Rivals' Reunion von MizunaStardust ================================================================================ Kapitel 18: Zu Hause -------------------- XVIII: Zu Hause Come down off your throne And leave your body alone Somebody must change You are the reason I've been waiting all these years Somebody holds the key But I'm near the end And I just ain't got the time And I can't find my way home. (Blind Faith) Seto Kaiba im Interview Part II Also. Ich will eines mal von vorn herein klarstellen. Ich hoffe, ihr seid euch darüber bewusst, dass ihr eine riesige Klage der Kaiba Corporation am Hals haben werdet, sobald ich hier raus bin. Mit dieser ganzen kranken Nummer habt ihr euch keinen Gefallen getan. Mich interessiert es nicht, welcher Natur die Ereignisse da im Wald waren. Alles, was ich sehe, ist, dass ihr absolut nichts unternommen habt, um uns in irgendeiner Weise da rauszuholen. Und das ist eindeutig vertragswidrig. Was sagt ihr? Es ist auch vertragswidrig, dass wir uns nachts aus dem Haus geschlichen haben? Was spielt das für eine Rolle? Wir wollten einem der anderen Kandidaten Hilfe leisten, etwas, das ihr mutwillig unterlasen habt. Als Yami und Wheeler über eine halbe Stunde im Keller eingesperrt waren, habt ihr genauso eure Hilfe verweigert. Alles, was euch interessiert, ist die Quote nach oben zu treiben und ordentlich Geld zu scheffeln. Ihr widert mich an. Gibt es keine Geschäftsleute mehr, die auf ehrliche Weise an ihr Geld kommen? Und jetzt nehmt ihr euch auch noch die Frechheit heraus, von mir zu verlangen, dass ich euch sage, wie ich mich bei diesem kleinen Ausflug gefühlt habe. Ihr seid einfach nur erbärmlich. Aber gut, ich will meinen lächerlichen Vertrag nicht brechen, also … bringen wir’s hinter uns. Was wollt ihr hören? Dass es ein Weg ins Ungewisse war? Dass ich Angst um Yami hatte? Ja, all diese Dinge treffen zu. Wenn ihr es genau wissen wollt, ich habe mich machtlos gefühlt. Es war frustrierend, nicht mehr ausrichten zu können. Alles Bakura überlassen zu müssen. Ich verabscheue Bakura für seine überhebliche Art und trotzdem war ich gezwungen, ihm nicht nur meine, sondern auch Yamis Sicherheit anzuvertrauen. Und das wurmt mich, ganz gewaltig. Es gibt nur wenige Momente in meinem Leben, wo ich mit nutzlos vorkomme. Und das war einer davon. Bakura und Yami teilen irgendeine gemeinsame Vergangenheit und die beiden verbindet ein so intensives Band … und … ich schätze, ich hatte kurzzeitig Angst, Yami nicht nur an das zu verlieren, was da im Wald gelauert hat. Und dann ist da noch etwas anderes. Ich kann es schlecht in Worte fassen (schnaubt verächtlich). Eigentlich ist es auch vollkommen lächerlich und wahrscheinlich bilde ich es mir nur ein. Aber … es hat mir … Angst gemacht, dass dieses Etwas in Wald mir so nahegekommen ist. Es war, als könnte ich seine Stimme in meinem Kopf hören. Wie ein aufdringliches Flüstern. Und als könnte es alle meine Gedanken lesen und aufsaugen und damit seinen Schabernack treiben. Ja, es gab Momente, wo ich das Gefühl hatte, es … ER spricht mich direkt an, redet auf mich ein. Und was Yami gesehen hat … ich glaube, ich habe Teile davon ebenfalls gesehen. Ich habe versucht mich dagegen zu wehren, weil ich es einfach nicht an mich heranlassen wollte. Aber ich konnte seinen Schmerz fühlen. Und seine verstümmelte Seele sehen. Dieser Junge … sein Name geht mir seitdem durch Mark und Bein. Und das geht mir gegen den Strich. Ich hasse es, dass ich es mir nicht erklären kann. Wenn ich es Yami sagen würde, vielleicht würde er mich dann anders wahrnehmen. Vielleicht könnten wir eine tiefere Verbindung teilen, so wie er sie mit Bakura hat. Aber … es macht mir schlicht und ergreifend Angst. Ich fasse es nicht, dass ich das alles gesagt habe. Diese Interviews sind wohl irgendwie therapeutisch. Und ich halte nichts von so einen Blödsinn. Ich freue mich schon auf den Moment, wo das Urteil über euer Fehlverhalten gesprochen wird und ihr bezahlen müsst. Ich werde in der ersten Reihe sitzen, so viel verspreche ich euch. ~*~ Als Zorc fort war, fühlte Bakura nichts. Nie zuvor hatte er darüber nachgedacht, wie es sich wohl anfühlte, wenn etwas, das einen so lange begleitet hatte, nicht mehr da war. Es war das Gegenteil von einem Gefühl. Ja, jegliches Gefühl, das Zorc ihm gegeben hatte, war verschwunden. Jeglicher Antrieb, jeglicher Sinn, jeglicher Wille. Da war kein Gedanke in seinem Kopf, denn sämtliche Gedanken in den letzten Monaten und Jahren waren ihm eingeimpft worden. Waren nicht die seinen gewesen. Seine hölzernen Glieder waren steif und nun, da er sie aus eigenem Antrieb bewegen sollte, liefen sie nicht rund, ächzten und rebellierten. Sogar Ryous vertraute Präsenz, sein vehementes Kratzen an seinen Gedanken, sein starrsinniger Wunsch, die Kontrolle über seinen Körper zu erlangen, war einfach fort. Es war der erbärmlichste Zustand, in dem er sich je befunden hatte. Man hatte ihm den Wind aus den Segeln genommen und er trieb apathisch auf einem völlig ruhigen Ozean dahin. Warum also war er überhaupt noch da? Wozu das alles? Warum hatte er nicht einfach auch verschwinden können? Dahin, wo seine Gedanken hin verschwunden waren. Nicht zu denken, aber zu sein – das war die trübsinnigste Form der Existenz. Ich denke, also bin ich. Ich denke nicht – warum bin ich dann noch? Woher sollte er die Kraft nehmen, sich neu zu erfinden? Er war so müde. Er war es so leid. Er hatte doch seinen Zweck erfüllt. Oder etwa nicht? Viele Tage und Wochen verbrachte er so. Er hinterfragte nichts. Er wollte nichts von diesem Leben und von dieser Welt wissen, hatte keine Ansprüche und keine Erwartungen an sie. Zuerst schlief er in leerstehenden Scheunen und manchmal in Kneipen, wenn niemand davon Notiz nahm. Es war Sommer und die angenehm warmen Nächte erinnerten ihn an seine Kindheit. Der Wind, der sanft über ihn hinwegstreifte, bevor er einschlief, fühlte sich nach Heimat an. So oft hatte er abseits der belebten, geschäftigen Hauptstraßen der Hauptstadt in einem leerstehenden Gebäude oder im Freien genächtigt. Er war immer ein Außenseiter gewesen, derjenige, der nicht ganz dazugehörte, der sich nicht einmauern ließ und nirgends hinpasste. Und doch war er nie unglücklich gewesen. Doch hatte es für ihn ein zu Hause gegeben, zu dem er zurückkehren konnte. Es hatte eine Aufgabe gegeben, die ihn ausgefüllt hatte. Jetzt hatte er keine mehr und eine klaffende Leere nagte in seinem Inneren. Nachts, wenn die Welt verstummt war und es unbedeutend wurde, wo er sich befand, dann legten sich diese Erinnerungen auf seine Haut. Umspannen seine Sinne und gaukelten ihm vor, er könne noch immer denken und fühlen. Er kehrte jede Nacht zu ihnen zurück, wie er damals immer wieder in den Palast zurückgekehrt war. Er war für ihn ein Dreh- und Angelpunkt gewesen, der ihn immer wieder erdete, sein Anker. * Er hatte sich an der Dunkelheit der Gassen sattgesehen, an all ihren versteckten Schätzen und dem verruchten Hauch, der ihn dort umwehte. Dort zu wandeln fühlte sich so passend an wie eine zweite Haut. Aber ein kleiner Teil von ihm empfand es doch als unbequem, wollte diese Haut abstreifen, passte nicht vollkommen ins Bild. Und seine Tarnung war nie vollkommen. Aber wenn spät in der Nacht die warmen Lichter der Kerzen im Palast und seine soliden Mauern vor ihm auftauchten, wusste er, wo dieser Teil von ihm hingehörte. Er nahm nie den Vordereingang. Immer schlich er sich unbemerkt ins Innere. Vor Atems Gemach blieb er nachdenklich stehen. Das hier war Atems Welt. Hier schlief er friedlich, hier gehörte er vollkommen hin. Aber er, Bakura, fügte sich auch hier niemals perfekt in die Szenerie ein. Vielleicht war das sein Los: Ein Kind zweier Welten, für immer auf der Suche, nie wirklich angekommen. „Du bist spät“, sagte eine Stimme hinter ihm. Er drehte sich überrascht um. Er hatte sich geirrt: Atem war nicht in seinen Gemächern und er schlief auch nicht. Er war aus seinem Arbeitszimmer getreten und sah ihn mit großen, wachen Augen forschend an. „Ja“, gab Bakura zu, „tut mir leid. Aber du bist ja auch noch auf den Beinen, so mitten in der Nacht.“ Atem seufzte, „Ich hab wohl über diesen neuen Verträgen für die Pächter ein wenig die Zeit vergessen. Bis ich eben Schritte gehört hab.“ „Wir sollten uns einen anderen Rhythmus angewöhnen. Jeder andere träumt um diese Zeit selig vor sich hin“, knurrte Bakura bitter. „Tja, wir sind eben nicht jeder andere“, lächelte Atem ihn aufmunternd an und legte ihm sachte eine Hand auf den Rücken. Vielleicht hatte Bakura sich geirrt. Auch Atem schien nie ganz mit dem Hintergrund zu verblenden. Vielleicht waren sie beide anders. Schon immer gewesen. Und vielleicht war es das, was sie verband. Das einzige, das seinen Puls gleichmäßig schlagen ließ. Das ihm die Idee von etwas wie zu Hause gab. * Atem hatte stets dafür gesorgt, dass Bakura sich weniger einsam gefühlt hatte. Und er konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob es nicht wieder so sein konnte wie damals. Denn er selbst hatte nicht aufgehört zu existieren. Hieß das denn nicht, dass auch Atem noch irgendwo da draußen war? Ja, wenn er die Augen schloss, dann war er sich dessen ganz sicher. Er konnte Atems Existenz fühlen, da sie es war, die ihn mit Leben erfüllte, die ihn fest an diese Welt band. Er hörte die Frequenz dieser verwandten Seele irgendwo auf dieser wirren Welt. Und wenn er sich darauf konzentrierte, dann konnte er alles andere ausblenden und ihrem Klang, ihrem wunderschönen Klagelied lauschen und wie es mit seinem eigenen harmonierte. Eines Tages dann, als er durch irgendeine belanglose Stadt streifte, sah er ihn plötzlich. Ganz unerwartet. Über einem großen Monitor flimmerte sein unverkennbares Gesicht, wie er eine dämliche Spieleshow moderierte. Bakura starrte lange auf den wundersamen Kasten und fragte sich, ob das da wirklich der Atem war, den er irgendwann einmal besser gekannt hatte als sich selbst. Und falls dies zutraf, ob er sich wohl genauso verloren fühlte wie er selbst? Ob er ebenfalls auf der Suche war, ziellos, blind? Eine ganze Weile lang stand Bakura wie versteinert und besah sich das sinnentleerte Treiben auf dem Monitor. „Du verdammter Idiot“, murmelte er dann und schüttelte den Kopf. Von einem Zeitschriftenstand klaubte er sich eines dieser bunt schillernden Magazine, in denen all die Leute waren, die die Menschen hier wie Götter verehrten, wie Götzen anbeteten und nachahmten. Darin las er alles über Atems – oder bessergesagt „Yamis“ – Karriere und was er so getrieben hatte, seit er offensichtlich in die USA ausgewandert war. Wut überkam ihn darüber, dass Atem so sinnlos seine Zeit vergeudete, anstatt all die wichtigen Dinge nicht aus den Augen zu verlieren, anstatt die bedeutsamen Fragen zu stellen, anstatt nach ihm, Bakura, zu suchen. War es möglich, dass Atem einfach all das abgelegt hatte wie einen verschlissenen Mantel, dass er Bakura nicht mehr brauchte? War da überhaupt der kleinste Gedanke an ihn in seinem hübschen, TV-tauglichen Kopf? Und all die Bilder von goldenem Sand, von kolossalen Steinsäulen, vom roten Samt im Palast, all das verblasste in ihm. Wenn Atem es verleugnete, wenn er all das für sich begraben hatte, dann schien es auch Bakura nicht mehr greifbar. War das alles verrottet und tot? Vergangenheit, die keinerlei Fingerabdrücke mehr in der Gegenwart hinterlassen hatte? Sollte das wirklich der Fall sein, dann gab es für Bakura keinen Grund mehr, weiterhin hier zu verweilen. Oder doch? Ein Hauch von Nostalgie überkam ihn, als er nach so langer Zeit in die Straße einbog, in der sein ehemaliger Wirt gelebt hatte. So oft war er traumwandlerisch diesen Weg von der Schule nach Hause gegangen. Vielleicht gab es doch etwas, woran er anknüpfen konnte. Es gab ein weiteres Leben, das er beeinflusst hatte, in dem er eine Rolle gespielt hatte. Das er manipuliert hatte. Und es hatte sich gut angefühlt, die Kontrolle zu haben. Aber er hatte in all den Jahren auch eine Verbindung zu Ryou aufgebaut. Seine Anwesenheit tolerieren gelernt. So sehr, dass es ihm schwergefallen war, sie nach alldem zu entbehren. Sie war zu einer Gewohnheit geworden und er hatte sich unvollständig gefühlt. Nachdem Yami zu seinem Feind geworden war, war Ryou zu dem Menschen geworden, der ihm am nächsten stand und umgekehrt – auch wenn dies für sie beide unfreiwillig eingetreten war. Vielleicht konnte er dieses vertraute Gefühl zurückholen. Er würde alles tun, um die Leere in seinem Inneren zu betäuben. Er konnte nicht sagen, wie lange er auf der gegenüberliegenden Straßenseite gestanden und die verschlossene Tür beobachtet hatte. Im Grunde wusste er nicht, was zu tun war. Und während es um ihn herum dunkelte, verließ ihn jeglicher Wille, zu handeln, und er driftete ab in eine gedankenlose Apathie. Womöglich war das hier auch völlig umsonst. Wahrscheinlich lebte Ryou längst nicht mehr hier. Endlich öffnete sich jedoch die vertraue Haustür und aus dem Schatten der Dunkelheit trat eine vertraute Gestalt. Ryou wirkte älter, aber genauso verschlossen, unsicher, vernarbt wie zuvor. Und als er ihn nun so leibhaftig vor sich hatte, den einzigen Beweis dafür, dass er selbst in dieser Welt existiert hatte, konnte er nicht umhin, sich ihm zu offenbaren. Aber was er sich erhofft hatte, blieb auch diesmal aus. Natürlich. Ryou war die Leinwand gewesen, an der er sich ausgetobt hatte, und er hatte sie mit dunklen Farben gesprenkelt. Ebenso sah es nun in Ryous Seele aus. Sie war voller Angst, voller Fragen. Und voller Wut auf denjenigen, der ihm all das beschert hatte. Wie hatte er glauben können, dass Ryou die Verbindung, die sie geteilt hatten, heute wertschätzen oder zurückwollen könnte? Und doch loderte in Bakura ein großer Ärger darüber auf, dass sein ehemaliger Wirt ihn so barsch abwies. Ja, er hatte ihn gegen seinen Willen für sich beansprucht, aber dennoch waren sie einander nah gewesen. War das denn nichts wert? Und Bakura reagierte mit Hohn. Er wollte Ryou das Fürchten lehren, wollte ihn heimsuchen. Ihm denselben Schmerz fühlen lassen, wie er ihn fühlte, wenn er ihm die Tür seines Lebens vor der Nase zuschlug. Dann zog er sich zurück und leckte seine Wunden. Bis ihm eines Tages wieder eines dieser Magazine in die Hand fiel. Auf der Titelseite waren sie alle zu sehen: Atem – oder zumindest seine leere Hülle –, Ryou, sogar Kaiba, diese fehlgeleitete Reinkarnation von Atems treuem Schoßhündchen. Sie alle waren so eitel, so weit abgetrieben. Wütend knallte er das Magazin in eine öffentliche Mülltonne. Es erfüllte ihn mit Ekel und er wollte diese Stadt am liebsten verlassen. Für immer. Er setzte sich in Bewegung. Doch dann blieb er noch einmal stehen und sah nachdenklich dahin zurück, wo er das Heft hatte liegenlassen. Irgendetwas hielt ihn davon ab, einfach davonzugehen. Nachdenklich starrte er auf Atems Gesicht auf dem Cover. Und dann durchzuckte es ihn plötzlich unvermittelt. Eine eiskalte Klaue hielt seinen Brustkorb fest umklammert. Vor seinem geistigen Auge huschten streiflichtartig Bilder vorbei: ein altes Haus, ein Wald, eine Lichtung, ein bleiches Gesicht, ein stockfinsterer Raum. Er sah Atem, sah Ryou und sogar Kaiba und wie etwas sehr Dunkles sein Netz um sie herum spann. Und er fühlte einen bösen Willen stärker werden. Im nächsten Augenblick war es auch bereits vorbei. Er starrte auf das zerknüllte Magazin hinter dem Gitter des Mülleimers. „Ach, verdammt nochmal“, murmelte er, „es sieht ganz so aus, als bräuchtest du nach all der Zeit nun doch wieder einmal meine Hilfe.“ Vielleicht hatte er sich geirrt. Vielleicht war seine Aufgabe in dieser Zeit noch nicht erfüllt. ~*~ Als Bakura fort war, fühlte Ryou nichts. Nie zuvor hatte er darüber nachgedacht, wie es sich wohl anfühlte, wenn etwas, das einen so lange begleitet hatte, nicht mehr da war. Es war das Gegenteil von einem Gefühl. Ja, jegliches Gefühl, das Bakura ihm gegeben hatte, war verschwunden. Jeglicher Antrieb, jeglicher Sinn, jeglicher Wille. Da war kein Gedanke in seinem Kopf, denn sämtliche Gedanken in den letzten Monaten und Jahren waren ihm eingeimpft worden. Waren nicht die seinen gewesen. Seine hölzernen Glieder waren steif und nun, da er sie aus eigenem Antrieb bewegen sollte, liefen sie nicht rund, ächzten und rebellierten. Er war vollkommen isoliert gewesen. Hatte eine Mauer um sich herum gezogen aus Angst, dass das, was ihn von innen heraus auffraß, sein Gift nach außen versprühen könne. Aber auch Bakura hatte ihn isoliert, hatte ihn wie ein Vehikel auf seine eigenen Bahnen und fort von jeglicher Sozialisation gelenkt. Als seine Stimme in Ryous Kopf verschwunden war, war es still. Entsetzlich still. Manchmal rechnete Ryou jeden Moment damit, sie zu hören, wie sie ihm einflüsterte, was zu tun sei. Manchmal ertappte er sich dabei, wie er sich darauf verließ. Und manchmal, wie ihm diese Stützräder fehlten. Er schaffte es alleine nicht, die Mauern einzureißen, die ihn von allen und allem trennten. Er hatte vergessen, wie es ging. Und manchmal vergaß er in diesem kalten Entzug, dass alles, was Bakura getan hatte, ihn nur scheinbar stark gemacht und immer weiter isoliert hatte. Und wenn er ganz deutlich das Misstrauen in den Augen seiner Freunde sah, in Yugis, Joeys, Tristans und Teas Gesichtern, dann traute er sich selbst nicht recht über den Weg. Vielleicht wollten sie glauben, dass der böse Wille in seinem Inneren verschwunden war, so wie er selbst es glauben wollte. Aber den letzten Funken instinktive Skepsis konnten sie nicht verbergen. * Wer war er? Was wollte er? War er Freund oder Feind? War er Ryou oder war der nur Bakuras Hülle, Zorcs Hülle? Wut überkam ihn, weil all das ihn eigentlich nichts anging. Er war nur ein einfacher Junge gewesen. Vielleicht einer, der immer ein wenig einsamer war als alle anderen. Einer, der wegen dem Beruf seines Vaters oft hatte umziehen und sich neu akklimatisieren müssen. Einer, der viel nachdachte und etwas in sich gekehrt war. Aber wenigstens war er JEMAND gewesen. Jemand mit Werten, Emotionen und Plänen. Aber dann änderte sich plötzlich alles. Es war einer dieser Tage nach dem Tod seines Vaters gewesen, an denen er sich besonders einsam gefühlt hatte. Nachdem sie Ägypten verlassen hatten, war er nun seit ein paar Monaten in einer neuen Stadt und in der Schule waren alle sehr nett und offen zu ihm. Aber richtige Freundschaften hatte er dennoch nicht geschlossen. Manchmal bildete er sich ein, dass die anderen hinter vorgehaltener Hand über ihn tuschelten. An diesem Tag spürte er sie zum ersten Mal, diese Wand, die sich zwischen ihm und der Welt um ihn herum auftat. Später hatte er sich immer wieder gefragt, ob sie schon immer dagewesen war oder ob er selbst keine Schuld daran trug, sondern sein unheilvoller Parasit. Wahrscheinlich lag die Wahrheit irgendwo dazwischen. Sein Matheheft lag unbeachtet vor ihm auf seinem Schreibtisch. Er konnte sich nicht dazu durchringen, sich den Gleichungen darin zuzuwenden. Versunken betrachtete er das mystische Artefakt, das sein Vater ihm aus Ägypten mitgebracht hatte. Er hatte es behalten, obwohl es dessen Verhängnis gewesen war. Aber für Ryou war es dennoch ein Erinnerungsstück und er fand es genauso beängstigend wie schön. Hypnotisiert beobachtete er, wie sich die Sonne, die zum Fenster hereinschien, in seiner goldenen Oberfläche brach. Er strich über die feinen Kegel des Gegenstandes, die leicht klirrten. Fast als wären sie mit Leben erfüllt. „Du musst nicht allein sein“, sagte eine Stimme, „du kannst jemand sein. Jemand anders.“ Ryou schüttelte amüsiert den Kopf. Heute war alles höchstseltsam. Er stand vom Schreibtisch auf, um sich ein Glas Wasser aus der Küche zu holen. Doch kaum hatte er sich weggedreht, hörte er hinter seinem Rücken ein helles Klirren und einen dumpfen Schlag. Er fuhr herum um – und der Milleniumsring lag vor ihm auf dem Boden. „Komisch“, murmelte er. Heute schien er irgendwie neben sich zu stehen. Er bückte sich, um den Ring aufzuheben. Plötzlich bemächtigte sich ein sonderbares Gefühl seiner Fingerspitzen und etwas Seidiges, Dunkles kroch durch seine Hände und Gliedmaßen in ihn hinein. So fühlte es sich zumindest an. Etwas füllte ihn mit einem Mal vollkommen aus und eine nie gekannte Ruhe überkam ihn. Er fühlte sich anders, sah alles wie durch eine Wand aus finsteren Nebelschwaden und doch ungewohnt klar. Und er war – sicher, aufgehoben. Weniger verloren. Hätte er sich wehren sollen? Hätte er sich fragen sollen, was mit ihm geschah? Die dunkle Präsenz abstoßen und daran hindern sollen, immer weiter und weiter in seiner Seele Fuß zu fassen? Aber von diesem Moment an war alles so einfach. „Lass mich das Ruder übernehmen. Ich kann dir helfen“, flüsterte ihm die samtene Stimme zu, lullte ihn ein. Manchmal war sie lauter zu hören und manchmal war sie so gut wie verschwunden. Aber Ryou wusste, dass sie niemals fern war. Seine Erinnerungen wurden von diesem Zeitpunkt an verschwommen, verliefen ineinander. Er zog wieder mit seiner Mutter um, lernte Yugi und seine Freunde kennen. Von da an änderte sich etwas. Die dunkle Präsenz in ihm drin war von diesem Moment an nun mehr als entschlossen und legte eine völlig neue Aggressivität an den Tag. Und zum ersten Mal begriff Ryou die Ausmaße ihrer Macht. Er sorgte sich um Yugi und die anderen und es war ihm seit Langem nicht mehr egal, was mit den Menschen in seinem Umfeld geschah. Aber der Geist des Ringes drängte ihn mit Gewalt in die hinterste Ecke seines Verstandes, wo er kauerte und sich vorwarf, dass er zu schwach war. „Ja, das bist du. Du bist schwach“, sagte die Stimme in seinem Kopf, untermalt von einem hämischen Lachen, „aber keine Sorge. Dafür hast du ja mich. Ich kann dir helfen, stark zu sein.“ „Aber ich will deine Hilfe nicht. Ich will stark sein, damit ich dich endlich loswerden kann. Ein für alle Mal. Und damit niemandem, den ich mag, etwas passiert!“ „Du kleiner Narr“, schmunzelte der Geist des Ringes, „das meinst du nicht wirklich so.“ Und er hatte Recht. Da waren diese Momente, viele kleine Momente, in denen Ryou durch die Straßen lief, ausgefroren und ziellos. Er saß nachmittags in seinem Zimmer. Allein. Dann lullte er sich in die hypnotische Gesellschaft seines unsichtbaren Begleiters. Dann waren sie eins und alles war leichter. Alles draußen fühlte er nur wie durch eine dicke Membran. Alles hier drin fühlte sich echt an, gehaltvoll. Und sie redeten. Meistens ohne Worte. Kommunizierten mit Gefühlen und Bildern. Irgendwie schlugen ihre Seelen denselben Rhythmus an und von Tag zu Tag, von Monat zu Monat, verwoben sie sich fester miteinander und das Gespinst, das sie produzierten, wurde robuster und widerstandsfähiger. Bis der Geist zu einem Teil von Ryou geworden war. Er brauchte ihn, genauso wie er sich einredete, dass der Geist auch ihn brauchte, um zu überleben. Die perfekte Symbiose. Aber all das war nicht wahr gewesen. Der Geist hatte ihn benutzt. Schäbig und schamlos. Und im Grunde hatte er es immer gewusst. Hatte auch gewusst, dass er der Verantwortliche für den Tod seines Vaters war. Er hatte nur die Augen davor verschlossen. Der Geist des Ringes hatte sein Ziel nie aus den Augen verloren, hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt und war über Leichen gegangen, um es zu erreichen. Ryou war nur sein Werkzeug gewesen, er hatte von ihm gezehrt. Es war keine echte Symbiose gewesen, denn der Geist war und blieb parasitär. Und am Ende hatte er bekommen, was er verdient hatte. Ryous Leben aber war zum Stehen gekommen. Bakura war fort und Ryou war noch hier. Vollkommen alleine. Und die erste Entscheidung, die er ohne die leitende Stimme in seinem Kopf treffen musste, war: Was anfangen mit dem Rest seines Lebens? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)