Hinter der Fassade von Puppenspieler ================================================================================ Prolog: Kapitel 18.5: Ins Unbekannte ------------------------------------ Sie boten kaum Schutz.   Pfeile hagelten mit übermenschlicher Kraft gegen die alten Mauern, schlugen in Fugen und Steine ein, von denen sie hätten abprallen sollen. Dreck und Staub rieselten hörbar zu Boden nach jedem Einschlag. Ein fast kopfgroßes Stück vom Gemäuer fiel neben Niles zu Boden und zerschellte dort in kleine, vom Zahn der Zeit verwitterte Klumpen. Er fluchte, verließ die Deckung, von der er gehofft hatte, sie würde ihm endlich einmal mehr als eine kurze Atempause verschaffen können. Weg hinter dem trügerischen, kaum noch zur Hälfte stehenden Fundament eines alten Hauses, längst einen Pfeil zum Abschuss bereit. Keine Blöße zulassen. Kaum, dass er einen halbwegs guten Blick auf seine Feinde hatte, flog der Pfeil. Bogenritter. Weit entfernt. Zu weit, um sicher zu zielen. Zu weit, als dass sie so eine Durchschlagskraft haben dürften. Diese vallitischen Soldaten waren Monster. Der Schuss verfehlte, doch für einen Moment brachte er Unruhe in die Formation des Gegners. Genug, um sich mit einem Hechtsprung hinter die nächste Mauer zu flüchten, die genauso wenig länger Schutz bot wie die erste, doch zumindest taugte, um die nächste Salve abzuhalten. Rückzug war unmöglich. Hinter der spärlichen Gebäudefront erstreckte sich gähnende Leere, ein blutiges Schlachtfeld, das seine Kameraden verteidigten. Er hörte Schreie, Rufe, das Klirren von Metall auf Metall. Schmerz, Wut, Ärger. Die anderen Bogenschützen teilten sein Schicksal: Ein Katz-und-Maus-Spiel mit einer übermächtigen Wildkatze. Er sah Gestalten hinter zerstörten Häuserfronten aussitzen, sah sie flüchten, bevor die zerschossenen Mauern auf sie herabfielen. Hin und her. Nie nah genug, einen sicheren Schuss zu finden. Noch kamen die Bogenritter nicht näher – sie mussten es aber auch nicht. Ihre übermenschlichen Kräfte ließen ihre Pfeile trotz der Distanz sicher ins Ziel einschlagen. Auch jetzt hörte Niles über sich wieder die dumpfen Einschläge der Pfeilspitzen in porösen Stein.   Lediglich Prinz Takumi bot eine ernsthafte Bedrohung für die Monster.   Von seiner neuen Position aus sah Niles ihn. Sah ihn mutig aus seiner Deckung treten und Pfeile in die Ferne schießen, die tatsächlich zu treffen vermochten. Sah, wie er den Rhythmus des Gegners durchbrach. Einmal. Zweimal. Das waren keine Glückstreffer. Ein Grinsen schlich sich auf Niles‘ Züge. Abwarten. Einatmen. Ausatmen. Anspannen. Bereit zum Loslaufen. Wenn der richtige Moment kam– Jetzt! Ein vallitischer Bogenritter strauchelte getroffen. Sein Pferd scheute. Niles stürzte hinter seiner Deckung hervor, die Arme längst vors Gesicht gerissen, und rannte. Mehrere Meter freies Feld, das einmal ein Dorfplatz gewesen war. Er sah die Überreste eines Brunnes. Weiter. Die Bogenritter waren längst neu formiert. Pfeile schlugen rings um ihn in den Boden ein, spritzten Dreck und loses Erdreich auf. Etwas traf seinen Oberschenkel. Oberflächlich, mehr ein scharfes Brennen als tiefer Schmerz. Die nächste Ruine, die Schutz bot, war nichts als die flimsige Innenwand von etwas, das vielleicht einmal ein Wohnhaus gewesen war. Niles wusste, noch bevor er sich mit einem Hechtsprung vor den Pfeilen der Feinde flüchtete, dass die Wand dem Beschuss nicht lange standhalten würde. Aber es war besser als nichts. Mehr noch – es war genug. Breiter wurde das Grinsen, das ihn seit seinem Sprint begleitet hatte und er zog einen neuen Pfeil aus seinem Köcher. Legte ihn an die Sehne des Bogens. Spannte. Er war nah genug. Hatte freie Sicht, wenn er sich hinter der Ruine erhob.   „Ich darf doch zum Tanz bitten, nicht wahr?“       ~*~       Es wurde leichter, kaum, dass die Front der Bogenritter dezimiert wurde. Es wurde nie leicht, doch es wurde möglich, sie zu besiegen. Nach und nach konnten die anderen Bogenschützen ebenfalls weit genug vorrücken, um Schaden anzurichten. Die vallitischen Feinde lagen am Boden, noch ehe das Licht des Tages so sehr verblasste, dass es die Sicht behinderte. Niles‘ ganzer Körper schmerzte. Hechtsprünge und Ausweichrollen hatten ihm mehr blaue Flecken eingebracht, als er zählen mochte, und der ein oder andere Streifschuss hatte seine Kleider genauso zerfetzt wie die Haut darunter. Oberflächliche Wunden, die lange nicht mehr bluteten. Versorgung, die warten konnte. Warten, bis er die noch brauchbaren Pfeile vom Schlachtfeld aufgelesen hatte, um seine drastisch geschwundenen Vorräte wieder aufzufüllen. Er war nicht der Einzige, der hier sammelte.   „Niles!“   Laslows Gesicht war zerschrammt. Er atmete schwer, sah aber weitestgehend unverletzt aus – kein seltener Anblick. Man sah es dem Schürzenjäger nicht an, doch er war ein Kämpfer von so beachtlichen Fertigkeiten, wie kaum ein anderer. Fertigkeiten, die irgendwo aus seiner unbekannten Vergangenheit kamen. Fertigkeiten, die genau wie bei Odin und Selena niemand so recht logisch erklären konnte. Alle ignorierten es. Niles nicht. „Laslow. Bist du gekommen, damit wir gegenseitig unsere Wunden lecken können?“ „N-nein!“, erwiderte der sofort, unterstrich seinen Protest mit roten Wangen, die klar zeigten, dass er Niles genauso falsch verstanden hatte, wie er hatte verstanden werden wollen. Er grinste breit. So versaut. „Lord Xander schickt mich. Ich soll mitanpacken, wo ich kann. Er sagt, es wird mir nur guttun, noch etwas überschüssige Energie loszuwerden, bevor ich mich zu den Heilerinnen geselle.“ „Nun, da hat er recht. Vielleicht sind die armen Damen dann zur Abwechslung einmal sicher vor deinen Plattitüden. Wenn du dich nützlich machen willst, sammle die Pfeile auf, die noch taugen. Das solltest du doch schaffen, oder?“ Laslow warf ihm einen Blick zu. Beleidigt, empört. Hochmütig. Natürlich kann ich das, was denkst du von mir? Dann wandte er sich ab und tat, wie ihm geheißen. Niles tat es ihm gleich und kehrte zu seiner Arbeit zurück, ein amüsiertes Zucken im Mundwinkel. Es war keine fünf Pfeile später, die er vom staubigen Boden klaubte, als Laslow erneut nach ihm rief. Du kannst es wohl doch nicht, huh? Seufzend ließ er die Pfeile Pfeile sein und schloss zu dem Nichtsnutz auf.   „Verzehrst du dich so sehr nach der Wundpflege, dass du es nicht länger ausgehalten hast?“ Seine spöttische Begrüßung erntete kaum die Reaktion, die er erwartet hatte. Keine Empörung, keine Scham. Keine roten Wangen und kein Gestammel. Stattdessen war Laslows Gesicht ungewöhnlich ernst, als er nur mit einer Bewegung seines Kopfes hinter die brüchige Mauer wies, an der er stand. Er war kalkweiß im Gesicht. Niles wusste, was er finden würde, noch ehe er sich in die angewiesene Richtung gewandt hatte. Es war nicht das erste Mal, dass er sich einem solchen Blick gegenübersah, seit er seine Begabung zur Heilmagie entdeckt hatte. Er griff nach dem Stab, der genau wie sein Köcher auf seinem Rücken befestigt war. Überflüssig. Es gab Wunden, die konnte man heilen. Es gab Wunden, die konnte man nicht mehr heilen. Laslows Blick reichte, um zu wissen, womit er es hier zu tun haben würde. Aus dem Arm des Mädchens ragte ein Pfeilschaft. Die ungesund schwärzliche Verfärbung des Blutes, mit dem ihr grobes Oberteil vollgesogen war, suggerierte Gift. Es war nicht der einzige Pfeil, der aus ihrem Körper ragte, aber wohl der verheerendste. Ein großes Stück Gemäuer war auf sie niedergestürzt. Niles hob die Reste, die noch auf ihrem Gesicht lagen, weg. Blut bedeckte ihre zu größten Teilen abgeschürfte Haut. Ihre Wange wirkte seltsam eingedellt. Ein kurzer, abgehackter Laut war das einzige Zeichen, das sie überhaupt noch lebte. Sie klang wie ein sterbendes Tier. Ein Schwall Blut und Speichel quoll aus ihrem Mund. „Niles–“ Laslow klang genauso, wie er eben ausgesehen hatte. „Sie ist tot“, gab er gleichmütig zurück, erhob sich wieder aus der Hocke. Zuckte mit den Schultern. Er hatte schlimmeres in der Gosse gesehen; wegen einem Toten mehr oder weniger zerbrach seine Welt nicht. „Keine Chance, dass das noch heilbar ist.“ „Niles! Versuch es wenigstens!“ Er schüttelte den Kopf. Laslow sah aus, als wollte er ihn schlagen. So viel Feuer in seinem Blick, so viel Verzweiflung. Mitgefühl, um sich selbst besser zu fühlen? Wut, weil dieser schreckliche, blutverschmierte Anblick nicht in seine rosige, bunte Welt voller Frauenröcke passte? „Ich werde unsere Ressourcen nicht für etwas verschwenden, das keinen Sinn hat, Laslow. Wir sind im Krieg. Menschen sterben. Akzeptiere die Realität.“ „Wir haben gerade erst Scarlet verloren, und jetzt–“ Da waren Tränen auf Laslows Gesicht.   Beweinte er nun sich selbst und seine heile Welt, oder das Mädchen dort unten?   „Wir sind im Krieg“, wiederholte Niles noch einmal, gnadenlos. „Im Krieg gegen eine übermächtige Macht aus untoten Marionetten eines verrückt gewordenen Drachengottes. Was erwartest du?“ Was auch immer Laslow erwartete – nachdem er den Mund öffnete und wortlos wieder schloss, war es wohl nicht für Niles‘ Ohren bestimmt. Stattdessen rieb sich der junge Mann entschlossen mit dem Ärmel die Nässe vom Gesicht, dann ging er neben Mozu auf die Knie. Strich über ihr Gesicht – zumindest den Teil, der nicht entstellt und blutig war – und begann, irgendwelchen albernen Nonsens in sich hineinzumurmeln. Liebevolle, tröstende Worte. Lügen ohne Bedeutung, während der Geruch des Todes schon in der Luft hing. „Du kannst ihr Leid nicht lindern.“ Nicht mit hohlen Worten zumindest. Niles‘ Mundwinkel zuckten, als er auf Laslow hinabsah. „Außer, du stößt ihr deine Klinge ins Herz.“ Eine Überlegung, die überflüssig wurde, noch ehe Laslow darauf hätte antworten können: Ein letztes, unmenschliches Gurgeln, ein letzter Schwall Flüssigkeit, die über ihr Kinn rann, dann verließ noch der letzte Funken Leben ihren Körper. Tot. Es war eine Schande. Niles hätte gern gesehen, wie Laslow auf seine Provokation reagieren würde. Seine selbstgerechten Reden, seine Empörung von der Vorstellung, ernsthaft Sterbehilfe zu leisten. Ekelhaft. Doch der Moment war vergangen, die Spitze vom Wind verweht, und längst waren andere Dinge wieder wichtiger. Laslows behandschuhte Finger strichen noch einmal über Mozus unversehrte Gesichtshälfte, durch ihr blutgetränktes Haar. Als er zu Niles aufsah, lächelte er. Hatte die falsche Trauer und das Mitgefühl längst wieder eingetauscht gegen seine Leichtlebigkeit, die in seinen Worten nur noch so viel deutlicher wurde:   „Ich bin froh, dass sie keine Familie mehr hatte.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)