down we fall. von Platypusaurus ================================================================================ down we fall. ------------- You were so clever, You kept it together, today.     Es dauerte seine Zeit, bis Dean etwas auffiel. Er lachte weniger. Nicht, dass er bis dato regelmäßig unter Seitenstechen vor lauter Lachen gelitten hätte. Ihr Leben war vielmehr gespickt von Situationen, die dafür sorgten, dass einem zum Weinen zumute war. Wenn man dafür nicht zu männlich gewesen wäre oder den entsprechenden Zugang zu den eigenen Tränen gehabt hätte. Nein, es fiel Dean selbst auf, dass er weniger lachte, weil sein Gesicht öfter schmerzte, wenn sie in Situationen gerieten, in denen ein Lachen angebracht war. So viel zwischenmenschliches Knowhow besaß er dann doch, um zu wissen, dass er Jack, Cas und Sam gelegentlich ein Zucken seiner Gesichtsmuskulatur schuldete. Und dass er ein dazu passendes raues Geräusch aus sich heraus zu pressen hatte, das ihm im Hals kratzte, wie zu viel Salz bei quälendem Durst; ein falsches Lachen, das vielmehr wie ein schwaches Brüllen klang. Brüllen, ja. Danach war ihm wirklich zumute. Wenn er nur die Kraft dazu gehabt hätte.   Die Sache mit der Kraft, oder vielmehr ihr Fehlen, war das nächste, das Dean an sich auffiel. Wenn sie nicht auf der Jagd waren und die Welt ausnahmsweise einmal nicht daran hindern mussten, zugrunde zu gehen, blieb er normalerweise gern länger liegen, auch eine ganze Weile nach dem Aufwachen noch. Manchmal ließ er sich bis zum Aufstehen von der ein oder anderen beschämenden Lektüre auf Social Media berieseln; Klatsch und Tratsch über den Cast von Dr. Sexy MD, ein Review zur aktuellsten Folge oder einfach nur ein paar halb intelligente Memes über die Charaktere seiner persönlichen Kultserie. Inzwischen erwachte er meist Stunden vor dem Weckerklingeln und egal, wie unbequem seine Position auf den zerwühlten Laken auch war, wie unangenehm er den Druck seiner vollen Blase spürte oder das taube Kribbeln seines eingeschlafenen Arms, den er unter sich begrub – er blieb so lange möglichst regungslos liegen, bis Sam in den frühen Mittagsstunden gegen seine Zimmertür hämmerte. Manchmal ertappte er sich bei der Wunschvorstellung, dass das Bett ihn einfach verschlucken möge, so dass er es nie wieder verlassen müsste.   Doch selbst der Schutz seiner Bettdecke hielt nun nicht mehr für ihn bereit, worauf Dean sich so lange Zeit verlassen hatte: Früher hatte er die ruhigen Morgen in der friedlichen Einsamkeit seines Schlafzimmers vor allem genutzt, um etwas Anspannung loszuwerden und vor dem Aufstehen gepflegt Hand an sich selbst zu legen. Die vorausgehende intensive Auseinandersetzung mit Dr. Sexy erwies sich dabei nicht selten als hilfreich. In der letzten Zeit fehlte ihm bloß selbst dazu nicht nur die Kraft, es gelang ihm auch nicht mehr, sich genug in Stimmung zu bringen, um zu Ende zu führen, was er da allenfalls halbherzig unter der Decke anfing. Vielleicht hätte ihn die Tatsache frustriert, dass er es nicht einmal schaffte, sich selbst zu befriedigen. Doch Frustration forderte zu viel Energie – die er nicht besaß. So war Scham das einzige, was ihm noch blieb und er verzog sich meist mit einem gequälten Seufzen tiefer unter seine Bettdecke, kauerte sich in Embryostellung in ihrer stickigen Dunkelheit zusammen und wartete darauf, dass die lästige Morgenlatte von selbst abflaute. Wenn dabei noch eine Flasche mit Hochprozentigem vom Vorabend auf dem Nachttisch stand, spülte er nicht selten seinen Scham mit ihrem Inhalt hinunter, noch bevor er sich das erste Mal richtig im Bett aufgesetzt hatte.   Es war Dienstag, der Tag der Woche, den Sam üblicherweise mit einer Morgenmuffeligkeit beging, die selbst Cas in seiner Zeit als Mensch erblassen ließ. Deans Dienstagmorgen war genau wie jeder andere in der letzten Zeit auch. Mit einem müden Tippen erweckte er das Display seines Smartphones zum Leben, sah dass es erst sieben Uhr in der Früh war und außerdem, dass er seit gestern Nachmittag, seit er zu Bett gegangen war, fünf E-Mails, drei Nachrichten und diverse Benachrichtigungen über Interaktionen auf sozialen Netzwerken erhalten hatte. Außerdem einen Anruf in Abwesenheit. Von Cas. Er ignorierte sie allesamt und sah zu, wie die Bildschirmbeleuchtung nach einer halben Minute von selbst wieder erlosch. Ihm fehlte nicht nur der Elan, auf auch nur eines davon zu reagieren, nein, er sah schlichtweg keinen tieferen Sinn dahinter, die Nachrichten überhaupt erst zu lesen.   Im Gang vor seiner Zimmertür war ein dumpfes Poltern wie von schweren Schritten zu hören; offensichtlich wütete Sam bereits durch den Bunker und machte sich selbst zu dieser frühen Stunde nicht die Mühe, in der Nähe der Schlafzimmer leise zu sein. Dean kniff die Augen zusammen und hoffte darauf, dass der Schlaf ihn, trotz Lärm, noch für ein paar weitere Stunden vor der Sinnlosigkeit des Wachens bewahren würde. Doch es half nichts. Er hatte Hunger, er musste pinkeln und außerdem war die Luft im Raum so schlecht, dass er das Belüftungssystem des Bunkers auf seine Funktionalität würde überprüfen müssen. Die Sauerstoffarmut verursachte ihm inzwischen schon Kopfschmerzen, wobei deren Ursache durchaus auch anderswo liegen konnte … Wie in Zeitlupe quälte er sich aus dem Bett, verzichtete darauf, die Deckenbeleuchtung einzuschalten. Es war besser, sein Zimmer momentan im Dunkeln zu lassen und, falls man sich doch nicht ohne Licht zu behelfen wusste, nicht allzu genau hinzusehen. Schmutziges Geschirr stapelte sich auf nahezu allen Oberflächen, und, wie Dean auch in tiefster Schwärze nur allzu genau vor Augen hatte, war es nicht selten mit bereits pelzig werdenden Resten von inzwischen undefinierbaren Lebensmitteln bestückt. Berge von schmutziger Kleidung türmten sich zwischen Bett und Schreibtisch und machten den Weg auch bei Licht zu seinem wahren Hindernislauf. Dazwischen lag Abfall jeder Art verstreut – von alten Pizzakartons über leere Bierflaschen, sogar benutzte Papiertaschentücher flogen zerknüllt im Durcheinander herum. Sam hatte einmal etwas über den Darwinismus hinter Deans Esskultur zum Besten gegeben und inzwischen ließ sich dieser Zustand wohl auf seinen gesamten Lebensstil beziehen. Wobei ‚Lebensstil‘ nicht das Wort war, mit dem er selbst die Situation in seinem Zimmer beschrieben hätte. Es war nicht so, dass ihm gefiel, wie er derzeit auf engstem Raum hauste. Leider war es aus einem ihm unerklärlichen Grund aber auch einfach unmöglich, etwas daran zu ändern. Möglicherweise hatte es etwas mit dem Mangel an Kraft und Energie zu tun und der lähmenden Lustlosigkeit, die mehr als nur seine fleischlichen Gelüste betraf …   Mit nackten Füßen behutsam den Untergrund erfühlend und mit einer Hand an der Steinmauer entlang, tastete er sich bis zur Zimmertür vor und schnappte sich auf dem Weg geistesgegenwärtig den Morgenmantel des toten Man of Letters, dessen Tragen ihm meist schon dabei half, sich wenigstens ein bisschen besser zu fühlen. Als er vorsichtig die Tür zum Gang aufriss, blendete ihn die Helligkeit der schummrigen Wandbeleuchtung, so dass er tatsächlich kurz blinzeln musste. Komisch. Wie lange hatte er jetzt in der Dunkelheit seines Zimmers verbracht? Als Dean erneut Schritte hörte, quetschte er sich schnell und unbeholfen durch den Spalt und schloss die Tür eilig hinter sich, so dass derjenige, der sich ihm näherte, weder den unangenehmen Geruch bemerken würde, der aus seinem Zimmer hervor waberte, noch eine Ahnung von dem Saustall bekam, den Dean in der Dunkelheit vor dem Rest der Welt (und auch vor sich selbst) versteckte. Er hatte keine Lust auf Fragen.   Es war Sam, mit einem dampfenden Becher in der Hand, und offensichtlich auf dem Rückweg von der Küche, der um die Ecke gestapft kam. Instinktiv presste sich Dean den Morgenmantel möglichst großflächig vor den Körper, um zumindest ein paar der Flecken auf dem Shirt zu verbergen, das er seit nun fast einer Woche am Körper trug. Ganz zu schweigen von dem lästigen Halbmast in seinen Boxershorts, in denen er die Nacht verbracht hatte.   „Heya, Sammy,“ begrüßte er seinen Bruder und gab sich Mühe, nicht nur die Mundwinkel hochzuziehen, sondern auch dafür zu sorgen, dass sich die Fältchen in seinen Augenwinkeln zu vertiefen begannen. Die Haut in seinem Gesicht fühlte sich dabei an, als sei sie von einer zähen, trockenen Schicht überzogen, die seine Muskulatur nahezu lähmte. Was bedeuten musste, dass er an dem Versuch, nicht allzu hölzern zu wirken, kläglich gescheitert war. Seine Augen begannen zu tränen.   „Dean! Hi“, grüßte Sam zurück und ließ sich zu einem Lächeln herab, das ungefähr so gequält aussah, wie sich das eigene auf Deans Gesicht anfühlte. Sam öffnete den Mund, um erneut etwas zu sagen, doch er hielt inne und – schnüffelte plötzlich auffällig ins Nichts.   „Mein Gott, wann hast du das letzte Mal geduscht, Mann?“, platzte es aus ihm heraus und sein trüber Blick wurde mit einem Mal deutlich schärfer, verweilte kurz an den dunklen Flecken unter den Achseln von Deans T-Shirt, bevor Sam seine Haare und schließlich das seit Tagen unrasierte Gesicht musterte.   „Nimm‘s mir nicht übel, aber du siehst Scheiße aus. Und du stinkst!“   „Immer noch besser als du“, konterte Dean lahm und war selbst irritiert davon, wie viel Mühe es ihm bereitete. Doch nur für einen Moment. Jedes Gefühl, das zu sehr von dem tauben Nichts abwich, das in seinem Inneren nagte, wurde alsbald von der Erschöpfung erstickt, die ihn daran hinderte, Nachrichten auf seinem Smartphone zu lesen oder unter dem Bett nach seinen Hausschuhen zu suchen.   Ein paar Atemzüge lang, die Sam missbilligend den Nasenrücken kräuseln ließen, schwiegen sie. Dean, der Sams Blicken auswich, während der ihn viel zu genau von oben bis unten zu mustern schien.   „Was ist eigentlich mit dir los, Dean?“, fragte Sam schließlich, überraschenderweise um einige Grad milder, als seine Dienstagslaune es eigentlich zulassen dürfte.   Keine Ahnung. Alles Scheiße, bot Deans Hirn als müde Antwort darauf an, doch anstatt sie auszusprechen, schüttelte er bloß den Kopf.   „Tja, nu. War auf dem Weg unter die Dusche. Ist noch Kaffee da?“   Diese Worte ließen Sams Lippen schmal werden; der unheilvolle Vorbote seines berühmt-berüchtigten Bitch-Faces, das Dean an manchen Tagen vor Lachen die Tränen in die Augen trieb. Sein Augen tränten noch immer, doch das lag höchstens daran, dass sie immer noch wehtaten, seit er die Dunkelheit verlassen hatte.   „Halbe Kanne steht in der Maschine“, antwortete Sam schließlich knapp, nachdem er sich geräuspert hatte. Vielleicht schien er zu wissen, dass er von seinem Bruder in diesem Moment keine gescheite Antwort erwarten durfte; zumindest keine, die ihn zufrieden stellen würde. Vielleicht ahnte er auch einfach, dass Dean ihm schlicht keine Antwort geben konnte, weil er selbst keine wusste. Immerhin kannte ihn niemand besser als Sammy. Der Sammy, der schlechte Laune hatte, weil ihn eine dienstägliche Zeitschleife einmal so sehr traumatisiert hatte, dass er alle paar Wochen immer noch darüber in einem Loch versank, wie es war, seinen Bruder zu verlieren.   Das bin ich gar nicht wert.   Dieser letzte Gedanke jagte einen Schauer über Deans bloße Unterarme, die er vor der Brust verschränkt hatte und hinter denen er noch immer den Morgenmantel schützend an sich gepresst hielt. Der Gedanke, dass sein Bruder ihn verlieren würde, weil Dean einfach nicht mehr länger …   Nein. Hier geht‘s nicht weiter. Stopp!   „Danke, Sammy,“ krächzte Dean und machte Anstalten, sich an seinem Bruder vorbei zu drängen, um endlich unter die Dusche zu kommen. Tatsächlich schien dieser einzusehen, dass weiteres Nachhaken im Augenblick wenig Sinn hatte, denn er wich einen Schritt zurück, um Dean Platz zu machen.   Er war schon fast um die nächste Ecke verschwunden, als Sam ihn noch einmal zurückrief.   „Was hältst du nach deinem Kaffee von einem Fall?“, fragte er und schien sich diesmal etwas mehr Mühe mit seinem Lächeln zu geben.   Nichts. Absolut gar nichts.   „Jack hat in der Zeitung einen möglichen Hinweis auf einen Chupacabra gefunden und ich finde, wir sollten uns das mal ansehen.“   Dean spürte, wie sich die Muskulatur in seinen Schultern automatisch versteifte, was ihn erst darauf aufmerksam machte, wie verspannt er eigentlich die ganze Zeit über gewesen war.   Ich krieg meinen Arsch kaum aus dem Bett – wie soll ich da Monster kalt machen? … Aber vielleicht ist es genau das, was ich brauche … Vielleicht hilft‘s?   Jagen war gut. Er liebte die Jagd. Es gab keinen Grund, sie nicht als Heilmittel für sein derzeitiges, namenloses Problem zu betrachten. Sie hatte bisher immer dafür gesorgt, dass er sich lebendig fühlte, dass sein Dasein auf Erden ein bisschen mehr Sinn und Berechtigung erhielt. Dean nutzte die Anspannung in seinem Nacken, um sich dagegen zu lehnen, die Schultern zu straffen, seine Haltung vor Sam aufrechter wirken zu lassen, als sie eigentlich war. Entschlossener, kampfbereit.   „Klingt gut. Bin dabei.“   Eine Jagd zu dritt mit dem Jungen – eigentlich klang das doch wirklich nicht allzu schlecht.     *     Das Wasser, das auf seine Schultern hinab rauschte und in einem viel zu harten Strahl auf seine Kopfhaut trommelte, war zu heiß. Wasserdampf stieg um Dean herum in der Duschkabine auf und das Atmen fiel ihm bald fast so schwer, als wäre er in einer Sauna. Trotzdem verringerte Dean weder den Wasserdruck am Brausekopf, noch die Temperatur am Hebel. Ein wenig erhoffte er sich hiervon, dass es gegen die Verspannung in seinem oberen Rücken half, aber gleichzeitig kümmerte es ihn auch nicht genug, um dafür zu sorgen, dass die Dusche angenehmer wurde. Es kostete ihn allein schon Überwindung, nach dem Shampoo in der Ablage zu greifen und es in seinen Haaren zu verteilen. Sie waren länger geworden, wie ihm plötzlich auffiel, als er die seifigen Strähnen zwischen seinen Fingern hindurch gleiten spürte. Vermutlich brauchte er dringend einen Haarschnitt. Aber das war schwer zu sagen, da er schon seit einiger Zeit nicht mehr in den Spiegel gesehen hatte. Selbst beim Zähneputzen wich er dem eigenen Anblick aus.   Das Einshampoonieren erwies sich als erstaunlich einfach im Vergleich dazu, seinen Körper einzuseifen. Es gelang ihm gerade so, noch etwas Duschgel aus der fast leeren Flasche zu quetschen. Es war die übliche Sorte; sein liebster Zitrus-Duft von der bezahlbaren Marke, die es an jeder Tankstelle zu kaufen gab. Kein Problem, an Nachschub zu kommen, auch nicht für einen Jäger auf Achse. Für einen Jäger ohne Antrieb vermutlich schon eher … Die Unterarme einzuschäumen, gestaltete sich noch als relativ harmlos. Er gab sich Mühe, es bis zu den Achseln zu schaffen, denn gerade in diesem Bereich schien ein Auffrischen der Hygiene dringend notwendig. Ihm selbst fiel jetzt der ranzige Geruch nach Schweiß und Talg auf, den er wohl schon seit Tagen verströmte.   Schultern und Brust zu waschen, war bereits eine wahre Qual, wobei er nicht genau sagen konnte, woran das eigentlich lag. Es war vielleicht eine Mischung der Schmerzen, die seine Verspannungen ihm nun mit jeder falschen Bewegung bereiteten, obwohl er sich doch noch problemlos hatte die Haare waschen können; ein hartes Blockieren bei einigen Bewegungsabläufen sorgte dafür, dass er routinierte Handgriffe nahezu neu erfinden musste, um sämtliche Stellen seines Oberkörpers zu erreichen. Hinzu kam das plötzlich so eigenartige Gefühl, sich selbst zu berühren. Es verursachte, dass Dean sich seiner mit einem Mal so unangenehm bewusst wurde, als wäre er in sich selbst gefangen. Seine Haut spannte über den kraftlosen Muskeln, seine Brustwarzen reagierten irritierenderweise auf seine Berührung und all das fühlte sich scheußlich an. Sein Körper prickelte unangenehm, während sich seine Haut gleichzeitig zu eng und doch viel zu groß für Deans Innerstes anfühlte. Wie eine Hülle, die nicht passen wollte, weil sie einfach nicht zu ihm gehörte.   Er atmete schwer und mit weit geöffnetem Mund, schmeckte den bitteren Geschmack des Shampoos, das der harte Wasserstrahl aus seinen Haaren spülte und über seine Lippen rinnen ließ. Wann hatte er sich das letzte Mal so gefühlt? Fühlte er gerade eigentlich überhaupt? Oder füllte sein Geist dieses erdrückende Nichts nur mit kindischen Einbildungen, die er für echte Emotionen hielt? Erschöpft lehnte er sich gegen die kühlen Kacheln, deren Kontrast zur Wassertemperatur beinahe brannte. Seit wann war er gleichzeitig so taub und so dermaßen empfindlich? Dean kam sich lächerlich vor. Oder vielmehr wusste er, dass er sich unter normalen Umständen lächerlich gefühlt hätte. Bloß war da wieder dieses taube Nichts, das jedwede Empfindung zu verdrängen wusste, die intensiv genug war, um ihn sich menschlich fühlen zu lassen.   Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis er sich endlich von Kopf bis Fuß gewaschen hatte, und als er damit fertig war, fühlte er sich so ausgelaugt, dass er sich bereits wieder nach seinem Bett sehnte. Die Zähne putzte er sich noch, aber auf eine Rasur verzichtete er ganz und als Dean einen kurzen Blick im beschlagenen Spiegel auf sich erhaschte, sah er nur die undeutlichen Umrisse einer Gestalt mit ungepflegtem Bartansatz. Er zwang sich dazu, nicht wieder in seine schmutzige Schlafkleidung zu schlüpfen, sondern sich nach dem halbherzigen Abtrocknen den Morgenmantel überzuwerfen. Immer noch barfuß und mit feuchten Haaren tapste er aus dem Bad und trug dichte Schwaden aus Wasserdampf mit sich in den Flur. Immerhin gelang es ihm, die Wäsche auf dem Weg zur Küche im Hauswirtschaftsraum zu lassen.   Das sollte sich nicht wie die Meisterleistung der Woche anfühlen.   Erschreckenderweise war sie aber genau das.     *     By the way, I'll no longer ignore you, I wanted to show you again, I'm your friend.   Sometimes we just pretend.     Sam hatte Dean Frühstück gemacht. Was bedeutete, dass Sam sich Sorgen um ihn machte. Als Dean, immer noch im Morgenmantel und barfüßig, die Küche betrat, warteten ein Teller mit Bacon, Toast und Rührei auf ihn und sogar seine Lieblingstasse, gefüllt mit duftendem schwarzen Kaffee.   Sam sagte nichts, sondern deutete mit stummem Hundeblick auf den gedeckten Platz, den er Dean zugedacht hatte. Der Blick sprach Bände und Dean gab sich Mühe, so zu tun, als bemerke er ihn nicht. Vielleicht hätte Sam eine der vielen ungestellten Fragen aufgebracht, die hinter seiner sorgenumwölkten Stirn zu toben schienen, wenn Jack nicht mit ihnen am Tisch gesessen hätte.   Während Dean sein Frühstück aß, das enttäuschenderweise nach nichts schmeckte, außer nach Fett und heiß und eine eigenartige Konsistenz in seinem Mund annahm, desto intensiver er kaute, las Jack ihnen den Artikel vor, der ihn auf den potentiellen Chupacabra in Nebraska aufmerksam gemacht hatte. Es war dabei schwer zu sagen, ob die angeblichen Augenzeugen nur einem äußerst fragwürdigen Kult angehörten, oder ob es sich tatsächlich um ein Monster handelte, das nachts dem Vieh in den Ställen das Blut aussaugte.   „Fahren wir hin?“, fragte Jack und klang herzzerreißend hoffnungsvoll, so als sei der gemeinsame Aufbruch zur Jagd wie ein kleines Abenteuer für ihn, auf das er sich unverhohlen freute.   Dean kaute auf einem Stück Bacon herum wie auf zähem Leder, gab es irgendwann auf und spülte es mit einem großen Schluck Kaffee hinunter, als er die erwartungsvollen Blicke seines Bruders und ihres Ziehsohnes auf sich spürte. Der Kaffee schmeckte genau wie sein Shampoo. Das musste Einbildung sein.   „Vielleicht sollten wir mal nachsehen“, brummte Dean zustimmend und leckte sich vorsichtig Kaffee und Bratfett von den Lippen.   Keine Einbildung.   „Dir ist aber klar, dass du dir dafür was anziehen musst, oder?“, fragte Sam in dem offensichtlich verzweifelten Versuch, an Deans Eitelkeit zu appellieren. Oder an seine Schlagfertigkeit. An seinen Humor. An irgendetwas von ihm, das ihn eben ausmachte, das Dean zu Dean machte. Er zwang sich dazu, einen Blick mit Sam zu tauschen und wusste, dass es ein Fehler war. Er besaß nicht genug Energie, um mit einem spöttischen Zwinkern zu reagieren oder mit einem flapsigen Konter. Also nickte er nur.   „Lasst uns packen. Wir treffen uns in einer Stunde in der Garage.“   Sam lächelte gequält, aber schließlich nickte er ebenfalls und erhob sich, um auch noch das Geschirr für Dean abzuwaschen. An jedem anderen Tag wäre die Quittung dafür Dankbarkeit getarnt als höhnischer Seitenhieb gewesen. Jack schien es nicht zu merken, dass sowohl Sam als auch Dean vergebens darauf warteten.     *     And all I can say is you save me, Changed all the things that have made me,   entertaining,   thoughts are raining, down we fall …     Bei Licht war der Zustand seines Zimmers noch schlimmer als in seiner Erinnerung. Um ehrlich zu sein, glich der Anblick vielmehr einer Müllhalde. Etwas war auf seinem Schreibtisch bereits so von grünem Flaum überzogen, dass es schwer zu sagen war, was sich unter dem Schimmel überhaupt verbarg.   Dean saß auf der Bettkante, die Unterarme auf die nackten Knie gestützt, die unter seinem Morgenmantel hervorlugten. Er starrte in seinen weit geöffneten, völlig leeren Seesack, der zu seinen Füßen in Dreck und Unordnung darauf wartete, möglichst sinnvoll von ihm gepackt zu werden. Im Moment würde es bereits eine Herausforderung bedeuten, auch nur ein frisches Hemd zu finden. Doch halt, am Fußende seines Bettes hatte er gestern Nachmittag eine halbwegs saubere Jeans zerknüllt zurückgelassen, als er unter die Decke gekrochen war … Er versuchte, tief Luft zu holen und spürte, wie sich das Bild der offenen Tasche vor seinen Augen zu drehen begann. Alles begann sich zu drehen, der ganze Raum, ja, es fühlte sich so an, als sei es sein Kopf, der ihm plötzlich auf dem Hals rotierte, weil sein Hirn einfach nicht mehr genug Sauerstoff in dieser stickigen, nach Schweiß und Schimmel riechenden Luft bekam. Seine nutzlosen Atemzüge gingen immer schneller, flacher, erfüllten ihren Zweck weniger, während sein Brustkorb ihm nun viel zu eng für die ganze Luft vorkam, die er in sich einsaugte, und die doch nicht ihren Zweck zu erfüllen schien.   Scheiße! Du hyperventilierst, du Hurensohn!   Er hob den Arm, um sich selbst zu ohrfeigen – doch das nächste, was er fühlte, war ein unheilvolles Knirschen, als er vornüber kippte und ungebremst mit dem Gesicht auf dem Boden landete. Das dumpfe Puckern in seinem Nasenrücken verriet ihm, dass er es tatsächlich geschafft hatte, sich die Nase zu brechen. Zumindest fühlte es sich genau so an.   Ganz ruhig. Komm klar! Beruhige dich!   Blut lief ihm dick und zähflüssig in den Rachen und er hustete, bekam weder durch Nase noch durch den Mund ausreichend Luft und das Gefühl, am eigenen Atem zu ersticken, überwältigte ihn erneut.   Scheiße! Scheiße! Scheiße! Fuck!   „Dean!“   Die tiefe Stimme war vermutlich das letzte, was er jetzt hören wollte und doch war ihr Klang so tröstlich, dass er seinen Kampf mit der Atemnot für den Moment beinahe vergaß. Zwei starke Hände halfen ihm dabei, sich aufzurichten und Dean wehrte sich nicht einmal dagegen, dass ihr fester Griff auf seinen Schultern verweilte, selbst, als er bereits wieder aufrecht und an den Bettrahmen gelehnt auf der Erde saß. Es war tatsächlich Castiel, der vor ihm kniete. Dean hob nicht den Blick, um in sein besorgtes Gesicht zu sehen, obwohl er sich ziemlich sicher war, dass in den blauen Augen kein Urteil auf ihn wartete. Weder über den eigenen Zustand, noch über den seines Zimmers.   „Dean, sieh mich an!“, forderte Cas und er spürte, wie der Engel eine Hand von seiner Schulter nahm, um stattdessen mit den Fingern behutsam sein Kinn anzuheben. Der ungetrimmte Bart in seinem Gesicht dämpfte dabei die Berührung, was sich eigenartig anfühlte. Fremd und unwirklich. Eine Spur zu fern.   Dean hielt die Augen gesenkt. Blut lief ihm aus den Nasenlöchern und bildete beim Sprechen eine Blase über dem Mund, die unappetitlich zerplatzte, als er „Hi, Cas“, zu sagen versuchte. Ein stecknadelkopfgroßes Tröpfchen landete karmesinrot auf dem blütenweißen Kragen von Cas‘ Hemd. Dean entzog sein Kinn aus dem Griff des Engels und versuchte ein Grinsen. Natürlich ging es daneben.   „Dean … Was ist denn nur passiert?“, fragte Cas so sanft, dass es in Deans Magen unheilvoll zu rumoren begann. Cas‘ Sorge und seine Behutsamkeit waren nur schwer zu ertragen. Beides hatte Dean nicht verdient.   Cas schien das jedoch anders zu sehen. Seine Finger strichen kühl über den schmerzhaft pochenden Nasenrücken, was Dean für einen Augenblick zum Schielen brachte, ihn schließlich schnell die Augen schließen ließ, als er merkte, wie sich das heilende, blaue Licht von Cas‘ Gnade über seinem Bruch konzentrierte. Als das kühle Glühen erloschen war, blinzelte er vorsichtig, bevor er es wieder wagte, die Augen zu öffnen – nur, um Cas‘ Blick erneut auszuweichen.   „Wollten gerade zur Jagd aufbrechen. Chupacabra. Nebraska. Bist du dabei?“   Cas sagte eine ganze Zeit lang gar nichts und Dean war so sehr damit beschäftigt, ihn nicht anzusehen, dass ihm erst nach einer Weile auffiel, dass der Engel sein Gesicht inzwischen mit beiden Händen umfasste. Er hielt ihn nach wie vor behutsam, beinahe zaghaft, fast wie eine unausgesprochene Bitte; Dean hätte sich jederzeit aus seinem Griff entziehen können, wenn er gewollt hätte. Nervös befeuchtete er seine Lippen, an denen immer noch Blut klebte. Himmel, er musste furchtbar aussehen. Sam hatte recht – da reichte es wohl auch nicht mehr, dass er erst vor kurzem geduscht hatte.   „Dean“, sagte Cas endlich, diesmal nicht mehr als ein Flüstern. Ein Daumen strich über Deans Wangenknochen, so zaghaft, dass es auch Zufall hätte sein können.   „Du hast gestern meinen Anruf ignoriert. Was war denn los?“   Dean schluckte. Der dunkelrote Tropfen auf dem weißen Kragen sah aus wie der Punkt unter einem Ausrufezeichen. Genau so mahnend, fast ein bisschen aufgebracht.   „Wer wirklich was will, ruft noch mal an“, murmelte er schließlich und kam sich mit dieser Antwort wie der größte Versager auf Erden vor. Von Cas hatte er früher, als der Engel noch seine Flügel gehabt hatte, schließlich auch immer verlangt, dass er sofort auf der Bildfläche erschien, wenn er nur nach ihm gerufen hatte.   „Wie auch immer. Danke fürs … Danke hierfür.“   Dean machte eine halbherzige Handbewegung in Richtung seines verschmierten Gesichts, die dazu führte, dass er sich aus Cas‘ viel zu zärtlichem Griff herauswand. Ein schneller Blick in die tiefblauen Augen, den er postwendend bereute, denn sie waren zu dunkel; verhangen von etwas, das Dean nur als Sorge zu beschreiben wusste.   „Also, kommst du mit?“   Alles, um seinen besten Freund zumindest ein bisschen davon abzulenken, wie es in seinem Zimmer aussah, wie er selbst aussah, in welchem Zustand er ihn aufgefunden hatte. Dean rappelte sich zeitgleich mit Cas auf und ignorierte, dass er sich dabei an ihm festhalten musste, um überhaupt auf die Beine zu kommen. Wenigstens nahm Cas es kommentarlos hin, stützte ihn sogar ein wenig, indem er nach seinen Unterarmen griff.   „Du solltest im Moment nicht jagen, Dean“, sagte der Engel ernst. Dean sog scharf die Luft ein.   Jetzt ist‘s so weit, jetzt denkt er, ich hätte den Verstand verloren! Jetzt traut er mir nicht mal mehr zu, dass ich meinen Job mache …   Die Erkenntnis schmeckte mindestens so bitter wie das fade Frühstück von vorhin, das sich in seinem Mund so … vergeudet angefühlt hatte.   „Mir geht‘s gut, Cas!“, sagte er, als er endlich sicher auf den eigenen Beinen stand. Wieder, so wie zuvor bei Sam, lehnte er sich in die eigene Verspannung hinein, um aufrechter zu wirken, größer, imposanter. Wahrscheinlich wirkte er bloß wie eine Witzfigur.   „Sieh mal, ich fahre Baby, wir machen Monster kalt … Hey, hinterher können wir Burger essen gehen.“   Er wusste, dass Burger genau so sehr nach bitterem Nichts schmecken würden, wie das Frühstück. Wie Apfelkuchen. Wie alles. Wie das Leben.   „Alles gut!“   Er grinste. Das Grinsen mit den Mundwinkeln und den Fältchen in den Augen. Inzwischen hatte er Übung darin. Und er war daran gewöhnt, dass seine Augen automatisch zu tränen begannen, sobald er so tat, als würde er lächeln.   „Oh, Shit.“ Die Tränen in seinen Augen wurden diesmal ein bisschen viel, sogar so viel, dass er sie einfach nicht länger halten konnte. Er hielt das Gesicht weiterhin zu einem Grinsen verzerrt, starrte in die weit geöffnete Tasche zu seinen Füßen, auf deren Boden sich plötzlich große dunkle Tropfen sammelten, als hätte es in der Luft darüber zu regnen begonnen.   „Ich mein, wir sind ja alle zusammen. Wenn – wenn du auch mitkommst. Sammy und Jack und du und ich! Komm … Komm einfach mit, okay?“   Wieder rann etwas über seine Oberlippe und Dean war sich ziemlich sicher, dass es diesmal kein Blut war. Er musste schniefen und hob den Ärmel seines grauen Morgenmantels, um seine Nase daran abzuwischen. Es fühlte sich an, wie eine weitere Niederlage auf seinem langen Weg nach unten – die Anerkennung der Tatsache, dass er Rotz und Wasser heulte. Vor Cas. Als wäre er in diesem Augenblick nicht schon abstoßend genug gewesen.   „Komm mit mir, Dean“, sagte Cas plötzlich. Dean fühlte, wie sich ein starker Arm um seine schmerzenden Schultern legte und ihn mit sanfter Gewalt durch das Durcheinander seines Zimmers nach draußen führte.     *     It's all okay, when I say, you and I. Take your time, I can't wait to see you fly.     „Denkst du wirklich, dass Sam und Jack das alleine schaffen?“, fragte Dean und sah dabei zu, wie Cas den Waschlappen über dem Becken auswrang. Das laue Seifenwasser darin hatte sich inzwischen rostbraun gefärbt und Dean war ein wenig froh, dass er den Blick in den Spiegel gemieden hatte, bis Cas ihn, ganz nach Menschenart, gesäubert hatte.   „Natürlich. Sam besitzt die nötige Erfahrung und Jack muss allmählich lernen, seine Kräfte auch im Ernstfall richtig einzusetzen.“   Dean entging das leicht besorgte Stirnrunzeln nicht, als Cas sich wieder über ihn beugte, um ihm ein letztes Mal über das Gesicht zu tupfen. Dass sich der Engel Jack nicht angeschlossen hatte, war nicht nur eine Seltenheit, sondern auch ein gewaltiger Vertrauensbeweis gegenüber Sam. Vielleicht auch Zeugnis dessen, wie wichtig Dean Cas war. Und das hier, was auch immer das hier war, war eine äußerst merkwürdige Situation; vergleichbar mit nichts, was Dean bisher erlebt hatte – ganz gleich, ob mit Cas oder jemand anderem. Es hatte nichts damit gemein, wenn er und Sam sich gegenseitig ihre Wunden nach der Jagd säuberten; die Art der Vertrautheit war eine gänzlich andere.   Cas hatte ihn vorsichtig ins Bad geführt und ihn auf einen Stuhl vor eines der Waschbecken gesetzt. Dann war er verschwunden, hatte Dean aufgetragen, einfach sitzen zu bleiben und auf ihn zu warten. Dean konnte nur vermuten, dass Cas, während er selbst auf seine nackten Füße starrte und an dem Gürtel seines Morgenmantels herumspielte, mit Sam gesprochen, seinen Bruder mit Jack allein auf die Jagd geschickt hatte. Was die Erklärung für Sam, ob Deans abschiedslosen Zurückbleibens, gewesen war, wollte er sich lieber nicht ausmalen. Vielleicht hatte sein Bruder inzwischen auf der Suche nach ihm in sein Zimmer gesehen.   In dem Fall bitte einmal sterben, dachte Dean stöhnend und vergrub das verschmierte Gesicht in den Händen.   Als Cas zurückgekehrt war, hatte er nicht nur Seife, frische Handtücher und Waschlappen mitgebracht, sondern auch ein vollständiges Rasur-Set in einem von Sams Kulturbeuteln, wie Dean ziemlich genau wusste. Er beäugte es eine ganze Weile misstrauisch, wie das dunkelblaue Täschchen unschuldig und unangetastet neben dem Waschbecken stand – doch seine Aufmerksamkeit richtete sich schnell auf andere Dinge, als Cas damit anfing, ihm mit zärtlicher Bestimmtheit das Gesicht zu waschen.   „Leg den Kopf in den Nacken.“ Die Worte holten Dean in die Gegenwart zurück und es war ihre liebevolle Strenge, die ihn widerstandslos gehorchen ließ. Überrascht hörte er das unmissverständliche Geräusch der Pumpflasche, sah, wie Cas, nach einem kräftigen Schütteln, Rasiergel in seinen Handflächen verteilte.   „Uhm, Cas …?“   „Halt den Mund geschlossen und leg den Kopf in den Nacken, Dean. Es ist schon eine Weile her, seit ich das zum letzten Mal gemacht habe ...“   Mit vor Überraschung geweiteten Augen ließ Dean zu, dass Cas das aufgeschäumte Gel in sanft kreisenden Bewegungen auf seinen Wangen, über seinem Kiefer, am Kinn und über seiner Kehle verteilte. Cas‘ Blick folgte konzentriert seiner Arbeit und so fiel es Dean zum ersten Mal an diesem Tag, vielleicht zum ersten Mal seit Wochen, nicht schwer, seinem besten Freund tatsächlich offen ins Gesicht zu sehen. Der Anblick tat unbeschreiblich gut. Vielleicht waren es auch nur die massierenden Fingerspitzen, die ihn sich fühlen ließen, als würden sich seine Züge nach langer Zeit endlich wieder entspannen. Als würde sein Gesicht ein bisschen mehr zu ihm gehören. Ein Seufzer entwich ihm, ohne, dass er es bemerkte. Cas‘ ernster Ausdruck wurde von einem kleinen Lächeln erhellt und als Dean diesmal die Augen schloss, war es nicht, um sich selbst vor ihm unsichtbar zu machen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so … locker gewesen war.   „Warum tust du das?“, fragte er schließlich, als er das Gefühl hatte, dass Cas eigentlich längst fertig war, doch seine schaumigen Handflächen immer noch sacht an Deans Wangen gepresst hielt.   Er öffnete die Augen und sah gerade noch rechtzeitig, wie sich Cas‘ Zeigefinger auf seine Nasenspitze senkte, um sie mit einem weißen Klecks zu dekorieren.   „Hey!“   Dean tat empört, aber er gluckste leise. Das Lachen war ehrlich, auch wenn es seltsam schmerzte. Er ließ es schnell wieder sein, als er spürte, dass es sich nicht wie früher anfühlte, nicht die gleiche Erleichterung nach großer Anspannung verschaffte, nicht einmal annähernd so befreiend war.   Cas lächelte immer noch, als er sich abwandte und damit begann, sich die Hände zu waschen und das blutige Seifenwasser im Waschbecken abzulassen. Dean beobachtete sein Gesicht dabei im Spiegel, sah dabei zu, wie das Lächeln blieb, aber ernster wurde. Traurig.   „Ich möchte, dass du wieder du selbst wirst, Dean“, sagte er deutlich über das Rauschen und Gluckern des Wassers hinweg.   „Und ich möchte dir dabei helfen, so gut ich kann. Aber du musst es selbst tun“, schloss er bestimmt, stellte das Wasser ab und trocknete seine Hände an einem der mitgebrachten Handtücher.   „Es selbst tun“, wiederholte Dean und versuchte gleichermaßen, zu verarbeiten, was Cas ihm soeben eröffnet hatte, als auch nicht zu sehr darauf einzugehen. Das Thema wirkte heikel, unangenehm, ja, sogar gefährlich. So, als könnte man damit erneutes in Tränen Ausbrechen riskieren und das wollte Dean um jeden Preis vermeiden. Bis hierher war es ihm soweit ganz gut gelungen, zu ignorieren, dass er sich vor Cas in der letzten halben Stunde in so vielerlei Hinsicht bis auf die Knochen blamiert hatte.   „Was muss ich selbst tun?“   Er bereute die Frage bereits, bevor er den Mund wieder geschlossen hatte. Außerhalb seines Blickfelds hörte er Cas herumkramen, das ratschende Aufziehen eines Reißverschlusses, sah das Muskelspiel seiner breiten Schultern unter dem weißen Hemd. Tatsächlich hatte er Trenchcoat und Jackett für ihr gemeinsames Badezimmer-Abenteuer abgelegt und sogar die Hemdsärmel aufgekrempelt. Es war ein netter Anblick. Cas sah gut aus.   „Du musst von allein wieder zurück zu dir selbst finden“, sagte Cas und drehte sich mit dem Rasierer in der Hand wieder zu ihm um.   „Und leider kann ich dir nicht einmal den richtigen Weg zeigen.“ Ein Umstand, den Cas tief zu bedauern schien, wobei Dean den Grund dafür nicht sofort begriff.   „Ich kann dich höchstens bei der Suche begleiten, Dean. Und dir aufhelfen, wenn du denkst, dass du alleine nicht wieder hochkommst.“   Fuck.   Musste Cas eigentlich so derartig geschwollenen New Age Hippie-Mist von sich geben? Seine Worte stocherten schon wieder verdammt nah an Deans Tränendrüse. Oder in seiner Herzgegend oder woher auch immer diese albernen Tränen kamen, die sich in der letzten Zeit gerne in seine Augen stahlen, wenn er nicht zu genau aufpasste.   „Deshalb möchte ich, dass du dich rasierst, Dean. Jetzt.“   Hätte er gekonnt, hätte es nicht so sehr geschmerzt, hätte er die Kraft dazu besessen – Dean hätte Cas vermutlich ausgelacht. Der Engel stand vor ihm, hielt ihm auffordernd den Rasierer entgegen und musterte ihn abwartend mit einer stummen Mischung aus Hoffnung, Vertrauen und etwas, das entfernt an einen Befehl erinnerte. Dean sah zwischen dem silber-blauen Nassrasierer in Cas‘ Hand und seinem ernsten Gesicht hin und her. Schließlich war es der unterschwellige Befehl, der sein Innerstes genug ansprach, um darauf zu reagieren. Schwerfällig erhob er sich von dem Plastikstuhl, dessen Beine in der Stille des Badezimmers unangenehm laut über die Bodenfliesen schabten. Cas‘ Blick fest erwidernd, griff er nach dem Rasierer und wandte sich mit gemischten Gefühlen dem eigenen Spiegelbild über dem Waschbecken zu.   Dean musterte sich selbst, während er sich Wasser zum Rasieren ins Waschbecken einließ. Er versuchte, die geröteten Augen zu ignorieren und sich auf möglichst objektivere Dinge zu konzentrieren. Auf seiner Nasenspitze thronte beispielsweise noch immer der große Klecks dichten, weißen Schaumes, den Cas ihm aufgedrückt hatte. Ansonsten schien er gute Arbeit geleistet zu haben: Ohne, dass Dean sich dessen bewusst gewesen war, hatte der Engel bei der sanften Wäsche darauf geachtet, Haut und Bart einweichen zu lassen, um die Rasur zu erleichtern. Dean stellte das Wasser ab. Noch einmal suchte er Cas‘ Blick im Spiegel, bevor er tief Luft holte und die Klingen zum ersten Zug ansetzte.     *     You don't have to wander, I've finally discovered tonight, where we're at.     „Besser?“, fragte Dean mit dem vorsichtigen Versuch eines Grinsens, als er sich das letzte Bisschen überflüssigen Schaums abgewaschen hatte.   „Wieder … ich?“   Cas stand ihm gegenüber, vielleicht eine halbe Armeslänge entfernt, nah genug, so dass Dean seinen Atem auf dem frisch rasierten Gesicht spüren konnte. Seine Haut prickelte. Der Blick, mit dem Dean bedacht wurde, fühlte sich eigentümlich forsch an.   „Besser, ja.“   Cas nickte ernst.   „Aber noch nicht ganz wieder du. Sieh mich nicht so an, Dean. Du hast Wochen, vielleicht Monate und Jahre gebraucht, um so weit zu fallen. Es braucht mehr als eine Rasur, um dich da wieder herauszuholen.“   Die Worte brannten fast mehr, als wenn Cas ihm eine Ohrfeige gegeben hätte. Vor allem, weil sie die Wahrheit waren. Und, weil Dean sich nur allzu deutlich im Klaren darüber war, dass Cas genau wusste, wovon er sprach. Der Engel war selbst gefallen, hatte, gerade in seiner Zeit als Mensch, neue Abgründe kennen gelernt. Und er war beängstigenderweise in der Lage, Deans Seele zu sehen.   Dean schluckte.   „Die Haare kann ich mir aber nicht selbst schneiden, Cas“, nuschelte er und gab sich Mühe, dem Blick aus den traurigen blauen Augen weiter Stand zu halten.   Cas nickte erneut. Verstehend. Sie wussten beide, dass es um deutlich mehr als nur einen neuen Haarschnitt ging.   „Ich denke, das ist in Ordnung. Was hältst du davon, wenn du ein Bad nimmst, während ich dir etwas Sauberes zum Anziehen suche?“   Es war sehr unwahrscheinlich, dass Cas noch etwas halbwegs Brauchbares finden würde. Außerdem gefiel Dean die Vorstellung ganz und gar nicht, dass er dafür ein weiteres Mal den Saustall würde betreten müssen.   „Ich hab vorhin geduscht, Cas ...“, wagte er einen lahmen Protestversuch, den Cas mit einem einzigen Blick niederzuschmettern wusste.   „Es wird gegen deine Verspannungen helfen“, versprach der Engel und Dean war klug genug, nicht zu hinterfragen, woher er davon überhaupt wusste.   „Von mir aus“, gab er sich geschlagen. Fast war er im Begriff, sich den mit Blut und Rotz beschmierten Morgenmantel von den Schultern gleiten zu lassen, als ihm auffiel, dass Cas noch immer regungslos vor ihm im Raum stand und ihn aufmerksam ansah.   „Persönlicher Freiraum?“, half Dean nach und hielt den verrutschten Morgenmantel vor der Brust zusammen.   Cas neigte fragend den Kopf und starrte weiter. So lange, bis Dean schließlich verlegen von einem Fuß auf den anderen trat.   „Dean, ich weiß alles von dir. Es gibt nichts, was du vor mir verbergen könntest.“   Genau das machte es ja so schlimm.   „Schön, wenn du schon alles weißt und … gesehen hast, dann gibt‘s ja keinen Grund, dass du jetzt noch mal gucken musst, oder?“, fragte Dean und zwang sich dazu, Cas‘ wachen Blick möglichst herausfordernd zu erwidern.   Cas sah aus, als müsste er einen tiefen Seufzer unterdrücken.   „Wenn du so willst. Ich lasse dir noch das Wasser ein und lege dir dann die sauberen Sachen vor die Tür. Wenn du fertig bist, würde ich mich freuen, wenn du mir in meinem Zimmer Gesellschaft leistest.“     *     This is just the beginning, it's all that I'm tryin' to say, if I may. You're never in my way.     Die Sachen, die Dean nach seinem Bad vor der Tür entdeckte, waren nicht nur sauber – sie gehörten tatsächlich ihm. Dunkel erinnerte er sich daran, dass er sie einst Cas überlassen hatte, als dieser in seiner menschlichen Form Kleidung zum Schlafen gebraucht hatte. Eine etwas ausgeleierte Jogginghose und ein verblichenes Pink Floyd Band-Shirt lagen, nach Weichspüler duftend und fein säuberlich gefaltet, für ihn bereit. Unter der Hose fand Dean erstaunlicherweise seine Hausschuhe, die er schon seit zwei Wochen nicht mehr gesehen hatte. Er beeilte sich damit, sich anzuziehen und tapste mit gemischten Gefühlen den Gang entlang in Richtung Castiels Schlafzimmer, das der Engel als persönlichen Rückzugsort im Bunker nutzte. Trotz unverhohlener Neugier darauf, was ihn wohl auf der anderen Seite erwartete, verbrachte Dean beschämend lange Zeit vor der verschlossenen Zimmertür, während der er sich fragte, was ihn eigentlich daran hinderte, einfach die Hand zu heben und anzuklopfen. Ob Cas wohl bereits wusste, dass er sich hier die Beine in den Bauch stand? Vermutlich. Wie er bereits selbst gesagt hatte: Er wusste alles von Dean.   Trotzdem hatte er noch nicht das Weite gesucht. Immer noch nicht, obwohl sich in all ihrer gemeinsamen Zeit so viele Möglichkeiten dafür geboten hätten. Obwohl es dafür so viele Gründe gegeben hätte. Besonders jetzt. Vielleicht wäre es besser, wenn er selbst den entscheidenden Schritt machte und Cas den Rücken kehrte? Dann bliebe diese Aufgabe nicht an seinem besten Freund hängen …   In diesem Moment, fast so, als hätte er den Tiefpunkt in Deans trüben Gedanken gehört, schwang die Tür zu Cas‘ Schlafzimmer nach innen auf und der Engel selbst erschien an der Schwelle.   „Dean?“, fragte er und neigte wieder einmal auf so typisch fragende Weise den Kopf zur Seite. „Warum kommst du denn nicht herein?“   „Ich ...“, antwortete Dean, bevor er überhaupt wusste, was er darauf erwidern sollte.   Ich bin feige.   Das wäre wohl die einzig richtige Antwort gewesen.   Doch Castiel nickte nur, so als hätte er Dean auch ohne Worte verstanden. Mit einem kleinen Lächelnd trat er ein Stück zur Seite und öffnete die Tür weiter, so dass Dean an ihm vorbei das kleine Schlafzimmer betreten konnte. Es sah genau so aus, wie all die anderen Schlafräume im Bunker, bloß war es vielleicht der einzige, der durch das Fehlen von persönlichen Gegenständen erst seine tatsächliche Eigennote bekam: Das Zimmer war genauso minimalistisch eingerichtet, wie zu dem Zeitpunkt, als Cas es bezogen hatte, und abgesehen von seinem Trenchcoat und dem Jackett, die beide säuberlich über der Stuhllehne hingen, wies nichts im Raum darauf hin, dass überhaupt jemand hier wohnte. Es schrie förmlich nach dem Engel. Und seltsamerweise roch es irgendwie auch nach ihm. Dean war nie zuvor aufgefallen, dass Cas einen Eigengeruch hatte. Vor allem nicht, wie angenehm der war. Unauffällig hielt er sich davon ab, zu tief einzuatmen.   Was Dean jedoch am meisten überraschte, waren nicht der berauschend wohlige Duft oder Cas‘ nicht vorhandene persönliche Dekoration, sondern die Tatsache, dass das Bett aufgeschlagen war und eine Wärmflasche unter der Decke hervorlugte. Alles wirkte bereit, um sich sofort in die Laken sinken zu lassen.   „Was soll das denn, Cas?“, fragte Dean leise und und zog die Brauen hoch.   „Ich dachte mir, du seist vielleicht müde“, sagte Cas ruhig, nachdem er die Zimmertür hinter ihnen geschlossen hatte. Mit der Hand wies er galant in Richtung Bett, als habe er Dean einen Stuhl angeboten.   Das stimmte tatsächlich. Das Aufstehen war kaum ein paar Stunden her, doch Dean fühlte sich bereits so erschöpft, als sei er einen ganzen Tag auf den Beinen gewesen, ohne auch nur ein einziges Mal auszuruhen.   „Ich hab selber ein Zimmer“, hörte Dean sich trotzig erwidern, ohne dass er sagen konnte, woher er auf einmal die Kraft für dieses Auflehnen nahm. Seine eigenen Worte ließen ihn augenblicklich zusammenzucken. Wäre Cas nicht Cas gewesen, hätte sein Gegenüber ihn im Anbetracht des Durcheinanders in seinem Schlafraum vermutlich gnadenlos verhöhnt.   „Sorry, Cas. Ich weiß, du willst nur helfen“, murmelte Dean schließlich mit hängenden Schultern, nachdem sie beide einen Moment lang geschwiegen hatten.   „Dann bitte ich dich, dir auch von mir helfen zu lassen“, sagte Cas und es klang tatsächlich wie eine Bitte. Dean zögerte.   Was hab ich noch zu verlieren? Er hat schon alles gesehen ...   „Kay. Ja. Gut“, sagte Dean.   Er ließ zu, dass Cas ihn, mit einer Hand am Rücken, zum Bett führte und ihm dabei half, sich auf der Matratze auszustrecken, so als sei er ein alter Mann und nicht 40. Er machte sogar Anstalten, die Decke über Deans Körper auszubreiten, hielt dabei jedoch für den Bruchteil einer Sekunde inne. Es fiel Dean trotzdem auf.   „Na, was ist?“, fragte er müde und schaffte den Anflug eines spöttischen Lächelns. „Doch nicht bereit, jetzt den ganzen Weg zu gehen?“   Sobald ihm klar wurde, welche Art von Herausforderung da seinen Mund verlassen hatte, war Dean dankbar, dass Cas die Doppeldeutigkeit dahinter entgangen zu sein schien. Erstaunlicherweise begriff er seine Worte aber wohl dennoch als Herausforderung, denn der Engel tat etwas, was Dean bisher selten bei ihm gesehen hatte: Er schob trotzig das Kinn vor. Außerdem schien er, den Bewegungen seiner Beine nach zu urteilen, seine Schuhe vor dem Bett abzustreifen. Dann kletterte ohne Umschweife neben Dean auf die Matratze und zog die Decke über sie beide. Dean war sprachlos und, zugegeben, ein klein wenig beeindruckt. Cas besaß eindeutig mehr Courage als er.   Vollkommen regungslos und stumm lagen sie nebeneinander auf dem Rücken, ohne sich auch nur ansatzweise unter der Bettdecke zu berühren. Cas neben ihm wirkte eher wie ein Brett als eine menschliche Gestalt, mit der er das Bett teilte.   „Liegst du bequem?“, konnte Dean es sich nicht verkneifen, zu fragen und rutschte ein wenig auf der Wärmflasche hin und her, die Cas ihm zuvor noch unter den Nacken geschoben hatte. Ihr flüssiger Inhalt gluckerte bei der Bewegung laut und er zwang sich erneut, still zu liegen.   „Ich nehme es an. Was ist mit dir?“, gab Cas zurück und klang unsicher dabei.   Dean grunzte statt einer Antwort und erneut schwiegen sie eine Weile. Mit der Zeit verlor die Stille ihren lauernden Unterton; er merkte, wie er sich auf der Hitze der Wärmflasche zu entspannen begann und wie gut es tat, sauber und gepflegt in einem frisch bezogenen Bett zu liegen. Mit seinem besten Freund an seiner Seite.   „Also … warum liegen wir noch mal zusammen in deinem Bett? Mitten am Tag?“, flüsterte Dean irgendwann und spürte, dass das Grinsen, das sich in sein Gesicht stehlen wollte, wieder ein echtes war.   Aus dem Augenwinkel sah er, wie Cas den Kopf auf dem Kissen nach ihm umdrehte. Er schien sorgfältig über seine Antwort nachzudenken, und nahm sich dabei so viel Zeit, dass Dean unruhig wurde. Die Wärmflasche kommentierte sein Zappeln mit einem warnenden Glucksen.   „Vielleicht ist es gut, wenigstens bei einer Sache im Leben aufzuräumen. Sich nicht mehr zu verstecken. Meinst du nicht auch, Cas?“, platzte es aus ihm heraus.   „Meinst du damit dein Zimmer oder ist es eine Metapher?“, fragte Cas trocken.   Dean wand sich ertappt. Noch mehr Gluckern. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis jemand die Dinge beim Namen nannte. Trotzdem waren da wieder dieser Scham und das Gefühl des Versagens. Wieso ließ diese eklige Leere in ihm eigentlich nur solche Gefühle zu? Wieso konnte er nicht einfach genießen, dass er eine Ausrede hatte, einvernehmlich neben Cas zu liegen, ohne, dass sie dabei zu viele seiner inneren Grenzen überschritten?   Das ist so unfair. Ich brauche … Ich brauche irgendetwas. Jemanden.   „Beides“, murmelte Dean schließlich dumpf, inzwischen so tief abgetaucht, dass die Bettdecke bis über seinen Mund reichte. Und dann: „Ich brauche dich!“, als wäre etwas von seinen verzweifelten Gedanken übergelaufen und aus seinem verräterischen Großmaul geschwappt, ohne, dass er etwas dagegen tun konnte. Leider reichte die Decke nicht aus, um die Bedeutung seiner Worte zu dämpfen, leider machte sie sie nicht ungesagt, und zu all dem besaß Castiel leider auch ein übermenschliches Gehör. Für einen winzigen Moment sehnte Dean sich nach seinem eigenen Zimmer zurück. Nach der Whiskeyflasche am Bett.   Cas neben ihm atmete hörbar aus, bevor er sich zu ihm herumdrehte, ganz herumdrehte, bis er auf der Seite lag, Dean direkt ansehen konnte. Dean starrte eisern zur Zimmerdecke hinauf. Wieso hatten sie eigentlich das Licht angelassen?   „Ich weiß, Dean“, sagte Cas endlich leise, seine tiefe Stimme nicht mehr als ein weiches Brummen, ganz in der Nähe von Deans Ohr. „Ich weiß, und ich … brauche dich auch.“   Da waren sie wieder. Tränen, diese Miststücke. Er fühlte, wie sie sich in seinen äußeren Augenwinkeln sammelten, bis sie seine Schläfen hinunterliefen und in seine Ohrmuscheln landeten. Er hätte sie gern fort gewischt, doch vielleicht half es einfach, wenn er sie nur entschlossen genug ignorierte. Es war Cas, der sich seiner schließlich erbarmte, mit dem Handrücken sein Gesicht trocknete. Es wäre Deans Job gewesen, zurückzuweichen. Zusammenzuzucken. Irgendetwas. Doch er ließ es einfach geschehen, presste sein Gesicht schamlos in die Berührung hinein.   „Dean, ich möchte, dass du weißt, dass es nicht dein … Zustand ist, der uns an diesen Punkt geführt hat. Ich handele weder aus Mitleid, noch steht mir im Sinn, deine Lage auf irgendeine Weise auszunutzen.“   Dean schnaubte. Dank seiner laufenden Nase klang es ein wenig zu feucht, aber es schien Castiel nicht zu stören. Zumindest nahm er seine Hand nicht fort, die ihren Weg inzwischen in seine zu langen Haare gefunden hatte.   „Weiß ich doch, Cas. Genau das meinte ich. Aufräumen. Klar Schiff machen. Wenigstens … hierbei -“   Cas‘ Fingerspitzen waren so viel besser als der harte Wasserstrahl unter der Dusche. Deans Kopf fühlte sich unter ihren streichelnden, kraulenden Bewegungen auf einmal so herrlich leer gefegt an, dass er mitten im Satz abbrach.   Er hatte die Augen geschlossen und sah den Kuss nicht kommen. Doch als er Cas‘ Lippen auf seinen spürte, dachte er diesmal nicht daran, zurückzuweichen oder zusammenzucken. Cas küsste behutsam, zögerlich, aber mit einer erstaunlichen Selbstsicherheit, die dafür sorgte, dass Dean das Herz bis zum Hals schlug. Als Cas sich von ihm löste und Dean die Augen wieder öffnete, war der Abstand zu ihren Gesichtern immer noch so gering, dass ein weiterer Kuss unausweichlich schien. Eine seltsame Eingebung von Sehnsucht ließ Dean Anstalten machen, seine sich gerade erste lockernde Verspannung zu ignorieren, sich ungelenk auf der Matratze aufzurichten, Cas entgegenzukommen, um ihn erneut zu küssen. Doch Cas hielt ihn mit einer Hand zurück.   „Du solltest jetzt schlafen.“   Dean ließ sich zurücksinken.   War das ‘ne Abfuhr?   „Darum sind wir doch hier. Ruh dich aus, Dean.“   Dean brummte etwas, gab sich Mühe, nicht den Eindruck zu erwecken, er sei beleidigt.   „Also ‚wachst du über mich‘, während ich schlafe?“   Cas schien erstaunt.   „Immer, Dean. Nicht nur, während du schläfst.“   „Aaawww, das ist rührend -“ Bevor Dean weiter spotten konnte – denn überraschenderweise schien er diese Fähigkeit zurückerhalten zu haben, zumindest kurzzeitig – brachte Cas ihn mit einem weiteren Kuss zum Schweigen. Und dann mit noch einem.     *     And all I can say is you save me, changed all the things that have made me,   entertaining,   thoughts are raining, down we fall.   Entertaining, thoughts are raining, down we fall.     ~*~ fall and rise. -------------- Heart beats fast Colors and promises How to be brave? How can I love when I'm afraid to fall ?     Im Schlaf war Deans Stirn gegen Castiels Schlüsselbein gesunken. Der Engel spürte die tiefen, ruhigen Atemzüge des Jägers auf seiner Brust; ein wiederkehrender Hauch von Wärme durch den Stoff seines Hemdes, das sich plötzlich so störend auf der Haut seiner fleischlichen Hülle anfühlte. Kleidung, ein merkwürdiges, jahrtausendealtes Konzept der menschlichen Kultur. Für Castiel in diesem Moment mehr ein lästiger Fremdkörper, der verhinderte, dass er Dean noch näher sein konnte.   Castiel seufzte leise und hob die Hand, um damit durch Deans dichtes Haar zu fahren. Obwohl er sein Gesicht nicht sehen konnte, spürte er deutlich, dass der Schlaf friedlich war. Castiel ließ sich von der Illusion nicht beirren; so schnell, wie der Traum zu einem Alptraum werden konnte, so schnell konnte Dean auch aus seinem friedlichen Schlummer erwachen. Was bedeutete, dass es mit dem Frieden, den sie beide so dringend brauchten, umgehend vorbei wäre. Castiel widerstand der großen Versuchung, in den Schlaf des Jägers einzudringen, um in seinem Geist nach dem Rechten zu sehen, seiner Seele durch die eigene Anwesenheit auf einer noch tieferen Ebene Trost zu spenden. Äußerst widerwillig hielt er sich aus dem dem Traum heraus, gab sich Mühe, Dean so viel persönlichen Freiraum wie möglich zu gewähren. Ihren innigen körperlichen Kontakt hatte er zwar zugelassen, aber der Engel war sich nicht sicher, wie er zu jeder Art von Nähe stehen würde, die darüber hinausging. Die jenseits des Menschlichen war. Er konnte es sich jedoch nicht verkneifen, dann und wann ein Quäntchen wohlwollende Gnade in den Traum hinein zu schicken. Nur für den Fall ... Castiel seufzte erneut, ließ die hellen Haarsträhnen seines Lieblingsmenschen durch die Finger gleiten, die in den letzten Wochen ungehindert länger geworden waren und den Engel jetzt am Kinn kitzelten. Es kümmerte ihn nicht, wie Dean seine Haare trug, aber es schmerzte ihn zutiefst zu wissen, dass der Jäger sich vor noch nicht allzu langer Zeit für diese Art von Nachlässigkeit selbst verspottet hätte, hätte er sich so sehen können.   Castiel hielt inne, als seine Fingerspitzen zu Deans Schläfe gewandert waren. Deutlich spürte er die Struktur des Schädelknochens unter den Fingerkuppen, die ihm Jimmy Novak, zusammen mit einem menschlichen Tastsinn, vererbt hatte, und die so gänzlich anders waren, als alles an der Gestalt, in der er vor Millionen von Jahren seine Existenz begonnen hatte. Genau so, wie sich die Struktur seines wahren Körpers auch von Deans unterschied. Er spürte die Wölbung des Stirnbeins unter einer weichen Braue, spürte, wie sich die menschliche Haut dünn und glatt über dem Schädel spannte. Zerbrechlich. Sein Dean war so unendlich zerbrechlich. Es bräuchte kaum mehr als einen winzigen Stupser an himmlischer Macht, um den Schädel unter den Fingern seiner Hülle zum Bersten zu bringen. Doch die Berührungen, die er Dean im Schlaf zuzumuten wagte, waren Gesten des Heilens. Sie sorgten dafür, dass Deans Traum friedlich blieb.     But watching you stand alone All of my doubt, suddenly goes away somehow   Das Gefühl, Deans Leben, seinen Geist und seine Seele ein weiteres Mal in Händen zu halten, brachte Castiels Herz fast zum Überlaufen. Das menschliche, heftig schlagende Herz in seiner Brust, das nie Novak gehört hatte. An dem Tag, als er Dean Winchester aus der Hölle befreit und seine errettete Seele in den wiederbelebten Körper zurück gepflanzt hatte, war etwas mit Castiel passiert. Er hatte beinahe ein halbes Jahrzehnt gebraucht, um es zu begreifen, hatte fallen und Mensch und wieder Engel werden müssen, um sich bewusst zu werden, dass er unwiderruflich und unbestreitbar den Menschen liebte, für den er alles aufgegeben hatte. Und es für Dean wieder tun würde.   Das Herz der Hülle, die er nun sein Eigen nannte, hatte nie Castiel gehört, nicht eine Sekunde lang. Das Organ raste in seiner Brust, erfüllt von Glück und Hoffnung, Dank der unerwarteten Nähe und des inneren Echos der zarten, unbeholfenen Küsse, die er mit Dean hatte teilen dürfen, bevor der Jäger vor Erschöpfung mitten in ihrem letzten Kuss eingeschlafen war. Er hatte nicht einmal die Lippen von den seinen gelöst; es war Castiel gewesen, der schließlich von Dean abgelassen hatte, um ihm die Ruhe zuzugestehen, die er so offensichtlich benötigte. Doch da war noch mehr, mehr Menschlichkeit, mehr als Freude und Sehnen in seiner Brust, während er Dean im Arm hielt, um über seinen Schlaf zu wachen. Das eigenartige Gefühl, das ihn der Winchester schon vielfach gelehrt hatte, ließ sich am besten als Schmerz beschreiben. Schmerz, wohl ob all des Kummers, den Dean seit so langer Zeit mit sich herum schleppte, dass Castiel kaum anders konnte, als mit ihm zu leiden.   One step closer …   Wenn Dean doch nur nicht so stur wäre. Wenn er sich doch mehr gegenüber denjenigen öffnete, die ihn liebten. Wenn. Aber dann wäre sein Dean nicht Dean. Ein dritter Seufzer entwischte seinen Lippen, vielleicht der bekümmertste von allen, und er nahm behutsam die Hand von Deans Schläfe. Das Gefühl, einem anderen Wesen aus der Schöpfung seines Vaters so sehr überlegen zu sein und dessen Wohlergehen doch über alles zu stellen, was Castiel lieb und heilig war, konnte überwältigend sein. Und es sorgte dafür, dass sich der Engel in diesem Moment unbeschreiblich hilflos und unbedeutend vorkam. Er besaß die Macht, immer noch die Macht, Dean Winchester zu zerstören. Doch er sah keine Möglichkeit, ihn zu retten, seine Seele zu heilen. Was waren die verbliebenen Reste seiner Gnade dann noch wert, wenn sie ihm nicht dabei halfen, seine selbst gewählte Bestimmung zu erfüllen? Stattdessen blieb ihm nur, den verbohrten Jäger im Arm zu halten und über seinen Schlaf zu wachen. Es fühlte sich wie Geschenk und Strafe gleichermaßen an. Aber das war sie wohl, dieses menschlichste aller Dinge, diese Herzensangelegenheit, die Castiel einen Puls bescherte, Träume in seinen schlaflosen Nächten, Fantasien, trotz seines übermenschlichen Geistes. Dieses Ding namens Liebe.     I have died everyday, waiting for you Darling, don't be afraid, I have loved you for a thousand years I'll love you for a thousand more     *     Dean erwachte einige Stunden später. Es war bereits Abend geworden, wie Castiels untrügliche innere Uhr ihm ungefragt verriet, obwohl sie sich im Bunker unter Tage befanden. Er konnte spüren, wie Dean sich für einen Moment im Halbschlaf noch enger in seine Arme schmiegte, sich der Länge nach an den Körper des Engels presste. Castiel widerstand dem eigenen Sehnen, sich Dean bei dessen Suche nach Nähe entgegen zu drängen. Er wusste, dass nach wie vor die Möglichkeit bestand, Dean zu verschrecken; davor bewahrte sie auch die Tatsache nicht, dass sie nur wenige Stunden zuvor erste Zärtlichkeit ausgetauscht hatten. Castiels Selbstbeherrschung war zwar groß, aber sie reichte nicht aus, um der Versuchung zu widerstehen, die Arme etwas enger um den lebendigen, warmen Körper zu schließen. Trost spenden, ohne selbst bedürftig zu erscheinen. Und Dean, Dean ließ es auf wundersame Weise geschehen, während Castiel spürte, dass sich dessen Bewusstsein immer mehr aus dem Schlaf heraus kämpfte. Er hörte ein leises Brummen, eine Mischung aus wohligem Seufzen und wortlosem Widerwillen, das bis in seine Brust hinein vibrierte, ihm wie durch Mark und Bein ging. Gänsehaut, stellte Castiel nüchtern fest, als er die anregenden Schauer spürte, die ihm über den eigenen Oberkörper krochen. Die Menschen nennen es Gänsehaut. Bilder von Vögeln mit frisch ausgerissenen Federn zogen an seinem inneren Auge vorbei und er verstand die Analogie hinter der Metapher, obwohl ihm bei der Vorstellung von geflügelten Wesen, denen man das Gefieder auf solch barbarische Weise geraubt hatte, ganz anders zumute wurde. Wenigstens half ihm die Abscheu dabei, die Wogen seiner aufgepeitschten Emotionen wieder etwas zu glätten. „Morgen, Cas.“ Deans Stimme klang belegt und halb erstickt. Durch die Lippenbewegung spürte Castiel, dass er den Mund an seine Brust gepresst haben musste, wie im Anflug eines weiteren Kusses. Oder interpretierte er da zu viel hinein? Wieder verwehrte ihm seine Kleidung die Möglichkeit der ungehinderten Nähe. Zumindest war es einfach, sich einzureden, dass es darüber hinaus nichts gab, was sie voneinander trennen könnte. Nur eine Schicht Stoff. Keine internalisierten Zweifel und Ängste, keine menschlichen Konventionen, Traumata, übernatürlichen Einflüsse. Bloß das Hemd eines toten Mannes.   „Guten Abend, Dean“, erwiderte er schlicht und lockerte seinen Griff um den Jäger ein wenig, was diesen plötzlich spürbar innehalten ließ. Gedanken rasten durch Deans Geist, so laut, dass Castiel sich Mühe geben musste, nicht zu genau hinzuhören. In jedem einzelnen von ihnen schwang sein Name mit, klar und unmittelbar wie ein stummes Gebet, das Dean unwillentlich an ihn sandte. Er konnte nicht verhindern, dass ihn einige Bruchteile direkt erreichten, egal, wie sehr er sich für sie zu verschließen versuchte.   … hier mit Cas?   … okay?   Was denkt …?   … schuld. Wenn Cas ...   Vielleicht findet er das hier …?   … Cas ...   „Wie fühlst du dich jetzt?“, fragte der Engel, um das Wirrwarr aus Beschämung, Sorge, Reue, Hoffnung und Sehnsucht zum Verstummen zu bringen. Und tatsächlich schien Dean über seine Frage nachzudenken, denn das Echo seiner Gedanken ließ sich nun viel leichter ausblenden, so dass es Castiel gelang, ihm mehr Privatsphäre zu gewährleisten.   Dean atmete hörbar aus; ein Strom heißer Luft, der auf Castiels Schlüsselbein traf und abermals dafür sorgte, dass sich die Härchen auf seinen Unterarmen aufstellten. Seiner menschlichen Hülle gefiel die Nähe offensichtlich sehr, auch wenn Sorge und ein unbestreitbarer Beschützerinstinkt verhinderten, dass er sich ihrem Genuss vollends hingab. Um sich abzulenken, rief sich der Engel wieder die Metapher der federlosen Nutzvögel ins Gedächtnis.   „Gu- … Mir geht‘s - … Ich bin okay, Cas“, antwortete Dean schließlich. Eine für ihn so typische, alles überspielende Antwort, dass Castiel sie zumindest als Zeichen dafür nahm, dass es ihm vermutlich nicht schlechter ging, als noch wenige Stunden zuvor. Vielleicht war es besser, nicht weiter darauf einzugehen, sondern sich darauf zu konzentrieren, einen Weg zu finden, der es Dean ermöglichte, weiterzumachen. Es erschien sinnvoll, zunächst eine sichere, stabile Basis zu schaffen, bevor man davon sprechen konnte, langfristig Besserung zu erreichen. Ein Monster pro Tag verhinderte nicht die Apokalypse, aber beseitigte zumindest jeden Widersacher, der einem bei der Rettung der Welt in die Quere kommen konnte.   Castiel nickte einmal; seine Bartstoppeln ein rauer Widerstand für die weichen, frisch gewaschenen Strähnen, als sein Kinn die wirren Haare unter sich streifte. „Du solltest etwas essen“, schlug er vor. Da von Dean weder Protest noch Zustimmung kamen, entließ er ihn vorsichtig aus der Umarmung und schlug die Bettdecke über ihnen zurück. Kühle Raumluft empfing sie, doch Dean schien es kaum zu spüren. Er hatte sich auf der Matratze zusammengerollt, die kalte Wärmflasche von letzter Nacht irgendwo vergessen am Kopfende, und starrte ins Leere, reagierte nicht einmal, als Castiel sich erhob, um sich die Schuhe wieder anzuziehen. Die Fußböden im Bunker waren durchweg kalt und obwohl es seiner Hülle nicht schadete, barfuß oder auf Strümpfen durch die Gänge zu streifen, fühlte es sich nicht richtig an, außerhalb des Bettes keine Schuhe zu tragen. Er strich sich das Hemd glatt und setzte sich mit dem Rücken zu Dean auf die Bettkante. Wieder war es Hilflosigkeit, die in ihm aufwallte, und das unschuldige Gefühl von Zärtlichkeit niederrang, das ihn beinahe dazu bewogen hätte, die Hand nach Dean auszustrecken. Stattdessen stützte er sich mit ihnen hinter sich auf der Matratze ab.   „Dean ...“, begann er erneut, obwohl er nicht wusste, was weitere Worte noch ausrichten konnten. Aber vielleicht war es einen Versuch wert, die Strategie zu wechseln. Bisher, seit Beginn ihres außergewöhnlichen Beisammenseins am Vormittag, hatte er Dean ausschließlich Anweisungen gegeben, was zu tun war, hatte das Ruder für ihn übernommen, wie ein General für seinen Untergebenen. Rasieren, Baden, Schlafen. Weil er davon ausgegangen war, dass es genau das war, was Dean brauchte – jemanden, der ihn führte, jemand, der ihm einen Auftrag erteilte. Castiel wusste, was es mit einem Lebewesen machte, das als Soldat aufgewachsen war und das kein anderes Dasein kannte; dabei machte es keinen Unterschied, dass sie völlig unterschiedlichen Spezies angehörten. Der Engel hatte sowohl selbst gedient, als auch höhere Positionen in den himmlischen Heerscharen bekleidet. Als er mit Deans Hilfe den freien Willen für sich entdeckt hatte, war die Führungslosigkeit für lange Zeit mehr Hindernis für ihn gewesen, als dass er sich wahrhaftig frei gefühlt hätte. Und wenn er, Castiel, nun selbst wieder wie ein Soldat auf dem Schlachtfeld dachte, der merkte, dass seine bisherige Taktik nicht mehr bei Dean ausrichtete, als dass er sich willenlos seinen Aufforderungen fügte …   Nun, vielleicht war dieser Weg für die Zukunft noch einmal hilfreich. Wenn sie endlich zu dem Punkt gelängen, an dem es darum ging, neue Perspektiven, einen endgültigen Ausweg aus der ganzen Misere zu finden. Aber lediglich zu funktionieren und das eigene Leid hinter vorgespielter Routine zu verbergen, das hatte Dean schließlich auch ohne Castiels Hilfe bewerkstelligt.   „Dean, ich werde dir jetzt eine Frage stellen“, sagte Castiel langsam, behutsam, doch gab sich Mühe, seiner Stimme einen festen, bestimmten Klang zu geben. „Und ich möchte, dass du gründlich darüber nachdenkst und mir dann eine vollkommen ehrliche Antwort gibst.“ Dean reagierte nicht, doch er wusste, dass er ihm zuhörte. Castiel zögerte. Wie weit konnte er mit seiner Bitte gehen? „Zumindest so ehrlich, wie es dir möglich ist. Kannst du das für mich tun?“ Der letzte Teil hatte vielleicht ein klein wenig zu unsicher geklungen, zu wenig von dem Halt widergespiegelt, den Castiel eigentlich vermitteln wollte. Doch seine Worte schienen Dean erreicht zu haben, denn obwohl er dem Jäger von der Bettkante aus den Rücken zukehrte, konnte er spüren, dass der den Kopf von der Matratze gehoben hatte und ihn ansah.   „Kay, Cas. Schieß los.“   Deans Stimme klang noch immer rau und erschöpft, was diesmal unmöglich an seiner Müdigkeit liegen konnte, oder daran, dass er erst kurz zuvor erwacht war. Castiel wandte den Kopf nach ihm um. Irgendwie trafen sich ihre Hände auf der Matratze und Dean griff zu, hielt mit mehr Kraft und Nachdruck an ihm fest, als der Engel es ihm in seinem derzeitigen Zustand zugetraut hätte. Vielleicht zogen sie beide gleichermaßen viel aus der Berührung, die soweit entfernt von dem schien, was sie sich insgeheim beide in diesem Moment gewünscht hätten. Und doch war es im Augenblick vielleicht schon mehr als genug.     Time stands still Beauty in all [he] is I will be brave I will not let anything, take away What's standing in front of me Every breath, every hour has come to this     „Was brauchst du, Dean, was glaubst du, was dir heute Abend am meisten helfen würde?“, fragte er endlich in die Stille hinein. Und mit diesen Worten überließ Castiel, Engel des Herrn, einem kranken, zweifelnden, sündhaften Menschen die Führung; dem einen Menschen, der nicht nur die Finger seiner Hülle in stillschweigendem Flehen zwischen den seinen zerquetschte, sondern auch noch Castiels heftig schlagendes Herz in unsicheren Händen hielt.     One step closer …     *     Es geschah beinahe wie von selbst, und war weder für Castiel noch für Dean eine bewusste Entscheidung, doch in den darauffolgenden Tagen bis zu Sams und Jacks Rückkehr entwickelte sich zwischen ihnen eine Art Ritual, das ihnen dabei half, jeden weiteren Morgen auf ein Neues zu bestreiten.   Die Nächte verbrachte Dean nur noch im Bett des Engels. Er hatte es sich inzwischen angewöhnt, seine übliche Kleidung am Abend gegen T-Shirts und Sweatpants von Dean auszutauschen, um das Zubettgehen für sie beide natürlicher, für Dean vor allem bequemer zu gestalten. Sie sprachen weder darüber, dass der Jäger inzwischen ausschließlich in seinen Armen schlief, noch darüber, dass sie beim ersten Mal ‚rumgeknutscht‘ hatten, ‚wie unerfahrene Teenie-Gören‘, wie Castiel unfreiwillig aus Deans schambehafteten Gedankengängen aufschnappte. Das Herumknutschen geschah darüber hinaus kein weiteres Mal, und obwohl Castiel diesen Umstand mit einem gewissen Bedauern zur Kenntnis nahm, hütete er sich davor, Dean mit weiteren Avancen zu bedrängen. Stattdessen gab er sich Mühe, ihm mit der unschuldigen Intimität ihrer gemeinsamen Nächte den Rückhalt zu geben, den Dean brauchte. Gleichzeitig versuchte er, dankbar dafür zu sein, dass sie sich nach so langer Zeit endlich, endlich näher gekommen waren, als bis auf ein freundschaftliches Schulterklopfen.   Wenn Dean erwachte und sich nach einigen viel zu kurzen Augenblicken des friedlichen Dösens aus Castiels Armen wand, so als missgönne er sich selbst diese Art von Zärtlichkeit, fragte Castiel ihn stets danach, was Dean am meisten zu brauchen glaubte. Und, wie durch ein kleines Wunder, nahm Dean sich an jedem einzelnen Morgen die Zeit, um über die Frage nachzudenken und Castiel eine ehrliche, wenngleich knurrige Antwort darauf zu geben. Manchmal erschienen sie dem Engel als wenig hilfreich im Bezug darauf, was er mit seiner Frage eigentlich erreichen wollte. „Koffein“, oder „Klo“, „Whiskey“, „‘ne Dusche“ und „Zahnbürste“ waren die häufigsten Antworten und selten schwang in ihnen ein deutlicher Hauch bitterer Zynismus mit, den Castiel ebenso zu verdrängen versuchte, wie die Sorge um seinen besten Freund.   Am zweiten Morgen, an dem Dean in Castiels Bett aufgewacht war, war die Antwort jedoch überraschenderweise: „Ich will mit Sam sprechen.“ gewesen. Also hatte Castiel ihm sein Smartphone gereicht und sich aus dem eigenen Zimmer zurückgezogen, um Dean ungestört mit seinem Bruder telefonieren zu lassen, während er die Zeit genutzt hatte, um für sie beide Kaffee aufzusetzen. Als Dean schließlich in Unterwäsche und den Hausschuhen, die ihm Castiel aus dem selbst verursachten Durcheinander gesucht hatte, in der Küche aufgetaucht war, wirkte er tatsächlich so, als sei es dem Jäger ausnahmsweise etwas leichter ums Herz. Kein dauerhafter Zustand, aber doch eine deutlicher Lichtblick für sie beide. Es ging nicht immer nur weiter bergab. Vielleicht gab es Hoffnung.   Als der Tag der Rückkehr von Sam und Jack anbrach, überraschte Deans Antwort Castiel erneut. Entgegen der sonstigen Ruppigkeit, mit der er die wiederkehrende Frage beantwortete, schien er diesmal nahezu kleinlaut.   „Ich will nicht, dass das hier aufhört“, murmelte er gegen Castiels Schulter, lange bevor er sich diesmal aus der Umarmung befreit hatte. Der Engel musste nicht fragen, was genau Dean meinte und statt einer Antwort warf er seinen eigenen Vorsatz der Zurückhaltung für den Moment über Bord, um Dean einen flüchtigen Kuss aufs schlafzerzauste Haar zu drücken. Das Zusammenziehen in ein gemeinsames Schlafzimmer schien somit besiegelt; daran konnten auch Deans unausgesprochene Ängste vor der Reaktion seines Bruders über dieses Arrangement nichts ändern. Allerdings änderte es auch nicht das Geringste an dem Zustand von Deans Zimmer oder daran, dass der Jäger nach wie vor unter seiner selbst litt.     *     „Was brauchst du, damit du den heutigen Tag überstehen kannst?“, fragte Castiel leise gegen Deans Scheitel. Er atmete unauffällig ein. Die Haare verströmten einen schwachen Geruch von künstlichem Zitrusaroma; Deans liebstem Shampoo, wie Castiel inzwischen genau wusste. Nicht ohne einen gewissen Stolz registrierte der Engel, dass es Dean inzwischen wieder gelang, sich ohne Aufforderung regelmäßig um die eigene Körperhygiene zu kümmern. Man konnte die unterschiedlichen Duftstoffe menschlicher Hygieneprodukte durchaus liebgewinnen, wenn man sie mit einer ganz bestimmten Person verband. Vor allem, wenn sie bedeuteten, dass diese Person sich selbst nicht mehr so gleichgültig war, dass sie mit der eigenen Nachlässigkeit ihre Gesundheit aufs Spiel setzte. Dennoch waren besagte Düfte nicht einmal halb so unverwechselbar und exquisit wie das Zusammenspiel aller Facetten, die Dean eben wie Dean riechen ließen. Castiel war überaus dankbar, dass das Lieblingsshampoo nicht ausreichte, um den natürlichen Geruch des Jägers vollends zu überdecken.   Er hatte selbst die Augen geschlossen, genoss die Schwärze hinter den Lidern, die ihm ermöglichte, sich noch mehr auf die Nähe seines Jägers zu konzentrieren. Statt nebeneinander, wie normalerweise, lag Dean diesmal auf ihm, Kopf und Oberkörper beruhigend und in lebendiger Schwere auf Castiels Brust gebettet. Sie atmeten im selben Rhythmus, ein seltsam friedliches, gleichzeitig wie elektrisierendes Gefühl, und er konnte nicht mit Sicherheit sagen, wessen laut pochendes Herz es war, dessen Echo er im ganzen Körper widerhallen spürte.   Dean regte sich träge. Es war, als hätte er den Kampf gegen sich selbst aufgegeben; zumindest, was diese eine Sache betraf. Er mochte sich selbst als unwürdig für die Nähe zwischen ihnen erachten, doch es gelang ihm nicht, sich weiterhin dagegen zu wehren, dass er sie genau so sehr wollte, wie Castiel. Der Engel lächelte mit geschlossenen Augen vor sich hin, als er spürte, wie schwielige Fingerspitzen zaghaft über seinen bloßen Unterarm strichen. Als sie bei seiner Hand angelangt waren, griff Castiel zu. Schnell und fest, was Dean ein überraschtes Grunzen entlockte.   „Monster“, nuschelte er und Castiel spürte, wie er den Kopf von seiner Brust hob. Er lockerte seinen Griff ein wenig und registrierte mit Genugtuung, dass Dean wie selbstverständlich ihre Finger miteinander verschränkte.   „Hey, Cas … Schläfst du?“ Seine Stimme klang mit einem Mal wacher, überrascht, nahezu forsch.   „Nein, Dean. Ich bin ein Engel. Ich schlafe nicht“, murmelte Castiel zurück, jedoch ohne die Augen zu öffnen, da er sich plötzlich tatsächlich beinahe schläfrig fühlte. Dieser Moment, die Gefühle, die darin mitschwangen, das alles hier war viel zu kostbar, um der Verlegenheit und Irritation die Augen zu öffnen, die ohne Zweifel in Deans Gesicht auf den Engel warteten, sobald er sich der Veränderung ihres Rituals, der neuen, noch innigeren Nähe zwischen ihnen, zu sehr bewusst wurde.   „Was war das mit einem Monster?“   Er wartete einige Atemzüge auf Deans Antwort, konnte nun deutlich spüren, dass der gemeinsame Rhythmus durchbrochen war. Deans Atmung ging plötzlich etwas schneller, flacher. Ein trockenes Schnalzen verriet ihm, dass sich der Jäger über die Lippen geleckt haben musste. Castiel entließ die Hand vollends aus seinem Griff, tastete stattdessen blind, aber zielgerichtet nach dem Körper auf ihm, bis seine Finger den Punkt zwischen Deans Schulterblättern fanden.   „Ich …“   Dean schluckte hörbar, als Castiel begann, mit der Handfläche träge Kreise auf seinem Rücken zu ziehen.   „Ich will jagen!“, sagte Dean schließlich, unbestreitbar heiser und vielleicht eine Spur zu laut. Die flachen Atemzüge streiften nun Castiels Lippen und es brauchte keine übermenschlichen Sinne, um selbst mit geschlossenen Augen zu erahnen, wie gering der Abstand zwischen ihren Gesichtern geworden war. Castiel tat nichts, um sich Dean weiter zu nähern. Dean wollte jagen. Was nichts anderes bedeutete, als dass er handeln wollte, sich überlegen fühlen, die Initiative ergreifen. Castiel war sich nicht sicher, ob es klug wäre, ihn jetzt schon in eine Auseinandersetzung auf Leben und Tod mit Monstern zu schicken. Aber das hier, diesen einen kostbaren Moment der Kontrolle, das Gefühl des Triumphs, das konnte er Dean geben.     I have died everyday, waiting for you Darling, don't be afraid, I have loved you for a thousand years I'll love you for a thousand more     Trotzdem fühlte es sich an, als sei Castiel der eigentliche Gewinner, als er einen halb erstickten Laut über sich vernahm, wie das Eingeständnis einer Niederlage nach langem, innerem Kampf, als er die Bewegung auf sich spürte, als würde Dean über ihm abtauchen – und sich schließlich ein paar volle Lippen gegen die seinen pressten. Castiel keuchte überrascht in den Kuss hinein, in dem so viel mehr Gier steckte, mehr Zügellosigkeit mitschwang, als er erwartet hatte. Dean nutzte die Gelegenheit und fuhr mit der Zungenspitze zwischen Castiels halb geöffnete Lippen. Ihre Zungen berührten sich. Das war neu. Und es war großartig.   And all along I believed, I would find you Time has brought your heart to me, I have loved you for a thousand years I'll love you for a thousand more     Der Engel ließ es sich nicht nehmen, auch noch den zweiten Arm um Deans Schultern zu schlingen, während er mit der linken Hand immer noch dessen Rücken streichelte. Dean quittierte es mit einem genüsslichen Seufzen und verlagerte das Gewicht auf ihm, rutschte ein wenig höher zu ihm hinauf, um den Kuss noch weiter vertiefen zu können.   Cas … Cas ...   Deans innere Sehnsucht erreichte Castiel wie ein kraftvolles Mantra. Sämtliche Ängste und Zweifel schienen wie fortgespült, stattdessen war Deans Geist erfüllt von einer ungezügelten Leidenschaft, die sich allein auf den Engel konzentriere. Wieder hatten Deans aufgepeitschte Gefühle entfernte Ähnlichkeit mit einem Gebet, doch war es diesmal von einer gänzlichen anderen Natur und mit einer ähnlichen Wirkung auf Castiel, wie das, was Deans Lippen, Zunge und Zähne mit Castiels Hülle anstellten. Falls er seine Gefühle für Dean bisher für Verlangen gehalten hatte, waren sie nichts im Vergleich zu dem Hunger, der sich nun in ihm regte. Ihre Nähe war schon bald nicht mehr nah genug.   Cas … Oh fuck, Cas! ...   Ein Stöhnen, tief, tief aus Deans Innerem, schien plötzlich über dessen Lippen direkt in Castiels Mund zu rollen und seine Hüften zuckten fahrig, unkontrolliert gegen sein Bein. Erst jetzt wurde dem Engel die Hitze gewahr, die in seinem eigenen Schoß loderte, spürte die Härte, die Dean gegen ihn drängte und deren Kontakt mit der eigenen köstliche Erlösung versprach. Seine Hände tasteten nach Deans Hüften, um sie zu halten, während er sich ihm von unten entgegen drängte.     One step closer …     Dean schien zu begreifen, was Cas vorhatte, denn er stöhnte erneut und krabbelte zwischen Castiels einladend geöffnete Schenkel, ohne von seinen Lippen abzulassen. Seine rechte Hand tastete nach Castiels linker, bis sie sich auf seiner Hüfte trafen, Deans Körper in einem gemeinsamen Rhythmus führten, mit dem sie ihre Lenden aneinander rieben. Castiel wusste nicht, wie lange er würde aushalten können. Er wünschte sich, dass dieser Moment niemals endete. Es war berauschend, wie sehr Dean ihm sich hingab, wie sehr er sich von ihrem gemeinsamen Hunger treiben ließ. Abgesehen von dem Augenblick, als er seine Seele aus der Hölle befreit und seinen Körper rekonstruiert hatte, hatte er sich diesem einen Menschen nie näher gefühlt. Doch plötzlich veränderte sich etwas.   Cas … Oh SHIT!   Alarmiertheit stahl sich ohne Vorwarnung in Deans wortloses Mantra aus ekstatischem Flehen und Fordern. Seine Finger krallten sich in stummer Panik in Castiels Handrücken, die gierigen Lippen lösten sich von den seinen und Dean hielt abrupt in der Bewegung inne. Castiel reagierte schnell, aber es brauchte einiges an Willenskraft, bis es ihm gelang, sich nicht weiter an Deans Erektion zu reiben.   „Dean?“, fragte er atemlos. „Dean, was ist los?“   Dean gab keine Antwort. Als Castiel endlich die Augen öffnete, sah er dessen Gesicht über sich wie versteinert, die fest aufeinander gepressten Lippen nur noch eine schmale Linie, wie blutrot in der plötzlich aschfahlen Blässe.   „Dean, bitte sprich mit mir! Habe ich etwas falsch gemacht?“   Die Frage und ihre flehende Dringlichkeit schienen etwas Leben in Deans ausdrucksloses Gesicht zurückzubringen. Mit seltsam feuchten Augen erwiderte er den Blick des Engels, dem es mit einem Mal so ungleich schwerer fiel, all die Emotionen seines Lieblingsmenschen zu deuten. War das … Scham? Bedauern? Doch weshalb?   „Nein, Cas. Ist … meine Schuld. Ich … Ich kann nicht mehr. Tut mir leid.“   Dean wandte den Blick ab. Ein leises Fluchen entwich ihm. Castiel gab Dean einen Moment Zeit, die Möglichkeit, aufzustehen und den Raum zu verlassen. Doch zu seiner Überraschung blieb der Jäger. Das ließ ihn zu hoffen wagen. Vielleicht hatte sich wirklich endgültig etwas zwischen ihnen verändert. Etwas, das deutlich mehr aushielt, etwas, das nicht so leicht verletzt oder enttäuscht werden konnte. Auch, wenn Dean über ihm sichtlich mit etwas zu kämpfen schien.   „Verrätst du mir, was passiert ist?“   Dean biss sich auf die Lippen und weigerte sich beharrlich, ihm ins Gesicht zu sehen. Ein wenig erinnerte es Castiel an die Tage, bevor Dean endlich begonnen hatte, sich ihm zu öffnen. Der Moment, als er zugelassen hatte, dass er ihm das Gesicht wusch.   „Ich … er ist … ich-“   Er verhaspelte sich und brach ab, während plötzlich deutliche Röte in seinem blassen Gesicht aufloderte. Castiel erkannte sie unschwer als Scham. Alles an Deans Verhalten sprach dafür, der ausweichende Blick, das verlegene Stammeln.   „Ah, fuck, Cas! Er ist nicht mehr steif, ich hab Probleme mit … m-mit dem Stehvermögen, wie so‘n seniler Sack!“, platzte es schließlich aus ihm heraus, während er krampfhaft überall hinsah – nur nicht in Castiels Richtung.   Vielleicht hatte es etwas damit zu tun, dass Castiel sich allmählich immer menschlicher fühlte. Vielleicht hatte es auch etwas damit zu tun, dass Dean ihn immer mehr an sich heran ließ, dass er noch immer nicht die Flucht ergriffen hatte oder den Angriff nach vorn, obwohl ihm doch beides unter diesen Umständen so ähnlich gesehen hätte. Woran auch immer es liegen mochte, fühlte Castiel sich in diesem Moment von noch tieferer, innigerer Zuneigung zu dem Menschen über sich erfüllt, der so beharrlich mit Beschämung und Frustration kämpfte und sich doch nicht gänzlich der Umarmung entzog, mit der etwas so Berauschendes zwischen ihnen seinen Lauf genommen hatte.   Castiel unterdrückte ein Lächeln, für den Fall, dass Dean es doch endlich über sich brachte, ihn wieder anzusehen. Er wollte nicht, dass er es missverstand, wollte nicht, dass er sich verspottet fühlte. Stattdessen zog er Dean mit sanfter Gewalt zurück in seine Arme, was dieser wider Erwarten zuließ.   „Es gehört dazu, Dean. Es ist normal.“   Dean fragte nicht, worauf Castiel anspielte und Castiel machte sich nicht die Mühe, näher darauf einzugehen. Erektionsstörungen sind normal in depressiven Episoden.   Es dauerte eine Weile, bis ihr Atem wieder den gleichen Rhythmus gefunden hatte, aber so lange lagen sie einfach nur gemeinsam da. Durch den Stoff von Deans Boxershorts, in denen er die Nacht verbracht hatte, war deutlich zu spüren, dass seine Erektion für den Moment unwiderruflich verebbt war. Dem Engel erging es derweil anders: Ihre Nähe zueinander war nach wie vor berauschend, hatte lediglich das geballte, angespannte Knistern zwischen ihnen verloren, doch sie reichte immer noch aus, um seine Härte aufrecht zu erhalten. Er zog in Erwägung, ihr mit dem gezielten Einsatz von Gnade entgegenzuwirken, als Deans Hand, die bis dahin ruhig auf seiner Brust geruht hatte, plötzlich tiefer wanderte.   „Nur, weil ich nicht kann, heißt das nicht, dass du nicht darfst“, flüsterte er rau. Sein Gesicht war noch immer gerötet, aber die Unsicherheit schien bis zu einem gewissen Grad daraus verschwunden zu sein.   „Dean … du musst das nicht tun“, wandte Castiel ein, gänzlich fasziniert von dem nervösen Flattern, das nun in seiner Brust aufwallte und bis in seine Magengrube aussandte. Schmetterlinge im Bauch, kam ihm die menschliche Metapher in den Sinn, die jedweder Logik entsagte und doch konnte er mit einem Mal nachvollziehen, warum jemand diesen Vergleich als angemessen erachtete. Wie hauchzarte, blitzschnell schlagende Flügel, die seine Eingeweide kitzelten, während ihm der Puls in den Adern tobte, wie donnernder Applaus, als sich Deans Hand immer weiter nach unten tastete, bis sie schließlich die Härte zwischen Castiels Beinen fand.   „Ich weiß, Cas“, raunte Dean, der plötzlich den Mut gefunden zu haben schien, Castiel in die Augen zu sehen. Deans eigene waren dunkel, durch die stark geweiteten Pupillen und erfüllt von einer Gier, die nicht ihn selbst betreffen zu schien. Zumindest konnte Castiel keine sexuelle Erregung in dem Körper spüren, der halb auf ihm lag, während seine eigene neu und noch dringlicher aufzulodern begann.   „Sag mir, was du brauchst, Cas!“   Ein herausfordernder, nahezu selbstgefälliger Zug war um Deans Mund erschienen, als er Castiels übliche Frage nach dem Aufwachen aufgriff, während er geschickt nach dem Gummizug von Castiels Hosenbund tastete.   „Sag‘s mir ...“   Der feste, geschickte Griff um seinen Penis sandte Schauer um Schauer über Castiels Körper, die Dean nicht weniger zu genießen schien, als er selbst.   Worte entwischten ihm, Henochisch, heilige Worte, die Dean nicht verstehen konnten und die in dieser unheiligen Situation nichts zu suchen hatten. Doch Castiel ließ es zu. Dean hatte sich von ihm Kontrolle gewünscht. Und in diesem Moment überließ Castiel sie ihm liebend gern. Auf dem Kissen warf er den Kopf in den Nacken, entblößte seine Kehle Deans hungrigen Küssen, während dessen Hand ihn immer weiter gen Himmel trieb.   „Dich, Dean … Ich brauche … dich!“   Bis Castiel das Gefühl hatte, endlich wieder zu fliegen.   One step closer …     *   I have died everyday, waiting for you Darling, don't be afraid, I have loved you for a thousand years I'll love you for a thousand more And all along I believed, I would find you Time has brought your heart to me, I have loved you for a thousand years I'll love you for a thousand Epilog: Always Keep Fighting! ----------------------------- „Bist du sicher, dass du das allein tun willst?“   Nein.   Dean schnaubte.   „Eher lass ich dir von Cas die Augen ausbrennen, als dass du da reingehst.“   „Dean ...“   Sie wussten beide, dass Sam das Chaos längst mehr als einmal gesehen hatte. Dass ihn vermutlich nichts davon schockieren konnte, was sie aus dem Durcheinander aus Dreck und Abfall bergen würden. Dass Sams Unerschrockenheit nichts an dem Schmerz und der Betroffenheit ändern würde, die es mit sich brachte, dem Leid in der eigenen Familie auf den Grund zu gehen. Aber Dean dachte daran, was Cas ihm in der letzten Zeit immer wieder deutlich zu machen versucht hatte.   „Muss das alleine machen. Ist besser so.“   Sein Bruder nickte auf diese unangenehm verständnisvolle Sam-Art, sagte aber glücklicherweise nichts weiter dazu. Wenigstens schien er keine Einwände zu haben, auch wenn Deans Entscheidung eindeutig seinem Helfersyndrom widersprach. Dean spürte seinen Blick schwer auf sich ruhen, als er, mit Putzutensilien und frischen Müllbeuteln bewaffnet, in seinem alten Zimmer verschwand.   Es war nicht lange ein Geheimnis geblieben, dass Dean und Cas sich seit dem Fall mit dem Chupacabra ein Zimmer teilten. Um ehrlich zu sein, war sich Dean nicht einmal sicher, ob es überhaupt je ein Geheimnis gewesen war. „Müssen wir jetzt nicht mehr so tun, als wüssten wir nicht, dass Dean Cas liebt?“, hatte Jack in aller Unschuld und Ernsthaftigkeit gefragt, als sie sich am zweiten Morgen nach der Jagd alle in der Küche getroffen hatten. Sam war in dem Moment herein gekommen, als Cas die Arme um Dean gelegt hatte, dessen Stirn auf die Schulter des Engels gesunken war. Überrascht war Sam im Türrahmen stehen geblieben, was dazu geführt hatte, dass Jack beinahe in ihn hinein gelaufen wäre. Dean hatte den Kopf augenblicklich in die Höhe gerissen und instinktiv versucht, vor Cas zurückzuweichen, der ihm jedoch nur ungerührt einen flüchtigen Kuss auf die Braue gedrückt hatte. Eigentlich hätte die offene Zurschaustellung von Zuneigung nur noch mehr dafür sorgen müssen, dass Dean sich unter Druck gesetzt fühlte. Doch er war mit einem Mal wieder so unbeschreiblich müde gewesen. Cas‘ Lippen auf seiner Stirn, seine Arme, die immer noch sachte um seinen Oberkörper geschlungen gewesen waren, hatten dafür gesorgt, dass sich etwas in ihm gelöst hatte. Etwas, das mit aller gespannt angehaltenen Atemluft in einem tiefen Seufzer aus seinen Lungen entwichen war. Dean war vollkommen in sich zusammengesackt – und weiter in Cas‘ Arme hinein. Den Ausdruck auf Sams Gesicht war es wert gewesen.   „Niemand muss hier irgendetwas vortäuschen“, hatte Cas auf Jacks Frage hin endlich geantwortet und Sam, immer noch um Fassung ringend, hatte ihm schließlich beigepflichtet: „Genau. Wir sind immerhin eine Familie“, doch es waren Cas‘ nächste Worte gewesen, für die Dean ihn auf der Stelle hätte küssen können:   „Während ihr beide auf der Jagd wart, sind Dean und ich zu einer Übereinkunft gekommen. Wir teilen uns bis auf Weiteres mein Zimmer. Ihr könnt natürlich alle Fragen stellen, die euch auf dem Herzen liegen, aber Dean und ich zögen es vor, wenn ihr auch uns erst einmal Zeit gebt, uns an die … unerwartete Entwicklung zu gewöhnen. Die Situation ist für uns alle neu.“   Sams und Jacks vermutlich verdatterten, vielleicht verständnisvollen, schlimmstenfalls gerührten Gesichter waren in weite Ferne gerückt, als Dean, von Dankbarkeit ergriffen, plötzlich nur noch Augen für Cas gehabt hatte. Und dann hatte er ihn eben doch geküsst. In der Küche, an den Kühlschrank gelehnt, vor Sam, vor Jack. Und alles war in diesem Augenblick so einfach gewesen. Für einen herrlichem Morgen lang, für die Dauer eines gemeinsamen Frühstücks, so lange, wie es eben dauerte, um von einer erfolgreichen Jagd zu erzählen und sich genug Koffein ins System zu schütten, bis man wieder halbwegs rund lief. Ein so ruhiger und friedlicher Morgen, wie Dean ihn schon seit Ewigkeiten nicht mehr erlebt hatte. So hatte er sich früher den Himmel auf Erden vorgestellt. Aber das Leben schlief nicht. Und so war Dean irgendwann doch wieder vor der Tür gelandet, hinter der sein Versagen lauerte, seine Schwäche, die Sinnlosigkeit und die ganz speziellen Alpträume der letzten Zeit.   Das Aufräumen und Putzen dauerte fast eine halbe Woche lang. Hätte Dean mehr Kraft und Ausdauer besessen, oder hätte er die Hilfe angenommen, die ihm Sam, getarnt als wortloser Hundeblick, immer wieder anzubieten schien, wäre er vermutlich deutlich schneller fertig geworden. Es half, dass er jeden Abend zurück in den Schutz von Cas‘ Zimmer und in die wartenden Arme des Engels zurückkehren durfte. Es half auch, jedem potentiell aufkommenden Versteckspiel unmittelbar einen Riegel vorgeschoben zu haben; es war eine wahre Erleichterung, sich vor Sam und Jack nicht rechtfertigen zu müssen und sich, einmal im Leben, nicht für das Bedürfnis nach emotionaler (und körperlicher) Nähe falsch zu fühlen. Ertappt kam er sich trotzdem jedes verfluchte einzelne Mal vor, wenn Sam sah, wie er, von endlich nicht länger unterdrückter Sehnsucht geleitet, die Hand nach Cas‘ ausstreckte, oder wenn Jack sich in größter Selbstverständlichkeit zu ihnen setzte, wenn Dean vor dem Fernseher den Arm um den Engel gelegt hatte.   Cas hatte die Veränderung in ihre Beziehung ‚Entwicklung‘ genannt. Dean war sich nicht ganz sicher, wie er selbst sie nennen sollte, ob er überhaupt wollte, dass die Veränderung eine eigene Bezeichnung bekam. Es war schließlich gut so, wie es war und auch Cas schien zufrieden damit. Doch was immer es auch war, das sie von nun an miteinander teilten, gab es noch ein weiteres Thema, dem Dean nicht so einfach entfliehen konnte. Schon gar nicht, wenn es nach Sam ging.   „Ich will jagen!“, hatte Dean auch seinen Bruder wissen lassen, sobald er sicher gewesen war, dass der Umzug in Cas‘ Schlafzimmer weitestgehend unkommentiert blieb. Auf den stummen Austausch zwischen Cas und Sam nach seiner Ankündigung war er trotzdem nicht vorbereitet gewesen. ‚Er ist noch nicht so weit!‘, schienen ihre Blicke förmlich zu schreien und, obwohl sie nicht einmal Dean gegolten hatten, waren sie doch wie ein Schlag ins Gesicht gewesen. Wut und Trotz waren in ihm hochgekocht, so unbändig, dass er sich im ersten Moment selbst völlig überwältigt davon fühlte. Seit wann war er plötzlich wieder zu anderen Gefühlen fähig, die über Erschöpfung, Leere und Schmerz hinausgingen?   Keine Jagd für Dean Winchester, zumindest nicht zusammen mit seinem Bruder, seinem Engel und ihrem Nephilim … Aber nichts hinderte Dean daran, sich selbst einen Fall zu suchen und allein mit dem Impala aufzubrechen, oder?   Sie können mich nicht ewig hier einsperren! … Ich bin nicht schwach! … Ich bin kein Kind! … Sie können nicht über mich bestimmen!   Solche und ähnliche Gedanken waren es, die ihn auf den Fahrersitz von Baby trieben, den Schlüssel bereits im Zündschloss, den Fuß auf der Kupplung – aber irgendetwas hinderte ihn daran, sie einfach durchzutreten und den Motor zu starten. Vielleicht die Tatsache, dass er noch gar keinen Fall aufgetrieben hatte, dass es überhaupt keine Richtung gab, nach der er sich wenden konnte. Dass es Jahre her war, dass er allein zur Jagd aufgebrochen war. Dass er genau wusste, dass er nie weniger allein in seinem Leben gewesen war und es jetzt keinen Grund gab, diese Tatsache zu ignorieren und leichtsinnig zu sein, nur, weil er sich selbst etwas beweisen und ihnen allesamt kräftig in den Arsch treten wollte …   Beinahe hätte er lauthals gelacht, wie er da allein in der Garage hinterm Steuer saß und aus lauter Starrsinn nicht wusste, wohin mit sich und seinen Gefühlen, die sich in seiner Brust so unbeholfen und hölzern anfühlten. So, als müsste er erst wieder lernen, mit ihm umzugehen. Waren das alles vielleicht nur Zeichen, dass er wieder dabei war, normal zu werden? Der Zustand der Lethargie hatte Monate angehalten und es hatte ebenso Monate gebraucht, sich überhaupt erst darüber klar zu werden, dass etwas nicht stimmte. Sollte das große, bedrohliche, abgrundtiefe Nichts einfach von einen Tag auf den anderen verschwunden sein?   Er wusste nicht, wie lange Zeit er im Auto verbrachte, immer mal wieder am Schlüssel herumspielte, im Rhythmus zu den Songs vom Band aufs Lenkrad trommelte oder einfach minutenlang den Kopf in den Armen vergrub, während er versuchte, an nichts zu denken, obwohl er eigentlich über alles nachdachte. Über Sam und Cas und Jack und Mom und sein nun aufgeräumtes Zimmer, in dem er aber trotzdem nicht mehr schlief. Über potentielle Fälle, die Nachwehen von Michael. Lucifer. Den Bunker. Die Zukunft, die Vergangenheit und Dad und Bobby. Himmel und Hölle, die Erde, Engel, Dämonen, über Chuck, die Finsternis und den Tod. Jede Apokalypse, der sie, gerade so, noch einmal von der Schippe gesprungen waren. Es waren eigentlich viel zu viele Dinge, über die er gleichzeitig versuchte, nicht nachzudenken. Er spürte, wie ihm die geschlossenen Augen wieder einmal überliefen und Dean musste lächeln, lächelte stumm in seine Armbeuge hinein; ein wenig so, wie er es auf den Rat von Frank Devereaux hin einst getan hatte. Das Lächeln ließ die Tränen nicht versiegen und es tat weh, es schmerzte wie die Hölle, aber es war ein anderer Schmerz als der, den er verspürte, wenn er Sam etwas vorzuspielen versuchte.   Nein, es war kein Wunder, dass er sich gegenüber allen Gefühlen verschlossen hatte. Dass ihm jedwede Energie gefehlt hatte. Dean war vielleicht nicht allein, nicht mehr, aber das bedeutete nicht, dass es nicht Dinge gab, die er allein zu stemmen hatte. Und vielleicht waren die einfach mit der Zeit zu viel geworden, zu groß, zu überwältigend? Gab es vielleicht schlicht und ergreifend einen Punkt, an dem auch ein Dean Winchester nicht mehr konnte?   Er schniefte erstickt in seinen Ärmel hinein und kam sich wieder einmal so unheimlich schwach und verweichlicht vor. Wenigstens war er dieses eine Mal, für diesen Moment der Niederlage, mit sich allein, dachte er, konnte unbehelligt und im Stillen seine Wunden lecken – als er ein leises Klopfen an der Scheibe zu seiner Linken hörte. Er seufzte in seine Armbeuge, wappnete sich für etwa drei Sekunden, bevor er den Kopf hob (nicht ohne unauffällig über seine Augen zu wischen). Am Autofenster vor dem Impala stand Sam.   Dean schaltete den Kassettenrekorder aus und nickte mit dem Kopf Richtung Beifahrertür. Sam folgte dem wortlosen Wink augenblicklich, ging um den Wagen herum, öffnete die unverriegelte Tür und kletterte neben Dean auf seinen angestammten Platz. Niemand sprach und es dauerte eine Ewigkeit, bis das Echo der zuschlagenden Autotür in der Stille verklungen war. Sie standen noch immer bei abgeschaltetem Motor in der Garage, umgeben von dem schwachen Geruch nach Metall und Motoröl und Leder. Und das Vertraute an der Situation half etwas dabei, einen klaren Kopf zu bewahren. Das hier war Routine, altbekanntes, bewährtes Pflaster. Sam an seiner Seite. Sie beide im Impala, gegen den Rest der Welt. Dean holte tief Luft. Alles würde gut werden.   „Hatte nicht vor, abzuhauen, falls du das denkst“, brummte er und sah stur weiter geradeaus durch die Windschutzscheibe, als hätte er die unzähligen in die Jahre gekommenen Fahrzeuge der Men of Letters noch nie zuvor aus dieser Perspektive gesehen und müsste sie jetzt erst einmal in aller Ruhe aus diesem völlig neuen Blickwinkel betrachten.   „Denke ich gar nicht“, erwiderte Sam gelassen. Als er einen Blick aus den Augenwinkeln riskierte, sah er, dass Sam die Hände auf den Knien aufgestützt hatte und ebenfalls gebannt durch die Frontscheibe zu starren schien.   „Warum bist du dann hier?“ fragte Dean zurück, ohne sich die Mühe zu machen, seine Überraschung und Neugier zu verbergen.   Diesmal war es an seinem Bruder zu seufzen, aber irgendwie klang es ein wenig verschnupft und heiser, so dass Dean seine Zurückhaltung über Bord warf und sich schließlich richtig zu seinem Bruder umwandte. Nur, um festzustellen, dass dessen treue Dackelaugen, halb im Schatten seines viel zu langen, schokoladenbraunen Mopps verborgen, in Tränen schwammen.   Eine eiserne Faust schloss sich um Deans Herz. Reue, Panik. War das seine Schuld?   Weint er wegen mir?   Unbehaglich kämpfte er auf seinem Sitz mit sich, nicht sicher, ob er die Hand nach seinem Bruder ausstrecken sollte – doch er fand sich schon die Schulter seines Bruders tätschelnd wieder, bevor er noch länger darüber nachdenken konnte.   Huh.   War Dean schon immer so verweichlicht gewesen oder erst, seit er sich jede Nacht von Cas in den Schlaf wiegen ließ? Seit er selbst regelmäßig heulte, wie der größte Schwächling auf Erden?   „Sammy?“   Sams Schultern bebten mit einem Mal und er antwortete nicht sofort, schien all seine Konzentration darauf zu richten, ruhig zu atmen. Was ihm gehörig misslang.   „Hey? Sam! Was ist denn los?“   Sam stieß seine Hand nicht weg, doch er schüttelte verbissen den Kopf. Nein, eine Antwort würde er von ihm nicht bekommen. Vermutlich war die auch gar nicht nötig. Wenn Sam nicht hier war, weil er glaubte, Dean würde sich klammheimlich aus dem Staub machen, dann konnte es nur einen anderen Grund für dieses seltsame Aufeinandertreffen geben: Eine Rede, vielleicht fast schon eine Intervention. Wahrscheinlich über Gefühle oder vielmehr über Deans Nicht-Gefühle der letzten Zeit. In jedem Fall über ein herrlich unangenehmes Thema und er hatte absolut nichts dagegen, den unausweichlichen Startschuss für dieses Gespräch so lange wie möglich hinauszuzögern. Also war es nur erneutes beharrliches Schweigen, das ihnen blieb. Dean wusste nicht, wie lange sie stumm nebeneinander im Wagen saßen, die Stille nur durchbrochen von Sammys schniefenden, abgehackten Atemzügen. Beide starrten sie wieder aus dem Fenster, immer stur geradeaus. Als läge vor ihnen eine endlose Straße bei voller Fahrt und nicht ein Dutzend in die Jahre gekommener Fahrzeuge, unter Abdeckplanen verborgen, vor einer Backsteinwand.   Einfach so tun, als wär nichts. Trotzdem wissen, dass er gerade Anlauf nimmt …   „Ich mache eine Therapie.“   Und da war der Startschuss. Sams Stimme klang allerdings so heiser, so kleinlaut und leise, dass Dean sich nicht sicher war, ob er sich die Worte nicht eingebildet hatte.   „Sag das noch mal“, nuschelte er schließlich, als lange Zeit nichts weiter auf die merkwürdige Offenbarung folgte.   „Ich mache eine Therapie, Dean. Seit … ungefähr drei Monaten. Nicht regelmäßig, ich hab ja nicht immer Zeit, wegen … weil … wie wir leben. Aber sie kennt es, sie weiß Bescheid, sie ist ein bisschen so wie die Trauerbegleiterin – du weißt schon – und … Dean, es hilft. Es hilft wirklich. Das Reden! Jemand Unbeteiligtes, der das alles nachvollziehen kann und trotzdem neutral ist und Ahnung hat! Ich ...“   „Stop.“   Endlich nahm Dean die Hand von Sams Schulter, um mit ihr vor seinem Gesicht herum zu wedeln und den wirren Monolog aus dem Mund seines Bruders zu unterbrechen. Die Informationsflut, die es zu verarbeiten galt, wog schwer und sie hatte einen eigentümlich bitteren Nachgeschmack.   Sam ging also zu so einem Seelenklempner, einem Ex-Jäger vermutlich, der glaubte, verstehen zu können, wie es war, Himmel und Hölle entkommen zu sein? Den eigenen Körper als Marionette für Erzengel missbraucht zu wissen? Mehr Tode gesehen zu haben, als es für ein einziges Menschenleben überhaupt möglich sein sollte? Er versuchte, seine ohnehin schon chaotischen Gedanken halbwegs zu ordnen, versuchte, nach etwas in dem Wirrwarr zu greifen, das er Sam entgegen setzen konnte. Ohne nach dem Wie und Weshalb zu fragen. Ohne vorwurfsvoll zu klingen.   Warum erzählst du mir das erst jetzt?   Warum bist du damit nicht sofort zu mir gekommen?   Ich bin für dich da … Immer war ich für dich da! Wer denn sonst, wenn nicht ich? Wir gegen den Rest der Welt.   Aber in der letzten Zeit warst du für niemanden da. Hast dich nur in deinem eigenen Elend gesuhlt, flüsterte da plötzlich eine böse kleine Stimme irgendwo in seinem Kopf. Er versuchte, sie beiseite zu schieben und erstaunlicherweise schwieg sie auch schnell wieder. Doch ihre Worte wogen schwer, hallten lange, viel zu lange in seinen Gedanken nach. Wir sind eine Familie. Unsere Angelegenheiten gehen keinen sonst was an.   „Was willst du mir damit sagen, Sam?“   Dean war selbst überrascht, wie finster seine Stimme mit einem Mal klang.   „Willst du, dass ich auch -?“   Sam lachte bitter und unterbrach damit Deans unausgesprochene Frage. Ein Glück. Er wusste ohnehin, wie die Antwort darauf lautete. Aber Sam wusste ein weiteres Mal, ihn zu überraschen.   „Als würde ich glauben, dass man dich davon überzeugen könnte, mit jemandem über deine Gefühle zu reden!“   „Und es hat nur 36 Jahre gedauert, bis du das kapiert hast?“, schoss Dean in Ermangelung einer klügeren Antwort zurück.   Sam starrte ihn an. Seine Augen waren gerötet, doch die Tränen darin waren verschwunden. Wie hatte er das angestellt? Für die Zukunft wäre es hilfreich, seinen Augen bei Bedarf einfach den Hahn abdrehen zu können. Vielleicht hatte Sammy da einen Trick auf Lager, den Dean noch nicht kannte.   „Ich habe das schon vor Jahren kapiert, Dean“, sagte Sam schließlich und es klang viel weniger bitter als müde. „Es ist mir nur schwer gefallen, es zu akzeptieren. Und als du angefangen hast, dich so von allem abzuschotten – ich meine, noch schlimmer, als du das je vorher gemacht hast – da habe ich das einfach nicht länger ausgehalten.“   Dean spürte, wie sich tiefe Furchen über seiner Nasenwurzel bildeten, so fest zog er die Brauen zusammen. Eine Menge lag ihm auf der Zunge, hauptsächlich giftgespickte, verzweifelte Phrasen, die die Schuld darüber von ihm wiesen, dass sein Bruder eine Therapie benötigte. Während in seinem Kopf gleichzeitig alles danach schrie, dass es eben doch einzig und allein seine Schuld war.   Und wenn nur, weil du nicht für ihn da warst. Arschloch!   Versager …   „Ich mach das doch nicht mit Absicht, Sam“, war schließlich das, was tatsächlich seinen Mund verließ und er hasste sich dafür, wie kleinlaut es selbst in den eigenen Ohren klang.   Sam neben ihm holte tief Luft.   „Weiß ich doch, Dean. Ich habe meinen Weg gefunden. Und inzwischen glaube ich daran, dass du deinen finden wirst.“   „Ach, echt?“   Sam warf ihm einen langen Blick zu. Einen, unter dem Dean sich vorkam, als wartete er auf ein Urteil. Das Urteil darüber, ob Sam ihn ebenfalls als ‚Versager‘ betiteln würde, wie es die fiese Stimme in seinem Bewusstsein erst vor zwei Minuten zum letzten Mal getan hatte.   „Na ja“, begann Sam und machte eine Pause; lange genug, um Deans Herz für einen kurzen Moment aussetzen zu lassen. Wie sehr war er wirklich eine Enttäuschung für seinen Bruder? Doch was nun folgte, ließ Dean die Kinnlade herunter klappen. Im wahrsten Sinne des Wortes.   „Du hast ja auch endlich bei der Sache mit Cas deinen Kopf aus dem Arsch gekriegt, hm? Dann schaffst du auch den Rest.“   Dean schloss den Mund wieder und kam sich selten dämlich vor.   „War ja klar, dass dazu noch was kommen muss.“   „Das kannst du mir nicht verübeln. Du bist mein Bruder und er ist mein bester Freund. Familie. Ich bin froh, dass ihr das endlich auf die Reihe gekriegt habt! Es war ja kaum auszuhalten -“   „Halt‘s Maul, Sammy!“, unterbrach Dean und grinste. Zögerlich, behutsam nur. Eines von den echten Grinsen, die manchmal wehtun konnten – innerlich wie äußerlich. Grinste, weil er genau wusste, dass Sam ihn nur aufzog, dass er sich wirklich und wahrhaftig für ihn freute. Dass er sich um ihn sorgte. Weil Sam eben sein kleiner Bruder war. Familie, wie er gesagt hatte.   Sam erwiderte sein Grinsen mit einem Funkeln in den Augen, dass aus heiterem Himmel abenteuerlustig wirkte, fast ein bisschen verwegen. Es ließ ihn jünger wirken, eine Winzigkeit weniger sorgenvoll.   „Also, ich würde sagen, wir kriegen dich schon wieder auf die Beine.“   Und damit schien das Urteil gefallen, das Dean so sehr gefürchtet hatte.   Den Abend verbrachten sie zu viert bei heißem Kakao, kaltem Bier und selbstgemachtem Popcorn im Raum mit dem Weltkartentisch. Auf Deans (inzwischen nur noch halbherziges) Drängen hin, war jeder von ihnen mit Laptop, seinem Smartphone oder der Tageszeitung bewaffnet, alle auf der Suche nach einem einfacheren Fall. Dean spürte deutlich, dass niemand in seiner Familie darüber begeistert war, dass er sich sofort zurück in sein altes Leben stürzen wollte, konnte aber deutlich spüren, dass sie sich trotzdem Mühe gaben, ihn zu unterstützen. Jedem von ihnen war bewusst, dass das Jägerleben das einzige war, das er kannte, das, was ihm Halt gab. Einen Ausweg daraus konnte man immer noch finden, sobald wieder alles beim Alten war.   Hinter Sam und Cas‘ Rücken gab Dean Jack einen großzügigen Schluck Bier in die leere Kakaotasse. Er ignorierte das Stirnrunzeln seines Engels, als Dean und Sam sich mit Popcorn bewarfen. Er zeigte seinem Bruder den Mittelfinger, als Castiel ihn plötzlich, einfach so, mitten auf den Mund küsste. Und Dean lächelte in den Kuss hinein. Er wusste, dass er noch nicht wieder auf der Höhe war. Aber er fühlte auch, dass er bereits alles hatte, um wieder dorthin zurückzufinden. Und an diesem Abend fühlte sich Dean Winchester nicht wie ein Versager.     ~*~   The End ... (… is just a new beginning in disguise …) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)