Jade's Diary von Dorkas ================================================================================ Kapitel 4: Für dich ------------------- Es ist wie bei einer schweren Krankheit. Kurz bevor es zu Ende geht, gibt es noch einige gute Tage. Lichte Momente, in denen man sich an die schönen Dinge erinnert, die einem im Leben widerfahren sind. Ich bin ehrlich. So viele sind das bei mir nicht. Doch die wenigen, an die ich mich erinnern kann, sind umso wertvoller. Es ist schon komisch, dass einer der schönsten Tage meines Lebens mit einem Streit begann. Ein Samstag Mittag im Sommer des schlimmsten Jahres meines Lebens. Im Herbst würde ich 17 Jahre alt werden und meinen Abschluss machen. Ich weiß noch, dass ihr mich extra früher einschulen habt lassen für etwaiges Sitzen bleiben, was in meinen Augen völliger Bullshit war, doch ich habe euch wohl mit meinen Leistungen überrascht. Meine damaligen Freundinnen und ich hatten uns zum Cheerleadertraining verabredet. Eigentlich etwas ungewöhnlich an einem Wochenende, aber ich glaube, wir wollten für die Meisterschaft trainieren. So genau weiß ich es nicht mehr. Ich habe schließlich nie teilgenommen. Nev und ich stritten wegen dem Auto. Ich war zu dieser Zeit öfter unterwegs als er und fand es sowieso schon merkwürdig genug, dass er es ausgerechnet an diesem Tag brauchte. Was konnte er schon wichtiges vorhaben? Ich weiß noch, dass du versucht hast, zu schlichten und schlussendlich kamen wir zu dem Ergebnis, dass Nev mich fahren sollte und er danach das Auto haben dürfte, solange er mich wieder pünktlich abholen würde. Ich sah ihm bereits an seinem Gesichtsausdruck an, dass ihm das überhaupt nicht in den Kram passte. Wer wollte schon in seinem Alter seine kleine Schwester durch die Gegend fahren? Und welche 16-Jährige wollte mit ihrem völlig bescheuerten, älteren Bruder bei ihren Freundinnen aufschlagen? Ich denke, du verstehst meinen Punkt hier. Ich ließ mich schließlich darauf ein, was blieb mir auch anderes übrig, und stieg mit Nev in den Wagen. Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, war, dass ich später auf dem Heimweg ein vollkommen neuer Mensch sein würde. Ich würde meinen Bruder mit anderen Augen sehen. Mit den Augen, die ihn früher bereits angestrahlt hatten, als ich ein kleines Mädchen war. Undenkbar bei einer Teeniebratze wie mir damals. Doch ich sollte eines Besseren belehrt werden. Die Stimmung im Auto selbst war angespannt. Ich glaube, man hätte die Luft schneiden können, wenn man es darauf angelegt hätte. Wir wechselten nicht ein Wort miteinander, bis ich bemerkte, dass er auf den Highway abbog und wir offensichtlich nicht zum Training fuhren. Mein erster Gedanke war blanke Panik. Und gleich darauf folgte das, was ich zu diesem Zeitpunkt meines Lebens am besten konnte: wütend sein und meckern. Ich durchbrach die Stille mit einem Aufgebot an Schimpfwörtern und war sogar gewillt, ihm ins Lenkrad zu greifen, als er plötzlich das Radio auf die höchste Stufe aufdrehte und mir beinah das Trommelfell platzte. Ich presste mir die Hände auf die Ohren, während es ihn offenbar kein Stück kümmerte. Erst nachdem er sich sicher sein konnte, dass ich endlich die Klappe hielt, drehte er wieder leiser und ich atmete auf. Ich bemerkte, dass er immer wieder aus den Augenwinkeln zu mir sah um meine Reaktionen einzufangen. Schließlich fragte ich ihn nur noch kleinlaut, wohin wir denn fuhren. Er fragte mich, ob es nun möglich wäre, normal mit mir zu sprechen und offenbarte mir schließlich, dass er doch dieses Jahr zum Geburtstag Konzertkarten von Mom geschenkt bekommen hatte und sein damaliger bester Freund abgesprungen sei. Nev wusste, dass er schlechte Karten bei mir hatte und beschloss also, mich erst gar nicht zu fragen. Typisch für ihn, Sachen über meinen Kopf hinweg zu entscheiden. Aber offenbar wollte er auch nicht allein dorthin gehen. Wohin uns der Highway führte, verriet er mir allerdings nicht. Ich versuchte mich krampfhaft zu erinnern, um welche Karten es sich handelte, aber leider war ich an Nevs Geburtstag zu beschäftigt damit, am Handy zu hängen und dir nicht zuzuhören, Mom. Nach einer 30-minütigen Fahrt war mir plötzlich klar, wohin wir fuhren. Die vielen Menschen auf der Straße und das Riesenrad in der Ferne verrieten es mir. Der Santa Monica Pier. Nicht im Traum hätte ich daran gedacht, dass Nev uns dorthin bringen würde. Im Normalfall hätten ihn dort keine zehn Pferde hinbekommen. Er musste für die Band entweder wirklich etwas übrig haben oder es war ihm zu schade um das Geld, das die Karten wert waren. Bei letzterem hätte er sie aber auch einfach verkaufen können. Meine Augen funkelten bei diesem Anblick, während ich spüren konnte, wie Nev sich von Sekunde zu Sekunde unwohler fühlte. Und genau dieses Gefühl verleitete mich wohl dazu, es mir zur Aufgabe zu machen, meinem Bruder zu zeigen, dass er dort auch Spaß haben konnte. Ich sah es wohl als Chance, unser Verhältnis wieder rein zu waschen. Man konnte sagen, was man wollte: ich hatte Schuldgefühle. Aber das war nicht der Grund für meine Samariteraktion. Ich erinnerte mich wieder, was er eigentlich für mich getan hatte, als wir jünger waren. Auch wenn er mir nicht helfen konnte, er war immer für mich da. Er war immer anwesend, wenn ich ihn brauchte und auch, wenn ich ihn nicht wollte, aber brauchte. Er sprach nicht viel und ertrug mein endloses Gejammer. Ich hätte die Zeichen bereits damals erkennen sollen, doch ich schob es auf seine Art. Mom? Ich weiß nicht einmal, ob du dich noch an diesen Tag erinnerst. Ich glaube, weder Nev noch ich haben es dir erzählt. Egal wie dicht die Menschenmassen auch waren, egal wie teuer das Essen am Pier sein mochte, wir hatten Spaß. Ja, ich bin mir sicher, dass ich mit diesem Empfinden nicht allein war, auch wenn ich nie eine Rückmeldung bekam. Das Konzert sollte am Abend stattfinden, weshalb wir uns den restlichen Tag am Pier und am Strand vertrieben. Wir probierten uns durch die verschiedenen Fressbuden und fuhren in den Achterbahnen bis uns oder viel eher mir schlecht wurde. Ich war an diesem Nachmittag so dermaßen von Euphorie durchflutet, dass ich gar nicht bemerkte, dass ich Nevs Hand den ganzen Tag über kaum losgelassen hatte. Erst im Nachhinein wurde mir klar, dass die meisten wohl gedacht haben mussten, dass ich mit meinem Freund unterwegs war. An sich war es doch keine große Sache, oder? Ich war so froh, wieder unbeschwert Zeit mit ihm verbringen zu können, obwohl ich mich in einem schwierigen Alter befand. Ich wollte doch nur, dass alles wieder so wie damals war, als er mir den Plüschhund schenkte. In meinen Augen war es eine unschuldige Geste. Ich sah nichts Falsches daran, mit ihm Händchen zu halten. Ich hätte nur zu gerne in seinen Kopf gesehen. Was wohl darin vorging? Ob er genauso dachte wie ich? Was wäre, wenn unsere Meinungen zu diesem Thema gänzlich auseinander gingen? Über letzteres dachte ich zu diesem Zeitpunkt nicht nach. Ich wollte den Augenblick genießen. Im Hier und Jetzt leben. Ich wollte die Aufmerksamkeit meines Bruders. Und diese schien ich zu bekommen. Warum hatte er sich diesen Tag ausgesucht? Versuchte er dadurch irgendetwas zu erreichen? Heutzutage kann ich es mir fast denken, doch damals hatte ich diese Gedanken noch nicht. Mom? Ist es falsch, wenn ich sage, dass es sich wie ein Date anfühlte? Nur eben ohne diese ganze Gefühlsduselei. Vielleicht mehr wie ein erstes Treffen, bei dem beide nicht so richtig wussten, wie sie miteinander umgehen sollten. Nur dass ich zu diesem Zeitpunkt der aktivere Part von uns war. Ich wollte nicht eine Sekunde dieses Tages verschwenden. Früher hatten wir häufiger Zeit miteinander verbracht, doch mittlerweile hatten wir uns auseinander gelebt. Eine Tatsache, die ich nicht mehr hinnehmen wollte. Denn ich wusste, dass Nev nicht nur der Schläger oder der Creep war. Er war mein Bruder. Und meine erste große Liebe. Keine Sorge, Mom. Du kennst doch sicher den Spruch "Die erste große Liebe eines Mädchens ist ihr Vater". Tja, in meinem Fall war es Nev aus wohl kaum unersichtlichen Gründen. Selbst wenn wir uns stritten, konnte ich jedes Mal unsere Verbindung spüren. Sie war wie ein unsichtbares, elastisches Band, das uns, egal wie weit wir uns voneinander entfernten, immer wieder zusammen brachte. Heute weiß ich, dass es diese Verbindung und dieser eine Tag waren, die mich dazu bewegten, meinen Traum zu vergessen und in Pasadena zu bleiben. Damals war ich noch nicht überzeugt. Es musste noch irgendetwas passieren, damit ich blieb... Bevor wir uns vor der Outdoorbühne am Strand einfinden konnten, fuhren wir am Abend noch mit dem Riesenrad. Es war schon dunkel geworden und die bunten Lichter des Piers verwandelten das Wasser in ein Meer aus Farben. Fast als würden dort unten in der Tiefe die schönsten Blüten treiben. Ich weiß noch, dass ich wie verrückt aus dem Fenster gestarrt hatte um jeden Moment in mich aufzusaugen. Ich habe ununterbrochen geredet. Ich weiß nicht einmal mehr, was ich ihm erzählt hatte, doch als ich zu ihm blickte, sah er bloß mich an. Was für eine Verschwendung. Genau diese vier Worte muss ich ihm wohl in einem enttäuschten Tonfall entgegen gebracht haben. Und da war es. Das erste Mal an diesem Tag. Nein, das erste Mal in den letzten 6 Jahren. Einer von Nevs Mundwinkel hatte sich aus seiner Komfortzone bewegt und wanderte nach oben. Es geschahen wohl doch noch Zeichen und Wunder. Und er hatte mich nicht einmal verarscht und lachte darüber. Es fühlte sich definitiv wie ein Erfolg meinerseits an. Mein erster Gedanke war "Er schmunzelt meinetwegen". Ich griff nach seinen Händen und bedankte mich aufrichtig für den schönen Tag, obwohl wir einen so schlechten Start hatten. Er behauptete daraufhin nur, dass er niemand besseren gefunden hatte. Ich ließ es einfach so stehen und dachte innerlich die Wahrheit zu kennen. In diesem Alter dachte man wohl öfter, man hätte die Weisheit mit Löffeln gefressen. Man konnte den Menschen eben doch nur bis vor die Stirn blicken. Der Tag endete mit einem Adrenalinstoß während des Konzerts und der puren Euphorie, die danach im Auto die Vorherrschaft hatte. Zumindest was mich anbelangte. Ich hätte unglaublich gerne mit ihm über den Tag gesprochen. Ich hätte gerne von seinen Eindrücken erfahren. Wie er manche Dinge und Situationen wahrgenommen hatte. Doch mein Körper nahm mir die Entscheidung ab. Die restliche Autofahrt über herrschte Stille, während ich mit meinem Kopf gegen die Scheibe gelehnt auf dem Beifahrersitz schlief. Als wir zuhause ankamen, wart ihr natürlich nicht mehr wach. Ich wurde erst wach, nachdem Nev bereits aus dem Wagen ausgestiegen war und die Tür hinter sich zugeschmissen hatte. Er schien davon auszugehen, dass ich davon wach werden würde. Er hatte recht, doch so wie es aussah, hatte er nicht damit gerechnet, dass ich mir einen Spaß genehmigen würde. Also tat ich weiterhin so, als würde ich schlafen und reagierte auch auf sein wiederholtes Klopfen nicht. Ich weiß bis heute nicht, ob er wusste, dass ich ihn verarschte, auch wenn ich stark davon ausgehe. Es dauerte nicht lange, bis er die Geduld verlor und die Tür aufriss. Er schnallte mich kurzerhand ab und warf mich über seine Schulter. Spätestens jetzt war ich mir sicher, dass er es wusste und doch rührte ich mich keinen Millimeter. Die Augen schließlich aufgerissen, musterte ich seine Rückansicht und die schwarze Jacke, die er trug. Es war nicht schwierig, sich daran zu erinnern. Und selbst wenn ich es nicht mehr wüsste, würde ich mit einer schwarzen Jacke bei ihm sicher nie falsch liegen. Nev öffnete die Haustür und war ausnahmsweise einmal darauf Bedacht, kaum ein Geräusch von sich zu geben. Normalerweise schlug er auch, wenn er nachts um 4 Uhr nach Hause kam, noch die Türen hinter sich zu. Nev hielt meine Beine umklammert, als er mich die Treppe nach oben trug. Offenbar hatte er Angst, dass ich mir das Genick brechen könnte und er wegen Totschlag verknackt werden würde. Welch Ironie. Er schaffte es tatsächlich, mich unbeschadet in mein Zimmer zu verfrachten und lud mich, wie ein Bagger ein Häufchen Dreck, auf meinem Bett ab. Ich versuchte ruhig zu atmen und die Augen geschlossen zu halten. Er glaubte mir nicht. Vermutlich stand er deshalb noch 10 Sekunden einfach nur da, bis er mein Zimmer schließlich verließ und ich mich aufsetzte. Unbeschreiblich. Für viele Menschen, die in den Vororten von Los Angeles lebten, war es nichts Besonderes einen Samstag am Santa Monica Pier zu verbringen, doch für mich war es einfach nur unbeschreiblich schön. Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, jemals noch so einen Ausflug gemacht zu haben. Zumindest nicht mit dieser Unbeschwertheit. Mom? Keine Verabredung, die ich danach mit einem Jungen hatte, konnte mit diesem spontanen Ausflug mithalten. Und irgendwie macht es mir nun Angst, wenn ich so darüber schreibe. Egal wie unglaublich schön es auch war. Es hat einen bittersüßen Beigeschmack. "Für dich blieb ich hier. Und nun sieh nur, was aus mir geworden ist..." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)