Jade's Diary von Dorkas ================================================================================ Prolog: Die Farbe Blau ---------------------- Der Himmel ist blau. Das Meer ist blau. Was haben beide gemeinsam? Je weiter man dem Himmel folgt und je tiefer man sich in die Untiefen des Meeres flüchtet desto dunkler und unberechenbarer werden sie. Wer weiß schon was in der Schwärze des Alls oder der Dunkelheit der Tiefsee vor sich geht? Unergründet und doch verbunden durch die Farbe Blau. Wie du siehst, komme ich deinem Wunsch nach. Ich schreibe. So wie du und der Dummschwätzer von Therapeut es immer gewollt haben. Erwarte kein Meisterwerk von mir. Ich philosophiere einfach über das, was mich beschäftigt. Du weißt doch, dass ich kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Ich hätte niemals Schriftstellerin werden können. Ein heilloses Durcheinander. Zwischen den Zeilen. In meinem Kopf. Weißt du, warum ich mich dazu entschlossen habe, dir zu schreiben, auch wenn ich weiß, dass du es niemals lesen wirst? Weil ich der Meinung bin, dass du die Wahrheit verdient hast. Die gänzlich brutale Ehrlichkeit, die du damals nicht sehen konntest. Ich tue das für dich, was ich eigentlich niemals wieder tun wollte: ich blicke zurück. Ich sehe zurück auf die Scherben unserer gemeinsamen Vergangenheit, auf die Trümmer unserer gescheiterten Existenzen... Wenn ich mich an deinen Blick zurück erinnere, weiß ich jetzt, dass du es damals schon wusstest. Nur ich hatte es noch nicht erkannt. Es ging zu Ende. Unsere gemeinsame Zeit war limitiert. Du hast sie limitiert. Mom? Dieses Mal wirst du mir zuhören. Ich erzähle dir das, was du niemals hören wolltest. Das, was keine Mutter jemals hören will. Kapitel 1: Sieben ----------------- Eine intelligente Frau sagte einst "Verliere dich selbst nicht in dem, was du tust." Ich denke, sie wollte mir damit Mut machen und mich zu Entscheidungen antreiben, die vielleicht nicht jeder unterstützt, aber die für mich wichtig und wertvoll sind. Danke für den Rat, Mom, doch ich würde das hier sicher nicht schreiben, wenn ich mich daran gehalten hätte. Manchmal muss man sich selbst aufgeben, um für jemand anderes da sein zu können. Man muss Träume aufgeben, damit der andere sich nicht selbst aufgibt. Mom? Ich habe wirklich gedacht, dass ich ihm helfen kann. Ich wollte die Person sein, auf die er sich verlassen konnte. Diejenige, die immer für ihn da war. Die, die auch bei ihm blieb, wenn sie ihn hasste. Glaub mir, ich habe es versucht. Ich hasse ihn, Mom. Das tue ich. Aber so sehr ich mich von ihm entfernen will, desto mehr schweiße ich mich an den einzigen Teil, der von unserer Familie noch übrig ist. Wie kann man jemanden lieben, den man hasst, Mom? War es bei dir und Dad genauso? Einer der seltenen, verregneten Herbsttage in Kalifornien. Es müssen trotzdem noch um die 23 Grad gewesen sein. Kannst du dich an diesen Tag Anfang November noch erinnern? Es war mein siebter Geburtstag. Eigentlich wollte ich eine Poolparty mit meinen Freundinnen veranstalten, doch wegen dem Regen habt ihr es nicht erlaubt. Ich hatte mir wie jedes Jahr neben den Geschenken, die ich auch bekommen habe, einen Welpen gewünscht, der leider nie in unserem Haus Einzug gehalten hat. Ich weiß noch, wie bitterlich ich jedes Jahr aufs Neue geheult habe, wenn mir bewusst wurde, dass wieder kein Hundebaby unter den Geschenken war. Innerlich wusste ich es jedes einzelne Mal, doch die Dramaqueen in mir ließ nie locker. Meinen Frust musste ich mit der ganzen Welt teilen. Wie hast du es nur mit mir ausgehalten? Ich weiß noch, dass Nev in diesem Jahr 12 Jahre alt geworden ist. Und ihr habt ihn immer noch dazu genötigt, mit mir zu spielen. Erstaunlich, dass er so lange durchgehalten hatte. Vielleicht hatten wir beide zu dieser Zeit noch Respekt vor Dad. Ich wollte damals immer und immer wieder nur dieses eine Spiel spielen. Er sollte mein König sein und ich seine Königin. Was auch immer ich so interessant an diesen royalen Eskapaden fand. Keiner von uns verhielt sich wirklich königlich und sonderlich brav waren wir auch nie. Es ist leicht im Nachhinein zu sagen "Hätte ich gewusst, wie es endet, hätte ich alles anders gemacht." Wir waren Kinder. Wir wussten es zu diesem Zeitpunkt noch nicht besser. Mom? Ich wusste, dass ihr Nev den Plüschhund besorgt habt, damit er ihn mir ganz stolz als Geschenk überreichen konnte und behaupten konnte, dass es seine Idee war. Ich habe mich unheimlich darüber gefreut. Es war kaum in Worte zu fassen. Dieser Junge damals war der Bruder, den ich geliebt habe. Ich kann dir nicht sicher sagen, wie viel von ihm heute noch übrig ist. Manchmal meine ich einen Funken, nicht mehr als einen aufglimmenden Schimmer, von ihm zu sehen, doch es ist nicht einfach für mich. Meine Wahrnehmung ist getrübt. Ich bin vom Weg abgekommen. Doch du kannst trotzdem stolz auf mich sein, Mom. Ich tue es nicht mehr so häufig wie früher. Es geht mir besser. Das musst du mir glauben. Ich verspreche es dir. Lügen... Fühlt es sich so an, wenn man die Kontrolle über sein eigenes Leben verloren hat? Oder wurde sie mir aus den Händen genommen...? Es ist einer der ersten Geburtstage, an die ich mich erinnern konnte, Mom. Für einen Moment war alles perfekt. Und dann weiß ich es wieder. Dann fällt mir wieder ein, warum ich mich ausgerechnet an diesen Geburtstag erinnern kann. Damals wusstest du es noch nicht. Nev erzählte mir später, dass er es geahnt hatte. Es war der Tag, an dem ich zum ersten Mal Angst vor Dad hatte. Es macht mich traurig, ihn so in Erinnerung zu haben, doch ab diesem Zeitpunkt wurde alles nur noch schlimmer. Mom? Er hat Nev und mich geschlagen. Wir wussten damals nicht einmal wieso. Ich gehe stark davon aus, dass du es erst erfahren hast, als bereits alles zu spät war. Zumindest möchte ich so denken. Es wäre eure Aufgabe als Eltern gewesen, uns zu Größerem anzutreiben und uns nicht klein zu halten. Jetzt seht nur, was aus uns geworden ist. Mom? Ich habe den Plüschwelpen immer noch. Er erinnert mich an die guten und schlechten Zeiten. An den Regen und Nevs freundliche Geste. Auch an das Gewitter, das am Abend tobte. Ich hatte schreckliche Angst und hatte mich im Schrank versteckt. Du weißt es sicher nicht mehr, oder? Nein, es war nach dem ersten Übergriff von Dad. Nev hat mich gefunden. Er kam zu mir in den Schrank gekrochen, ohne ein Wort zu sagen. Es war so, als wusste er genau, was ich in diesem Moment dachte. Wenn ich überhaupt an etwas gedacht habe. Ich liebte ihn dafür, dass er für mich da war. Er musste nicht einmal viel machen. Er war einfach dort, zusammen mit mir in meinem Kleiderschrank, während der Sturm draußen tobte. Ich weiß nicht mehr genau, ob es dieser Moment war, aber er war Teil meiner Veränderung. Da bin ich mir sicher. Es war ausschlaggebend für meine Entscheidung, Pasadena nicht zu verlassen. Aber Mom? Das erzähle ich dir ein anderes Mal. Kapitel 2: Wach auf ------------------- Kennst du das, wenn man in einem Traum plötzlich weiß, dass man nur träumt und instinktiv versucht, aufzuwachen? Ab meinem siebten Geburtstag fühlte sich mein ganzes Leben wie ein einziger Alptraum an, aus dem es mir unmöglich war, jemals wieder aufzuwachen. Ich fühlte mich wie eine leere Hülle. Eine Marionette an Fäden, die ein anderer in der Hand hielt. Im Nachhinein scheint es mir fast so als wäre ich die geborene Marionette gewesen. Mein Leben entglitt mir. Plötzlich lief alles aus dem Ruder. Dads Übergriffe wurden von Tag zu Tag schlimmer. Aber nicht nur mir gegenüber. Sein Hauptziel, was Gewalt anbelangte, war und würde immer Nev sein. Mom? Wie konntest du unseren Lügen Glauben schenken? Konntest du nicht sehen, dass unsere Verletzungen nicht vom Spielen oder von irgendeinem Sturz herrührten? Wir hatten schreckliche Angst. Ich hätte alles erzählt, nur um nicht länger über dieses Thema sprechen zu müssen. Nev war da anders. Er schwieg. Generell hatte ich oft den Eindruck, dass er der Stärkere von uns beiden war. Er verarbeitete die Dinge auf eine andere Weise als ich. Doch keine unserer Herangehensweisen half uns weiter. Ich kann mich noch an den Tag erinnern, als die Schule zum ersten Mal bei uns zuhause anrief. Ich müsste so um die 11 Jahre alt gewesen sein. Ausnahmsweise ging es einmal nicht um Nev, sondern um mich. Ich kann mich noch an deinen Blick erinnern, als mein Name am Telefon fiel und nicht der meines Bruders. Kam es wirklich so überraschend für dich? Du schienst dir sicher zu sein, dass ich nur etwas angestellt hatte, um Aufmerksamkeit zu bekommen, doch die Stimme am Telefon sorgte dafür, dass dir deine Gesichtszüge entglitten. Ich wusste, dass es Ärger geben würde. Ich wusste es. Und doch war es wie ein stummer Hilfeschrei, den du damals ignoriert hast. Meine Lehrerin klagte über meine anhaltende Teilnahmslosigkeit, meinen Unmut bei jeder Aufgabe, die ich zu verrichten hatte und darüber, dass ich hin und wieder einschlafen würde während des Unterrichts. Kein Wunder. Nachts war ich zu beschäftigt damit, mich unter der Bettdecke zu verkriechen und zu beten, dass er nicht zurückkommen würde. Zu dieser Zeit war kaum an Schlaf zu denken. Doch das, was der Lehrerin am Besorgniserregendsten erschien, waren wohl meine kleinen Kunstwerke, die hin und wieder in kreativen Phasen entstanden. Ich selbst kann mich nicht mehr erinnern, wie ich auf die Motive kam. Es war fast so, als würde ein Geist meine Hand über das Papier führen. Ich zeichnete das, wovor ich mich fürchtete. Das, was mir Angst machte. Ich abstrahierte mein eigenes Leben und das, was noch passieren könnte, ohne das jemand davon Notiz nahm. Sie sahen nur die Dunkelheit und die negativen Eindrücke, die meine gesunde Entwicklung behindern konnten. Sie hatten keine Ahnung, dass meiner Entwicklung längst etwas im Wege stand. Ich gab nicht auf. Selbst nachdem Miss Blake euch kontaktiert hatte. Meine Zeichnungen waren voller Hinweise. Versteckte Botschaften, die niemand sehen wollte. Sie verschlossen die Augen vor der Wahrheit. Leichen, die am Galgen baumelten. Kinder, die verlassen in der Ecke in ihrem eigenen Urin hockten. Kinderaugen, die zu viel gesehen hatten und daher in einem Glasbehälter aufbewahrt wurden. Ich kann mir vorstellen, dass es euch Angst gemacht hat. Mein damaliges Ich schien damit ein Zeichen setzen zu wollen. Und auch Nev war zu dieser Zeit in seinem Leben fleißig damit beschäftigt, sich zu verewigen. Vor allem in seiner Schulakte. Ich war zwar ein Kind, aber nicht dumm. Nev war zu diesem Zeitpunkt bereits 16 Jahre alt und sprang immer nur knapp der Strafverfolgung von der Schippe. Mom? Ich weiß, dass du wegen ihm oft geweint hast, weil du nicht wusstest, warum er das tat, was er tat. Ich kann dich verstehen. Ich weine auch wegen ihm. Nur nicht auf deine Art. Ich kann mir vorstellen, dass es schwierig für euch war, seine Aussetzer vor mir geheim zu halten, vor allem wenn ich sie in der Schule live miterlebte. Ich wusste, dass er oft in Schlägereien verwickelt war. Eine seiner liebsten Arten mit seinen Emotionen umzugehen, wenn man es so nennen wollte. Ich hatte deshalb nie Angst vor ihm. Nicht so wie alle anderen Mitschüler oder Lehrer. Ihr wusstet letztlich nicht einmal mehr, wie ihr mit ihm umgehen solltet. Zumindest du nicht, Mom. Dad wusste genau, was zu tun war. Es endete für ihn immer nur in mehr Bestrafungen. Ach Dad, du feiges Arschloch. Hättest du mal die Finger vom Alkohol und deinen Kindern gelassen, wärst du heute vielleicht noch hier. Vielleicht wären wir noch eine Familie. Du bist schuld daran. Erinnerst du dich an den Tag, an dem ihr beschlossen hattet, dass Nev und ich einen Therapeuten sehen sollten? Es war der Tag, an dem Nev von den örtlichen Schulaufsehern nach Hause gefahren wurde, weil er auf dem Schulgelände in Besitz einer Waffe gewesen sei. Es handelte sich dabei um ein Messer, was natürlich sofort eingezogen wurde. Während es euch schockierte, wundert es mich heute im Nachhinein kein Stück. Und selbst damals überraschte es mich nicht, denn ich wusste, dass er es dabei hatte. Ich habe nur niemandem davon erzählt. Ob er wirklich vorhatte, es zu benutzen? Wir werden es wohl nie herausfinden. Ich habe ihn nie danach gefragt. Ich bin mir nur mit meinem heutigen Wissen sicher, dass er definitiv dazu in der Lage gewesen wäre. Damals hätte ich ihm das nie zugetraut. Die schönen Jahre zuvor, in denen ich meinen Bruder liebte und respektierte, gehörten nun der Geschichte an. Der Schulalltag hielt Einzug und wir veränderten uns. Ich kann mich noch lebhaft an meine erste Sitzung mit der Therapeutin erinnern. Misses Hershel. Eine angenehme, schon etwas ältere Frau mit einer beruhigenden Stimme. Bei Nev hatte sie nicht sonderlich viel Erfolg, aber ich lauschte ihr nur zu gerne. Natürlich sollte eigentlich ich die meiste Zeit erzählen, doch ich genoss es, wenn sie zwischendurch von ihren Metaphern sprach. Nev hatte, was die Psychologensache anging, leider nicht so viel Glück wie ich. Nach wirklich etlichen von möglichen Kandidaten gabt ihr es auf, einen geeigneten Platz für ihn zu finden. Er nahm keine Therapie wirklich an und verhielt sich respektlos wie viele Jungen in seinem Alter. Ihr wart dumm, dass ihr nicht weiter bis zum Umfallen gesucht habt. Doch das ist nun nicht mehr euer Problem. Leider habe ich mich damals nicht einmal Misses Hershel anvertrauen können. Sie brachte mir Vertrauenswürdigkeit entgegen, doch ich log. Ich log aus Angst. Angst davor, unsere Familie vollends auseinander zu reißen. Nev und mein Band würde völlig zerstört werden und nichts wäre mehr so, wie es einst war. Das konnte ich nicht zulassen. Letztlich schwärzte ich einen von Nevs Schulkameraden an, von dem ich wusste, dass er ihn nicht leiden konnte. Ich behauptete, dass er mich die Treppe hinunter gestoßen hatte und mich hin und wieder hinter der Schule geschlagen hätte. Misses Hershel handelte fast sofort, nachdem sie mein vermeintliches Vertrauen gewonnen hatte und informierte meine Eltern und die Schule. Tja, Derek, so hieß der gute Schläger, war ab diesem Zeitpunkt vorbestraft, erhielt eine saftige Arbeitsauflage und musste uns Schmerzensgeld bezahlen. Daran erinnerst du dich bestimmt noch, oder? Schließlich konnte ich in deinem Blick sehen, dass du dachtest, nun endlich die Wahrheit zu kennen. Nein Mom, nicht Derek hat uns das angetan. Ich weiß nicht einmal mehr, ob ich damals Schuldgefühle hatte. Wenn dann wurden sie von meiner Angst übermannt. Ich wollte einfach nur, dass die Fragen endlich aufhörten. Ich vermute, dass Nev wusste, dass meine Geschichte mit Derek frei erfunden war. Ich habe es ihm nie erzählt, doch so wie er mich an diesem Tag angesehen hat, war es ihm klar. Er durchschaute mich. Jede einzelne meiner Fasern. Ich war ein offenes Buch für ihn, in dem er einfach nur blättern musste, um die Antwort zu finden. Und dafür waren meist keine Worte nötig. Erst jetzt weiß ich, wie man das Buch mit einem Schloss versieht. Letztlich war nur eines sicher: Derek war weg, doch die blauen Flecken blieben. Nichts veränderte sich außer Nev und mir. Wir waren inkompatibel für das Leben, das wir führten. Fast so wie eine Diskette, die man versuchte in ein CD-ROM-Laufwerk zu packen. Wir fühlten immer weniger und zumindest ich konnte damit nicht umgehen. Es folgten meine ersten Erfahrungen mit Schmerz, den nicht Dad mir zufügte. Es waren deine Rasierklingen, Mom, die ich zweckentfremdete, um etwas außer völliger Taubheit fühlen zu können. Ich verstand, dass ich irgendetwas getan haben musste, um dieses ganze Elend zu verdienen. Und aus irgendeinem Grund sorgten die blutigen Schnitte auf meiner Haut dafür, dass ich mich besser fühlte. Als würde ein Stück weit der ganze Stress der letzten Jahre von mir abfallen. Es war wie ein kurzer Moment der Ekstase, was ich natürlich zu diesem Zeitpunkt noch nicht verstand. Wer würde die Schnitte schon bemerken? Die blauen Flecken und Blutergüsse waren auch allen egal. Ich nutzte meistens Stellen, an denen es niemandem auffallen würde. Meine Oberschenkel waren mein liebstes Ziel. Nev war der einzige, dem es auffiel. Er konnte spüren, was ich tat. Er wusste, was ich mir zufügte, um loslassen zu können. Ich weiß, dass du es nicht mitbekommen hast, Mom. Du warst zu diesem Zeitpunkt draußen und hast die Wäsche aufgehangen. An diesem Nachmittag kam Nev zu mir ins Bad und erwischte mich bei meinen Machenschaften. Ich war nicht wütend, sondern nervös. Ich wusste nicht, ob er es euch erzählen würde, aber da niemals ein Wort zu diesem Thema folgte, gehe ich davon aus, dass ihr es nie erfahren habt. Entgegen meiner Erwartungen war sein Blick ruhig. Er regte sich weder auf, noch war er sonderlich überrascht oder geschockt. Er starrte bloß auf meine blutigen Beine und auf die Klinge zwischen meinen Fingern, während ich still hielt und mich nicht einmal traute, zu atmen. Es fühlte sich an, als würde sich dieser Moment in Zeitlupe in meiner Erinnerung abspielen. Er kam auf mich zu, ging vor mir in die Hocke, nahm mir die Klinge aus der Hand und blickte auf meine Schnittwunden herab. Ich wüsste zu gerne, was in diesem Moment in seinem Kopf vor sich ging. Was hat er gedacht? Verurteilte er mich dafür? Warum war es ihm nicht unangenehm mir in solch einer Situation nah zu sein? Das Gefühl, als er seinen Finger über meine Verletzung fahren ließ, werde ich niemals vergessen. Es hat sich in meine Gedanken gebrannt, weshalb ich es jedes Mal aufs Neue spüre, wenn ich bloß daran denke. Es war kein wirklicher Schmerz. Ich kann es bis heute nicht wirklich einordnen. Aber es ängstigt mich, wenn ich es mit den Gefühlen vergleiche, die ich kenne. Es ähnelt nur einem von ihnen. Und über dieses möchte ich weiß Gott nicht reden. Ich weiß noch, dass er mich nach dem 'Warum' fragte. Ich konnte ihm keine klare Antwort geben, aber ich wusste, dass er es verstand. Wir waren zwar keine Zwillinge, aber unsere Verbindung war stärker. Wie konnte ich mich nur so in etwas verrennen? Das Bild von meinem Blut an seiner Hand brannte sich in meine Synapsen. Manche Menschen bringen das Beste in dir zum Vorschein... und andere das Schlimmste, nicht wahr? Kapitel 3: Unschuld ------------------- Wenn man das Wort 'Unschuld' in einem Wörterbuch nachschlägt, stößt man zu allererst auf Begriffe wie Unbefangenheit, Unwissenheit und Moral. Als Kind sollte man eigentlich ein Paradebeispiel für diese Begriffe darstellen. Ein unschuldiges Mädchen verurteilt niemanden und geht unbefangen durch die Welt. Ein unschuldiges Mädchen ist unwissend vor dem, was noch kommen könnte, auch wenn es vielleicht nie eintrifft. Ein unschuldiges Mädchen lernt durch seine Eltern den Wert von Moral und weiß diesen zu schätzen. Doch wenn man nach dieser Definition geht, könnte man nicht unbedingt sagen, dass ich jemals wirklich unschuldig war. Und erst recht nicht mehr nach meinem 13. Lebensjahr. Du wirst dich vermutlich nicht mehr daran erinnern, aber es geschah im Frühjahr meines dreizehnten Jahres auf der Erde. Ich bete sogar dafür, dass du dich nicht erinnerst. Nev wurde in diesem Jahr 18 Jahre alt und diente hin und wieder als mein Chauffeur, der mich zu meinem Cheerleadertraining kutschieren sollte. Ich hatte es im vergangenen Winter endlich ins Juniorteam geschafft und freute mich wahnsinnig. Ich weiß noch, dass wir zusammen im Einkaufszentrum nach farblich passenden Schleifchen zur Uniform gesucht hatten, Mom. Einer der unbeschwerten Tage. Ich liebte es, außerhalb des Hauses mit dir Zeit zu verbringen. Vor allem nachdem Dad wegen seiner Arbeitsunfähigkeit seinen Job verloren hatte und er nur noch zuhause rum lungerte. Wir hatten keine wirklichen Geldprobleme, seine Unzufriedenheit ging einzig und allein von ihm aus. Er war unzufrieden mit seiner Situation und mit sich selbst. Und das projizierte er hauptsächlich auf uns, seine Kinder. Mom? Ich war damals noch zu jung und als ich alt genug gewesen wäre, um dich zu fragen, warst du nicht mehr da. Hat er dich auch geschlagen? Ich bin mir fast sicher, dass Nev mehr dazu weiß, aber ich habe mich nie getraut, ihn zu fragen. Ehrlich gesagt wollte ich es vielleicht auch lieber gar nicht wissen. Das Thema belastet mich auch nach Jahren immer noch sehr. Dafür schien mir das Cheerleadertraining das zu geben, was ich seit Jahren vermisste: Geborgenheit, Unterstützung und Interesse an meiner Person. Es fühlte sich an, als wäre ich etwas wert. Die Mädchen, die später meine Freundinnen sein sollten, bildeten eine Einheit und ich gehörte dazu. Zum ersten Mal in meinem Leben gehörte ich dazu. Und es fühlte sich unfassbar gut an. Heutzutage würde man vermutlich sagen, ich gehörte zu den 'beliebten Kids'. Eine furchtbare Gruppierung aus heutiger Sicht, aber damals war es nun einmal so. Man hielt sich für etwas besseres und wurde dafür auch noch von allen anderen bewundert. Man fühlte sich besonders, weil die Aufmerksamkeit der anderen einen selbst dazu antrieb. Und diese Aufmerksamkeit war wie eine Sucht. Irgendwann wollte man nur noch bewundert werden und ein Vorbild für andere sein. Gut, man sollte sich generell kein Vorbild an Teenagermädchen nehmen, aber man fühlte sich damals eben wichtiger als man war. Gerade als ich begonnen hatte, wieder etwas Selbstvertrauen zu erlangen, schien Dad es sich zur Aufgabe machen zu müssen, es wieder zu zerstören. Ich weiß nicht, was ihn dazu trieb. Ich will es auch lieber gar nicht wissen, weil ich mich im Nachhinein über die Maßen schämte. Es war eine Pein, die keine Tochter durch ihren Vater erleben sollte. Mom? Eines Abends nach meinem Training kam Dad in mein Zimmer und drohte mir Schläge an, wenn ich ihm nicht gehorchen würde. Ich bin mir ziemlich sicher, dass du währenddessen unten in der Küche warst und abgespült hast. Nev war vermutlich in seinem Zimmer. Dad stank stark nach Alkohol und wirkte generell nicht mehr sonderlich zurechnungsfähig. Doch was dann geschah, rechtfertigte auch jegliche Alkoholisierung nicht mehr. Er griff zuerst nach dem, was man wohl noch kaum eine weibliche Brust hätte nennen können, brachte mir Worte entgegen, an die ich mich lieber nicht erinnern möchte und fasste mir schließlich mit festem Griff zwischen die Beine. Sekunden vergingen wie Stunden. Natürlich wehrte ich mich nicht. Ich hatte viel zu große Angst vor den angedrohten Schlägen. Ich verstand ihn nur nicht. Ich verstehe ihn bis heute nicht. Warum konnte er seinem eigenen Fleisch und Blut so etwas antun? Ein unschuldiges Kind zu beschmutzen, das doch bereits von der restlichen Vergangenheit mit ihm gezeichnet war. Und mit einem Wimpernschlag schien das ganze Selbstbewusstsein dieses kleinen Wesens wie ein Kartenhaus zusammen zu fallen. Direkt über ihrem Kopf. Es blieb natürlich nicht bei diesem einen Mal, Mom, aber ich bin mir fast sicher, dass du genug gehört hast. Falls es dir wichtig wäre: er hat mich nie gefickt. Zumindest nicht mit seinem Geschlechtsteil. Mom? Ich verstehe einfach nicht, wie du so einen Mann lieben konntest. Hat er dich so erfolgreich manipuliert, dass du es nicht von selbst erkannt hast? War die schauspielerische Leistung deiner 13-jährigen Tochter wirklich so überzeugend? Wolltest auch du nicht, dass unsere Familie auseinander fällt, egal um welchen Preis? Du erinnerst dich doch bestimmt, dass ich ab diesem Zeitpunkt immer häufiger krank war und gebrochen hatte. Damit wollte ich ihn von mir fernhalten. Meine spätere Taktik schien allerdings mehr zu fruchten: bei Freundinnen übernachten. Es stimmte nicht, dass ich zu cool war, um mit dir Zeit zu verbringen. Ich wollte einfach nur keine Zeit mit ihm verbringen. Er machte mir Angst und ich ekelte mich vor ihm. Ich brauchte Abstand und diesen suchte ich in jeder freien Minute. Ich besuchte jede schulische Aktivität, ich verabredete mich mit Freundinnen, ich vernachlässigte sogar meinen Bruder und nahm es billigend in Kauf, dass er ihn statt meiner anschrie und schlug. Das ist das Einzige, was ich daran zu tiefst bereue. Dass ich Nev im Stich gelassen hatte. Generell waren wir während meiner Schulzeit nicht sonderlich gut aufeinander zu sprechen. Wir sonderten uns voneinander ab. Er, der Außenseiter und ich, die Cheerleaderin. Jede meiner Freundinnen kannte ihn oder hatte zumindest von seinen Eskapaden in seiner eigenen Schulzeit gehört. Selbst nachdem er die schulische Laufbahn abgeschlossen hatte, wusste jeder, dass ich Neven Mansons kleine Schwester war. Kein sonderlich guter Ruf, aber sie erkannten den Unterschied zwischen uns. Damals war er mir mehr als peinlich, aber wer konnte das schon nicht über seinen älteren Bruder behaupten. Vor allem in der Pubertät. Erst später habe ich mich getraut, mit ihm über die Sache mit Dad zu sprechen. Er wusste, dass er mich auch geschlagen hatte, aber nichts von den sexuellen Übergriffen, die nach meinen Suizidgedanken mit 14 Jahren und meinem häufigen Fernbleiben von Zuhause mit 15 Jahren deutlich abflauten. Nevs Reaktion darauf war wie gewohnt erschreckend ruhig und trotzdem fühlte es sich so an, als wäre er für mich da. Selbst wenn wir nicht das beste Verhältnis in dieser Zeit hatten. Ich vertraute ihm und das war die Hauptsache. Zu diesem Zeitpunkt kann ich mich auch zum ersten Mal an seine blauen Haare erinnern. Ich habe keinen Schimmer, wann er begonnen hatte, sie so zu tragen, doch ich kann ihn mir nicht mehr ohne sie vorstellen. Sie waren ein Teil von ihm und sind es noch. Eine Sache, an die ich mich immer gerne erinnern werde. Egal, wie ruhig er in diesem Moment auf die schlimmste Beichte einer Schwester reagiert hatte, ich wusste ja nicht das, was ich heute weiß. Und das, was noch kommen würde. Mit "Sweet 16" schien zumindest mein Leben wieder in halbwegs normalen Bahnen zu verlaufen. Was man eben normal nennen konnte. Ich ging Dad aus dem Weg, mied den Kontakt zu ihm und leider auch zu dir, Mom. Das war sicher nicht meine Absicht, aber ich hatte keine andere Wahl. Nev beschäftigte sich mit Gelegenheitsjobs nach seinem Abschluss und wurde dafür von Dad als 'Taugenichts' beschimpft. Ich wurde Captain des Cheerleaderteams und rückblickend eine unglaubliche Nervensäge. Beliebtheit und die Bewunderung anderer bringen das Schlimmste in einem Menschen zum Vorschein. Ich entdeckte mein persönliches Biest, jedes Mal aufs Neue, wenn ich in den Spiegel sah. Ich war glücklich, irgendwie. Doch meine Familie hatte ich entzweit. Man konnte nicht mehr wirklich von einem intakten Zusammenleben sprechen und das musst auch du zu diesem Zeitpunkt gemerkt haben, Mom. An sich war nicht ich daran schuld, sondern Dad. Doch ich war der Part, der aktiv den übermäßigen Kontakt zu euch eingeschränkt hatte. Für Nev und dich tut es mir am meisten leid. Mit 16 Jahren war ich ziemlich entschlossen, nach meinem Abschluss Pasadena zu verlassen und nie wieder auch nur einen Fuß in diese Stadt zu setzen. Ich wollte alles hinter mir lassen um Schauspiel zu studieren. Soweit mein Plan damals. Dass es niemals zur Ausführung kommen würde, wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nicht. Ein Sturm kam auf, ohne dass ich es bemerkte. Unschuld ist kein Gesetz, das in Stein gemeißelt wurde. Es ist eine Variable, die aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden kann und zu verschiedensten Ergebnissen führt. Wie hieß es noch gleich, in dem Buch, das ich nach meiner Schulzeit nie wieder angefasst habe? "Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein." Kapitel 4: Für dich ------------------- Es ist wie bei einer schweren Krankheit. Kurz bevor es zu Ende geht, gibt es noch einige gute Tage. Lichte Momente, in denen man sich an die schönen Dinge erinnert, die einem im Leben widerfahren sind. Ich bin ehrlich. So viele sind das bei mir nicht. Doch die wenigen, an die ich mich erinnern kann, sind umso wertvoller. Es ist schon komisch, dass einer der schönsten Tage meines Lebens mit einem Streit begann. Ein Samstag Mittag im Sommer des schlimmsten Jahres meines Lebens. Im Herbst würde ich 17 Jahre alt werden und meinen Abschluss machen. Ich weiß noch, dass ihr mich extra früher einschulen habt lassen für etwaiges Sitzen bleiben, was in meinen Augen völliger Bullshit war, doch ich habe euch wohl mit meinen Leistungen überrascht. Meine damaligen Freundinnen und ich hatten uns zum Cheerleadertraining verabredet. Eigentlich etwas ungewöhnlich an einem Wochenende, aber ich glaube, wir wollten für die Meisterschaft trainieren. So genau weiß ich es nicht mehr. Ich habe schließlich nie teilgenommen. Nev und ich stritten wegen dem Auto. Ich war zu dieser Zeit öfter unterwegs als er und fand es sowieso schon merkwürdig genug, dass er es ausgerechnet an diesem Tag brauchte. Was konnte er schon wichtiges vorhaben? Ich weiß noch, dass du versucht hast, zu schlichten und schlussendlich kamen wir zu dem Ergebnis, dass Nev mich fahren sollte und er danach das Auto haben dürfte, solange er mich wieder pünktlich abholen würde. Ich sah ihm bereits an seinem Gesichtsausdruck an, dass ihm das überhaupt nicht in den Kram passte. Wer wollte schon in seinem Alter seine kleine Schwester durch die Gegend fahren? Und welche 16-Jährige wollte mit ihrem völlig bescheuerten, älteren Bruder bei ihren Freundinnen aufschlagen? Ich denke, du verstehst meinen Punkt hier. Ich ließ mich schließlich darauf ein, was blieb mir auch anderes übrig, und stieg mit Nev in den Wagen. Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, war, dass ich später auf dem Heimweg ein vollkommen neuer Mensch sein würde. Ich würde meinen Bruder mit anderen Augen sehen. Mit den Augen, die ihn früher bereits angestrahlt hatten, als ich ein kleines Mädchen war. Undenkbar bei einer Teeniebratze wie mir damals. Doch ich sollte eines Besseren belehrt werden. Die Stimmung im Auto selbst war angespannt. Ich glaube, man hätte die Luft schneiden können, wenn man es darauf angelegt hätte. Wir wechselten nicht ein Wort miteinander, bis ich bemerkte, dass er auf den Highway abbog und wir offensichtlich nicht zum Training fuhren. Mein erster Gedanke war blanke Panik. Und gleich darauf folgte das, was ich zu diesem Zeitpunkt meines Lebens am besten konnte: wütend sein und meckern. Ich durchbrach die Stille mit einem Aufgebot an Schimpfwörtern und war sogar gewillt, ihm ins Lenkrad zu greifen, als er plötzlich das Radio auf die höchste Stufe aufdrehte und mir beinah das Trommelfell platzte. Ich presste mir die Hände auf die Ohren, während es ihn offenbar kein Stück kümmerte. Erst nachdem er sich sicher sein konnte, dass ich endlich die Klappe hielt, drehte er wieder leiser und ich atmete auf. Ich bemerkte, dass er immer wieder aus den Augenwinkeln zu mir sah um meine Reaktionen einzufangen. Schließlich fragte ich ihn nur noch kleinlaut, wohin wir denn fuhren. Er fragte mich, ob es nun möglich wäre, normal mit mir zu sprechen und offenbarte mir schließlich, dass er doch dieses Jahr zum Geburtstag Konzertkarten von Mom geschenkt bekommen hatte und sein damaliger bester Freund abgesprungen sei. Nev wusste, dass er schlechte Karten bei mir hatte und beschloss also, mich erst gar nicht zu fragen. Typisch für ihn, Sachen über meinen Kopf hinweg zu entscheiden. Aber offenbar wollte er auch nicht allein dorthin gehen. Wohin uns der Highway führte, verriet er mir allerdings nicht. Ich versuchte mich krampfhaft zu erinnern, um welche Karten es sich handelte, aber leider war ich an Nevs Geburtstag zu beschäftigt damit, am Handy zu hängen und dir nicht zuzuhören, Mom. Nach einer 30-minütigen Fahrt war mir plötzlich klar, wohin wir fuhren. Die vielen Menschen auf der Straße und das Riesenrad in der Ferne verrieten es mir. Der Santa Monica Pier. Nicht im Traum hätte ich daran gedacht, dass Nev uns dorthin bringen würde. Im Normalfall hätten ihn dort keine zehn Pferde hinbekommen. Er musste für die Band entweder wirklich etwas übrig haben oder es war ihm zu schade um das Geld, das die Karten wert waren. Bei letzterem hätte er sie aber auch einfach verkaufen können. Meine Augen funkelten bei diesem Anblick, während ich spüren konnte, wie Nev sich von Sekunde zu Sekunde unwohler fühlte. Und genau dieses Gefühl verleitete mich wohl dazu, es mir zur Aufgabe zu machen, meinem Bruder zu zeigen, dass er dort auch Spaß haben konnte. Ich sah es wohl als Chance, unser Verhältnis wieder rein zu waschen. Man konnte sagen, was man wollte: ich hatte Schuldgefühle. Aber das war nicht der Grund für meine Samariteraktion. Ich erinnerte mich wieder, was er eigentlich für mich getan hatte, als wir jünger waren. Auch wenn er mir nicht helfen konnte, er war immer für mich da. Er war immer anwesend, wenn ich ihn brauchte und auch, wenn ich ihn nicht wollte, aber brauchte. Er sprach nicht viel und ertrug mein endloses Gejammer. Ich hätte die Zeichen bereits damals erkennen sollen, doch ich schob es auf seine Art. Mom? Ich weiß nicht einmal, ob du dich noch an diesen Tag erinnerst. Ich glaube, weder Nev noch ich haben es dir erzählt. Egal wie dicht die Menschenmassen auch waren, egal wie teuer das Essen am Pier sein mochte, wir hatten Spaß. Ja, ich bin mir sicher, dass ich mit diesem Empfinden nicht allein war, auch wenn ich nie eine Rückmeldung bekam. Das Konzert sollte am Abend stattfinden, weshalb wir uns den restlichen Tag am Pier und am Strand vertrieben. Wir probierten uns durch die verschiedenen Fressbuden und fuhren in den Achterbahnen bis uns oder viel eher mir schlecht wurde. Ich war an diesem Nachmittag so dermaßen von Euphorie durchflutet, dass ich gar nicht bemerkte, dass ich Nevs Hand den ganzen Tag über kaum losgelassen hatte. Erst im Nachhinein wurde mir klar, dass die meisten wohl gedacht haben mussten, dass ich mit meinem Freund unterwegs war. An sich war es doch keine große Sache, oder? Ich war so froh, wieder unbeschwert Zeit mit ihm verbringen zu können, obwohl ich mich in einem schwierigen Alter befand. Ich wollte doch nur, dass alles wieder so wie damals war, als er mir den Plüschhund schenkte. In meinen Augen war es eine unschuldige Geste. Ich sah nichts Falsches daran, mit ihm Händchen zu halten. Ich hätte nur zu gerne in seinen Kopf gesehen. Was wohl darin vorging? Ob er genauso dachte wie ich? Was wäre, wenn unsere Meinungen zu diesem Thema gänzlich auseinander gingen? Über letzteres dachte ich zu diesem Zeitpunkt nicht nach. Ich wollte den Augenblick genießen. Im Hier und Jetzt leben. Ich wollte die Aufmerksamkeit meines Bruders. Und diese schien ich zu bekommen. Warum hatte er sich diesen Tag ausgesucht? Versuchte er dadurch irgendetwas zu erreichen? Heutzutage kann ich es mir fast denken, doch damals hatte ich diese Gedanken noch nicht. Mom? Ist es falsch, wenn ich sage, dass es sich wie ein Date anfühlte? Nur eben ohne diese ganze Gefühlsduselei. Vielleicht mehr wie ein erstes Treffen, bei dem beide nicht so richtig wussten, wie sie miteinander umgehen sollten. Nur dass ich zu diesem Zeitpunkt der aktivere Part von uns war. Ich wollte nicht eine Sekunde dieses Tages verschwenden. Früher hatten wir häufiger Zeit miteinander verbracht, doch mittlerweile hatten wir uns auseinander gelebt. Eine Tatsache, die ich nicht mehr hinnehmen wollte. Denn ich wusste, dass Nev nicht nur der Schläger oder der Creep war. Er war mein Bruder. Und meine erste große Liebe. Keine Sorge, Mom. Du kennst doch sicher den Spruch "Die erste große Liebe eines Mädchens ist ihr Vater". Tja, in meinem Fall war es Nev aus wohl kaum unersichtlichen Gründen. Selbst wenn wir uns stritten, konnte ich jedes Mal unsere Verbindung spüren. Sie war wie ein unsichtbares, elastisches Band, das uns, egal wie weit wir uns voneinander entfernten, immer wieder zusammen brachte. Heute weiß ich, dass es diese Verbindung und dieser eine Tag waren, die mich dazu bewegten, meinen Traum zu vergessen und in Pasadena zu bleiben. Damals war ich noch nicht überzeugt. Es musste noch irgendetwas passieren, damit ich blieb... Bevor wir uns vor der Outdoorbühne am Strand einfinden konnten, fuhren wir am Abend noch mit dem Riesenrad. Es war schon dunkel geworden und die bunten Lichter des Piers verwandelten das Wasser in ein Meer aus Farben. Fast als würden dort unten in der Tiefe die schönsten Blüten treiben. Ich weiß noch, dass ich wie verrückt aus dem Fenster gestarrt hatte um jeden Moment in mich aufzusaugen. Ich habe ununterbrochen geredet. Ich weiß nicht einmal mehr, was ich ihm erzählt hatte, doch als ich zu ihm blickte, sah er bloß mich an. Was für eine Verschwendung. Genau diese vier Worte muss ich ihm wohl in einem enttäuschten Tonfall entgegen gebracht haben. Und da war es. Das erste Mal an diesem Tag. Nein, das erste Mal in den letzten 6 Jahren. Einer von Nevs Mundwinkel hatte sich aus seiner Komfortzone bewegt und wanderte nach oben. Es geschahen wohl doch noch Zeichen und Wunder. Und er hatte mich nicht einmal verarscht und lachte darüber. Es fühlte sich definitiv wie ein Erfolg meinerseits an. Mein erster Gedanke war "Er schmunzelt meinetwegen". Ich griff nach seinen Händen und bedankte mich aufrichtig für den schönen Tag, obwohl wir einen so schlechten Start hatten. Er behauptete daraufhin nur, dass er niemand besseren gefunden hatte. Ich ließ es einfach so stehen und dachte innerlich die Wahrheit zu kennen. In diesem Alter dachte man wohl öfter, man hätte die Weisheit mit Löffeln gefressen. Man konnte den Menschen eben doch nur bis vor die Stirn blicken. Der Tag endete mit einem Adrenalinstoß während des Konzerts und der puren Euphorie, die danach im Auto die Vorherrschaft hatte. Zumindest was mich anbelangte. Ich hätte unglaublich gerne mit ihm über den Tag gesprochen. Ich hätte gerne von seinen Eindrücken erfahren. Wie er manche Dinge und Situationen wahrgenommen hatte. Doch mein Körper nahm mir die Entscheidung ab. Die restliche Autofahrt über herrschte Stille, während ich mit meinem Kopf gegen die Scheibe gelehnt auf dem Beifahrersitz schlief. Als wir zuhause ankamen, wart ihr natürlich nicht mehr wach. Ich wurde erst wach, nachdem Nev bereits aus dem Wagen ausgestiegen war und die Tür hinter sich zugeschmissen hatte. Er schien davon auszugehen, dass ich davon wach werden würde. Er hatte recht, doch so wie es aussah, hatte er nicht damit gerechnet, dass ich mir einen Spaß genehmigen würde. Also tat ich weiterhin so, als würde ich schlafen und reagierte auch auf sein wiederholtes Klopfen nicht. Ich weiß bis heute nicht, ob er wusste, dass ich ihn verarschte, auch wenn ich stark davon ausgehe. Es dauerte nicht lange, bis er die Geduld verlor und die Tür aufriss. Er schnallte mich kurzerhand ab und warf mich über seine Schulter. Spätestens jetzt war ich mir sicher, dass er es wusste und doch rührte ich mich keinen Millimeter. Die Augen schließlich aufgerissen, musterte ich seine Rückansicht und die schwarze Jacke, die er trug. Es war nicht schwierig, sich daran zu erinnern. Und selbst wenn ich es nicht mehr wüsste, würde ich mit einer schwarzen Jacke bei ihm sicher nie falsch liegen. Nev öffnete die Haustür und war ausnahmsweise einmal darauf Bedacht, kaum ein Geräusch von sich zu geben. Normalerweise schlug er auch, wenn er nachts um 4 Uhr nach Hause kam, noch die Türen hinter sich zu. Nev hielt meine Beine umklammert, als er mich die Treppe nach oben trug. Offenbar hatte er Angst, dass ich mir das Genick brechen könnte und er wegen Totschlag verknackt werden würde. Welch Ironie. Er schaffte es tatsächlich, mich unbeschadet in mein Zimmer zu verfrachten und lud mich, wie ein Bagger ein Häufchen Dreck, auf meinem Bett ab. Ich versuchte ruhig zu atmen und die Augen geschlossen zu halten. Er glaubte mir nicht. Vermutlich stand er deshalb noch 10 Sekunden einfach nur da, bis er mein Zimmer schließlich verließ und ich mich aufsetzte. Unbeschreiblich. Für viele Menschen, die in den Vororten von Los Angeles lebten, war es nichts Besonderes einen Samstag am Santa Monica Pier zu verbringen, doch für mich war es einfach nur unbeschreiblich schön. Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, jemals noch so einen Ausflug gemacht zu haben. Zumindest nicht mit dieser Unbeschwertheit. Mom? Keine Verabredung, die ich danach mit einem Jungen hatte, konnte mit diesem spontanen Ausflug mithalten. Und irgendwie macht es mir nun Angst, wenn ich so darüber schreibe. Egal wie unglaublich schön es auch war. Es hat einen bittersüßen Beigeschmack. "Für dich blieb ich hier. Und nun sieh nur, was aus mir geworden ist..." Kapitel 5: Entscheidungen ------------------------- Es folgte das Jahr, in dem ich 17 Jahre alt wurde. Das Jahr meines Schulabschlusses. Das Jahr, in dem die wichtigsten Entscheidungen getroffen werden mussten. Das dunkelste Jahr meines Lebens. Du erinnerst dich bestimmt noch an den Abend meines Abschlussballs, Mom. Schließlich warst du deutlich aufgeregter als ich. Ich fand es unglaublich süß, wie bemüht du warst, eine schöne Fassade für meinen besonderen Abend aufrecht zu erhalten. Fast schon so, als wären wir eine richtige Familie. Ich war unglaublich erleichtert, dass du es geschafft hattest, Dad aus dem Haus zu bekommen. Ich gehe davon aus, dass er in seiner Lieblingskneipe war und sich dort ein Footballspiel angesehen hat. Von Nev habe ich an diesem Abend nicht sonderlich viel mitbekommen. Er hatte sich nur kurz über mein übertriebenes Kleid lustig gemacht und war dann wieder in seinem Zimmer verschwunden. Was hätte ich auch erwarten sollen? Er selbst gab nicht viel auf solche Feierlichkeiten. Ich kann mich nicht einmal mehr erinnern, ob er auf seinem eigenen Abschlussball war. Ich weiß noch, dass du mich hundertmal gefragt hast, wer denn meine Begleitung sein würde, doch ich habe steif und fest behauptet, dass die Cheerleader und ich ausgemacht hatten, ohne Begleitung gemeinsam dorthin zu gehen. Ich habe dir angesehen, dass du wusstest, dass ich lüge, aber es war einfach besser so. Ich wurde von vielen Jungs zum Ball eingeladen, doch habe sie alle abblitzen lassen. Ich wollte zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben nur einen einzigen. Und das war der beste Freund meines Bruders. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir uns bereits etliche Male im Geheimen getroffen, ohne dass viel mehr passiert war. Wir beide hatten uns zurückgehalten wegen Nev. Ich wusste nicht, wie er darauf reagieren würde und ich kann mir zumindest jetzt denken, dass David, so hieß der Gute, eine Ahnung hatte. Ich bin froh, dass ich zum jetzigen Zeitpunkt weiß, dass er glücklich verheiratet ist und mit seiner Frau das erste Kind erwartet. Ich war damals wirklich unfassbar verliebt in ihn. Ich versprach ihm, wenn er sich irgendwie auf den Ball schleichen könnte, würde ich mit ihm danach in ein Hotel gehen. Der Gedanke, es bei mir oder ihm zu tun, kam mir furchterregend vor. Kein Wunder, dass ich sogar heute noch lieber außer Haus vögele. Ich bin gezeichnet. Meine Cheerleadermädels holten mich gegen 20 Uhr ab und wir begaben uns zur Schulsporthalle, die wie jedes Jahr aufs Neue bezaubernd aussah. Und tatsächlich enttäuschte David mich nicht. Während die Menge tanzte, erschien er durch den Hintereingang und wir tanzten und redeten. Ich war es nicht gewohnt, dass es auch andere Männer, als die aus meiner eigenen Familie gab. Männer, die über alles reden konnten, kein Blatt vor den Mund nahmen, wenn es unangenehm wurde und die mir vor allen Dingen Komplimente machten und mich gut behandelten. Der Fakt, dass ich zur Ballkönigin gekrönt wurde, war für mich gänzlich nebensächlich, da ich mir in dieser Nacht um ganz andere Dinge Gedanken machte. Als wir in Davids Wagen zum Hotel fuhren, packte mich die Angst. War es okay, dass er mein Erster sein würde? Wurde ich durch meinen Vater bereits verdorben? Ist es mir vielleicht gar nicht mehr möglich, überhaupt normal Sex haben zu können? Fragen über Fragen, die mich auf dem Beifahrersitz beschäftigten. Ich hatte dir gesagt, dass ich bei Chelsea, meiner Vertretung als Cheerleadercaptain, übernachten würde. Keine Ahnung, ob du es mir abgekauft hast, Mom. Als wir aus dem Auto ausstiegen und zur Rezeption gingen, fühlte es sich so an, als wären alle Blicke auf uns gerichtet. Als würde man uns verurteilen, weil man genau wusste, weshalb wir hier waren. Ich war wirklich kurz davor einen Rückzieher zu machen, bis David mich beruhigen konnte. Er gab sich wirklich alle Mühe. Ich war mir damals bereits sicher, dass ich ihn nicht verdiente. Ich war mir sicher, dass wir diese Heimlichtuerei nicht auf ewig durchziehen konnten. Umso glücklicher bin ich, dass er seine wahre Liebe gefunden hat. Das Hotelzimmer war überschaubar und doch hatte ich mich immer beim Vorbeifahren gefragt, wie es wohl darin aussehen würde. Ich wusste nicht wirklich, was nun zu tun war. Ich war unbeholfen. Es war mein erstes Mal, genau genommen. Zum Glück schien David zu wissen, was zu tun war, kam auf mich zu und fragte mich ein letztes Mal, ob es auch für mich in Ordnung war. Es war eine gänzlich neue Erfahrung, allein schon durch seine ganze zuvorkommende Art. Ich musste mich nicht behaupten. Ich konnte mich einfach gehen lassen und mit dem Strom fließen. Ich gab die Kontrolle aus der Hand, ohne sie gänzlich zu verlieren. Mein erstes Mal war symbolisch etwas Besonderes für mich, aber jetzt weiß ich, dass es mir nicht das gab, was ich brauchte. Es war schön, mehr aber auch nicht. Letztendlich lief das mit David und mir noch ein paar Wochen, bevor er das aussprach, was wir beide dachten. Unsere Beziehung war ein einziges Geheimnis, das keiner von uns aufdecken wollte. Und diese Beziehung wog schwer auf unseren Herzen wie eine Last. Liebe sollte niemals zur Last werden. Ironisch, das gerade von mir zu hören, Mom. Niemand ist perfekt. Nachdem meine Beziehung und meine schulische Laufbahn beendet waren, hieß es nun Warten. Ich hatte mich an etlichen Universitäten außerhalb Kaliforniens beworben, um mich endlich von meiner Familie entfernen zu können, auch wenn es mir für dich und Nev unfassbar leid tat. Aber wie du weißt, kam es nicht dazu. Kannst du dich noch an den Tag erinnern, als ich meine Zusage für die Schauspielschule in New York hatte? Ich hab gesehen, dass du dich für mich freuen wolltest und doch weiß ich, dass du tief in deinem Inneren traurig warst und mich am liebsten angefleht hättest, nicht zu gehen. Damals war ich nicht stark genug, um dir einfach zu sagen, dass du mit mir kommen konntest. Ich sah bloß mein eigenes Leid. Ich weiß noch, dass wir uns jedes Mal zu dritt am Küchentisch zusammen gefunden hatten, um die Briefe zu öffnen. Immer dann, wenn Dad trinken war. Sogar Nev hatte sich stillschweigend zu uns gesetzt. Ich konnte seine Reaktionen nicht deuten, doch mit jeder Zusage, die mich kilometerweit wegbrachte, verließ er den Tisch schneller. Zuerst wirkte es auf mich so, dass er einfach kein großes Interesse daran zeigte. Heute kann ich mir ungefähr denken, was in ihm vorging. Auch wenn er es nie gesagt hat, bin ich mir sicher, dass er nicht wollte, dass ich fort gehe. Nev? Du hast deinen Willen bekommen. Schließlich ereignete sich das, was meine Entscheidungen über den Haufen warf. Ich hatte meinen Platz in New York angenommen und bereitete mich geistig darauf vor, in 3 Wochen mein Elternhaus zu verlassen. Ich packte hin und wieder einige Kisten in meinem Zimmer und verbrachte meine restliche Zeit damit, auf meinem Bett zu liegen und mir alles wichtige aufzuschreiben, um nichts zu vergessen. Es war an einem ganz normalen Donnerstag Abend. Dieser Tag brannte sich in mein Gehirn, als hätte man ihn dort mit einem heißen Eisen verewigt. Ich lag auf meinem Bett und notierte mir einige Besorgungen, die ich am nächsten Tag noch tätigen wollte, als mich ein markerschütternder Schrei aus dem Erdgeschoss aus meinen Gedanken riss. Die Schreie wurden lauter und immer erbärmlicher. Man hörte das Klirren von Geschirr und Töpfen, die zu Boden gingen. Darauf folgte ein dumpfer Aufprall und dann Stille. Ich eilte vom meinem Zimmer die Treppe nach unten und konnte bereits in der offenen Küche sehen, was passiert war. Dad lag in seinem eigenen Blut leblos am Boden, während Nev mit einem Küchenmesser in der Hand neben ihm stand. Vier Stiche gingen in den Bauch und der finale Stich in die Brust. Meine Knie zitterten, als ich auf der Treppe stehenblieb und mich krampfhaft am Geländer festhielt. Es fühlte sich so an, als würde ich jederzeit einen Nervenzusammenbruch erleiden, der niemals kam. Als Nev in meine Augen sah, rief er mir zu, dass ich sofort wieder nach oben gehen sollte, bis er hier fertig sei. Mom? Du hast es auch gesehen, oder? Du hast nie mit uns darüber gesprochen, aber du hast es gesehen, nicht wahr? Dein Sohn hat deinen Mann getötet. Ich war zutiefst erschüttert und doch machte ich Nev keine Vorwürfe. Ich war der festen Überzeugung, ihn zu verstehen. Ich dachte, ich konnte nachvollziehen, warum es soweit kommen musste. Ich wusste nicht, dass weitaus mehr dahinter steckte als purer Hass. Den Hass, den auch ich nur zu gut verstand. Ich glaube, du hast dich danach in eurem Zimmer eingeschlossen. Irgendetwas hatte dich dazu bewegt, die Polizei nicht zu rufen. Ich traute mich erst wieder aus meinem Zimmer, nachdem ich gehört hatte, dass Nev irgendetwas in den Keller geschleppt hatte. Vorbei an der Blutlache in der Küche folgte ich ihm in den Keller und fand ihn dort vor einer Wand vor, in die er bereits begonnen hatte, ein Loch zu schlagen. Die Idee war, Dad eingewickelt dort hinein zu verfrachten und die Wand wieder mit Gips aufzufüllen. Dort würde man ihn sicher nicht finden. Und niemand würde ihn vermissen. Nachdem ich mich halbwegs an den Gedanken gewöhnt hatte, ging ich Nev tatsächlich bei einigen Dingen zur Hand. Nur die Leiche wollte ich nicht anfassen. Ich fühlte tiefes Mitleid für Nev, obwohl dieser in seinem Zustand so ruhig wie immer wirkte. Ich sah es nicht. Zu diesem Zeitpunkt haderte ich bereits mit der Entscheidung, Pasadena zu verlassen. Nev brauchte meine Hilfe. Ich konnte dich und ihn mit dieser Bürde doch nicht allein lassen. Letztendlich warst du es, Mom, die mir die Entscheidung gänzlich aus den Händen gerissen hatte... Kapitel 6: Keine Furcht ----------------------- Kommen wir zu dem bewegendsten und vorerst letzten Kapitel meiner Vergangenheit: dem Abschied von dir, Mom. Es ist niemals wirklich einfach, jemandem Lebewohl zu sagen, den man über alles geliebt hat. Wenn dieser jemand fortgeht, ohne auch nur ein Wort zu sagen, macht es die Sache nur noch schlimmer. Die Menschen, die dieser Jemand zurücklässt, machen sich Gedanken oder sogar Vorwürfe. Hätten wir sie aufhalten können? Hätten wir irgendetwas sagen können, das nicht bereits gesagt wurde? Sind Dinge unausgesprochen geblieben? Mom? Ich liebe dich, aber wie konntest du so feige sein und deine zwei einzigen Kinder mit der Schuld im Stich lassen? Es ereignete sich nur wenige Wochen nach Dads Tod. Da du dich nicht mehr wie du selbst verhieltst, bat ich an meiner Universität darum, mich aus persönlichen Gründen später im Semester dazu stoßen zu lassen. Man gewährte mir diesen Aufschub. Erstaunlicherweise hatte Nev sich nicht wirklich verändert. Dafür warst du nervlich vollkommen am Ende. Nev sah es. Ich sah es. Doch du wolltest dir nicht helfen lassen. Nun war ich es, die dich zu einer Therapie aufforderte, die du wiederholt ablehntest. Egal wie oft du es aussprachst, ich glaubte dir nie auch nur ein Wort, wenn du wieder einmal beteuertest, dass du mit dem Tod von Dad leben könntest. Ich sah es dir gleich an. Die Tatsache, dass sich dein Mann in einer der Kellerwände befand, beunruhigte dich zutiefst und ließ dich nachts nicht mehr schlafen. Aber du wusstest genau wie ich, dass wir nichts sagen konnten. Sie hätten Nev geholt und weggesperrt. Das hätte ich um keinen Preis der Welt zugelassen. Ich musste ihn beschützen, genauso wie dich. Ich hatte das Gefühl, mit einer Leiche im Keller leben zu können. Ich bin mir nicht sicher, ob ich bei zweien das selbe behauptet hätte. Ich könnte mich jetzt noch dafür verprügeln, dass ich an diesem Montag Nachmittag zugestimmt hatte, mich gemeinsam mit Nev um den Einkauf zu kümmern. Bisher war immer einer von uns zuhause bei dir geblieben. Vielleicht lag es daran, dass wir dachten, dass es dir mittlerweile etwas besser ging. Wir hatten wieder Vertrauen in deinen Zustand gefasst. Zumindest ich. Ich hätte niemals gedacht, dass du zu so etwas fähig bist. Du hattest aufgehört, deine Tabletten zu nehmen. Der Arzt hatte sie dir vor Jahren für deine Nerven verschrieben. Auch wegen der ganzen Sache mit Nevs Ausrastern. Wie kamst du auf die Idee, sie abzusetzen? Gerade zu dieser Zeit hättest du medikamentöse Unterstützung bitter nötig gehabt. Ich weiß noch, dass ich bereits auf dem Rückweg vom Supermarkt ein ungutes Gefühl in der Magengegend hatte, das mich dazu bewegte, Nev zu bitten, etwas zügiger zu fahren. Ich bin mir fast sicher, dass er die selben Gedanken hatte wie ich. Ich weiß noch, dass ich mich in den Sitz krallte und jederzeit bereit war, aus dem Auto zu springen und ins Haus zu stürmen. Wir hatten einen Fehler begangen. Wir hatten dich unterschätzt, Mom. Als wir auf den Hof fuhren, schnallte ich mich ab und stürzte bereits aus dem noch fahrenden Wagen, nur um so schnell wie möglich ins Haus zu gelangen. Nev befand sich einige Sekunden hinter mir. Ich durchkämmte das Erdgeschoss und das Obergeschoss, ohne fündig zu werden. Und als hätte ich es nicht bereits geahnt, führten mich meine Schritte zum Aufgang, der auf den Dachboden führte. Ich ging die Treppe nach oben und wäre sie am liebsten wieder ohnmächtig runtergefallen. Mein Blick traf den deinen ein letztes Mal. Ich blickte in erstarrte Augen, die keine Furcht mehr kannten. Diesen Anblick werde ich mein Leben lang in meinem Herzen tragen. Ich brach unter deinem kalten Körper zusammen, der leblos vom Dachbalken baumelte und wie ein Geist über mir schwebte. Meine abnormalen Schreie leiteten Nev den Weg, sodass er uns nur wenig später fand und mich versuchte, von deiner Leiche wegzuziehen. Ich wehrte mich aufs Heftigste, sodass er mich packen musste und mich die Treppe nach unten zerrte, während ich aus Leibeskräften schrie. Am Fuß der Treppe setzte er sich auf den Boden, zog mich an sich und drückte mir seine Hand auf den Mund. Er sprach wie so oft kein Wort mit mir. Es gab nichts, was er hätte sagen können, um mich zu beruhigen. Er sorgte bloß dafür, dass die Nachbarn keinen Verdacht schöpften. Ich biss ihm sogar in die Hand, doch wurde zunehmend ruhiger nachdem ich realisiert hatte, was ich getan hatte. Nev ließ mich erst wieder los, nachdem ich fast eine Viertelstunde lang still in seinem Schoss gesessen hatte. Ich sah ihm in die Augen und bewunderte ihn dafür, dass er in solch einer Situation so ruhig sein konnte. Diese Ruhe hatte mich schon immer beunruhigt. Nev erhob sich schließlich, nachdem mein Körper nur noch minimal zitterte und schien wieder nach oben gehen zu wollen. Ich sah ihn nicht an und blickte bloß auf meine Füße. Ich bin mir nicht sicher, ob er mich fragte, ob ich ihm helfen könne. Er bekam keine Antwort von mir und schien auch nicht auf eine zu warten. Ich verfolgte seine Schritte nicht und konnte nur erahnen, dass er dich gerade vom Balken holte um dich ebenso wie Dad verschwinden zu lassen. Warum schien es ihn so viel weniger zu kümmern als mich? Warum weinte er nie? Warum weinte er nicht einmal bei dir, Mom? Ich hielt mir die Hände vor die Augen, als ich Nevs Schritte und das Rascheln einer Plastikplane hörte, in die er offenbar deinen Körper gewickelt hatte. Ich wollte dich nicht noch einmal sehen. Ich wollte dich niemals so in Erinnerung behalten, doch dieser Anblick brannte sich in meine Augäpfel wie glühende Lava. Ich verbrachte bestimmt noch eine halbe Stunde dort am Fuße des Dachbodens, bevor ich mich auf die Suche nach Nev machte. Zuerst dachte ich, er wollte dich auch in einer der Wände des Hauses verschwinden lassen, doch für dich hatte er tatsächlich einen schöneren Ort gefunden. Unser Garten. Mom? Du hast einen kleinen Teil ganz für dich allein, direkt neben den Tulpen, deinen Lieblingsblumen. Du weißt noch, dass ich dir mal erzählt habe, dass ich Gartenarbeit hasse, oder? Rate mal, wer sich jetzt um deine Tulpen kümmert? Ich half Nev zumindest das Grab mit Erde zu bedecken und übergab mich danach in einen der Büsche hinterm Haus. Zuerst Dad und dann auch noch du. Eindeutig zu viel für meinen Körper. Es war in der Nacht des selben Tages, dass ich zum ersten Mal Angstzustände in unserem Zuhause hatte. Ich weigerte mich zum Abendessen die Küche zu betreten und verschanzte mich in meinem Zimmer. Den restlichen Abend über ließ Nev mich in Ruhe. Er war nie ein großer Redner, aber er war immer da. Er ging nie weg. Er ließ mich nie allein. Auch wenn ich längst zu alt dafür war, durchfuhr mich in dieser Nacht das Gefühl, nicht allein einschlafen zu wollen und ich suchte Nevs Nähe. Ich passte ihn vor dem Zu-Bett-gehen ab, griff nach seinen Händen und erntete prompt einen misstrauischen Blick. Natürlich ahnte er, dass ich irgendetwas im Schilde führte, doch ich glaube nicht, dass er mit einer solchen Frage gerechnet hatte. Als ich ihn bat, sich einfach nur zu mir ins Bett zu legen, weil ich nicht allein sein wollte, wirkte sein Gesicht zuerst teilnahmslos, bevor er mit den Schultern zuckte und bereits ansetzte, mit nach oben zu kommen. Es war erstaunlich, dass er so etwas einfach so mitmachen würde. Vor allem da wir beide ja mehr oder weniger bereits erwachsen waren. Auf dem Weg zu meinem Zimmer ließ er meine Hand nicht los. Es wirkte auf mich fast so, als wollte er mir damit zeigen, dass ich nicht allein war. Wir waren immer noch zu zweit. Es war vollkommen neu und ungewohnt, jemanden neben mir im Bett liegen zu haben. Ich drehte mich seitlich in seine Richtung und starrte Nev förmlich an, während er auf dem Rücken lag und an die Decke starrte. Erst ein Seitenblick seinerseits brachte mich dazu, den Blick abschweifen zu lassen. Es dauerte nicht lang, bis ich einen seiner Arme in meinem Rücken spürte, der mich vorsichtig an ihn zog und ich legte meinen Kopf behutsam auf seinen Brustkorb. Hätte ich es in diesem Moment nicht gehört, hätte man sich manchmal nicht wirklich sicher sein können, ob er überhaupt ein Herz hatte. Ich gehörte nie zu denjenigen, die diese furchtbaren Dinge behauptet hatten. Er war mein Bruder und ich liebte ihn von ganzem Herzen. Ich liebe ihn immer noch. Und ich hasse ihn gleichermaßen. Diese Nacht erinnerte mich an den Abend, den wir damals als Kinder in meinem Kleiderschrank verbrachten. Nur dass es dieses Mal irgendwie anders war. Wir waren anders. Älter. Kaputter. Menschen, die nichts mehr zu verlieren hatten außer einander. Sein Körper war so ungewohnt warm und trotzdem konnte ich nicht anders, als mich schutzsuchend an ihn zu klammern. Während einer meiner Arme neben ihm lag, ruhte meine andere Hand auf seinem Brustkorb, nachdem ich mich mit dem Kopf auf seine Schulter zurückgezogen hatte. Mom? Du hast mir mal gesagt, wir würden uns nur an die wirklich wichtigen Dinge noch in 10 Jahren erinnern. Warum kann ich mich dann noch genau daran erinnern, dass Nev mir vor dem Einschlafen eine meiner Haarsträhnen hinter mein Ohr strich? Es war doch nur eine kleine, unbedeutende Geste, die ich im Halbschlaf wahrnahm und die mich bis heute noch verfolgt. Ich weiß noch, dass ich am nächsten Morgen in einer gänzlich anderen Position aufwachte, in der ich eingeschlafen war und Nev wieder vollständig der Alte war. Er beschwerte sich mehrfach bei mir, dass ich ihm nachts zu stark gegen den Hals geatmet hätte und er mich deswegen auf die andere Seite gedreht hätte. Ob er mich mit diesen Banalitäten von der Wirklichkeit ablenken wollte? Nun war es gemeinsam mit deiner Hilfe geschafft, dass ich an meiner Universität anrief und meinen Studienplatz aufgab um in Nevs Nähe bleiben zu können. Ich bewarb mich an einem IT-College in Pasadena und begab mich vor Antritt meines Studienplatzes in mehrwöchige Behandlung in einer Psychiatrie. Ich sprach dort über den Missbrauch in meiner Kindheit, doch kein Sterbenswörtchen von dem Tod meiner Eltern, der die eigentliche Ursache für meinen Besuch in der Klapse war. Doch dieser Abschnitt meiner Vergangenheit hatte nicht nur Schattenseiten. Ich lernte meine beste Freundin Amber kennen, die als Pflegerin in der Psychiatrie arbeitete.Sie zeigte viel Verständnis für meinen Zustand und dass ich nicht über alles mit ihr reden wollte. Doch bereits als sie anbot, mich zuhause zu besuchen, nachdem ich die Klinik wieder verlassen würde, wusste ich, dass es der Beginn von etwas Einzigartigem sein musste. Der Beginn eines weiteren Abschnittes meines Lebens. Nach meiner Therapie trat ich meinen Studienplatz nur wenige Kilometer von meinem Elternhaus entfernt an und machte einige Jahre später einen grandiosen Abschluss, mit dem ich mich selbstständig machte und nun für die verschiedensten Firmen von zuhause aus programmiere. Nebenbei arbeite ich am Wochenende allerdings noch in einer Bar. Schließlich müssen wir mit Nevs und meinem Einkommen das Haus finanzieren und unseren Lebensstil aufrecht erhalten. Das Leben mit Nev war niemals einfach, doch er war und ist meine Familie. Ich würde ihn gegen nichts in der Welt eintauschen wollen, auch wenn er es mir oft schwer macht. Mom? Aus mir ist auch etwas geworden, ohne dass ich meinen Traum leben konnte. Ich stellte ihn für diejenigen zurück, die ich liebte und die ohne mich vereinsamt wären. Du weißt ja, dass Nev kaum das Haus verlässt. Meistens kommt nur sein komischer Kumpel Dustin vorbei. In Kombination sind sie die Pest auf vier Beinen. Schade, dass du den Typen nicht mehr kennen lernen konntest. In seiner Gegenwart könnte man fast meinen, dass Nev aufblüht, auch wenn ich nicht glaube, dass es so ist. Jedenfalls brauchst du dir um uns wirklich keine Sorgen machen. Wir werden mit jeder Situation fertig. Ich vermisse dich... Du gingst fort, ließt uns zurück. Wir bleiben hier, stehen still. Lügen pflastern unseren Weg und Angst zeigen wir nicht. Ohne Furcht gehen wir durchs Leben und finden durch Lügen den Tod. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)