Jade's Diary von Dorkas ================================================================================ Kapitel 5: Entscheidungen ------------------------- Es folgte das Jahr, in dem ich 17 Jahre alt wurde. Das Jahr meines Schulabschlusses. Das Jahr, in dem die wichtigsten Entscheidungen getroffen werden mussten. Das dunkelste Jahr meines Lebens. Du erinnerst dich bestimmt noch an den Abend meines Abschlussballs, Mom. Schließlich warst du deutlich aufgeregter als ich. Ich fand es unglaublich süß, wie bemüht du warst, eine schöne Fassade für meinen besonderen Abend aufrecht zu erhalten. Fast schon so, als wären wir eine richtige Familie. Ich war unglaublich erleichtert, dass du es geschafft hattest, Dad aus dem Haus zu bekommen. Ich gehe davon aus, dass er in seiner Lieblingskneipe war und sich dort ein Footballspiel angesehen hat. Von Nev habe ich an diesem Abend nicht sonderlich viel mitbekommen. Er hatte sich nur kurz über mein übertriebenes Kleid lustig gemacht und war dann wieder in seinem Zimmer verschwunden. Was hätte ich auch erwarten sollen? Er selbst gab nicht viel auf solche Feierlichkeiten. Ich kann mich nicht einmal mehr erinnern, ob er auf seinem eigenen Abschlussball war. Ich weiß noch, dass du mich hundertmal gefragt hast, wer denn meine Begleitung sein würde, doch ich habe steif und fest behauptet, dass die Cheerleader und ich ausgemacht hatten, ohne Begleitung gemeinsam dorthin zu gehen. Ich habe dir angesehen, dass du wusstest, dass ich lüge, aber es war einfach besser so. Ich wurde von vielen Jungs zum Ball eingeladen, doch habe sie alle abblitzen lassen. Ich wollte zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben nur einen einzigen. Und das war der beste Freund meines Bruders. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir uns bereits etliche Male im Geheimen getroffen, ohne dass viel mehr passiert war. Wir beide hatten uns zurückgehalten wegen Nev. Ich wusste nicht, wie er darauf reagieren würde und ich kann mir zumindest jetzt denken, dass David, so hieß der Gute, eine Ahnung hatte. Ich bin froh, dass ich zum jetzigen Zeitpunkt weiß, dass er glücklich verheiratet ist und mit seiner Frau das erste Kind erwartet. Ich war damals wirklich unfassbar verliebt in ihn. Ich versprach ihm, wenn er sich irgendwie auf den Ball schleichen könnte, würde ich mit ihm danach in ein Hotel gehen. Der Gedanke, es bei mir oder ihm zu tun, kam mir furchterregend vor. Kein Wunder, dass ich sogar heute noch lieber außer Haus vögele. Ich bin gezeichnet. Meine Cheerleadermädels holten mich gegen 20 Uhr ab und wir begaben uns zur Schulsporthalle, die wie jedes Jahr aufs Neue bezaubernd aussah. Und tatsächlich enttäuschte David mich nicht. Während die Menge tanzte, erschien er durch den Hintereingang und wir tanzten und redeten. Ich war es nicht gewohnt, dass es auch andere Männer, als die aus meiner eigenen Familie gab. Männer, die über alles reden konnten, kein Blatt vor den Mund nahmen, wenn es unangenehm wurde und die mir vor allen Dingen Komplimente machten und mich gut behandelten. Der Fakt, dass ich zur Ballkönigin gekrönt wurde, war für mich gänzlich nebensächlich, da ich mir in dieser Nacht um ganz andere Dinge Gedanken machte. Als wir in Davids Wagen zum Hotel fuhren, packte mich die Angst. War es okay, dass er mein Erster sein würde? Wurde ich durch meinen Vater bereits verdorben? Ist es mir vielleicht gar nicht mehr möglich, überhaupt normal Sex haben zu können? Fragen über Fragen, die mich auf dem Beifahrersitz beschäftigten. Ich hatte dir gesagt, dass ich bei Chelsea, meiner Vertretung als Cheerleadercaptain, übernachten würde. Keine Ahnung, ob du es mir abgekauft hast, Mom. Als wir aus dem Auto ausstiegen und zur Rezeption gingen, fühlte es sich so an, als wären alle Blicke auf uns gerichtet. Als würde man uns verurteilen, weil man genau wusste, weshalb wir hier waren. Ich war wirklich kurz davor einen Rückzieher zu machen, bis David mich beruhigen konnte. Er gab sich wirklich alle Mühe. Ich war mir damals bereits sicher, dass ich ihn nicht verdiente. Ich war mir sicher, dass wir diese Heimlichtuerei nicht auf ewig durchziehen konnten. Umso glücklicher bin ich, dass er seine wahre Liebe gefunden hat. Das Hotelzimmer war überschaubar und doch hatte ich mich immer beim Vorbeifahren gefragt, wie es wohl darin aussehen würde. Ich wusste nicht wirklich, was nun zu tun war. Ich war unbeholfen. Es war mein erstes Mal, genau genommen. Zum Glück schien David zu wissen, was zu tun war, kam auf mich zu und fragte mich ein letztes Mal, ob es auch für mich in Ordnung war. Es war eine gänzlich neue Erfahrung, allein schon durch seine ganze zuvorkommende Art. Ich musste mich nicht behaupten. Ich konnte mich einfach gehen lassen und mit dem Strom fließen. Ich gab die Kontrolle aus der Hand, ohne sie gänzlich zu verlieren. Mein erstes Mal war symbolisch etwas Besonderes für mich, aber jetzt weiß ich, dass es mir nicht das gab, was ich brauchte. Es war schön, mehr aber auch nicht. Letztendlich lief das mit David und mir noch ein paar Wochen, bevor er das aussprach, was wir beide dachten. Unsere Beziehung war ein einziges Geheimnis, das keiner von uns aufdecken wollte. Und diese Beziehung wog schwer auf unseren Herzen wie eine Last. Liebe sollte niemals zur Last werden. Ironisch, das gerade von mir zu hören, Mom. Niemand ist perfekt. Nachdem meine Beziehung und meine schulische Laufbahn beendet waren, hieß es nun Warten. Ich hatte mich an etlichen Universitäten außerhalb Kaliforniens beworben, um mich endlich von meiner Familie entfernen zu können, auch wenn es mir für dich und Nev unfassbar leid tat. Aber wie du weißt, kam es nicht dazu. Kannst du dich noch an den Tag erinnern, als ich meine Zusage für die Schauspielschule in New York hatte? Ich hab gesehen, dass du dich für mich freuen wolltest und doch weiß ich, dass du tief in deinem Inneren traurig warst und mich am liebsten angefleht hättest, nicht zu gehen. Damals war ich nicht stark genug, um dir einfach zu sagen, dass du mit mir kommen konntest. Ich sah bloß mein eigenes Leid. Ich weiß noch, dass wir uns jedes Mal zu dritt am Küchentisch zusammen gefunden hatten, um die Briefe zu öffnen. Immer dann, wenn Dad trinken war. Sogar Nev hatte sich stillschweigend zu uns gesetzt. Ich konnte seine Reaktionen nicht deuten, doch mit jeder Zusage, die mich kilometerweit wegbrachte, verließ er den Tisch schneller. Zuerst wirkte es auf mich so, dass er einfach kein großes Interesse daran zeigte. Heute kann ich mir ungefähr denken, was in ihm vorging. Auch wenn er es nie gesagt hat, bin ich mir sicher, dass er nicht wollte, dass ich fort gehe. Nev? Du hast deinen Willen bekommen. Schließlich ereignete sich das, was meine Entscheidungen über den Haufen warf. Ich hatte meinen Platz in New York angenommen und bereitete mich geistig darauf vor, in 3 Wochen mein Elternhaus zu verlassen. Ich packte hin und wieder einige Kisten in meinem Zimmer und verbrachte meine restliche Zeit damit, auf meinem Bett zu liegen und mir alles wichtige aufzuschreiben, um nichts zu vergessen. Es war an einem ganz normalen Donnerstag Abend. Dieser Tag brannte sich in mein Gehirn, als hätte man ihn dort mit einem heißen Eisen verewigt. Ich lag auf meinem Bett und notierte mir einige Besorgungen, die ich am nächsten Tag noch tätigen wollte, als mich ein markerschütternder Schrei aus dem Erdgeschoss aus meinen Gedanken riss. Die Schreie wurden lauter und immer erbärmlicher. Man hörte das Klirren von Geschirr und Töpfen, die zu Boden gingen. Darauf folgte ein dumpfer Aufprall und dann Stille. Ich eilte vom meinem Zimmer die Treppe nach unten und konnte bereits in der offenen Küche sehen, was passiert war. Dad lag in seinem eigenen Blut leblos am Boden, während Nev mit einem Küchenmesser in der Hand neben ihm stand. Vier Stiche gingen in den Bauch und der finale Stich in die Brust. Meine Knie zitterten, als ich auf der Treppe stehenblieb und mich krampfhaft am Geländer festhielt. Es fühlte sich so an, als würde ich jederzeit einen Nervenzusammenbruch erleiden, der niemals kam. Als Nev in meine Augen sah, rief er mir zu, dass ich sofort wieder nach oben gehen sollte, bis er hier fertig sei. Mom? Du hast es auch gesehen, oder? Du hast nie mit uns darüber gesprochen, aber du hast es gesehen, nicht wahr? Dein Sohn hat deinen Mann getötet. Ich war zutiefst erschüttert und doch machte ich Nev keine Vorwürfe. Ich war der festen Überzeugung, ihn zu verstehen. Ich dachte, ich konnte nachvollziehen, warum es soweit kommen musste. Ich wusste nicht, dass weitaus mehr dahinter steckte als purer Hass. Den Hass, den auch ich nur zu gut verstand. Ich glaube, du hast dich danach in eurem Zimmer eingeschlossen. Irgendetwas hatte dich dazu bewegt, die Polizei nicht zu rufen. Ich traute mich erst wieder aus meinem Zimmer, nachdem ich gehört hatte, dass Nev irgendetwas in den Keller geschleppt hatte. Vorbei an der Blutlache in der Küche folgte ich ihm in den Keller und fand ihn dort vor einer Wand vor, in die er bereits begonnen hatte, ein Loch zu schlagen. Die Idee war, Dad eingewickelt dort hinein zu verfrachten und die Wand wieder mit Gips aufzufüllen. Dort würde man ihn sicher nicht finden. Und niemand würde ihn vermissen. Nachdem ich mich halbwegs an den Gedanken gewöhnt hatte, ging ich Nev tatsächlich bei einigen Dingen zur Hand. Nur die Leiche wollte ich nicht anfassen. Ich fühlte tiefes Mitleid für Nev, obwohl dieser in seinem Zustand so ruhig wie immer wirkte. Ich sah es nicht. Zu diesem Zeitpunkt haderte ich bereits mit der Entscheidung, Pasadena zu verlassen. Nev brauchte meine Hilfe. Ich konnte dich und ihn mit dieser Bürde doch nicht allein lassen. Letztendlich warst du es, Mom, die mir die Entscheidung gänzlich aus den Händen gerissen hatte... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)