licht fiel auf noch mehr Regale. Staub lag in der Luft. Der Raum hatte die Farbe von Kaffeeflecken, denn die vielen Akten, die sich hier stapelten, verschwammen zu einem rosa-beigefarbenen Brei. Nur flüchtig bemerkte Kai, dass auch sie auf Russisch beschriftet waren, dann musste er einen Schritt zurück treten. Endlich Luft holen. Verdammte Scheiße. Was sollte er jetzt tun? Sein Puls hatte sich beschleunigt und er spürte unangenehm deutlich, wie ihm das Herz in der Brust schlug. Und was war mit seiner Hand los? Sie lag auf der Lehne des Schreibtischstuhls und erst jetzt wurde ihm bewusst, dass sich seine Finger in das Leder krallten. Schnell ließ er los. Sein Blick wanderte noch einmal zu der einzelnen Akte, die auf dem Tisch lag, dann zurück zum Raum, der sich vor ihm auftat. In diesem Moment hatte er vergessen, wieso er überhaupt hier war, doch das war sowieso egal geworden, denn nun musste er eine ganz andere Entscheidung treffen: Ob er sich mit dem, das er soeben gefunden hatte, näher beschäftigen oder so tun sollte, als wäre das alles nicht passiert. Sein Großvater nahm ihm diese Entscheidung ab. Kai hörte, wie Soichiro zurückkam. Das Haus war so still, dass das Geräusch seiner Schritte, und erst recht seines Gehstocks, weit hallte. Es wanderte durch den Eingangsbereich, kam dann langsam eine Treppe hinauf und noch eine, und als Soichiro den langen Gang entlangschlurfte, hatte Kai schon längst die Geheimtür wieder verschlossen, die Akte zurück ins Regal gestellt, das Zimmer verriegelt und den Schlüssel dort hingelegt, wo er ihn hergenommen hatte. Einzig er selbst konnte sich nicht in Luft auflösen, aber Angriff war sowieso die beste Verteidigung, und so lief er ihm entgegen. Sie trafen sich an der Biegung des Ganges und Soichiro wirkte angemessen überrascht bei seinem Anblick. „Kai?” „Wir müssen reden”, sagte er ohne Umschweife, „Über Volkov.” Sein Großvater blinzelte ein-, zweimal, dann seufzte er und machte eine auffordernde Kopfbewegung, bevor er sich wieder umdrehte. Kai folgte ihm, blieb dabei immer hinter ihm, um nicht in Verlegenheit zu kommen, schon jetzt Konversation betreiben zu müssen. Soichiro war langsam. Das war ihm vorher noch nie aufgefallen. Die beiden Treppen mussten ihn ganz schön außer Atem gebracht haben. Nicht nur das: Sein Großvater erschien ihm kleiner, leicht und knittrig, wie ein zusammengeknülltes Stück Papier. Kai wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Es behagte ihm nicht, sich Soichiro als schwach vorzustellen. Im Erdgeschoss gab es ein Wohnzimmer - oder zumindest einen Raum, den sie als solches nutzten. Früher mochte es ein Rauch- oder Jagdzimmer gewesen sein; es war recht dunkel und die Möbel hatten schwere Samtpolster. An einer Wand hing ein Fernseher, den Soichiro anschaltete. „Die Börsennachrichten”, erklärte er auf Kais Blick hin, stellte das Gerät aber auf stumm. Kai setzte sich mit dem Rücken zum Bildschirm in einen Sessel und sah von diesem Moment nur noch, wie einige Lichtschlieren auf den Teppich fielen, und auf seinen Großvater, der sich ihm gegenüber auf das Sofa sinken ließ. Zwischen ihnen war ein niedriger Tisch und auf diesem eine flache Schale, deren Funktion sich Kai nicht erschließen wollte. Soichiro musterte ihn aus wachsamen, dunklen Augen. In diesem Moment spürte Kai, wie Suzaku sich regte. Sie reagierte auf seinen Großvater, erkannte ihn, und beinahe spürte er so etwas wie Verbundenheit zwischen seinem Bit Beast und Soichiro. Eine sehr alte Verknüpfung, die ihm unangenehm war. Sie war ihm vorher nie bewusst gewesen, also schob er es, wie so vieles, auf Suzakus gewachsenen Einfluss auf ihn. Langsam beschlich ihn der Verdacht, dass dies nicht wieder verschwinden, sondern so bleiben würde, und er wusste noch nicht, wie er dazu stand. Manchmal fühlte er sich seltsam fern von sich selbst, als würde sie ihn lenken. „Du willst wissen, ob ich etwas mit der BEGA zu tun habe”, ergriff Soichiro schließlich das Wort. Kai legte den Kopf schief. „Unter anderem”, sagte er. „Ich interessiere mich generell dafür, ob du in den letzten Jahren Kontakt zu Volkov hattest.” Soichiro seufzte, sein Blick wanderte über Kais Schulter zum Fernsehbildschirm. „Nein, das hatte ich nicht”, antwortete er. „Ich bin von seinem Auftauchen genauso überrascht wie du. Was auch die andere Frage beantwortet: Volkov hat kein Geld von Hiwatari Enterprises bekommen.” Daraufhin schwieg Kai. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Ehrlich gesagt wusste er nicht einmal, was er fühlte. Erleichterung. Erstaunen. Enttäuschung. Alles davon. Nichts davon. Denn letztendlich machte es keinen Unterschied, Volkov war hier, mit wessen Hilfe auch immer. Soichiro regte sich. „Volkov interessiert sich nicht für uns, Kai. Wir sind ihm für seine neuen Pläne nicht von Nutzen.” „Was für Pläne?”, murmelte Kai, beinahe mehr zu sich selbst, „Was um Himmels Willen hat er jetzt vor?” „Nun.” Soichiro nestelte an seinem Gehstock herum, stieß ihn in den dicken Teppich. Noch immer sah er Kai nicht direkt an, sondern tat, als würde der Fernseher den größten Teil seiner Aufmerksamkeit beanspruchen. „Es gab seit einiger Zeit Gerüchte um die BBA. Selbst Kogoro wusste davon, aber er hat sich sehr früh entschieden, sie zu ignorieren. Ein Fehler, wie man jetzt sieht. Es hieß, dass ein starker, neuer Shareholder die BBA umkrempeln wollte. Er hatte kein Interesse an Kontakten zur PPB - oder zu VolTech, wenn wir schon dabei sind. Stattdessen erhöhte er stetig seine Anteile an der BBA. Ein kluger Schachzug, wenn ich das so sagen darf. Ich habe oft gedacht, diese Taktik könnte von mir sein. Tja, es stellt sich heraus - Volkov hat durchaus etwas von mir gelernt.” „Das heißt, du weißt seit Monaten, dass die BBA in Gefahr ist und hast Daitenji nichts davon erzählt?”, sagte Kai, „Obwohl ihr euch wegen VolTech regelmäßig gesehen habt?” Er war nicht wirklich wütend darüber. So ein Verhalten passte zu Soichiro, der selbst nicht einverstanden damit war, wie die BBA operierte. Vermutlich hatte er sich einfach zurücklehnen und den Wandel aus der Ferne beobachten wollen, um sich dann dem neuen Besitzer der BBA als Partner vorzustellen. „Ich habe durchaus das Gespräch mit Kogoro gesucht”, entgegnete Soichiro ungehalten, „Aber du wirst verstehen, dass wir angesichts unserer Vergangenheit nicht die besten Freunde sind. Ich kam zu dem Schluss, dass ein Neuanfang vielleicht nicht das Schlechteste für die BBA ist. Das war, bevor ich von Volkov wusste, natürlich.” „Und jetzt?”, fragte Kai angriffslustig, „Dein Plan ist nicht aufgegangen. Volkov hat keinen Nutzen für dich, wie du so schön sagst. Lässt du das auf dir sitzen?” Jetzt wanderte der Blick seines Großvaters endlich zu ihm, wurde nachdenklich. Auf einmal überkam Kai das Gefühl, dass Soichiro erkannte, was mit ihm los war: Wie Suzaku an ihm nagte und wie sein Körper und sein Geist sich dadurch veränderten. Er war nicht derselbe, der dieses Haus vor ein paar Wochen in Richtung Russland verlassen hatte. „Vielleicht ist das nicht mehr dein Kampf, Kai”, sagte Soichiro. „Du hast vor kurzem erst eindrucksvoll bewiesen, wo deine Grenzen sind. Hast du noch nicht genug?” „Was?” „Du könntest aufhören mit alledem. Einen neuen Fokus setzen.” Oh, das wäre so einfach, oder? Und es war ja nicht so, dass Kai nicht darüber nachdachte. Schon wieder. Diesem Sport und allem, was dazugehörte, den Rücken kehren. „Das geht nicht, und du weißt sehr genau, warum”, sagte er stattdessen und meinte die Abtei. Seine Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Soichiro versteifte sich merklich. „Wie seid ihr überhaupt darauf gekommen?”, fragte er, konnte dabei nicht den giftigen Unterton verhindern, wollte es vielleicht auch gar nicht. „Du und Volkov, damals? Warum zur Hölle hast du dich überhaupt mit ihm abgegeben?” Soichiro seufzte. Er wirkte ungehalten, als hätte Kai ihn an etwas Unangenehmes erinnert, eher eine überfällige Steuererklärung als eine kriminelle Organisation. Aber dann, und das wiederum erstaunte Kai, begann er doch zu sprechen: „Ich war auf der Suche nach Geschäftspartnern in Russland. So kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schien das entweder eine sehr dumme oder sehr schlaue Idee zu sein, doch dieses Risiko war ich bereit, zu tragen. Und vielleicht war ich ein wenig sentimental, denn zu diesem Zeitpunkt war mir gerade wieder die Ikone in die Hände gefallen, die deine Urgroßmutter in die Familie gebracht hatte. - Wie dem auch sei. Ich interessierte mich damals schon für Beyblades und Volkov war ein Experte für Bit Beasts. So kamen wir zusammen. Davor hatten Daitenji und Doktor Zaggart übrigens eine Zusammenarbeit mit mir abgelehnt. Ich hätte sie finanzieren können, aber sie wollten sich nicht abhängig von der freien Wirtschaft machen.” Kai schnaubte. „Und wer hatte die glorreiche Idee, Straßenkinder zu Kampfmaschinen auszubilden?” „Das war Volkov”, antwortete Soichiro leise. „Und bevor du weiterfragst - dass du dort gelandet bist, ist allein meine Schuld. Volkov wollte dich nicht. Er war ganz vernarrt in Yuriy.” Yuriy. Der Name erinnerte Kai daran, weshalb er überhaupt hier saß. Er sollte ihn anrufen oder zumindest eine Nachricht schicken, damit sein Leader wusste, dass er hier zu keinem Ergebnis gekommen war. Wie viele Stunden hatte er schon vergeudet? Sicher den halben Tag. Er musste zurück zu den anderen. Doch Soichiro war noch nicht fertig. „Volkov wollte, dass Yuriy den Black Dranzer bekommt. Und damit Black Suzaku.” Er nickte nur, als Kai ihn ungläubig anstarrte. „Ich habe lange mit ihm verhandeln müssen. Er war der Meinung, dass Yuriy talentierter ist als du. Ich habe natürlich dagegen gehalten. Also haben wir beschlossen, euch zusammenarbeiten zu lassen. Es gab ja auch noch den Frostic Dranzer, der zwar schwächer war als Black Dranzer, aber dennoch wirksam. Frostic Suzaku war eines unserer ersten Bit Beasts.” Er machte eine kurze Pause, als würde er seine Erinnerungen sortieren. „Es war nicht abzusehen, wer von euch den Black Suzaku lenken können würde. Also beschlossen wir, euch darum kämpfen zu lassen. Allerdings… hast du diesen Plan dann vereitelt.” „Indem ich mir Black Dranzer genommen habe”, schloss Kai. „Richtig.” Kai schwieg. Dieser Tag hatte alles verändert. Er hatte sein Gedächtnis verloren und die Abtei verlassen. Wenn er jetzt zurückdachte, konnte er beim besten Willen nicht sagen, ob er jemals mit Yuriy um etwas hatte kämpfen müssen. In seinen Erinnerungen waren sie Freunde. Doch ein schrecklicher Verdacht keimte in ihm. „Was ist mit Yuriy?”, fragte er schließlich geradeheraus, „War er auch dort? Als das mit Black Suzaku passiert ist?” Es war etwas, worüber er nie nachgedacht hatte - nie hatte nachdenken wollen. Außerdem war er überzeugt davon, allein gehandelt zu haben, auch wenn er nicht sagen konnte, woher diese Überzeugung kam. Yuriy hatte ebenfalls nie über diesen Tag gesprochen - nicht einmal andeutungsweise. Als ginge ihn das überhaupt nichts an. In seinem Team herrschte nur Schweigen in Bezug auf den Unfall mit Black Suzaku. Und Kai, der die Schuld daran trug, hatte vielleicht auch nie den Mut gehabt, dieses Schweigen zu durchbrechen. „Ja”, sagte Soichiro, und Kai spürte, wie etwas wie eisige Finger sein Rückgrat hinabnstrichen. „Er muss dir nachgelaufen sein, als er merkte, dass du nicht da warst. Uns war lange schleierhaft, wie er die Explosion überlebt haben konnte. Aber er tat es. Bedauerlicherweise...” Er hielt inne, sein Blick wanderte wieder durch den Raum und Kai wusste, dieses Mal war das, was er zu sagen hatte, ihm wirklich unangenehm. „Bedauerlicherweise war Yuriy danach wertlos für uns. Du auch, ganz davon abgesehen. Black Dranzer, und selbst Frostic Suzaku, wurden schwer beschädigt. Du hast also ganze Arbeit geleistet.” Kai schnaubte nur. Was wollte Soichiro, sein Mitleid? Doch sein Großvater sagte jetzt nichts mehr, und Kai versuchte, das soeben Erfahrene richtig einzuordnen. Die Tatsache, dass Volkov und Soichiro Yuriy und ihn aufeinander hetzen wollten, überraschte ihn weniger als die Existenz eines Bit Beasts, von dem er noch nie gehört hatte. Frostic Suzaku? Das klang mehr nach einem Oxymoron als alles andere. Er hob den Kopf. „Großvater, wie - „, hob er an, doch in diesem Augenblick unterbrach Soichiro ihn: „Kai.” Er deutete hinter ihn auf den Fernseher. Sein Gesicht zeigte vages Erstaunen. Kai runzelte die Stirn und drehte sich um, denn der Reaktion seines Gegenübers nach zu urteilen musste mindestens die Börse gecrasht sein - doch auf dem Bildschirm liefen nicht die Nachrichten. Er sah eine Beyblade-Arena, ein ganzes Stadion. Dann Volkovs Visage. Was er sagte, blieb stumm, doch am unteren Bildschirmrand tauchte ein Banner auf, das ein bevorstehendes Match ankündigte. Kais Augen weiteten sich, als er den Namen seines Teams las. Für einen Moment war er starr. Nun tauchte ein junger Mann auf, den er noch nie gesehen hatte. Ein Blader? Mit einem siegesgewissen Lächeln stand er auf der einen Seite der Bowl, und auf der anderen - „Yuriy”, flüsterte Kai heiser. In diesem Moment wurde ihm klar, was passiert war. Warum sein Leader ihn gestern weggeschickt hatte. Warum er ihn gezwungen hatte, seine Zeit mit seinem Großvater zu vergeuden. In seinen Ohren begann es zu rauschen, er zwang sich, einen Fokus zu finden. Oh Gott. Was hatte er getan? Für ein paar Sekunden war er noch wie gelähmt, dann kam Bewegung in seinen Körper. Kai sprang auf, und endlich entfuhr ihm ein lauter Fluch, bevor er hinausrannte. „Kai! Wo willst du hin?”, rief Soichiro ihm hinterher. „Zu meinem Team!”, gab er zurück, dann war er aus dem Haus gestürmt und schwang sich auf sein Rad. Auch wenn es bergab ging, kam ihm die Fahrt viel zu lang vor. Der BEGA-Tower befand sich im Stadtzentrum, ein ganzes Stück von Kobayashi-sans Haus entfernt. Je näher er dem Gebäude kam, desto schwieriger wurde es, durch den Verkehr zu manövrieren. Als er über eine der größeren Kreuzungen raste, sah er aus den Augenwinkeln eine Live-Übertragung des Matches auf einem der Außenbildschirme. Er starrte weiterhin geradeaus, wollte nicht sehen, was dort vor sich ging. Wieso hatte Yuriy etwas so Dummes getan? Hatte sein Hass auf Volkov ihm das Hirn vernebelt? Einfach zu ihm zu gehen und ihn herauszufordern war das letzte, was sie tun sollten! Doch anscheinend hatte sein Leader genau das getan - anders konnte Kai sich nicht erklären, wie es zu dieser Situation hatte kommen können. In seinem Magen lag die kalte Angst, und während seine Gedanken rasten versuchte er, diese Furcht zu bezwingen, sie daran zu hindern, ihn vollkommen einzunehmen. Sein Team war stark. Boris und Sergeij konnten es mit den meisten Bladern aufnehmen. Und Yuriy verlor sein Match nicht. Das war unmöglich. Aber wo waren Boris und Sergeij? Er hatte sie in der Übertragung nicht gesehen, und er nahm es als schlechtes Zeichen. Das Schlimmste aber war, dass Yuriy ihn willentlich ausgeschlossen hatte. Er hatte ihn aus dem Weg haben wollen, bevor sie zur BEGA gegangen waren. Dachte er etwa, dass Kai nicht dasselbe Verlangen hatte, Volkov zur Rechenschaft zu ziehen? Der BEGA-Tower kam in Sicht und Kai konzentrierte sich darauf, sein Gesicht zu wahren, sich nicht anmerken zu lassen, dass sich Wut, Angst und Enttäuschung in seinem Inneren abwechselten. Er ließ das Rad achtlos in einer Ecke stehen und ging langsam auf den Eingang zu. Es war unwirklich; warum stand dieses Gebäude plötzlich hier, wieso warf es einen so allumfassenden Schatten? Für einen Moment blieb er stehen, versuchte, sich in den Griff zu bekommen. Ließ den Blick an der Fassade hochwandern, bis zur Spitze des Towers, die ironischerweise die Form einer Blade-Base besaß. Dann nahm er die Stufen zum Eingang. Das Stadion war nicht zu verfehlen. Überall standen BEGA-Mitarbeitende und zeigten ihm den Weg, als wäre er ein ganz normaler Zuschauer. Er ging wie durch Watte. Nur am Rande bemerkte er die Jubelrufe, ähnlich wie während ihrer Weltmeisterschafts-Kämpfe. Was war das, ein Schaukampf? Eine öffentliche Hinrichtung? Ihm wurde schlecht. Irgendwann öffnete sich der Gang, durch den er schritt, und er trat auf eine Galerie, die sich hoch über dem Zentrum des Stadions befand. Ein kalter Wind fuhr durch seine Kleidung, es roch nach Frost. Wolborg. Beinahe zögerlich griff er nach dem Geländer, hielt sich daran fest und blickte in die Arena hinab. Die Bowl erschien winzig aus der Entfernung, und doch erkannte er sofort, dass etwas nicht stimmte. Sie war von einem hohen Zaun umgeben, oder von Gitterstäben, sodass keiner der Blades im Aus landen konnte. Der Kampf schien ausgeglichen, doch Yuriy - Yuriy war geschwächt. Er hatte den Novae Rog bereits eingesetzt, das erkannte Kai an den Bewegungen seines Blades und an Wolborgs Aura, die jede Faser in diesem Raum durchdrang. Doch das war kein gutes Zeichen, denn wer auch immer Yuriys Gegner war - er hatte diese Attacke so gut wie unbeschadet überstanden. Und nun hatte Volkov sie zu einem Deathmatch gezwungen. Etwas weiter abseits standen Takao und die anderen. Schuld durchfuhr Kai; sie hatten also alle davon gewusst, nur er war zu spät gekommen? Sein Blick wanderte ein Stück nach oben, wo Volkov auf einer Empore stand und nun fühlte er, wie blanker Hass in ihm aufstieg. Suzaku, durch Wolborg auf den Plan gerufen, bäumte sich in ihm auf. Fetzen von Erinnerungen schossen durch seinen Kopf. In der Abtei hatten sie auch bis zum bitteren Ende kämpfen müssen. Eine seiner Hände löste sich wie von selbst vom Geländer, doch noch ehe er sie zu seinem Gesicht heben konnte, sah er aus den Augenwinkeln, wie sich ihm jemand näherte. Als er sich umdrehte, stand dort Hitoshi Kinomiya. Wenn es eine Person gab, die er jetzt auf keinen Fall sehen wollte, dann war das Hitoshi. Doch natürlich ignorierte der Kais Gesichtsausdruck und stellte sich neben ihn, die Hände in die Hosentaschen geschoben. Als würde er einem Pferderennen zusehen. „Wo hast du dich versteckt, Hiwatari, hm?”, fragte er, „Takao hätte deine Gesellschaft sicher zu schätzen gewusst in den letzten Tagen.” „Das gleiche könnte ich dich fragen”, grollte Kai. Er musste sich stark zurückhalten, um nicht zusammenzuzucken, denn in diesem Augenblick steckte Yuriy einen heftigen Schlag ein. Es war offensichtlich, dass das Match nicht mehr nur zwischen den Blades ausgetragen wurde. Jeder Angriff übertrug sich auf die Spieler. Hitoshi tat unbeeindruckt. „Wer ist das?”, murmelte Kai, während sein Blick wieder zu Yuriys Gegner wanderte. Dieser war ein Stück kleiner als sein Leader, jedoch offensichtlich trainiert. Ein langer, heller Zopf wehte bei jeder seiner Bewegungen mit. „Hast du jemals von der Siebald-Familie gehört?”, fragte Hitoshi. Kai nickte. Das hatte er in der Tat. Eine Familie voller Athleten, die sich ein kleines Sportimperium aufgebaut hatten. Sie traten manchmal als Sponsoren bei Turnieren auf, allerdings eher in Europa und Australien. Soweit er wusste, hatte es zwischen ihnen und VolTech vor ein einiger Zeit eine recht winzige Kooperation gegeben. Hitoshi warf ihm einen Blick von der Seite zu. „Das da ist Garland Siebald”, erklärte er. Kais Augen weiteten sich - nicht, weil er erstaunt über das plötzliche Auftauchen eines so starken Bladers war, sondern, weil ihm nun klar wurde, woher Volkov sein Geld hatte. „Wie ist das passiert?”, fragte er schließlich, „Dieses Match. Und wo sind Boris und Sergeij?” „Haben gegen Garland verloren”, erklärte Hitoshi monoton. „Es ist Yuriys Schuld. Er hat eine Wette mit Volkov geschlossen. Wenn sie verlieren, gehören sie ihm.” Kai fuhr zu ihm herum, halb, um ihn anzuschreien, halb, um ihm direkt ins Gesicht zu schlagen. Doch dann sickerte die Bedeutung der Worte zu ihm durch und lähmte ihn. Yuriy hatte was getan? „Am Ende des Tages”, fuhr Hitoshi fort, „Gehört dein ganzes Team zur BEGA.” Wieder musste Kai sich am Geländer festhalten. Seine Augen brannten sich in Yuriys Gestalt, die dort unten strauchelte. Das hier passierte nicht wirklich, oder? Vor einer Woche war doch noch alles gut gewesen. Sie waren zusammen, sie waren okay. Gestern hatte er Yuriy geküsst und ja, er hatte sich gefürchtet, aber doch nicht davor! Die Angst, die er nun fühlte, war anders, sie betraf nicht Volkov, sondern Yuriy selbst. Gestern hätte er es nie für möglich gehalten, dass Yuriy ihn zurücklassen könnte - doch er hatte es getan. Um nun gegen Volkov zu verlieren? Hitoshi verfiel in einen kleinen Monolog, den Kai halb ausblendete. Anscheinend hatte er ebenfalls die richtigen Schlüsse gezogen und wusste, was hier vor sich ging. Er schien stolz darauf zu sein, Yuriy durchschaut zu haben. Dennoch, der Blick, den er für den Rothaarigen hatte, war kalt. Kai wandte angeekelt das Gesicht von ihm ab. Seine Gedanken rasten. Er konnte nichts tun. Konnte Yuriy nicht helfen. Konnte nicht eingreifen. Wenn Yuriy es nicht selbst beendete, würde es niemandem gelingen. Doch es sah schlecht für ihn aus. Garlands Blade schob Wolborg durch die Bowl, und es war nun nicht mehr zu übersehen, wie schwach Yuriy war. Er schien sich kaum noch auf den Beinen halten zu können. „Er hat den Novae Rog zweimal eingesetzt”, sagte Hitoshi, „Das war schon ziemlich beeindruckend. Allerdings… hat es ihm nichts genützt.” Kai merkte, wie ihm das Blut aus den Gliedern kroch. Seine Beine und Arme wurden kalt. Garland hatte Yuriys Attacke zweimal Stand gehalten? Er wollte eine Erwiderung formulieren, doch die Worte wollten nicht aus ihm heraus. Er konnte nur starren. Er hatte gesehen, wie Boris Rei zugerichtet hatte, während ihrer ersten Weltmeisterschaft. Er hatte Yuriy nach dem Match gegen Daichi gesehen. Er wusste, dass es beim Beybladen rau zuging, dass Verletzungen mehr als nur üblich waren. Und doch wollte er nun zum ersten Mal den Blick abwenden. Aber es ging nicht. Und er fühlte jede seiner eigenen Narben schmerzen. Sein Hals wurde eng. Konnte es nicht endlich vorbei sein? Scheiß darauf, ob Volkov Yuriy für die BEGA gewann - wenn Garland nur endlich von ihm abließ. Und dann kam seine finale Attacke. Garlands Blade hüllte das ganze Stadion und gleißendes Licht, und es hätte beinahe schön gewirkt, wenn nicht in diesem Augenblick der Schmerz durch Kai gezuckt wäre. Es war Suzaku, die sich in ihm wand, als würde sie den Angriff spüren und nicht Wolborg. Denn Wolborg war Suzaku und Suzaku war Kai und der Schmerz war nicht nur körperlich, er war überall, in seinem Kopf, in seinen Gedanken, und kurz zerfloss er in ihm und etwas zog an ihm, zog sich aus ihm heraus und hinterließ einen leeren Fleck und dann - kehrten die Farben zurück. Kai hörte sich keuchen. Er hatte sich schwer auf das Geländer gestützt. Als er blinzelte, wurde seine Umgebung wieder scharf. Gerade so sah er, wie Garland seinen Blade, der von einem gewaltigen Rückstoß aus der Arena geschleudert wurde, mit einer Hand auffing. Ohne sich noch einmal umzudrehen, verließ er das Stadion. Takao und die anderen stürzten zu Yuriy, der… Die Leere presste sich in Kais Eingeweide. Die Luft um Raum wurde kälter, wie eine Brise im Winter, schmiegte sich gegen seine Wangen. Wolborg ließ ihn zittern. Was war mit Yuriy? Er wollte zu ihm, ihn berühren. Doch es ging nicht. Da war diese Leere, und sie bedeutete etwas, und Kai war gelähmt von der Angst vor ihr. Volkov hatte mit einem Schlag sein Team vernichtet. Takao richtete sich nun auf, begann, Volkov anzuschreien. Er hatte verstanden, und kurz war Kai stolz auf ihn. Darauf, dass er Volkov offen herausforderte. Und dann brach die Wirklichkeit auf ihn ein. Boris, Sergeij und Yuriy hatten versagt. Wie sollte Takao gegen Volkov ankommen? Er würde ihn genauso vernichten, wie Neo Borg. Neo Borg, die jetzt BEGA waren. Was war er? Durch die Menge ging ein Raunen, als Volkov Takaos Herausforderung annahm. Für die meisten hier war dies immer noch nichts weiter als ein Match. Sahen sie nicht, dass Yuriy sich schon seit geraumer Zeit nicht mehr rührte? Sah er es? Begriff er es? Die anderen sammelten sich. Sie trafen ihre Wahl. Auch Hitoshi machte sich nun bemerkbar, seine Stimme durchschnitt das Fiepen in Kais Ohren, das er erst jetzt überhaupt bemerkte. „Hast du dich entschieden?” Kai nickte mechanisch. Dann löste er - vorsichtig, als würde er seinem Körper nicht trauen - die Finger vom Geländer und stieg die Treppen zum Zentrum der Arena hinab. An der Pforte des Krankenhauses traf er Daitenji. Dieser stand sichtlich unter Schock, schien aber im Gegensatz zu Kai zu wissen, was zu tun war. „Kai, mein Junge“, sagte er, „Gut, dass du hier bist.“ „Was ist mit ihm?“, fragte Kai und merkte nur am Rande, dass er nicht nach sich selbst klang. Es war die einzige Frage, die er formulieren konnte. Daitenji schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Aber wir können es herausfinden. Komm.“ Gemeinsam betraten sie das Krankenhaus und urplötzlich war Kai froh, Daitenji bei sich zu haben, denn anscheinend hatte er mit einem Schlag alles vergessen, was er über die Abläufe hier wusste. Während der andere mit den Leuten an der Rezeption sprach, konnte er keinen klaren Gedanken fassen. An seinem Hinterkopf breitete sich ein Gefühl von Taubheit aus, kroch seinen Nacken hinab. Er drängte es mit aller Macht zurück. Schließlich stand Daitenji wieder neben ihm um und bedeutete ihm, dass er ihm folgen sollte. Nur ein paar Schritte weiter jedoch drehte er sich erneut zu Kai um. „Du wirst noch nicht zu ihm können“, sagte er, „Er wurde auf die Intensivstation gebracht, und anscheinend finden noch ein paar Untersuchungen statt. Boris und Sergeij sind bereits behandelt worden. Du kannst mit ihnen sprechen.“ Seine letzten Worte hatte Kai kaum gehört, denn schon der erste Satz hatte sich in seinen Kopf gefressen und hallte dort wider. Sein Mund wurde trocken; er schluckte und nickte, denn er befürchtete, dass seine Stimme wegblieb, wenn er jetzt sprach. Daitenji mimte dieses Nicken, dann setzten sie ihren Weg fort. Sie kamen nicht sehr weit. Ein paar Gänge und Türen zogen an Kai vorbei, dann fand er sich in einem Wartezimmer wieder. Erst hier wurde sein Blick klar. Verwirrt sah er sich um, sah zu Daitenji, doch noch ehe er eine Frage stellen konnte, hörte er seinen Namen. In einer Ecke saßen Boris und Sergeij. Ansonsten war niemand im Raum. Körperlich schienen seine Teamkollegen beinahe unversehrt zu sein, nur hier und da sah er Pflaster und kleinere Verbände. Nichts Unnormales für einen Kampf wie den, den sie hinter sich hatten. Was Kai jedoch erschreckte, war der Ausdruck in ihren Augen. Sergeij wandte sich schnell wieder ab, doch Boris sah ihn direkt an, und Kai spürte erneut die Taubheit in seinem Hirn. Er war sich nicht sicher, ob seine Beine noch zu ihm gehörten oder nicht. Als Boris sich erhob und auf ihn zukam, war sein erster Impuls, zurückzuweichen, doch es war unmöglich, sich zu bewegen. Mit einer fahrigen Geste packte Boris ihn am Kragen. „Was hast du getan, Kai?“, fragte er, „Du bist zur BEGA gegangen! Zu Volkov!“ Er wurde lauter. „Du hast doch gesehen, was passiert ist! Was zur Hölle, Kai? Was ist bloß falsch mit dir?“ Die Hand, die sich in sein Shirt gekrallt hatte, schüttelte ihn ein wenig. „Ihr seid auch BEGA Blader“, murmelte Kai. „Was?“ „Ich seid BEGA Blader!“, rief er. „Ihr habt das Battle verloren!“ „Es war unentschieden!“ „Für Yuriy vielleicht! Aber nicht für euch“, sagte Kai, „Ihr habt die Wette gegen Volkov verloren. Tja. Willkommen bei der BEGA.“ Die letzten Worte fühlten sich selbst auf seiner Zunge an wie Gift. Kurz wirkte es, als wollte Boris ihn schlagen, und Kai realisierte, dass er nur darauf wartete. Er wollte etwas spüren, irgendwas. Alles, nur nicht diesen Druck, der sich in ihm aufbaute und den er einfach nicht lösen konnte. Doch Boris schlug ihn nicht. Mit einem Mal schien ihn die Kraft zu verlassen, seine Hand ließ von Kai ab. Stattdessen bäumte sich nun Kais eigene Wut in ihm auf. Boris wollte wieder mehr Abstand zu ihm einnehmen, aber er setzte ihm nach. „Wie konntet ihr so was Bescheuertes tun?“, rief er und griff nach Boris‘ Arm. „Wieso habt ihr mir nichts davon gesagt? Habt ihr auch nur eine Minute darüber nachgedacht, ob das überhaupt funktionieren kann?“ „Es war Yuriys Idee, okay?!“ Boris stieß ihn von sich weg. „Er wollte dich von Anfang an nicht dabeihaben!“ „Aber das ist auch mein Kampf!“ „Es war Yuriys Plan…“, entgegnete Boris. „Warum habt ihr ihn nicht davon abgehalten?“ Jetzt schrie Kai, und Sergeij zuckte zusammen, aber es war ihm egal. Er stürzte sich auf Boris, der reflexartig seinen Arm abfing. Und so hing Kai in seinem Griff, wehrte sich halbherzig, denn irgendwie war alle Kraft aus ihm gewichen. „Warum müsst ihr immer tun, was Yuriy euch sagt?“, rief er, und beinahe brach seine Stimme dabei. Boris hielt inne, und auch Kais Bewegungen erstarben. Boris‘ Hand war immer noch um seinen Unterarm geschlossen, sein Griff tat weh, aber nicht genug, um ihn abzulenken. „Er ist nicht wieder aufgewacht, Kai“, sagte Boris, „Er ist immer noch nicht aufgewacht…“ „Er ist nicht wieder aufgewacht, Kai“, sagte Boris, „Er ist immer noch nicht aufgewacht…“ „Was soll das heißen?”, fragte er unwirsch. Er spürte, wie Boris’ Finger zuckten. „Mehr weiß ich nicht. Kinomiya hat als letzter mit ihm gesprochen. Dann hat er das Bewusstsein verloren.” Langsam, sehr langsam drang die Bedeutung dieser Worte zu ihm durch. Nicht selten passierte es, dass ein Blader während eines Matches ausgeknockt wurde - doch das war nie länger als ein paar Sekunden, vielleicht Minuten. Kai musste blass geworden sein, denn als er sich bewegte, ließ Boris ihn schnell los. Schwankend ging er auf einen der Stühle zu, ließ sich darauf fallen. Auf einmal schien er zu zittern, doch er wusste nicht, ob die anderen das bemerkten. Er zwang sich, gleichmäßig zu atmen, dann war Daitenji an seiner Seite. Berührte ihn nicht, sondern saß einfach neben ihm. „Er ist in guten Händen, Hiwatari-kun”, sagte er beschwichtigend, doch Kai sah immer noch Boris an, der nun vor ihm stand. „Was ist mit ihm?“, fragte er. Boris schüttelte den Kopf. „Wir müssen warten.“ Noch einmal atmete er durch. Niemand würde ihm die Frage beantworten können, wie lange das dauern würde. Er hatte gleichzeitig das Bedürfnis, zu rennen und sich in sich zusammenzukrümmen. „Darf ich mit euch warten?“, fragte er schließlich. Boris nickte. Rückblickend konnte Kai nicht sagen, wie lange sie dort ausharrten. Als endlich jemand zu ihnen kam, saß er sehr nah bei Boris und Sergeij. Daitenji hatte sie in regelmäßigen Abständen dazu genötigt, etwas zu trinken, ansonsten hatten sie sich angeschwiegen. An der Mimik der Ärztin war nicht abzulesen, wie ernst die Lage war. „Kuznetsov Boris und Rybakov Sergeij sind als nächste Angehörige angegeben“, erklärte sie. „Daitenji-san, soweit ich das sehe, kann ich auch mit Ihnen sprechen.“ Ihr Blick wanderte zu Kai. „Und Sie sind?“ „Hiwatari Kai“, sagte Daitenji an seiner statt, „Ich bin sicher, wenn Kuznetsov und Rybakov nichts dagegen haben, kann er hierbleiben. Außerdem spricht er Russisch und kann für die beiden übersetzen.“ Er wandte sich an Boris und Sergeij und wiederholte das Anliegen auf Englisch. Die beiden nickten und Kai fühlte zumindest einen Hauch von Erleichterung. Er wusste nicht, was er gemacht hätte, wenn er weggeschickt worden wäre. „Also schön.“ Die Ärztin begann mit ihren Ausführungen und Kai hörte ein paar Sekunden lang zu, bevor er sich zusammennahm und für seine Teamkollegen übersetzte. Sein Kopf wollte nicht so richtig, es dauerte wesentlich länger als sonst, mit den beiden Sprachen zurechtzukommen. „Kuznetsov hat meinen Kollegen glücklicherweise verständlich machen können, dass Ivanov gewisse Vorerkrankungen hat. Die Blutgefäße in seinem Gehirn sind anscheinend recht empfindlich. Wir haben also sofort ein MRT gemacht. Darauf ist leider eine ziemlich große Blutung zu erkennen.” Sie pausierte, damit Kai übersetzen konnte. Als Boris diese Worte hörte, verzog sich sein Gesicht beinahe resigniert. „Was meint sie?”, hakte Kai nach. „Was ist mit diesen Blutgefäßen? Hat das etwas damit zu tun, was du mir über seine Migräne erzählt hast?” „Ja”, sagte Boris knapp, und das war der Moment, in dem Kai wirklich Angst bekam. Das also meinte Yuriy, wenn er sagte, dass er eigentlich nicht beybladen sollte. Wenn seine Blutgefäße anfällig für Verletzungen waren, war jeder Schlag gegen den Kopf einer zu viel. „Was bedeutet das für ihn?”, fragte er die Ärztin. Sie wartete eine, vielleicht zwei Sekunden, bevor sie Antwortete. „Ich kann und will nichts beschönigen”, sagte sie dann. „Die Hirnblutung ist nicht das einzige. Ivanov hat weitere schwere Verletzungen. Zwei Rippenfrakturen, und eine dritte Rippe ist komplett gebrochen. Seine Lunge wurde leicht gequetscht, glücklicherweise gibt es darüber hinaus aber keine Verletzungen der inneren Organe. Dazu kommen eine ganze Menge Hämatome und ein paar größere Schnittwunden. Das Gesamtausmaß der Verletzungen ist leider so groß, dass wir uns entschlossen haben, ihn in ein künstliches Koma zu versetzen.” Während Kai übersetzte wurde ihm klar, dass Boris und Sergeij mit ihrer Fassung rangen. Er selbst konzentrierte sich vollkommen auf seine Aufgabe, wagte auch nicht, Daitenji anzusehen, obwohl er meinte, dass dieser scharf die Luft eingezogen hatte, als er von dem Koma hörte. Daitenji war es auch, der die nächste Frage stellte: „Wie lange wird die Heilung dauern?” „Mit hundertprozentiger Sicherheit kann ich das nicht sagen”, lautete die Antwort. „Die Äußeren Verletzungen werden in ein bis zwei Wochen bis auf wenige Ausnahmen Verheilt sein. Die Rippen dauern etwas länger. Was uns wirklich sorgen macht, ist die Hirnblutung. Wir haben sie soweit unter Kontrolle und können sie medikamentös behandeln. Dennoch drückt das Blut auf verschiedene Hirnareale, und wir können nicht absehen, welche Schäden daraus entstehen.” Daitenji seufzte müde, und Boris bewegte sich zum ersten Mal wieder: Er fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. „Welche, hat sie gesagt”, murmelte er auf Russisch. „Nicht ob. Welche.” Kai spürte wieder so etwas wie Übelkeit, als würde Suzaku sein Innerstes zusammenpressen, doch ohne das Brennen, das sonst immer mit ihr kam. „Wenn alles gut läuft”, fuhr die Ärztin fort, „Können wir ihn in zwei, vielleicht drei Wochen langsam wieder zurückholen. Erst dann können wir mit Sicherheit sagen, wie groß die Schäden sind und entsprechende Maßnahmen ergreifen. Wir sprechen hier von motorischen Schwierigkeiten bis hin zu Störungen des Sprachzentrums oder Veränderung anderer Sinneswahrnehmungen. Voraussehen lässt sich das nicht. Vieles lässt sich durch umfangreiche Rehabilitation wieder erlernen, aber das wird seine Zeit dauern.” Sie machte eine Pause. „Es kann aber auch sein, dass einige bleibende Schäden entstanden sind. Darauf sollten Sie sich einstellen. Und natürlich kann es auch passieren, dass sich sein Zustand verschlechtert. Dann...müssen wir ganz andere Entscheidungen treffen.” Vermutlich stellte Daitenji weitere Fragen, doch dieses Mal blendete Kai seine Umgebung aus. Die Worte, die er soeben gehört hatte, wiederholten sich immer und immer wieder in seinen Gedanken. Das hier war kein böser Traum, aus dem Yuriy wieder aufwachen würde. Er würde nicht einfach aufstehen und weggehen können. Das hier war vielleicht nie ganz zu Ende. „Wann können wir zu ihm?“, fragte Daitenji recht laut und lenkte Kais Aufmerksamkeit damit wieder auf sich. Die Ärztin wiegte den Kopf. „Ich fürchte, heute können höchstens die nächsten Angehörigen zu ihm. Wie ich schon sagte, wir müssen noch einige Untersuchungen durchführen. Ich denke aber, dass Sie ab morgen die Möglichkeit haben sollten. Eins noch, Hiwatari”, fuhr sie fort, als er sich schon abwenden wollte. Er sah sie an. „Kuznetsov und Rybakov sind als nächste Angehörige jetzt in einer schwierigen Lage”, sagte sie, „Bitte sagen Sie ihnen, dass sie möglicherweise einige schwere Entscheidungen in den nächsten Wochen treffen werden müssen.” Er wusste genau, was sie meinte. Er verstand, warum sie es sagte. Er konnte trotzdem nicht fassen, dass sie es ausgesprochen hatte. Erneut wurde ihm schlecht. „Was hat sie gesagt?”, fragte Boris. „Das ihr diejenigen seid, die darüber entscheiden, ob… Was passieren soll.” Er spuckte die Worte förmlich aus. Doch Boris nickte nur und sah die Ärztin an. „Wir wissen, was er will”, sagte er auf Englisch, „Darüber haben wir schon vor einiger Zeit gesprochen.” „Ihr habt...was?” Kai merkte, wie gepresst seine Stimme klang. „Wunderst du dich?”, fragte Boris, anstatt zu antworten, „Nach allem, was wir schon erlebt haben?” Die Ärztin drängte ihn und Sergeij, ihr zu folgen, wenn sie Yuriy sehen wollten. Auch sie hatte keine Zeit zu verlieren. Erneut merkte Kai, wie Daitenji näher zu ihm kam, als wollte er demonstrieren, dass Kai nicht allein war, auch wenn seine Teamkollegen ihn nun verlassen würden. Es half nur minimal. Nie zuvor hatte er sich so einsam gefühlt. Boris blickte noch einmal zu ihm zurück, und irgendetwas ließ seine Gesichtszüge weich werden. „Oh Gott, Hiwatari”, sagte er, „Komm mal her.” Wie von selbst setzte Kai sich in Bewegung und fand sich zwei Schritte später in einer festen Umarmung wieder. Seine Hände krallten sich in Boris’ Rücken, und falls seine Augen in diesem Moment kurz überliefen, so versickerte das Wasser ungesehen in der Jacke des anderen. Kurz darauf merkte er, wie auch Sergeij seine Arme um sie schloss. So blieben sie für einen Moment, der es Kai erlaubte, ein paarmal tief durchzuatmen, bevor er sich wieder von den anderen löste. „Ich melde mich bei dir”, versprach Boris, „Und morgen sorgen wir dafür, dass du zu ihm kannst.” Kai nickte, dann wandte er sich schnell ab, heftete den Blick auf Daitenji und nickte ihm zu, ein Zeichen, dass sie gehen konnten. Boris und Sergeij schlugen den entgegengesetzten Weg ein. Der Sturm in Kais Kopf hatte sich gelegt; stattdessen fühlte er sich leer, während Daitenji ihn nach draußen führte. Erst als die frische Luft ihm entgegenschlug, kam er etwas zu sich. Gerade hatte er schon einmal hier gestanden, ohne das Wissen, das jetzt auf seinen Schultern lag. „Hiwatari-kun, es ist nur verständlich, wenn du jetzt nicht nach Hause gehen willst”, sagte Daitenji. „Soll ich Kinomiya-kun fragen, ob du zu ihm kommen kannst? Alternativ habe ich auch noch ein freies Zimmer.” Der Gedanke, Takao zu sehen, fühlte sich im ersten Moment gut an. Dann fiel ihm ein, wie er ihm gerade erst demonstriert hatte, dass ihre Freundschaft ihm nichts bedeutete. Oder zumindest war er sich sicher, dass Takao sein Handeln so interpretierte. Nein, er konnte nicht zu ihm. Und Daitenji würde er auch nicht zur Last fallen. Außerdem musste er morgen bei BEGA auftauchen, um alle von seiner Zugehörigkeit zu überzeugen. Wieder stieg ihm die Galle hoch; inzwischen war er sich sicher, dass Suzaku zu einem nicht geringen Teil verantwortlich für seine körperlichen Reaktionen war. Was seine Situation nicht besser machte. Er wollte schlafen und vergessen. „Danke, Daitenji-kaichou”, sagte er schließlich, „Aber ich komme schon zurecht.” „Bist du sicher?” Er atmete tief durch. „Ja.” Dann lief er in Richtung der Fahrradständer. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)