Hinter der Fassade von Puppenspieler ================================================================================ Prolog: Kapitel 18.5: Ins Unbekannte ------------------------------------ Sie boten kaum Schutz.   Pfeile hagelten mit übermenschlicher Kraft gegen die alten Mauern, schlugen in Fugen und Steine ein, von denen sie hätten abprallen sollen. Dreck und Staub rieselten hörbar zu Boden nach jedem Einschlag. Ein fast kopfgroßes Stück vom Gemäuer fiel neben Niles zu Boden und zerschellte dort in kleine, vom Zahn der Zeit verwitterte Klumpen. Er fluchte, verließ die Deckung, von der er gehofft hatte, sie würde ihm endlich einmal mehr als eine kurze Atempause verschaffen können. Weg hinter dem trügerischen, kaum noch zur Hälfte stehenden Fundament eines alten Hauses, längst einen Pfeil zum Abschuss bereit. Keine Blöße zulassen. Kaum, dass er einen halbwegs guten Blick auf seine Feinde hatte, flog der Pfeil. Bogenritter. Weit entfernt. Zu weit, um sicher zu zielen. Zu weit, als dass sie so eine Durchschlagskraft haben dürften. Diese vallitischen Soldaten waren Monster. Der Schuss verfehlte, doch für einen Moment brachte er Unruhe in die Formation des Gegners. Genug, um sich mit einem Hechtsprung hinter die nächste Mauer zu flüchten, die genauso wenig länger Schutz bot wie die erste, doch zumindest taugte, um die nächste Salve abzuhalten. Rückzug war unmöglich. Hinter der spärlichen Gebäudefront erstreckte sich gähnende Leere, ein blutiges Schlachtfeld, das seine Kameraden verteidigten. Er hörte Schreie, Rufe, das Klirren von Metall auf Metall. Schmerz, Wut, Ärger. Die anderen Bogenschützen teilten sein Schicksal: Ein Katz-und-Maus-Spiel mit einer übermächtigen Wildkatze. Er sah Gestalten hinter zerstörten Häuserfronten aussitzen, sah sie flüchten, bevor die zerschossenen Mauern auf sie herabfielen. Hin und her. Nie nah genug, einen sicheren Schuss zu finden. Noch kamen die Bogenritter nicht näher – sie mussten es aber auch nicht. Ihre übermenschlichen Kräfte ließen ihre Pfeile trotz der Distanz sicher ins Ziel einschlagen. Auch jetzt hörte Niles über sich wieder die dumpfen Einschläge der Pfeilspitzen in porösen Stein.   Lediglich Prinz Takumi bot eine ernsthafte Bedrohung für die Monster.   Von seiner neuen Position aus sah Niles ihn. Sah ihn mutig aus seiner Deckung treten und Pfeile in die Ferne schießen, die tatsächlich zu treffen vermochten. Sah, wie er den Rhythmus des Gegners durchbrach. Einmal. Zweimal. Das waren keine Glückstreffer. Ein Grinsen schlich sich auf Niles‘ Züge. Abwarten. Einatmen. Ausatmen. Anspannen. Bereit zum Loslaufen. Wenn der richtige Moment kam– Jetzt! Ein vallitischer Bogenritter strauchelte getroffen. Sein Pferd scheute. Niles stürzte hinter seiner Deckung hervor, die Arme längst vors Gesicht gerissen, und rannte. Mehrere Meter freies Feld, das einmal ein Dorfplatz gewesen war. Er sah die Überreste eines Brunnes. Weiter. Die Bogenritter waren längst neu formiert. Pfeile schlugen rings um ihn in den Boden ein, spritzten Dreck und loses Erdreich auf. Etwas traf seinen Oberschenkel. Oberflächlich, mehr ein scharfes Brennen als tiefer Schmerz. Die nächste Ruine, die Schutz bot, war nichts als die flimsige Innenwand von etwas, das vielleicht einmal ein Wohnhaus gewesen war. Niles wusste, noch bevor er sich mit einem Hechtsprung vor den Pfeilen der Feinde flüchtete, dass die Wand dem Beschuss nicht lange standhalten würde. Aber es war besser als nichts. Mehr noch – es war genug. Breiter wurde das Grinsen, das ihn seit seinem Sprint begleitet hatte und er zog einen neuen Pfeil aus seinem Köcher. Legte ihn an die Sehne des Bogens. Spannte. Er war nah genug. Hatte freie Sicht, wenn er sich hinter der Ruine erhob.   „Ich darf doch zum Tanz bitten, nicht wahr?“       ~*~       Es wurde leichter, kaum, dass die Front der Bogenritter dezimiert wurde. Es wurde nie leicht, doch es wurde möglich, sie zu besiegen. Nach und nach konnten die anderen Bogenschützen ebenfalls weit genug vorrücken, um Schaden anzurichten. Die vallitischen Feinde lagen am Boden, noch ehe das Licht des Tages so sehr verblasste, dass es die Sicht behinderte. Niles‘ ganzer Körper schmerzte. Hechtsprünge und Ausweichrollen hatten ihm mehr blaue Flecken eingebracht, als er zählen mochte, und der ein oder andere Streifschuss hatte seine Kleider genauso zerfetzt wie die Haut darunter. Oberflächliche Wunden, die lange nicht mehr bluteten. Versorgung, die warten konnte. Warten, bis er die noch brauchbaren Pfeile vom Schlachtfeld aufgelesen hatte, um seine drastisch geschwundenen Vorräte wieder aufzufüllen. Er war nicht der Einzige, der hier sammelte.   „Niles!“   Laslows Gesicht war zerschrammt. Er atmete schwer, sah aber weitestgehend unverletzt aus – kein seltener Anblick. Man sah es dem Schürzenjäger nicht an, doch er war ein Kämpfer von so beachtlichen Fertigkeiten, wie kaum ein anderer. Fertigkeiten, die irgendwo aus seiner unbekannten Vergangenheit kamen. Fertigkeiten, die genau wie bei Odin und Selena niemand so recht logisch erklären konnte. Alle ignorierten es. Niles nicht. „Laslow. Bist du gekommen, damit wir gegenseitig unsere Wunden lecken können?“ „N-nein!“, erwiderte der sofort, unterstrich seinen Protest mit roten Wangen, die klar zeigten, dass er Niles genauso falsch verstanden hatte, wie er hatte verstanden werden wollen. Er grinste breit. So versaut. „Lord Xander schickt mich. Ich soll mitanpacken, wo ich kann. Er sagt, es wird mir nur guttun, noch etwas überschüssige Energie loszuwerden, bevor ich mich zu den Heilerinnen geselle.“ „Nun, da hat er recht. Vielleicht sind die armen Damen dann zur Abwechslung einmal sicher vor deinen Plattitüden. Wenn du dich nützlich machen willst, sammle die Pfeile auf, die noch taugen. Das solltest du doch schaffen, oder?“ Laslow warf ihm einen Blick zu. Beleidigt, empört. Hochmütig. Natürlich kann ich das, was denkst du von mir? Dann wandte er sich ab und tat, wie ihm geheißen. Niles tat es ihm gleich und kehrte zu seiner Arbeit zurück, ein amüsiertes Zucken im Mundwinkel. Es war keine fünf Pfeile später, die er vom staubigen Boden klaubte, als Laslow erneut nach ihm rief. Du kannst es wohl doch nicht, huh? Seufzend ließ er die Pfeile Pfeile sein und schloss zu dem Nichtsnutz auf.   „Verzehrst du dich so sehr nach der Wundpflege, dass du es nicht länger ausgehalten hast?“ Seine spöttische Begrüßung erntete kaum die Reaktion, die er erwartet hatte. Keine Empörung, keine Scham. Keine roten Wangen und kein Gestammel. Stattdessen war Laslows Gesicht ungewöhnlich ernst, als er nur mit einer Bewegung seines Kopfes hinter die brüchige Mauer wies, an der er stand. Er war kalkweiß im Gesicht. Niles wusste, was er finden würde, noch ehe er sich in die angewiesene Richtung gewandt hatte. Es war nicht das erste Mal, dass er sich einem solchen Blick gegenübersah, seit er seine Begabung zur Heilmagie entdeckt hatte. Er griff nach dem Stab, der genau wie sein Köcher auf seinem Rücken befestigt war. Überflüssig. Es gab Wunden, die konnte man heilen. Es gab Wunden, die konnte man nicht mehr heilen. Laslows Blick reichte, um zu wissen, womit er es hier zu tun haben würde. Aus dem Arm des Mädchens ragte ein Pfeilschaft. Die ungesund schwärzliche Verfärbung des Blutes, mit dem ihr grobes Oberteil vollgesogen war, suggerierte Gift. Es war nicht der einzige Pfeil, der aus ihrem Körper ragte, aber wohl der verheerendste. Ein großes Stück Gemäuer war auf sie niedergestürzt. Niles hob die Reste, die noch auf ihrem Gesicht lagen, weg. Blut bedeckte ihre zu größten Teilen abgeschürfte Haut. Ihre Wange wirkte seltsam eingedellt. Ein kurzer, abgehackter Laut war das einzige Zeichen, das sie überhaupt noch lebte. Sie klang wie ein sterbendes Tier. Ein Schwall Blut und Speichel quoll aus ihrem Mund. „Niles–“ Laslow klang genauso, wie er eben ausgesehen hatte. „Sie ist tot“, gab er gleichmütig zurück, erhob sich wieder aus der Hocke. Zuckte mit den Schultern. Er hatte schlimmeres in der Gosse gesehen; wegen einem Toten mehr oder weniger zerbrach seine Welt nicht. „Keine Chance, dass das noch heilbar ist.“ „Niles! Versuch es wenigstens!“ Er schüttelte den Kopf. Laslow sah aus, als wollte er ihn schlagen. So viel Feuer in seinem Blick, so viel Verzweiflung. Mitgefühl, um sich selbst besser zu fühlen? Wut, weil dieser schreckliche, blutverschmierte Anblick nicht in seine rosige, bunte Welt voller Frauenröcke passte? „Ich werde unsere Ressourcen nicht für etwas verschwenden, das keinen Sinn hat, Laslow. Wir sind im Krieg. Menschen sterben. Akzeptiere die Realität.“ „Wir haben gerade erst Scarlet verloren, und jetzt–“ Da waren Tränen auf Laslows Gesicht.   Beweinte er nun sich selbst und seine heile Welt, oder das Mädchen dort unten?   „Wir sind im Krieg“, wiederholte Niles noch einmal, gnadenlos. „Im Krieg gegen eine übermächtige Macht aus untoten Marionetten eines verrückt gewordenen Drachengottes. Was erwartest du?“ Was auch immer Laslow erwartete – nachdem er den Mund öffnete und wortlos wieder schloss, war es wohl nicht für Niles‘ Ohren bestimmt. Stattdessen rieb sich der junge Mann entschlossen mit dem Ärmel die Nässe vom Gesicht, dann ging er neben Mozu auf die Knie. Strich über ihr Gesicht – zumindest den Teil, der nicht entstellt und blutig war – und begann, irgendwelchen albernen Nonsens in sich hineinzumurmeln. Liebevolle, tröstende Worte. Lügen ohne Bedeutung, während der Geruch des Todes schon in der Luft hing. „Du kannst ihr Leid nicht lindern.“ Nicht mit hohlen Worten zumindest. Niles‘ Mundwinkel zuckten, als er auf Laslow hinabsah. „Außer, du stößt ihr deine Klinge ins Herz.“ Eine Überlegung, die überflüssig wurde, noch ehe Laslow darauf hätte antworten können: Ein letztes, unmenschliches Gurgeln, ein letzter Schwall Flüssigkeit, die über ihr Kinn rann, dann verließ noch der letzte Funken Leben ihren Körper. Tot. Es war eine Schande. Niles hätte gern gesehen, wie Laslow auf seine Provokation reagieren würde. Seine selbstgerechten Reden, seine Empörung von der Vorstellung, ernsthaft Sterbehilfe zu leisten. Ekelhaft. Doch der Moment war vergangen, die Spitze vom Wind verweht, und längst waren andere Dinge wieder wichtiger. Laslows behandschuhte Finger strichen noch einmal über Mozus unversehrte Gesichtshälfte, durch ihr blutgetränktes Haar. Als er zu Niles aufsah, lächelte er. Hatte die falsche Trauer und das Mitgefühl längst wieder eingetauscht gegen seine Leichtlebigkeit, die in seinen Worten nur noch so viel deutlicher wurde:   „Ich bin froh, dass sie keine Familie mehr hatte.“ Kapitel 20: Saat des Zweifels | C --------------------------------- Als die Brücke direkt vor seinen Augen in sich zusammenbrach, um an anderer Stelle wieder zusammenzufinden, geführt von der mystischen Energie der Drachenadern, musste Laslow schlucken. Hart. Über den Abgrund hinweg sah er Lord Xander, sah selbst auf die Entfernung den Anflug von Sorge auf seinem Gesicht. Er grinste, winkte seinem Prinzen mit einem Enthusiasmus, der hohl schmeckte. Ein Teil von ihm wollte hinabschauen. Sehen, wie tief hinunter es ging bis zum Erdboden – wenn überhaupt Erdboden unter ihnen war. Ein Teil von ihm wünschte sich verzweifelt, die Macht des Drachenbluts sei noch nicht verklungen und er könnte seinem Herrn über den Abgrund folgen, ihm zur Seite stehen, ihn beschützen, wie er es zu tun geschworen hatte. Lord Xander konnte sich selbst beschützen. Es war ein dummer Wunsch. Laslow konnte ihn trotzdem nicht abschütteln, genauso wenig wie die quälende Sorge, die seinen Magen verknotete und ihn schmerzhaft daran erinnerte, dass seine letzte Mahlzeit auch oben wieder würde herauskommen können.   Wenn die einzelnen Inseln doch nur größer wären. Wenn die Brücken nicht von einem Ort zum anderem wechseln müssten, sondern alle Inseln konsequent verbinden würden. Wenn er nicht von einem Ungesicht aufgehalten worden wäre beim Vormarsch. Wenn er an Lord Xanders Seite geblieben wäre. Wenn er noch die Kräfte der Drachenadern nutzen könnte.   „Sehe ich da Sorgen auf deinem Gesicht?“ Die unerwartete Ansprache zwang ihn, seine Gedanken abzuschütteln. Ein letzter Blick ging hinüber zu ihren Kameraden, die voranzogen, dann wandte er sich an seine Gesellschaft. Es hatte ausgerechnet Niles sein müssen. Die Wahrheit war – er mochte Niles nicht. Weder seine boshafte Art, noch seine Aufmerksamkeit, noch seinen Drang, allem und jedem hinterher zu spionieren und jedes Geheimnis aufzudecken. Noch seinen Scharfsinn, mit dem er andere Menschen manchmal nur mit seinen Blicken auseinandernehmen konnte. Er wusste, dass das auf Gegenseitigkeit beruhte. Niles mochte ihn auch nicht. Der Mann war sehr sorgfältig darauf bedacht gewesen, ihn das ausführlich wissen zu lassen, kaum, dass Lord Xander und Lord Leo mit ihren Getreuen gemeinsam losgezogen waren, um dem Ruf ihres Bruders zu folgen. Laslow rang sich ein Lächeln ab, schüttelte den Kopf. „Ach was! Ich dachte nur daran, wie frustrierend es ist, hier nun festzusitzen, statt an Lord Xanders Seite zu kämpfen. Sorgen mache ich mir keine. Lord Xander und die anderen genießen mein vollstes Vertrauen in ihre Fähigkeiten. Ihnen wird nichts passieren.“ Nicht an Scarlet denken. Nicht an Mozu denken. Nicht an all die Toten denken, die der Krieg Laslow schon beschert hatte. Tote Kameraden, tote Eltern, tote Freunde. Stark sein. Glauben. Niemand würde hier und heute sterben. „Wenn überhaupt mache ich mir Sorgen um uns“, fuhr er fort, leichthin. Weiterreden. Ablenken. Nicht nachdenken machte die Sorge erträglicher. Er grinste Niles an, zwinkerte. „Hier hinten werden wir nicht in der Lage sein, die Herzen unserer mutigen Mitstreiterinnen zu erobern.“   „Du solltest dir lieber Sorgen um dein Leben machen.“ Niles‘ Stimme war ein Plauderton, der bei jedem anderen hätte angenehm sein können, und bei ihm einfach nur falsch klang. Falsch wie sein Lächeln, das von dem kalten Blitzen seines Auges betrogen wurde, als er Laslow ansah, um mit einem Kopfnicken dann ein Inselchen weiter zu weisen, wo bereits ebenfalls einige ihrer Kameraden zurückgeblieben waren. Die vallitischen Soldaten waren vorhin noch nicht dagewesen. Laslow schluckte, schmeckte eiskalte Beunruhigung. „Das–“ Er hatte nicht geglaubt, dass der feindliche Heerführer eine so große Reichweite für seine dunklen Magien hatte. Doch die Realität widersprach seinen Hoffnungen radikal: Ihr Feind konnte Soldaten beschwören. Überall auf diesem Archipel schwebender Inseln, das ihr Schlachtfeld war. Instinktiv griff er nach dem Heft seines Schwertes, hielt sich daran fest, suchte Beruhigung in der vertrauten Berührung. Sie saßen hier fest. Sie saßen hier fest, bis der feindliche Heerführer besiegt war, bis die Gefahr gebannt war, und man sich danach überlegen konnte, wie die Zurückgelassenen ebenfalls die Abgründe überwinden konnten, denen es nun an Brücken fehlte. Sie saßen hier fest, jederzeit dem Risiko ausgesetzt, dass ein vallitischer Soldat vor ihnen erschien. Oder ein Ungesicht. Oder beides. Und sie waren nur zu zweit. Auf einer kleinen Insel. Ohne Fluchtmöglichkeit. „Nun, ein wenig Sorge um unser leibliches Wohl ist in der Tat angebracht, wie mir scheint.“ Selbst in seinen eigenen Ohren klang sein Grinsen hohl, doch es war vertraut, und der falsche, heitere Tonfall half, seine eigenen Nerven zu beruhigen. Es war okay. Solange er weiterlächelte und stark blieb, würde er es überstehen. Er konnte hier ausharren, bis der Feind geschlagen war und er an die Seite seines Herren zurückkehren konnte. Er hatte schon Schlimmeres erlebt.   Er hatte schon Schlimmeres erlebt, doch er hatte es an der Seite von Kameraden getan, denen er blind vertraute. Odin. Selena. Ihre Freunde zuhause. Dass er Niles nicht einen Bruchteil dieses Vertrauens entgegenbrachte, das führte ihm das kalte, amüsierte Lachen des Mannes wieder viel zu sehr vor Augen. „Du musst dir keine Sorgen um mich machen, Laslow.“ Seine Stimme troff vor falscher Liebenswürdigkeit. „Ich bin immerhin auch nur jemand, der keine Familie mehr hat.“ Einen Herzschlag lang begriff Laslow nicht. Dann sickerten die Erinnerungen, die er mühsam weggeschoben hatten, wieder zu ihm durch. Mozu und ihr geschundener Körper. Seine eigene Hilflosigkeit im Angesicht ihres Sterbens. Die ungerechte Erleichterung, die er empfunden hatte bei dem Gedanken, dass es keine Familie gab, der er diesen herzzerreißenden Schmerz antun musste. „Niles–“, begann er, doch sein Protest wurde augenblicklich mit einem Kopfschütteln weggewischt. Selbst für Niles‘ Verhältnisse sah er gerade grausam aus, sein Lächeln bestenfalls eine groteske Karikatur von Freundlichkeit und Verständnis. Laslow erschauderte unwillkürlich. „Nicht doch“, säuselte er. Trat einen Schritt näher. Laslow trat einen Schritt zurück. Beim nächsten Schritt versuchte er es nicht mehr, denn er wollte gar nicht ausprobieren, wie nah am Rand der Insel er gerade stand. „Ich verstehe das. Es ist viel leichter, die Leichen einfach zu begraben, nicht wahr? Ohne darüber nachdenken zu müssen, noch schlechte Nachrichten zu überbringen.“ Da lag keinerlei Verständnis in Niles‘ Tonfall, die frostige Kälte konnte mit Nohrs härtesten Wintern konkurrieren. Selbst die fremden Finger, die sich auf seine Wange legten, fühlten sich kalt an – auch wenn das Laslows eigener hitziger Gesichtsfarbe verschuldet sein mochte. Ungerührt von allem, von Laslows offensichtlichem Unwohlsein, fuhr er fort: „Menschen reagieren nicht gerade herzlich, wenn man ihnen erzählt, dass ihre Liebsten tot sind, nicht wahr?“ Er legte noch eine Kunstpause ein. Laslow wusste schon, dass er die nächsten Worte gar nicht hören wollte, ehe er sie über das Pochen seines eigenen Herzens hinweg doch hörte: „Lass mich raten~ du hast dir gewiss schon die ein oder andere Ohrfeige für eine unangemessene Beileidsbekundung eingefangen?“ Er öffnete den Mund. Schloss ihn. Stand da wie geohrfeigt, und fand keine Worte, fand nichts zu sagen, also lachte er, nur ein kurzer, fast kläglicher Laut, der unterbrochen wurde, als just in diesem Moment ein magisches Leuchten von unerwünschter Gesellschaft kündete.   Dass Laslow erleichtert war, als er sein Schwert zog, machte ihm mehr denn je bewusst, wie sehr er Niles einfach nicht ausstehen konnte.   Im nächsten Moment war Niles‘ unangenehme Persönlichkeit das Letzte, woran er dachte. Sein Feind trug ein Schwert, ganz wie er selbst. Nur eine leichte Rüstung, die ausreichend Schwachstellen bot. „Niles, ich hoffe, du kannst zielen.“ In seinem Rücken ertönte ein grausames Lachen. „Auf diese Entfernung müsste ich blind sein, um zu verfehlen.“ Der Tonfall hinterließ einen unangenehmen Beigeschmack, doch Laslow beschloss, seinen Worten zu vertrauen. Er mochte ein noch so mieser Kerl sein, als Getreuer von Lord Leo hatte er sich nie etwas zu Schulden kommen lassen – er würde nicht heute damit beginnen, seinem Herrn Schande zu bereiten. Er nickte knapp, zog in einer fließenden Bewegung sein Schwert, und stürzte los auf den Feind, der in abwartender Hab-Acht-Stellung nur darauf zu warten schien, dass er sich mit einem übereilten Angriff Blöße gab. Stahl prallte auf Stahl. Die Wucht des Schlages vibrierte Laslows ganzen Arm herauf. Untote. Ungesichter. Vallitische Soldaten. Warum mussten all diese magischen Ungeheuer eine so ungeheuerliche Kraft haben? Heh. Ich sollte froh sein, dass ich es nie anders gelernt habe, als gegen solche Monster anzukommen. Die schiere Kraft seines Gegners zwang ihn, sich einen Schritt zurückzuziehen, das direkte Kräftemessen aufzugeben. Kaum berührten seine Füße sicher den Boden, setzte ein Schwerthieb seiner Bewegung nach, ein brutaler Streich ohne viel Finesse. Den Schwung seines Rücksprungs nutzend duckte er sich unter dem Angriff hinweg, stach nach der ungepanzerten Körpermitte des Valliten. Ausfallschritt zur Seite, die Klinge traf ins Leere. Laslow stürzte selbst zur Seite weg, rollte sich auf dem harten Boden ab und kam in einer sauberen Bewegung wieder auf die Füße, tänzelte noch ein paar Schritte zurück. Distanz. Kurz durchatmen. Konnte er sich auf Niles verlassen? Darauf, dass er den rechten Moment fand, dem Feind einen Pfeil dahin zu jagen, wo es wehtat? Er durfte sich nicht zu sehr auf ein Kräftemessen einlassen. An Körperkraft war er unterlegen. Geschwindigkeit. Ausdauer. Den Gegner zermürben, bis er einen Fehler machte, bis er sich verwundbar genug für einen vernichteten Schlag zeigte. Defensive also. Er musste nicht lange warten, bis der nächste Angriff kam. Er wich aus, parierte den nächsten Schlag. Täuschte einen Angriff vor, um die unnötige Verteidigung des Feindes zu nutzen, erneut einen Sprung zurückzusetzen. Es war ein Tanz, ein Reigen aus klirrendem Metall und Bewegung, Finten und Paraden, Ausweichmanövern. Es war ein Tanz, und Laslow führte, gab das Tempo an, den Rhythmus, zwang den Gegner, ihm nachzusetzen, seine Ausdauer zu erschöpfen. Es war inmitten einer ganz besonders hitzigen Schrittfolge, dass er aus dem Augenwinkel Bewegung wahrnahm. Niles. Pfeil. Gespannte Bogensehne. Er hatte Erfahrung darin, mit Bogenschützen zu kämpfen. Verdammt, er war selbst einmal als Bogenschütze unterwegs gewesen! Den nächsten Schlag parierte er, ließ zu, dass die Wucht ihm durch Mark und Bein ging und ihn beinahe in die Knie zwang. Sein Handgelenk schmerzte. Das Hauptgewicht seines Schwertes lag in seiner nicht-dominanten Hand. Noch ein bisschen– Ein Ruck ging durch seinen Gegner und für einen Moment, der Laslow den Atem und vor Schmerz die Sicht raubte, lehnte der sich noch mehr in ihren Zweikampf. Fast hätte er ihn dazu gebracht, sein Schwert fallen zu lassen. Dann war es vorbei, der Soldat erschlaffte; es war sein Schwert, das zu Boden fiel, gefolgt von seinem leblosen Körper. Erst jetzt bemerkte er den Pfeil, der tief in seinen Nacken eingedrungen war. Mit einem erschöpften Keuchen ließ auch er das Schwert sinken, wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er war unverletzt. Sein Handgelenk würde in einigen Momenten den Protest vermutlich wieder einstellen. Allein wäre er länger mit dem Soldaten beschäftigt gewesen. „Danke.“ Niles zuckte nur mit den Schultern. Er trat an Laslow vorbei, um den Pfeil aus seinem Opfer zu ziehen. Sein Grinsen war purer Wahnsinn. „Das war doch erst die Aufwärmübung.“   Niles hatte recht, da machte er sich nichts vor. Das war nicht der letzte Feind, mit dem sie sich herumschlagen mussten. Er hasste es.       ~*~       Selbst das wärmende Licht des Lagerfeuers machte die Ruine, die sie zu ihrem Nachtlager auserkoren hatten, nicht heimeliger. Nichts konnte Valla das Gefühl von Fremdartigkeit und Verderbtheit nehmen, fand Laslow. Mit einer trägen Bewegung legte er Feuerholz nach, den Blick stur in die Flammen gerichtet, denn die alten, längst größtenteils zerfallenen Gemäuer rings um ihn herum, die sich die Natur schon wieder zurückholte, waren ein trauriger Anblick. Und das alles nur, weil ein Drache den Verstand verloren hatte… Erging es wirklich jedem Drachen früher oder später so? Seine Gedanken wanderten zu Nah, klein und harmlos, und so vernünftig, dass Inigo sich nicht vorstellen konnte, wie sie jemals irgendjemandem unabsichtlich wehtun könnte. Irgendetwas zerstören, getrieben von Impulsen, die ihr selbst zuwider waren. Sie war ein halber Mensch. Vielleicht half es. Und ihre Mutter? Er zwang sich, die Überlegung von sich zu schieben, zwang sich, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Lord Xander hatte die Schlacht auf den schwebenden Inseln gut überstanden. Lord Leo auch. Lord Corrin. Lord Takumi. Lord Ryoma. Die Prinzessinnen, die am Ende noch genug Energie gehabt hatten, die schwerer Verletzten zu heilen. Mithilfe von Lady Camilla, ihrem Wyvern und ihrer Fähigkeit, die Drachenadern zu aktivieren, die die Brücken wieder zu den vereinsamten Inseln zurückriefen, waren die Zurückgebliebenen geholt worden, nachdem der Feind zurückgeschlagen war. Niemand war gestorben. Keine Verletzungen, die nicht wahlweise durch Heilmagie oder Zeit komplett und mühelos ausheilten. Es war ein guter Tag gewesen. Doch da waren Mozu und Scarlet, und da war das Wissen, dass ihr Weg sie nur noch tiefer in den Schlund des Verderbens führen würde, und Laslows Herz fühlte sich schwer wie Blei, jeder Schlag eine Erinnerung daran, dass es jederzeit stillstehen könnte. Schritte schabten über den schmutzigen Boden, brachten ihn dazu, die düsteren Sorgen für den Moment ebenso wegzudrängen wie die Erinnerungen an seine Heimat, und wieder aufzusehen. „Ablöse ist hier“, informierte Niles ihn, als er sich mit einem herzhaften Ächzen vor dem Feuer niederließ. „Schon?“ Laslow war nicht müde. Mehr noch, er hatte keinen Bedarf daran, gerade allein zu sein mit seinen Gedanken und dem kläglichen Versuch, zu schlafen, der ohnehin scheitern würde. Er schloss die Augen, rieb sich über die Nasenwurzel. Machte keine Anstalten, aufzustehen. Für einen Moment lag Niles‘ Blick über die tanzenden Flammen hinweg auf ihm, dann sah der Andere zur Seite und Laslow tat es ihm gleich, wandte den Blick wieder von ihm und zurück in das vertraute, flackernde Orangerot.   Zu wissen, dass er nicht alleine war, machte die Stille der Nacht unerträglich.   „Du hast recht. Ich hasse es, schlechte Nachrichten zu überbringen.“ Er wusste nicht, wieso er sich rechtfertigte. Vor Niles von allen Menschen. Vielleicht genau deshalb – weil er Niles war. Weil er nur das Schlechte sah. Weil Laslow so eine schlechte Meinung nicht auf sich sitzenlassen wollte. Weil er stark sein wollte, und dazu gehörte es am Ende auch, solche Makel einzugestehen. „Natürlich.“ Niles klang belustigt. Laslow sah ihn nicht an. Er sah sein spöttisches Grinsen trotzdem. „Kann mir nur zu lebhaft vorstellen, wie schrecklich das für sich sein muss, dir aus deinem fröhlichen, schönen Leben heraus das Elend anderer Leute vor Augen führen zu müssen. Ist unangenehm, hm?“ Was weißt du schon?! Ärger erfüllte ihn mit einer Unruhe, die ihn auf die Beine trieb. Wie ein Tier im Käfig fühlte er sich. Ausgeliefert. Einem Raubvogel, der nicht von ihm ablassen würde. Niles echote seine Bewegung, kam mit unerwarteter Eleganz auf die Füße, und mit unerwarteter Geschwindigkeit überbrückte er die kurze Distanz zwischen ihnen. Wenn er nicht aufsah, um in seine Augen zu sehen, war Laslows Blick direkt auf seine hämisch grinsenden Lippen fixiert. „Ah. Aber sieh es positiv.“ Laslow wollte gar nicht wissen, was er positiv sehen sollte. Ein winziger, naiver Teil von ihm, der abgespannt und müde war und sich nach Trost sehnte, sprang trotzdem darauf an: „Was denn?“ Er wusste, er würde die Frage bereuen. Er hoffte, er tat es nicht. Niles‘ Grinsen kannte die Antwort schon vor seinen Worten. „Vielleicht lässt sich irgendwann einmal eine holde Maid von dir trösten, der du gerade noch erzählen musstest, dass ihr Vater in der Schlacht gefallen ist.“ „NILES!“ Er begriff die Ohrfeige erst, als sie schon durch den Handschuh hindurch auf seinen Fingern brannte. Niles, pietätlos wie er war, fiel auch jetzt nichts Besseres ein als ein boshaftes Lachen, das kalte Blitzen in seinem Blick ließ Laslow instinktiv ein Stück zurückweichen. „Ha. Das ist ja eine Überraschung. Du hast einen ganz schön festen Schlag drauf, Laslow. Bist du so empört, dass ich deine Absichten erkannt habe?“   Laslows Antwort war die Flucht zu seinem Nachtlager. Kapitel 23: Arete fällt | B --------------------------- Der Verlust, der betrauert wurde, war nicht aus ihren eigenen Reihen. Doch Azuras Trauer wog schwer, der neuerliche Abschied von ihrer Mutter nahm sie sichtlich mit – und damit auch alle, die ihr näherstanden. Die anderen Prinzen und Prinzessinnen waren alle berührt. Lord Xanders sorgenvolles Gesicht war für Laslow unerträglich anzusehen. Ihre Freunde, ihre Kameraden. Seitdem die Schlacht gegen Arete und ihre Truppen aus untoten Ungeheuern vorüber war, war Azura keinen Augenblick mehr allein gewesen, wenn sie das nicht gewünscht hatte. Die Stimmung im ganzen Lager war drückend. Laslows kannte Prinzessin Azura nicht sonderlich gut. Er hatte von ihrer Mutter während seiner Zeit in Nohr kaum etwas gehört, und das wenigste von den wenigen Worten war positiv gewesen. Trotzdem war ihm übel, elend, und er hatte das dringende Bedürfnis, sich zu erbrechen. Er wusste, was die junge Frau durchmachte. Selena wusste es. Odin wusste es. Laslow sah die Erinnerung an ihren eigenen Schmerz in der Art, wie Selena jeden anfuhr, der es wagte, ihr zu nahe zu kommen, und gleichzeitig aber nie mehr als ein paar Schritte von der nächsten Person entfernt blieb. Er sah es in der Art, wie Odin ganz besonders finster und wortreich verkündete, sich am Quell der Dunkelheit zu laben, um neue unaussprechliche Kräfte für die finale Schlacht zu erlangen. Er spürte es selbst daran, wie bitter sein eigenes Lachen schmeckte, wie schwer jedes Zucken seiner Mundwinkel fiel. Es war Flucht, dass er sich freiwillig bereiterklärte, auszuziehen, um zu jagen. Viel Lebendiges gab es hier nicht mehr, aber einige Wildtiere hatten die Zerstörungswut Anankos‘ bisher überlebt. Die Vorräte ihrer kleinen Armee schwanden, also war eine Ergänzung wünschenswert. Jetzt, am letzten Tag, bevor sie Schloss Gyges stürmten, mussten sie alles Menschenmögliche tun, um möglichst gut zu Kräften zu kommen.   Kaum das Lager verlassen, umfing ihn Wildnis. Unnatürliche Stille, die die Trostlosigkeit des ganzen Reiches unterstrich. Fremde Gerüche von fremden Pflanzen. Es erinnerte ihn an die ersten Wochen, die er in Nohr verbracht hatte. In denen alles noch neu und fremd und anders gewesen war, kein Vergleich zum reich blühenden, wunderschönen, friedlichen Ylisse. Die Nächte, die er mit Odin und Selena beim Schein einer Öllampe in einem ihrer Zimmer verbracht hatte, nah beieinander und sich nur im Flüsterton über das Heimweh unterhaltend, das sie damals alle viel zu sehr geplagt hatte. Im Grunde plagte es auch heute noch, doch sie hatten alle drei gelernt, das Leid hinunterzuschlucken und still mit sich selbst auszumachen. Wie lange war das her? Jahre. Es wirkte weniger, solange er sich die genaue Zahl nicht in Erinnerung rief. So lange, dass er Laslow war. Diener des Königshauses. Er atmete tief, bebend durch. „Wenn wir diese Schlacht gewinnen, kehre ich zurück.“ Die ersten Ausläufer eines Waldes, die ihre gierigen, knorrigen Finger nach ihm ausstreckten, verschluckten seine Worte. Es laut auszusprechen, machte es realer. Es war erleichternd. Es war bedrückend. Lord Xander hatte versprochen, es ihm nicht übelzunehmen, sollte er ihn verlassen. Solange er lebte. Leben würde er. In Frieden. Endlich. Es war so lange kein Thema mehr gewesen. Wohin würden sie zurückkehren? In ihre wahre Heimat, oder an den Ort, an dem ihre Eltern noch lebten? Noch einmal mit seiner Mutter tanzen. Mit seinem Vater trainieren. Sich die Grundlagen des Jagens von ihm beibringen zu lassen. Gemeinsam am Lagerfeuer den erlegten Bären verspeisen. Zusehen, wie der kleine Inigo, der in diese Welt gehörte, aufwuchs, um den Platz auszufüllen, an den er sich gedrängt hatte. „Du wirst kein Wild erlegen, indem du hier stehst und den Bäumen sehnsüchtige Blicke zuwirfst.“ Laslow zuckte zusammen, wie ertappt. Er fuhr sich mit dem Ärmel übers Gesicht, ehe er sich mit einem strahlenden Grinsen zu Niles umdrehte. „Was für eine Überraschung!“ Keine gute Überraschung. Niles erwiderte sein Grinsen, genauso unangenehm und unfreundlich wie die letzten Male schon, marschierte dann an ihm vorbei, zielstrebig tiefer in den Wald hinein. Er war beinahe erschreckend leise. Passend für einen Mann, der anderen bei jeder Gelegenheit nachstellte. So wie jetzt. Laslow hatte keine Lust auf Spielchen.   „Was willst du, Niles?“ „Nun, ich dachte, wir könnten unser stimulierendes Gespräch von neulich noch einmal aufgreifen. Außerdem konnte ich meine Zweifel nicht beseitigen, dass du uns mit diesem Bogen überhaupt irgendetwas erlegst.“ Laslows säuerlicher Blick prallte an Niles ab wie ein Kieselstein an einer massiven Rüstung. Er straffte die Schultern, griff den Bogen fester. Ich habe dir nichts zu sagen. „Mein Vater hat mir das Bogenschießen beigebracht.“ Im Grunde war es einerlei. Niles würde nichts finden. Und wenn er den gesamten Stammbaum des Mannes runterbeten würde, er würde nichts über seinen Vater finden – und damit nichts über Laslows Vergangenheit. Nichts über die atemberaubendste Tänzerin der ganzen Welt. Oder die Erhabene, die sich für den Frieden geopfert hatte. Die kleine Prinzessin, die die schlimmsten Streiche spielen konnte, und das größte Herz hatte. Niles summte amüsiert. „Nein, wie reizend. Hat Vati dir auch beigebracht, den Tod eines Kameraden nach seiner verbliebenen Familie zu bemessen?“ Laslow schüttelte den Kopf. Rational betrachtet sollte er den Mund halten, um nicht noch mehr Angriffsfläche zu bieten. Schweigen, während sie durch fremdartiges Unterholz schlichen, konzentriert darauf, jede verräterische Spur zu entdecken, die von wilden Tieren künden mochte. Er war einfach nicht rational. „Ein Freund meines Vaters kam auch aus einem kleinen Dorf“, begann er, zögernd. Inzwischen verschwamm die Erinnerung in seinem Kopf: Der kleine Donnie, den er in der Vergangenheit kennengelernt hatte, und der erwachsene Donnell, der kompetente Krieger, der auch viele Jahre später noch an der Seite seines Vaters gekämpft hatte. Wenn er sich konzentrierte, fielen ihm die Narben auf dem älteren Gesicht aber wieder ein, der ernste Zug um seine Braue, der ihm als junger Bursche immer gefehlt hatte. „Genau wie sie. Als er starb–“ Er brach ab, suchte nach Worten zu den Erinnerungen, die auf ihn einströmten, und hatte doch keine. Es war so lange her. Wie konnte es so lange her sein? „Er hatte also noch Familie.“ – „… Ja. Es war furchtbar. Seine Mutter gab uns die Schuld an seinem Tod. Sie hat geschrien und gewütet und geheult.“ Laslow entkam ein Lachen, Hilflosigkeit im Angesicht der alten Trauer, die ihn gerade zu erwürgen drohte. „Ich war damals noch so jung, dass ich mich hinter meinem Vater versteckt habe. Es war schrecklich.“ Wieso er Niles‘ Blick suchte, wusste er selbst nicht. Ein Reflex. Ein dummer Reflex, der ihm nur eiskalten Hohn einbrachte und ein Lächeln, das so scharf war, dass es durch Knochen schneiden konnte. „Mhm. Ich sehe. Ein tiefes Trauma, das du da mit dir rumschleppst. Es muss furchtbar für dich wohlbehütetes Kind gewesen sein, so viel fremdes Leid zu sehen. Wie schrecklich! Bist du dann in Vatis Arme geflüchtet, um Trost zu suchen, als es vorbei war?“ Worte wie Messerspitzen, die seine Haut durchdrangen. Wut. Ärger. Du kennst mich nicht. Aber so sollte es sein. Keine Schwäche zeigen. Die Erinnerung, die Niles‘ Worte weckte, war keine schlechte. Sein Vater hatte ihn getröstet, obwohl die ganze Situation ihm selbst zugesetzt hatte. Er erinnerte sich an die Wärme seiner Hand auf dem dunkelblauen Haarschopf, den er damals noch getragen hatte, an das raue Murmeln seiner Worte, auch wenn er ihre Bedeutung längst vergessen hatte. Sein Lachen war sein Schild, um die Messer abzuwehren. „Ja.“       ~*~       Ihre Beute war ein Bär. Es war mehr Glück als Verstand, dass sie seine Spuren fanden. Ältere Spuren, die zu einer Lichtung führten, an deren Ränder im Schatten der dicht belaubten Baumkronen Pilze wuchsen, die ein schweres, erdiges Aroma verströmten. Eine Futterquelle für den Bären, die er früher oder später wieder aufsuchen würde. Zwischen den Bäumen fanden sie beide schnell einen Platz, um sich auf die Lauer zu legen und zu warten. Bis ihr Ziel sich tatsächlich noch einmal mit schwerfälligen Schritten der Lichtung näherte, war die Sonne weit genug gewandert, um tiefe Schatten zwischen rotgoldene Lichtfetzen zu werfen. Bald würde es zu dunkel werden für einen klaren Schuss. Der Bär war ein großes, massives Monster mit zotteligem Fell und einem blinden Auge. Alt, aber kampferprobt. Dass es in dieser unfreundlichen Welt überhaupt überlebt hatte, ließ mühelos darauf schließen, dass sie Probleme bekommen würden, wenn sie das Ungetüm nicht ausschalteten, bevor es auf sie aufmerksam wurde. Er schien etwas Fremdes zu wittern, wandte den Kopf umständlich von einer Seite zur anderen. Laslow blieb das Herz stehen, als das eine sehende Auge des Bären sich auf sein Versteck richtete, doch nach einem endlos langen Augenblick, in dem er die Luft anhielt, wandte das Tier sich doch wieder ab. Er schluckte, atmete nur noch flach weiter. Sie hatten einen Schuss. Zwei Schuss, strenggenommen, wo sie zu zweit waren. Herz. Lunge. Wenn sie keinen Treffer landeten, der innerhalb von kürzester Zeit tödlich endete, hatten sie ein wildgewordenes Monster am Hals, das, wie es aussah, sein Heil nicht in der Flucht suchen würde, sondern im Kampf. Es war Jahre her, dass er das letzte Mal einen Bogen in der Hand gehabt hatte. Einen Pfeil an die Sehne gelegt. Trotzdem war es mühelos. Sein Muskelgedächtnis wusste noch genau, was zu tun. Wie viel Kraft er brauchte, um die Sehne zu spannen. Die Hände ruhig zu halten, als er zielte. Ruhig atmen. Früher hatte er eine Zeit lang mit Noire trainiert, um ihr zu imponieren. Sie war immer besser geblieben als er, und ihre zeitweilen Ausbrüche hatten ihn nicht nur immer wieder in die Flucht getrieben, sondern ihm die ein oder andere schmerzhafte Blessur eingebracht, an die er sich heute noch erinnerte. Der Bär schien immer noch unentschlossen, ob er sich seinem Futter zuwenden oder lieber davonhuschen sollte. Komm schon. Noch ein Stück. So kriege ich keinen sauberen Schuss, und Niles auch nicht. Ein kurzer Blick huschte zu seinem Kameraden, der ganz in der Nähe Position bezogen hatte. Es war nicht die beste Idee gewesen, so nah beisammen zu bleiben, doch das Dickicht hier bot den besten Sichtschutz vor dem Bären und ihnen gleichzeitig die beste Schussbahn. Er sah völlig entspannt aus. Hatte den Bogen gespannt, stand still wie ein Denkmal seiner selbst. Ein Bogenschütze mit nur einem Auge. Laslow wusste, dass ein eingeschränktes Sichtfeld auch das Zielen erschwerte. Doch Niles‘ Pfeile trafen ohne Gnade. Die Fähigkeiten des Mannes waren beeindruckend. Anders als seine Persönlichkeit. Sein Blick kehrte zu dem Bären zurück. Er schien beschieden zu haben, dass sein Futter ihm wichtiger war als die drohende Gefahr. Noch ein Schritt… Der Pfeil flog. Schlug mit einer Wucht, die den Bären zurücktaumeln ließ, in sein Fleisch ein. Niles‘ eigener Pfeil ragte nur ein kleines Stück weiter aus dem zotteligen Fell. Das Monster brüllte. Wütend, schmerzerfüllt. Schlug um sich in blinder Rage. „Lauf!“, brüllte Niles ihm entgegen. Laslow brauchte die Extraufforderungen nicht.   Von der charakteristischen Leichtfüßigkeit des Bären war nichts mehr übrig, als er fuchsteufelswild durchs Unterholz preschte, ihnen dichter auf den Fersen, als es Laslow lieb war. Der Bär hatte den Terrainvorteil. Sie kannten den Wald nicht. Gejagt von dem Monster verlor er schnell jede Orientierung. Vorbei an Bäumen, Sträuchern, den Blick auf den Boden gerichtet, um nicht am Ende über eine hervorstehende Wurzel zu stolpern. Nicht zurückblicken. Wenn er den Bären zähnefletschend hinter sich sah, würde seine Panik nur noch größer. Holz knackte unter den wuchtigen Pranken. Es klang sowieso schon viel zu nah. Die Stille, die plötzlich eintrat, war so allumfassend, dass sie in den Ohren schmerzte. Laslow begriff einen langen Moment nicht, was das Fehlen von Lärm bedeutete, dann kam er stolpernd und strauchelnd zum Stehen, die Hände auf die Knie gestemmt. Er schluckte hektisch um den metallischen Geschmack herum, der in seiner Kehle brannte. „Ist er– ist er wirklich tot?“ Das Blut in seinen Ohren rauschte so laut, dass er Niles‘ Antwort nicht hörte, doch er sah sein Nicken. Erleichtert ließ Laslow sich auf den Hosenboden fallen, streckte die Beine von sich. Seine Muskeln protestierten nach der Hetzjagd bei jeder Bewegung. „Das war… kein normaler… Bär“, keuchte er empört. Vallitischer Bär. Genauso unnormal wie vallitische Soldaten. Und vallitische Drachengötter. Anankos war ja nun wirklich auch nur eine Marke für sich. „In jedem Fall haben wir jetzt eine Portion Fleisch zum Abendessen mehr“, gab Niles unbekümmert zurück. Er klang nicht halb so erschöpft, wie Laslow sich fühlte. Wenigstens saß er auch am Boden und sah nicht aus, als würde er allzu bald hochkommen wollen.   Als sie sich schließlich doch wieder aufrafften, reichte das letzte verbliebene Tageslicht gerade noch, um sich neu zu orientieren und die Pranken des Bären aneinanderzubinden, damit sie ihn ins Lager zurückschleifen konnten. „Das war ein guter Schuss. Ich habe es dir nicht zugetraut.“ Laslow war nicht sicher, ob er Niles‘ Worte als Beleidigung oder Kompliment auffassen sollte. Das war immerhin Niles. Niles machte keine Komplimente. Aber es waren die ersten halbwegs freundlichen Worte, die er von dem Mann in letzter Zeit gehört hatte, und das war genug wert, um zufriedenstellend zu sein. Kein beißender Hohn und Spott war eine nette Abwechslung. Warum konnte es nicht immer so sein? „Mein Vater war ein guter Lehrer“, erwiderte er lächelnd. Niles würdigte seine Worte mit keiner Reaktion mehr. Ah. Das war wohl die falsche Antwort gewesen. Hatte Niles vermutlich an das Gespräch erinnert, das sie vorhin noch geführt hatten. Laslow seufzte schwer, biss sich auf die Unterlippe. Er wollte das nicht stehen lassen. Er wollte aber auch nicht wieder streiten. „Ich will niemandem das Leid antun, einen geliebten Menschen zu verlieren.“ Niles sah ihn an, die Augenbraue erhoben, spöttisch, amüsiert. Was, das schon wieder? Haben wir das nicht zur Genüge besprochen? Er reckte trotzig das Kinn vor, erwiderte seinen Blick unbeugsam. Angriff war die beste Verteidigung, oder? „Weißt du, wie das ist?“ Niles lachte. Auf eine Art, die Laslow das Gefühl gab, er hätte die dümmste Frage überhaupt gestellt – und vielleicht hatte er das sogar. Mit schambrennenden Wangen wandte er das Gesicht ab. „Nein. Weißt du, Laslow, der arme, kleine Niles hatte nie eine Familie, die er hätte lieben können.“ Eine Pause folgte auf die Worte, die langsam in Laslows Bewusstsein sickerten. Ein Leben ohne Familie klang unendlich grausam. Doch auf der anderen Seite – was man nicht kannte, vermisste man wohl weniger? Konnte man kaum betrauern. Aber wie überlebte man? Als Kind, ohne jemanden zu haben, der durchs Leben führte? Er wollte es nicht wissen. Niles fuhr ungerührt fort: „Ich fürchte also, ich kann deinen Horizont da nicht erweitern, so gern ich das auch würde.“ Jetzt war es an Laslow, zu lachen. Auf die gleiche Art, die ihm von Niles aus eben ein vor Scham heißes Gesicht eingebracht hatte. „Das musst du nicht.“ „Bitte?“ „Ich sagte: Das musst du nicht.“ Er holte tief Luft. Blieb stehen, um sich Niles voll zuzuwenden. Der Mann tat es ihm gleich, wenn auch wohl nur deshalb, weil er allein das riesige Bärenungetüm nicht durchs Dickicht zerren wollte. In seinem Blick lag eine verhaltene Neugier, die Laslow bisher noch nie aufgefallen war. „Ich weiß, wie sich das anfühlt. Menschen zu verlieren. Kameraden, die man sein Leben lang gekannt und geliebt hat, sterben zu sehen. Mutter–“ Er schluckte. Seine Stimme bebte, und in seinen Augen brannten Tränen, die er nicht weinen wollte. Nicht weinen würde. Nicht vor Niles. „Mutter und Vater an einen Krieg zu verlieren, und plötzlich ist da niemand mehr, der dich mahnt, oder tröstet, der dir sagt, dass alles gut wird. Der dich schimpft, wenn du zu leichtfertig bist. Da ist nur noch diese riesige, klaffende Lücke in deinem Herzen, und egal, was du tust – dieser Mensch kommt nicht wieder. Da hilft alles schreien und wüten nicht. Am Ende bleibt nichts zurück als Trauer. Erinnerungen. Schmerz. Und du musst weiterleben. Das ist ein so grausames Schicksal. Das wünsche ich nicht einmal meinem schlimmsten Feind.“   Niles schwieg.   Laslow hörte sein eigenes, geräuschvolles, feuchtes Atmen, hörte die erdrückende Stille eines fast ausgestorbenen Waldes, aber Niles schwieg. Kein Lachen. Kein böser Spott. Keine Regung auf dem fremden Gesicht, die er erkennen könnte. Dann, nach einer schieren Ewigkeit, stieß Niles einen Atemzug so laut aus, dass es beinahe ein Schnauben war, und er löste die Arme, die er während Laslows Rede verschränkt hatte. Er lächelte. Nicht boshaft. Es irritierte Laslow so sehr, dass er die fremde Hand erst bemerkte, als sie eine Träne von seiner Wange wischte. „Wir sollten ins Lager zurück, bevor es stockfinster wird. Ich weiß, du bist ein Kind der Nacht, aber hier findest du ohnehin nichts, das dir die späten Stunden versüßen könnte.“ „Niles–!“ „Kein Grund, rot zu werden. Ich verstehe den Reiz eines geheimen Nachtlebens.“ Laslow schnaubte hilflos, schüttelte den Kopf. Setzte sich mit einem energischen Stampfen wieder in Bewegung, einfach nur, um einen Grund zu haben, sich von seiner Begleitung abzuwenden. „Niles, nein! Du verstehst gar nichts!“ „Dann solltest du mich aufklären.“ Laslow verzichtete. Er verzichtete so sehr, dass er es laut in den dunkler werdenden Wald hinausschrie und Niles damit wieder ein vertrautes, boshaftes Lachen entlockte. Kapitel 28.5: Das Ende der Reise | A ------------------------------------ Damals, als Laslow in den Dienst seines Prinzen getreten war, hatte er schon gewusst, dass ihr gemeinsamer Weg einmal hier enden würde. Im Herzen von Valla, im Angesicht des Monsters, das einmal ein warmherziger, großzügiger Drachengott gewesen war. Damals hatte er nicht gewusst, dass dieser Ort Schloss Gyges sein würde. Damals hatte er nicht gewusst, welche Schrecklichkeiten sich auf dem Weg hierher befinden würden. Wie viele Freunde er finden würde. Und wie viele wieder verlieren, noch vor der Zeit des Abschieds. Damals hatte er oft versucht, es sich vorzustellen. Wie es sein würde, Anankos gegenüberzutreten. Dem Mann, der so verzweifelt um Hilfe gebeten hatte, ihm den Tod zu bringen. Er hatte keine Ahnung gehabt.   Nichts, nicht einmal seine kühnsten Träume, konnten ihn vorbereiten auf all die Seltsamkeiten, die das magietriefende Land für sie bis zum Schluss bereithielt.   Schloss Gyges begrüßte mit stockfinsteren Kellern, die Odins magische Flammen kaum erleuchten wollten, während sie durch die Dunkelheit irrten auf der Suche nach ihren Kameraden, nie mutig genug, nach ihnen zu rufen. Es war der kräftige Gesang von Prinzessin Azura, der sie am Ende alle wieder zusammenführte. Ein ganzes Labyrinth folgte, das Laslow erneut von seinen Kameraden trennte, als sie sich alle aufteilten, um einen Weg durch den Irrgarten zu suchen. Ein Wiedersehen mit dem hoshidischen König, der schon vor so langer Zeit aus dem Leben geschieden war. Noch mehr Schmerz und Trauer, die Laslow zwar nur aus zweiter Hand erfuhr, aber trotzdem genauso heftig spürte, als wäre es sein eigener Vater, der hier gefallen war. Im Thronsaal wartete der nächste große Schrecken. Verrat aus den eigenen Reihen – noch ein Thema, das Laslow aufs Unangenehmste berührte. Zu viele Parallelen zu seinem eigenen Leben, das ihm gerade wie ein Stein in der Brust lag und sein Herz zerriss. Sie waren erschöpft. Emotional ausgelaugt. Ihre Nerven zum Zerreißen gespannt. Und in dieser Situation, in dieser Verfassung sahen sie sich endlich dem gegenüber, wegen dem sie den ganzen langen Weg durch die verdrehte Fremde auf sich genommen hatten: Anankos. Kaum noch ein Schatten seiner selbst, ein seltsamer, steinerner Schädel, dem Leben eingehaucht wurde von der Magie eines wahnsinnigen Drachen. Die Magie der Drachenadern war hier so unfassbar stark, dass sie selbst Laslow die Haare zu Berge stehen ließ.   Er kämpfte an Odins Seite. Vallitische Soldaten. Ungesichter. Anankos beschwor Monster um Monster, und während sie und viele Andere die Rücken ihrer Kameraden freihielten, rückten ihre Herren unerbittlich vor, um sich dem wahren Feind zu stellen. Stahl traf auf Stahl, Magie versengte Fleisch, das längst verwesen sollte. Laslow sah nichts mehr als die wechselnden Gesichter seiner Feinde. Ein Ungesicht, dem schon ein Arm abgeschlagen war, und das laut grölend eine Axt schwang, die nichts mehr traf. Ein vallitischer Soldat, der Lanzen trug. An einen Bogenritter schlich er sich von hinten heran, durchstach sein Herz und sah zu, wie das Pferd des Monsters panisch davonhetzte. „Odin, ich–“ –könnte deine Hilfe gebrauchen. Das nächste Mal, das er sich zu seinem Kameraden umwandte, war da kein Odin mehr. Niles‘ kaltes Grinsen sah ihm entgegen. „Odin, ja? Das ist eine Verwechslung, die ich nicht auf mir sitzen lassen kann. Aber vielleicht kann ich dir auch eine helfende Hand reichen, Laslow.“ „Lenk die Bogenschützen da hinten ab.“ Er wartete nicht auf Antwort. Er hätte lieber ein Blitzgewitter gehabt als einen Pfeilhagel, aber er nahm, was er kriegen konnte. Der erste Pfeil sauste an ihm vorbei, als er loshetzte, in einer weiten Kurve näher an die Bogenschützen heran, die die linke Flanke des Schlachtfelds jetzt schon viel zu lange ungestört terrorisierten. Im Vergleich zu Odin war Niles nutzlos. Ein Blitzgewitter war eben doch ein ganz anderes Kaliber als ein paar Pfeile, egal, in wie schneller und zielsicherer Folge sie flogen. Im Vergleich zu gar keiner Rückendeckung war Niles aber Gold wert. Als Laslow keuchend den letzten Bogenschützen enthauptete, war ihm selbst bewusst, dass er es alleine Niles‘ Hilfe zu verdanken hatte, dass er nicht durchlöchert war wie ein Sieb. Stattdessen hatten ihn einige Streifschüsse erwischt. Ein Pfeil ragte aus seinem linken Oberarm, machte den Arm damit überwiegend nutzlos. Aber er lebte. Er stand noch. Im Gegensatz zu den Bogenschützen, die ihm aus direkter Nähe nichts mehr entgegenzusetzen gehabt hatten als flimsige Bögen, die nicht im geringsten als Schlagwaffe taugten. Niles war an seiner Seite, ehe er es überhaupt bemerkte, zwang ihn, innezuhalten, bevor er sich wieder ins Gefecht stürzen konnte. „Sieh dich an. Willst du so weiterkämpfen?“ Er lachte. „Die paar Kratzer sind doch nicht der Rede wert! Du müsstest sehen, wie ich nach einem wilden Techtelmechtel aussehe!“ „… Du meinst, wenn dich mal wieder eine Schankmagd verprügelt hat? Den erbärmlichen Anblick erspare ich mir lieber. Jetzt komm her.“ Laslow hatte gar keine Wahl. Niles packte ihn grob, um zu untersuchen, welche Verletzungen er ignorieren konnte, und für welche er seine magische Kraft aufbringen musste. Jeder Handgriff ließ ihn schmerzerfüllt winseln, zusätzlich zu der Demütigung der boshaften Worte. „Ich weiß nicht, was schlimmer ist. Deine harte Hand oder deine spitze Zunge.“ Niles lachte barsch, lehnte sich ein Stück näher, als es nötig gewesen wäre, um einen oberflächlichen Schnitt an Laslows Wange in Augenschein zu nehmen. „Oh, ich bin mir sicher, unter anderen Umständen würde dir sowohl das eine als auch das andere sehr gefallen.“ Es war der falsche Zeitpunkt, um rot zu werden. Laslow war noch nie gut in Timing gewesen.    Eine Erschütterung, die bis tief ins Mark ging, ließ ihn zu Boden fallen, noch ehe er sich wieder in die Schlacht stürzen konnte. Der steinerne Schädel, der Anankos war, bäumte sich in einem letzten Todeskampf auf. Laslows Herz setzte aus, er vergaß das Atmen, als mit einer kaum gekannten Wucht Hoffnung auf ihn niederkrachte. Konnte es sein? „Ist es vorbei?“       ~*~       Es war nicht vorbei. Anankos, geschwächt und dem Tode nah, ersann einen Weg, an neue Kraft zu kommen. Laslow hielt nichts von König Garon, doch zu sehen, wie der Mann von Anankos verschlungen wurde, ließ seinen Magen krampfen, und der Gedanke, wie sehr Lord Xander um seinen Vater trauern würde, ließ ihn beinahe bereuen, dass er längst beschlossen hatte, seinen Herrn hinter sich zu lassen. Dann war kein Raum mehr für Gedanken, für Gefühle. Im Angesicht des riesigen Drachenmonsters, das sich mit neugeschöpfter Kraft in den Himmel erhob, vergaß Laslow fast sogar die Angst. Es geschah zu schnell. So viel Energie. Ein schwarzes Loch im Himmel, dessen Sog alles zum Opfer fiel, das nicht völlig fest im Erdboden verankert war – und selbst das stabilste Fundament drohte zu bersten. Als es vorbei war, waren sie an einem Ort, der jeder Logik und jedem Sinn spottete, eine schwebende Insel inmitten eines endlos weiten, sternenübersäten Nachthimmels. Ein Stück Wahnsinn mitten im Nirgendwo, und nichts anderes war hier als die kleine Armee, die ausgezogen war, Anankos zu fällen, und eben dieser irrsinnige Drache. Die Diener, die Anankos immer noch beschwor, wirkten beinahe lächerlich im Angesicht des riesigen Ungetüms. Sie kämpften. Sie hatten keine andere Wahl. Gegen den Drachen. Gegen seine Diener, die immer wieder auftauchten, egal, wie viele niedergeschlagen wurden. Sie kämpften, obwohl ihre Arme längst bleischwer waren, die Waffen in ihren Händen schiere Tonnen wogen. Trotz aller Wunden, aller Schmerzen. Immer wieder hörte Laslow die Rufe der Heiler, die übers Schlachtfeld hetzten, um Linderung zu verschaffen, wo auch immer sie konnten. Heiltränke wechselten den Besitzer, und trotzdem war schmerzvolles Ächzen ein dauerhaftes Hintergrundgeräusch, Schmerzensschreie und Flüche keine Seltenheit. Wie Laslow in all dem Chaos statt vor noch einem vallitischen Soldaten irgendwann vor der Schnauze des Drachen landete, verstand er selbst nicht. Doch hier stand er. Starrte in eine wahnsinnige, verzerrte Fratze, und suchte irgendwo darin noch einen letzten Überrest des Mannes, den er einst gekannt hatte. Er fand nichts. Hob das Schwert, das zu schwer wurde, mit Armen, die zu sehr zitterten. „Wir haben es versprochen. Hier sind wir.“ Es war kein guter Schlag. Kein sauberer Treffer, und noch lange kein Todesstoß. Der Drache brüllte, mehr vor Wut als vor Schmerz, glaubte Laslow, und dann glaubte er gar nichts mehr, als das Monster ihm eine Wolke aus purer Finsternis entgegenspie und ihn damit von den Füßen wischte.   Als er wieder zu sich kam, hatte irgendjemand ihn aus der direkten Reichweite des Drachen weggeschafft und bis zu einem abgelegenen Punkt des Schlachtfeldes gezerrt, das ein Verletztenlager zu sein schien. Prinzessin Elise strahlte ihn an, versicherte sich kurz, dass es ihm gut ging, und dann war sie schon wieder verschwunden, um woanders zu helfen. Sie sah erschöpft aus, aber das realisierte Laslow erst, als sie längst aus seinem Blickfeld verschwunden war. Er kam kaum noch auf die Beine. Er war nicht der Einzige: Hier überall sah er Krieger, die schon damit kämpften, überhaupt aufrecht zu stehen. Bis auf einen harten Kern, der sich um ein undefinierbares, rundes Gebilde voller Augen scharte, dort, wo der Drache gewesen war, schienen sie alle am Ende ihrer Kräfte zu sein. Prinzessin Azuras Gesang war schon vor einer ganzen Weile verstummt. Erschöpft schleppte er sich weiter, bis er vor Selena auf die Knie fiel, die selbst am Boden saß. Odin hockte neben ihr, einen regelrecht zerfetzt aussehenden Folianten an seine Brust gedrückt. Ein Stück Abfall, das kaum noch seinen Dienst tun konnte, doch er klammerte sich daran fest wie an einem teuren Schatz. Laslow hatte einmal in den Einband dieses speziellen Bandes gespickt. Der in Odins Handschrift dort notierte Name erklärte seinen Wert. „Du siehst erbärmlich aus“, schnaubte Selena. Sie ignorierte, dass sie selbst nicht besser dran war. Laslow lachte. „Und du siehst entzückend aus, selbst in deinem zerschlagenen Zustand.“ Hätte sie die Kraft gehabt, sie hätte ihn geschlagen. So gab sie nur einen angewiderten Laut von sich. Sie sah aus, als wollte sie noch etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders und wandte das Gesicht ab. „… Das hier ist das Richtige, nicht wahr?“ Jetzt sprach sie doch. Leise. Laslows Mundwinkel zuckten. Er fühlte sich zu erschöpft zum Lächeln. Lächelte trotzdem. Schluckte um einen Kloß an ehrlichen Gedanken herum und nickte. „Es war sein Wunsch.“ „Und es ist unsere Pflicht, jeden finsteren Schurken zurückzuschlagen! Die uns gegebene Kraft ist eine schwere Bürde, die nur wir zu tragen vermögen!“ „Und wir können nach Hause, wenn es vorbei ist. Habt ihr–?“ Selena hatte. Das hörte man an ihrem Tonfall. Laslow wechselte einen Blick mit Odin, suchte im Gesicht seines Cousins nach der Antwort, die er selbst schon längst hatte.   Er fand sie. Dann explodierte das letzte Überbleibsel von Anankos, und mit ihm die verdrehte Welt, in der sie gefangen waren. Laslow lachte, ohne sich selbst zu hören, seine Stirn kollidierte mit Selenas Schulter.   Es ist vorbei. Ruhe in Frieden, Anankos.       ~*~       Valla, ohne seinen wahnsinnigen, mächtigen Gott, war ein anderer Ort. Das stete Pulsieren der Magie war verschwunden. Lord Leo sagte, die meisten Drachenadern seien versiegt. Hier war nichts mehr als der Tod, die Zerstörung, Trümmer einer Zivilisation, die nicht mehr existierte, eine ewige, einsame Ödnis aus Staub und Dreck und wilden Pflanzen. Während die Prinzen und Prinzessinnen einen letzten Kriegsrat hielten, waren die meisten Anderen damit beschäftigt, ihre Wunden zu lecken. Kaum jemand war unverletzt geblieben. Manche Verletzungen waren schwer genug, dass sie immer noch Behandlung bedurften. Wie durch ein Wunder war niemand mehr gestorben. Laslow saß am Rand ihres notdürftig zusammengezimmerten Lagers, kaute auf einem Stück Dörrfleisch herum, hungrig, aber eigentlich viel zu erschöpft, etwas zu essen. Ein naher Fluss – am Boden, nicht im Himmel, netterweise – hatte ihnen geholfen, den Dreck von den Körpern zu waschen, und jetzt, wo er sauber war, wollte er am liebsten nur noch schlafen.   „Ich habe dir Unrecht getan mit meiner Einschätzung.“ Er blinzelte verwirrt. Niles setzte sich neben ihn, das Haar noch feucht von der Wäsche. Er hatte eine Kante Brot bei sich, sah aber auch nicht aus, als hätte er zu viel Motivation, sie zu verspeisen. Laslow blinzelte noch einmal, und erst langsam fügten sich die Puzzleteile in seinem Kopf zu einem sinnvollen Bild zusammen. „Ja. Hast du.“ Er runzelte die Stirn. Machte eine vage Geste mit der Hand, in der er das angekaute Dörrfleisch hielt. „Aber das ist nicht wirklich deine Schuld.“ Niles betrachtete ihn kurz erstaunt, dann zuckte er unbekümmert mit den Schultern. „Nun, dann spare ich mir die Entschuldigung wohl.“ Mach doch, dachte Laslow sich müde. Dann begriff er, was Niles eigentlich gesagt hatte, und schüttelte so hektisch den Kopf, dass es schmerzte. „N-nein! Was ich meine, ist– Es war meine Absicht. Ich wollte nicht, dass jemand sieht, dass nicht alles eitel Sonnenschein ist bei mir. Die Welt ist harsch genug, ohne dass ich meinem Umfeld noch mehr Ballast aufbürde. Also lache ich. Bin stark. Zeige nicht, wie viel Leid ich gesehen habe. Verstecke meine ehrlichen Sorgen hinter flapsigen Sprüchen und Scherzen, auf dass nie jemand begreift, dass ich tief im Inneren immer noch ein weinerlicher Vollidiot bin, der panische Angst davor hat, seine Kameraden zu verlieren.“ So wie gerade. Ihm war nach Heulen, vor Erschöpfung, vor Erleichterung, und ein bisschen aus der herzzerreißenden Erkenntnis heraus, dass er dieses Leben, diese Kameraden, und vor allem Lord Xander gar zu bald hinter sich lassen würde. Für immer. Ohne Wiederkehr. Er lachte. Niles lachte. „Es ist kaum zu glauben, aber deine Fassade ist überraschend gut. Hättest du es mir nicht erzählt, ich hätte kaum geglaubt, dass hinter deinem dümmlichen Grinsen und deinen schlechten Anmachsprüchen tatsächlich eine düstere Vergangenheit liegt.“ Niles hielt inne. Er klang, als hätte er noch mehr zu sagen, doch für den Moment schwieg er. Tippte nachdenklich mit viel zu sanften Fingerspitzen auf Laslows Oberschenkel. „Niemand ist unbezwingbar. Hin und wieder Schwäche zu zeigen ist auch nur menschlich – und völlig in Ordnung. Es ist kein Wunder, dass jeder dich als leichtlebigen Hallodri sieht. Hat dir das nie jemand gesagt?“ Laslow öffnete den Mund. Schloss ihn wieder. Tränen liefen über seine Wangen, bevor er es verhindern konnte. Er lachte, schluchzte, lachte noch einmal auf. „Mein Vater hat. Aber–“ Niles‘ Finger auf seinen Lippen brachte ihn zum Verstummen. Obwohl seinem Grinsen nichts an der üblichen Gemeinheit fehlte, fühlte Laslow sich nicht ausgelacht. „Kein Aber.“ Kein Aber. Laslow wusste nichts anderes zu tun, als zu nicken. „Guter Junge.“ Aus Niles‘ Mund klang selbst das falsch genug, um ihm Schamesröte ins Gesicht zu treiben. Oder vielleicht war es auch nicht falsch, sondern genau das, was Niles beabsichtigte, denn er kam näher, so wie die Hand auf Laslows Oberschenkel weiterstrich, höher. „Was sagst du? Wäre es nicht eine wunderbare Gelegenheit, um noch einmal auf meine scharfe Zunge und meine harte Hand zurückzukommen?“   Laslow hätte widersprochen, wäre Niles‘ Mund nicht längst viel zu nah gewesen. Epilog: Kapitel 30: Eine neue Welt | S -------------------------------------- Der Fall des Drachen brachte eine solche Hektik mit sich, dass selbst Niles davon mitgerissen wurde. Krönungen in Nohr und Hoshido. Friedensverhandlungen. Lord Leo war als Berater des Königs immerzu mit eingespannt, besonders, als es darum ging, die innenpolitischen Spannungen in Nohr zu schlichten. König Garon hatte das Land und die Leute heruntergewirtschaftet. Niles verstand sie. All die Gegner der Krone. All den Hass auf das Königshaus, all die bitteren Menschen in den Gossen, die von Dreck und Leichen lebten. Es brauchte schier endlose Geduld, endlose Gespräche, und fast genauso viele Gefechte, bis die neue Führung sich im ganzen Land einen stabilen Stand aufgebaut hatte. Der Krieg war vorbei, doch noch immer machten sie sich die Hände schmutzig. Und kaum, dass Nohrs interne Lage sich stabilisierte, dass das letzte Blut von den Händen gewaschen war, kam die Einladung zur nächsten Krönung. Niles konnte verzichten, nach Valla zurückzukehren, doch natürlich würde er Lord Leo begleiten, so sein Prinz das denn wünschte. Zusätzlich zu der Krönung sollte auch ein letzter, endgültiger Friedenspakt zwischen Hoshido und Nohr besiegelt werden.   Der Wind der Veränderung wehte. Niles hätte blind sein müssen, um es nicht zu bemerken. Nicht einmal die großen Dinge. Nicht die neuen Wege, die das Reich einschlug. Selenas Kaufwut war zurück, und sie war schlimmer denn je. Odins Theater und die langatmigen Reden, die er niemandem als sich selbst hielt, wurden mehr und mehr dominiert von Themen wie Wiedersehensfreude und Rückkehr. Er bemerkte den Reisesack in Laslows Zimmer, wann immer er nachts zu ihm schlich, um zwischen Küssen und Berührungen jedes Wort zu ersticken, das er sonst hätte sprechen mögen. Niles wollte nichts davon hören. Nicht, warum er ging. Nicht, wohin er ging. Nicht, warum er nie wiederkehren würde. Er war sich sicher, er würde nicht.   Der endgültige Frieden zwischen Nohr und Hoshido, der Tag, an dem König Xander und König Ryoma sich die Hände reichten, war auch der Tag, an dem zwischen Laslow, Odin und Selena eine Aufbruchsstimmung begann, die beinahe greifbar war. Kaum zurück in Schloss Krakenburg verschwanden sie alle drei in ihren Zimmern. Niles vermutete, um ein letztes Mal ihr Gepäck zu überprüfen. Gedanklich Abschied zu nehmen. Keiner von ihnen wirkte, als würde er es mit Worten tun wollen. Sie waren so feige, ungesehen zu verschwinden. Aber natürlich. Es tat weniger weh, sich nicht verabschieden zu müssen. Es war einfacher, sich nicht rechtfertigen zu müssen. Nicht erklären zu müssen, weshalb man alles wegwarf, das man über Jahre hinweg erreicht hatte. Wie man welche Heimat auch immer gegen einen gemeinsam gefochtenen Krieg aufwog, gegen Bande, die so fest geknüpft waren, dass man meinen sollte, sie könnten nicht mehr reißen. Niles verstand.   Er würde sich auch nicht verabschieden.   Im Schein einer Öllampe stand Laslow vor seinem Bett, starrte hinunter auf eine mickrige Ansammlung an Plunder, die sein Gepäck sein dürfte. Von seinem Platz im Türrahmen aus erkannte Niles im schummrigen Licht nichts. Laslows Körpersprache erzählte genug – er schien unsicher zu sein, ob er mit seinen Vorbereitungen zufrieden war. Ob er abwägte, welches Erinnerungsstück am Ende doch wertlos genug war, um zurückgelassen zu werden? Für jemanden wie Laslow, der so gern Erinnerungen nachhing, war das wohl keine leichte Entscheidung. Eine Weile beobachtete er, doch es passierte nichts. Der junge Mann blieb an seinem Platz, starrte seine Besitztümer an, und kam aus dem Hadern nicht heraus. Es wurde langweilig, also stieß Niles irgendwann vernehmlich die Luft aus. „Du gehst also.“ Laslow drehte sich nicht zu ihm um. Er spannte sich an, wie ertappt. Niles verdrehte das gesunde Auge im Angesicht von so viel Naivität. Hatte er wirklich geglaubt, niemand würde es merken?  „Odin und Selena sind schon die ganze Zeit in Aufbruchsstimmung. Habe mich gefragt, wann ihr es endlich durchzieht.“ „Du wusstest es. Und trotzdem–“ Jetzt klang er verletzt. Sein halber Vorwurf gab ihren kleinen Stelldicheins so viel mehr Gewicht. Niles lachte. „Warum sollte ich das Vergnügen verwehren? Sag nicht, du bereust es, Laslow.“ Langsam drehte er sich um, sah Niles nun doch an. Sein Gesichtsausdruck war nur schwer zu lesen, unerwartet gefasst. Unerwartet nicht Laslow. „Ich bereue nicht“, erwiderte er fest. Sein Lächeln war ehrlich, „Aller Schmerz ist besser, als nie geliebt zu haben, Niles.“ Niles‘ Grinsen wurde breiter. Ihm war bewusst, wie er in Laslows Augen aussehen musste: Kalt, grausam, gemein. Nichts weiter als ein herzloses Ungetüm, das sein Vergnügen auf Kosten anderer Leute Gefühle hatte. Er wollte keinen anderen Effekt erzielen. Laslow wäre verschwunden, ohne Abschied, ohne jedes Wort. Es war nur recht und billig. „Ich habe nicht vor, mich diesem Schmerz auszusetzen.“ Laslows Lächeln wankte. Selbst im schlechten Licht sah Niles den Schmerz, der seine Fassade durchbrach. „…ha. Wieder ein Korb. Ich spüre die vertraute Umarmung meiner alten Freundin Ablehnung. Wie sehr ich sie doch nicht vermisst habe!“ Selbstironie. Schlechte Sprüche. Spätestens, seit Laslow selbst zugegeben hatte, dass sie nichts als hohle Worte waren, maß Niles ihnen keine Bedeutung mehr bei. Er trat näher zu ihm hin, packte ihn grob bei den Handgelenken. „Spar dir dein Theater, Laslow.“ Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Presste die Lippen zusammen und senkte schuldbewusst den Blick. Ihm wurde wohl selbst bewusst, dass er unfair wurde. Niles‘ Blick wurde sanfter, ungesehen. „Hör mir lieber bis zum Ende zu. Lord Leo braucht jetzt vieles, aber keinen räudigen Straßenköter an seiner Seite. Ich bin nicht gut für seinen Ruf, egal, wie sehr ich mich im Krieg bewährt habe. Was soll ein Mann wie ich schon dienen können jetzt im Frieden, der nichts gelernt hat als zu stehlen und zu töten? Es ist in unser beider Interesse, wenn ich nicht an seiner Seite bleibe.“ Hoffnung, nur ein kurzes Flackern. Unglaube. Angst, dass er doch falsch interpretierte. Laslow sah aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. „Niles–?“ „Schau nicht so. Du hast mich richtig verstanden.“ Überzeugt sah Laslow nicht aus. Niles schüttelte den Kopf, hob eine Hand an seine Wange. In einem längst vertraut gewordenen Reflex schmiegte Laslow sich der Berührung entgegen und schloss die Augen. Beruhigte sich. „Wohin es dich auch zieht, ich werde dich begleiten. In fremde Länder. Fremde Welten.“ – Laslow zuckte ertappt zusammen. Das erklärte, warum Niles nie Spuren dieser Leute irgendwo gefunden hatte. – „Ich habe die Hölle schon gesehen. Mich kann nichts mehr erschüttern.“   Einen langen Moment herrschte Stille zwischen ihnen. In Laslows inzwischen wieder geöffneten Augen spiegelten sich Überlegungen, die Niles nicht verstand. Irgendwann schien er zu einer Erkenntnis zu kommen, und plötzlich blitzten gleichermaßen Schalk und Unsicherheit in seinem Blick. „Auch nicht, dass ich ein Prinz bin?“ Niles lachte. Manchmal fiel einem einfach nichts anderes mehr ein.   „… Punkt für dich.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)