Geisterpfade von Alaiya ================================================================================ Auf Geisterpfaden ----------------- Die Straßenbahn blieb mit einem lauten Quietschen an der Fushimi Inari Station stehen, während Haru geduldig an der Tür wartete. Ein paar Schüler in Schuluniformen standen in den Bereichen, nahe der Tür, während eine Mischung aus Touristen und Menschen, die von Einkäufen zurückkamen, die Sitzplätze besetzten. Die Tür öffnete sich. Gemeinsam mit ein paar der Schüler, sowie einer Mutter, die ein kleines Mädchen an der Hand hielt, drängte er sich heraus. Er trat zur Seite, um die anderen vorbei zu lassen, hatten sie es offenbar eiliger als er. Erst dann ging er die Rampe in das eigentliche kleine Bahnhofsgebäude hinab und durchschritt die kleine Bahnhofshalle. Vor den automatisierten Türen hielt er kurz inne, scannte dann aber sein Ticket ein und trat hinaus. Wie immer herrschte einiger Betrieb vor dem Schrein, dessen Torii direkt auf der anderen Straßenseite stand. Zwar hatten die Frühjahrsferien noch nicht begonnen, aber Touristen fanden ihren Weg immer hierher, selbst an einem wolkigen Tag wie heute. Harus Blick wanderte zum Himmel hinauf, an dem die Wolken sich dicht drängten. Es lag eine Anspannung in der Luft. Die Verheißung eines kommenden Sturms. Die Krähen hatten es schon gespürt. Sie saßen in den Bäumen am Rand des Schreingeländes und krächzten. Er seufzte. Vorsichtig zog er seine dicke Stoffjacke noch ein Stück weiter zu. Es war kühl. Der Frühling war noch gänzlich da. Dann packte er seine Umhängetasche, schob die Schlaufe wieder auf der Schulter zurecht und überquerte die Straße. Weit kam er nicht, ehe eine dünne Stimme ihn ansprach. „Excuse me?“ Die Stimme war unsicher, dünn und zittrig. Eine Touristin mit blondem Haar sah von einem Reiseführer auf. Haru setzte ein freundliches Lächeln auf. Immerhin gehörte es sich so. „Can I help you?“, erwiderte er auf Englisch. Erleichterung zeichnete sich auf dem Gesicht der Frau ob seines klaren Englisch ab. Auch der westlich wirkende Teenager hinter ihr, der wahrscheinlich zu der Frau gehörte, horchte auf. Sie trat zu ihm. „I am looking for those stairs with those red gateways.“ Nun, das war auch eine Art die Torii zu beschreiben. Er zeigte auf das große Tor, vor dem sie standen. „You just go through there and up the stairs, then up the stairs again. You will find signs guiding your way from there.“ „So this is the shrine?“, fragte sie. Er nickte. „Yes. You will find the stairs just further back. But be careful. It looks like a thunderstorm might roll in.“ Die Frau lächelte dankbar und nickte. „Thank you. We will be careful.“ Damit wandte sie sich ab und schritt zu den ersten Treppen hinüber, während der Junge, vielleicht ihr Sohn, Haru einen neugierigen Blick zuwarf. Sein Lächeln blieb auf den Lippen, bis der Junge sich abgewandt hatte. Dann seufzte er und machte sich daran, ihnen zu folgen. Auch sein Ziel lag weiter den Berg hinauf, hinter den ersten der tausenden Torii, die sich hier fanden. Ein kräftiger Windstoß fegte über das Schreingelände hinweg, gerade als Haru die Touristeninformation passierte. Noch einmal hielt er inne. Seine Mentorin würde sich ärgern, dass er sich den Nachmittag freigenommen hatte, boten Unwetter doch gute Gelegenheiten bestimmte Zauber zu üben und mit den Geistern des Windes zu sprechen. Doch das würde warten müssen. Wenn die bisherigen Märztage etwas gelehrt hatten, dann, dass es ein stürmischer Monat war. Die Zeichen würden in ein, zwei Wochen vielleicht noch besser stehen, brachten die blühenden Kirschbäume doch noch andere Energien in die Stadt. Er ging die Treppen hinauf, die zum eigentlichen Berggelände führten. Ein paar Touristen saßen hier, einige mit Getränken oder Eis auf dem Schoss. Selbst das kalte Wetter konnte dies nur wenigen verderben. Dahinter hatte eine einzelne Wahrsagerin ihr Zelt aufgebaut. In nur einer Woche würden es mehr werden, wenn die Ferien begannen und die Touristen damit in die Stadt und zu den Schreinen strömten. Kurz warf er einen neugierigen Blick in das Zelt, nur um zu schauen, ob es jemand war, den er kannte. Doch wer auch immer die Frau im Zelt war, so hatte er sie nicht in der Schule gesehen. Nicht, das es verwunderlich war. Die Akademie hatte strenge Regeln dafür, wer seine Dienste in der Öffentlichkeit anbot. So ging er weiter. Die nächste Treppe hinauf, dann in Richtung des Waldes, über die kleine Brücke. Seine Füße fanden den Weg beinahe von alleine, war er ihn doch sicher fünfzig Mal und häufiger gegangen, seit er seine Ausbildung hier begonnen hatte, seit er Aki kennen gelernt hatte. Ein paar letzte Kamelienblüten hingen an einem der Bäume am Waldrand. Ein weiterer Windstoß ließ die Äste rauschen und befreite eine einzelne Blüte, wehte sie in Harus Richtung. Es war eine Eingebung, ein Instinkt, der ihn eine Hand ausstrecken und seine Energie in den Wind leiten ließ. Es brauchte nicht viel, war der Wind doch ohnehin schon stark genug und musste nur ein wenig gelenkt werden. Dann änderte die im Wind treibende Blühte ihre Richtung und landete in Harus ausgestreckter Hand. Sie war verwelkt, glühte jedoch noch immer in einem strahlenden Rot. Rot wie Blut. Er hatte die Kamelien immer geliebt. Sie hatten auch im Garten seiner Mutter geblüht. Vorsichtig öffnete er die Tasche seiner Jacke und ließ die Blühte hineingleiten. Vielleicht würde Aki sich darüber freuen, selbst wenn er hier lebte. Vielleicht war es auch nur eine Art, sich selbst aufzuhalten, flatterte Harus Herz doch bei dem Gedanken, Aki wiederzusehen. Er hatte sich vorgenommen, ihm heute etwas zu sagen, was er schon vor einigen Monaten hätte sagen sollen. Die Bäume rauschten im Wind, als Haru die ersten Torii erreichte und begann die abgetretene Treppe zu erklimmen. Einzelne Blätter von Bäumen wurden zwischen den Torii hinweggeweht, während erste Regentropfen den Geruch des Waldes noch stärker hervorriefen. Immer wieder schaute er zwischen den zinoberroten Holzsäulen hindurch, auf der Suche nach einer Spur des roten Fells. Doch soweit war niemand hier. Ein Stück weiter vor ihm lief eine Gruppe Schulmädchen. Vielleicht waren sie gemeinsam mit ihrer Klasse hier, vielleicht hatten sie auch frei. Sie kicherten, blieben immer wieder stehen, um Selfies aufzunehmen, brachten Haru damit dazu inne zu halten. Als er das nächste flache Stück erreichte, rastete er, lehnte gegen die Abgrenzung und sah in den Bach der Parallel zum Weg lief. Zwei dicke Kapfen schwammen knapp unter den zentrischen Kreisen, die der Regen bildete. Von allem was er wusste, waren die Karpfen schon immer hier gewesen. Es hätte ihn nicht gewundert, wären sie irgendeine Art von Schutzgeist. Ein englischsprechendes Paar lief hinter ihm den Weg entlang, blieb kurz stehen, um ebenfalls das fast stehende Wasser und die Karpfen zu fotografieren. Sie schenkten ihm einen neugierigen Blick, sagten jedoch nichts. Mit einem Seufzen stieß er sich von der Abgrenzung ab und setzte seinen Weg weiter. Torii, weitere Torii, bis endlich ein dünner Weg nach rechts von der Haupttreppe abzweigte. Ein Weg, der zu einem der vielen Nebenschreine von Fushimi Inari führte. Niemand beachtete ihn, während er sich zwischen den Torii hindurchschlängelte und dann dieser anderen Treppe, die vor vielleicht zwanzig Jahren einmal mit Betonklötzen befestigt worden waren, welche nun jedoch von Pflanzen und Wurzel überwuchert und verschoben waren. Der Regen nahm zu, prasselte rauschend auf das Blätterdach über ihm. Kurz hielt er inne, um die Kapuze über seinen Kopf zu ziehen. Es war nicht mehr weit. Weitere Torii erschienen vor ihm. Diese waren verblasster als die Torii auf dem Hauptpfad, waren morscher, teilweise mit Moos überwachsen. Die normalen Menschen hatten irgendwann aufgehört hierher zu kommen. Vielleicht war es deswegen, dass dieser Schrein auf die Grenze zwischen den Welten abgerutscht war. Vielleicht war es aber auch anders herum gewesen und etwas anderes hatte ihn verrückt, weshalb die Menschen nicht mehr hergefunden hatten. Eine einzelne Katze saß im zweiten der Tore. Eine übergewichtige Katze, deren weißes Fell einige rote getigerte Flecken aufwies. Sie gehörte hierher, wie auch die Füchse, war ein Wesen aus der anderen Welt. Gerade schleckte sie ihre Pfote auf die Art, wie Katzen es oft taten, hob im nächsten Moment jedoch den Blick, um Haru zu betrachten. Der Ausdruck in den goldenen Katzenaugen ließ keine Frage auf der Intention. Haru seufzte. „Du willst wieder deinen Wegzoll, was, Shiron?“ Die Katze mauzte bestätigend, streckte sich und machte dann einen Schritt auf ihn zu, während er seine Tasche öffnete und ein einzelnes Onigiri mit Lachsfüllung hervorhob. Er legte es vor die Katze, die neugierig daran schnupperte, dann aber genüsslich hineinbiss. Sie kaute für eine Weile bedächtig, schaute dann wieder zu Haru. Ein weiteres Mauzen, ehe sie das Onigiri aufhob, zum Torii zurücktrotte und verschwand. Haru folgte ihr. Die Luft um ihn herum veränderte sich, wurde etwas wärmer. Ein Flimmern lag darin, beinahe wie Elektrizität. Es war Magie. Die Magie der anderen Welt. In nicht all zu großer Ferne tappten Pfoten auf Waldboden. Als Haru sich zur Seite wandte, war für einen Moment rotes Fell zwischen dem Bambus, der Torii und Weg umgab zu sehen. Das Krächzen der Krähen war verstummt. Selbst die alten Tengu kamen nicht hierher. Dann endlich: Das letzte Torii, hinter dem der Weg breiter wurde. Eine alte Steinfurche leitete Wasser daneben her. Vor Haru zeigte sich nun der kleine Schrein, der wie alle Schreine hier von zwei Kitsune-Statuen bewacht wurde. Und obwohl der Schrein genau so alt und morsch, wie die Torii vor ihm wirkte, brannten gleich mehrere Kerzen und Räucherstäbchen daneben. Haru blickte sich um. Aki musste irgendwo sein, selbst wenn er sich versteckte. Warum musste er es auch immer so genießen, ihn warten zu lassen? Wenigstens wusste Haru genau, was sein Freund erwartete. Er ging zum Chozuya, wusch sich Hände und Mund, ehe er sich vor den kleinen Schrein kniete. Vorsichtig nahm er ein Räucherstäbchen aus der kleinen Schachtel daneben und drückte es gegen seinen Finger. Ein kleiner Funke seiner Magie reichte, um es zu entzünden, ehe er das Ende in den Sand drückte, zwei weitere Reisbällchen aus seiner Tasche holte und als Opfergabe davor legte. Dann verbeugte er sich zu einem stummen Gebet. Erst als er sich aufrichtete und umdrehte, stand er da. Aki. Noch immer in der Gestalt eines Fuchses saß er auf dem Boden und betrachtete Haru. Sein Fell war rot und rau, seine Augen aufgeweckt und golden, wie die der Katze. Für einen Moment sah Haru ihn nur an, dann ehe er sich besann. „Aki“, hauchte er und verbeugte sich kurz. Ein sehr hundisch wirkendes Lächeln breitete sich auf dem Fuchsgesicht aus. „Haru.“ Er imitierte die Verbeugung indem er eine Pfote vorschob und den Kopf senkte. Dann tapste er um Haru herum, musterte ihn und nahm dann seine menschliche Gestalt an. An sich war „seine menschliche Gestalt“ nicht das richtige Wort. Immerhin war Aki ein Kitsune und als solcher wohl befähigt, jede mögliche Gestalt anzunehmen. Doch zumindest Haru gegenüber zeigte er sich immer in dieser Gestalt: Als junger, japanischer Mann mit Haar, das im Gegensatz zu Harus krausen, braunem Haar, glatt und schwarz war. Sein Körper war in einen weißen Hakama gehüllt. Ein verspieltes Lächeln bog seine Lippen nach oben. „Ich habe heute nicht mit dir gerechnet, mein Freund.“ „Ich wusste nicht, ob Fumi-san mir das Training erspart“, erwiderte Haru rasch. „Aber ich hatte dich heute unbedingt sehen wollen.“ Das Lächeln auf Akis Lippen wurde sanfter. Selbst in dieser Gestalt waren seine Augen golden, wirkten weiterhin aufmerksam und scharf. Dennoch war da auch eine weichere Seite, eine gewisse Sanftheit in ihnen. Er nahm Harus Hand, ließ seine eigenen langen Finger darüber gleiten. „Ich fühle mich geehrt.“ Dann schob er seine Finger zwischen Harus, hielt seine Hand. „Aki“, begann Haru, doch machte Aki bereits den ersten Schritt. Sein Lächeln wurde breiter, formte sich zu einem Grinsen. „Komm. Ich habe einen neuen Weg entdeckt.“ Damit beschleunigte er seine Schritte, zog Haru mit sich, ohne ihm eine Wahl zu lassen. Akis nackte Füße schienen förmlich über den Boden des Waldes zu schweben, während Haru einmal wieder darauf achten musste, nicht über eine Baumwurzel zu stolpern. Während Aki hierher gehörte, wie auch immer man „hier“ nennen wollte, war Haru auch als Magier Teil der menschlichen Welt. Dennoch rannte er neben Aki her, setzte über eine Wurzel hinweg, lief weiter, während die Bäume an ihnen in einem verschwommenen Nebel aus Grün und Braun vorbeirauschten. Kurz prasselte Regen in sein Gesicht, dann kam ein roter Schimmer auf sie zu. Ein weiteres Torii. Haru konnte seine Schritte nicht mehr stoppen, konnte nicht anhalten, wurde er doch von Aki mitgerissen. Im nächsten Moment traten seine Schuhe ins Nichts. Die Welt schien sich zu drehen, während Rauschen die Luft erfüllte. Dann fegte ein kräftiger Windstoß an ihnen vorbei, wirbelte sie für einen Moment in die Luft, ehe sie fielen. Ein Schrei stieg in Harus Kehle herauf, kam über seine Lippen, aber Aki lachte nur. „Es ist alles in Ordnung“, rief er, eine manische Freude auf dem Gesicht. Während die Finger seiner linken Hand noch immer mit denen Harus verschränkt waren, zeigte er mit der Rechten unter sie, wo eine stürmische und doch pastellblaue See immer näher auf sie zukam. Haru vergaß zu schreien, spannte sich an, in der Hoffnung so den Aufprall abfangen zu können, der nie kam. Wasser umspülte ihn, ohne dass es einen Aufprall gab. Blasen schwirrten um sie herum, während ihr Fall langsamer wurde, ehe sie schließlich gänzlich im Wasser schweben blieben. Bunt leuchtende Fische umkreisten sie. Wobei, nein, es waren keine Fische. Viel eher sahen die leuchtenden Punkte aus, als hätte jemand Fischlaternen mit einem Zauber belegt, der ihre Bewegung natürlich, lebendiger wirken ließ. Die freie Hand drückte Haru vor den Mund, im Versuch sich am Einatmen zu hindern, doch Aki lachte nur. „Es ist okay, du kannst atmen.“ Seine Worte klangen klar, wie in der Luft gesprochen, nicht unter Wasser. Misstrauisch schaute Haru zu ihm. Denn auch wenn er deutlich sprach, stiegen bei jedem Atemzug weitere Blasen aus Akis Mund hervor. Woher konnte er wissen, dass es nicht nur daran lag, dass Aki kein Mensch war? Diese Gedanken schien Aki zu erraten. „Du weißt, dass auch Füchse atmen müssen, oder?“ Haru nickte. Er presste die Augen zusammen, löste dann aber die Hand von seinem Gesicht und nahm einen vorsichtigen Atemzug. Tatsächlich fühlte es sich an wie Luft – salzige, feuchte Luft, wie er es vom Strand kannte. Angenehm. „Was ist das für ein Ort?“ Aki deutete ein Schulterzucken an. „Ich weiß es nicht. Eine vergessene Taschendimension vielleicht? Oder ein Randgebiet des Sommerreiches. Ich habe es erst vorgestern entdeckt.“ Wie auch immer Aki es anstellte, diese Orte zu entdecken. Er konnte auf der Grenze zwischen den Welten wandern, konnte über die Pfade, die sich dort erstreckten, balancieren, doch waren die Orte, die er bei diesen Ausflügen fand immer ein wenig seltsam und wunderlich. Wunderlicher, als die Geisterwelt, die Haru auf den Ausflügen mit den anderen Magierschülern kennen gelernt hatte. Sicher, sie waren immer vorsichtig. Schließlich war es nur zu bekannt, dass die Wesen dieser Welt im ständigen Konflikt miteinander standen. Sie bekriegten sich, kämpften um Kleinigkeiten und schienen nie zur Ruhe zu kommen. Fumi pflegte zu sagen, dass es an den gegensätzlichen Konzepten lag, die diese Wesen repräsentierten, aber die unterschiedlichsten Gelehrten hatten verschiedenste Theorien zustande gebracht. Fakt war, dass es eine Welt war, in der vieles, was die Menschen aus Märchen, Legenden und Träumen kannten, real war, ein physisches Gewicht bekam. Fakt war auch, dass es leicht war, sich als einfacher Mensch, Magie hin oder her, in dieser Welt zu verirren, funktionierten Richtungen und Entfernungen oft anders, als in der physischen Welt. Und ebenso war es Fakt, das verschiedene Menschen verschiedene Namen für diese Welt gefunden hatten und sie doch nie verstanden. „Komm“, meinte Aki nun wieder und streckte ein Bein aus, als wolle er einen Schritt machen. Haru tat es ihm gleich und zu seiner Überraschung traf seine Schuhsohle etwas Festes, ja, eine Art unsichtbare Stufe, die ihn weiter nach unten führte. Er blickte sich verwundert um, während die Fischlaternen sie umschwirrten, ohne dabei auf mehr als drei Meter an sie heranzukommen. „Pass auf, dass deine Augen in ihren Höhlen bleiben“, lachte Aki und führte ihn weiter die unsichtbare Treppe hinab. Haru tat einen tiefen Atemzug. „Ich bemühe mich“, antwortete er mit einem Lächeln und sah Aki an. Mit der freien Hand tastete er nach seiner Tasche. Waren sie und ihr Inhalt trocken geblieben, wenn sie dieses Wasser doch atmen konnten? Sonst wäre die ganze Mühe umsonst gewesen. „Was ist?“, fragte Aki, als er diese Geste bemerkte. „Ich mache mir nur …“ Haru hielt inne. Wieso fiel es ihm so schwer, es zu sagen? „Ich mache mir Sorgen um meine Schreibsachen.“ „Keine Sorge.“ Aki drückte seine Hand. „Dieses Wasser macht Dinge nicht nass. Es ist … anders, als dass Wasser in deiner Welt.“ Erleichtert atmete Haru auf. „Ein Glück.“ „Musst du noch Hausaufgaben abgeben oder wie ihr es nennt?“, fragte Aki. Haru wich seinem Blick aus. „Ja, so etwas.“ Jetzt war kaum der richtige Zeitpunkt, etwas zu sagen, oder? Die unsichtbare Treppe schien einem seltsamen Schlangenpfad zu folgen, führte sie einmal rechtsherum, einmal links, während der Meeresboden weiter nicht in Sicht kam. Wäre das Wasser auch nur irgendwie, wie echtes Wasser, so würde der Druck sie sicher langsam zerquetschen. Da es jedoch magisch war, wie alles andere, das sie umgab, erfüllte weiterhin eine seltsame Leichtigkeit Harus Körper. Das Kribbeln der Magie kitzelte seine Haut, gab ihm das Gefühl einer umfassenden Wärme. War das hier wirklich das Reich des Sommers? Er sah zu Aki, dessen Blick fest auf einen Punkt außer Sicht für Haru gerichtet war. „Wohin bringst du mich?“ „Ich habe hier etwas gefunden“, erwiderte Aki und schenkte ihm ein weiteres Lächeln. Bis heute wusste Haru nicht, wie Aki zu den anderen Kitsune stand, die rund um Fushimi Inari lebten. Er hatte nur selten andere von ihnen gesehen, hielten sie sich doch meistens versteckt. Es war nicht mehr ihre Welt, hatte Aki einmal gesagt. Alles, was er wusste, war, dass Aki oftmals allein unterwegs war. Dass er Ausflüge, wie diesen unternahm, auch die Welt der Geister besuchte, die die Europäer noch immer „Anderswelt“ nannten. Dass Aki versuchte neue Dinge zu entdecken. Warum? Er hatte es ihm nie verraten. Immer hin Haru nachfragte, blieb die Antwort doch ein geheimnisvolles Lächeln. Zugegebenermaßen: Haru wusste wenig über die Geister, abseits von dem, was er an der Akademie gelernt hatte. Sicher, es gab sie hier überall. Yokai, angefangen bei den Tsukumo-gami und Kara-kasa, hin zu Kitsune, Tanuki und Tengu. Die Leute aus dem Westen bezeichneten sie oftmals ebenfalls als Fae, Feenwesen, weil sie immer alles in ihre Weltsicht pressen mussten. Doch vielleicht waren sie das ja auch. Jedenfalls konnten sie frei zwischen der Geisterwelt und der physischen Welt wandeln und manche von ihnen schlossen sich einem der vier Reiche der Geisterwelt an. In diesem Kontext war Aki wohl das, was man als „Wildling“ bezeichnet hätten. Ein Geist, der in der Menschenwelt lebte. Ein Geist, der keinem Klan zugehörig war. Doch hätte er sich einem der vier Reiche angeschlossen, wäre er jetzt vielleicht auch in einen Krieg verwickelt und sie hätten sich nie kennengelernt. Unwillkürlich griff Haru Akis Hand fester, brachte ihn kurz dazu, sich ihm zuzuwenden. Erkannte er etwas in Harus Blick? Seine Füße gerieten aus dem Rhythmus heraus und auf einmal stolperte er. Aki stolperte. Seltsam. Es war beinahe menschlich. Er verlor das Gleichgewicht, fiel, riss Haru mit sich. Aber während Haru sich schon darauf vorbereitete, dass sie die harten, unsichtbaren Stufen trafen, war da nichts. Sie sanken nur tiefer und tiefer in das Wasser hinab, während die Blasen um sie emporstiegen. Aki lachte. „Was ist?“, fragte Haru. Er runzelte die Stirn und musterte Aki, als dieser seine zweite Hand nahm und in die seine schloss. „Nichts“, erwiderte Aki kichernd. „Nichts.“ Und doch lachte er weiter. Dankbarerweise fielen sie nicht mit derselben Geschwindigkeit, wie in der Luft. Was auch immer es mit diesem seltsamen Wasser auf sich hatte, so gab es ihnen doch ein wenig Auftrieb. „Aki!“, protestierte Haru, als dessen Lachen nicht verstummte. „Entschuldige.“ Aki führte seine und damit auch Harus Hände zusammen. Dann, für einen kurzen Moment, presste er Harus Finger gegen seine Lippen. Unwillkürlich stieg Haru die Röte ins Gesicht, aber wenigstens hörte Aki auf zu Lachen lachen. Er lächelte ihn an. „Ich habe nur gerade zum ersten Mal etwas verstanden.“ Damit ließ er Harus Linke los und zeigte in eine Richtung. „Was sagst du, mein magischer Freund, kannst du uns dorthin bringen?“ „Wohin?“ Harus Frage klang zu heftig, wusste er doch nicht, was er aus der Situation machen sollte. „Dahin!“, erwiderte Aki und zeigte weiterhin in dieselbe Richtung. „Vertrau mir.“ Noch immer lag Harus Stirn in Falten, während seine Wangen brannten. Einen Widerspruch verkniff er sich jedoch und konzentrierte sich stattdessen. Er schloss die Augen, sammelte seine Energie, konzentrierte sich auf die Worte, die Zeichen und ihre Bedeutung. Die Magie dieser Welt hatte eine seltsame Leichtigkeit in sich, eine unbeschreibliche Wärme. Zumindest hörte das Wasser hier weiterhin auf das Konzept Wasser, war diesem unterworfen, ließ sich durch dieses kontrollieren. Es nahm Strömung auf, die sie beide umspülte, mit sich trug. Das Wasser trug sie in die Richtung, die Aki angezeigt hatte, während die Fischlaternen um sie herumwirbelten. Der Boden kam näher. Haru spürte es, bevor er etwas erkennen konnte. Die Strömung verlor ihre Kraft und dann trafen ihre Füße auf Sand. „Und was …“, begann Haru, während sein Blick durch ihre Umgebung schweifte, doch er brachte den Satz nicht zu Ende. Sie standen vor einem Felsen, der beinahe wie eine Säule sicher fünfzig Meter in die Höhe ragte, jedoch in der Mitte gespalten schien. Wie ein Tor öffnete sich dort eine Felsspalte und gab ihnen den Weg in eine Höhle frei. „Das wollte ich dir eigentlich zeigen“, meinte Aki und drückte Harus Hand erneut. „Okay.“ Mehr brachte Haru nicht heraus, ehe er einen Fuß hob und voransetzte. Noch immer hielt Aki seine Hand, während sie sich der Höhle näherten. Kleine leuchtende Steine schienen durch den Felsen um den Eingang hindurchzufunkeln und eine seltsame visuelle Verzerrung trennte das Höhleninnere von ihrer Umgebung ab. Schon ahnte Haru, was passieren würde, so dass er nicht überrascht war, als er die Hand ausstreckte und feststellte, dass seine Finger eine Wasseroberfläche oder vielleicht eher Wasserwand durchbrachen. Ein wenig Wasser strömte um sie herum auf den sandigen Boden, als sie aus dem Wasser heraustraten und sich in der Höhle wiederfanden – nur, dass es keine Höhle war, sondern viel mehr aussah, wie das innere eines aus Holz gewachsenen Turms. Eine Wendeltreppe führte um sie herum in die Höhe, während ein Rauschen, wie das von Wellen, die Luft erfüllte. Von irgendwoher kam ein warmes Licht. Diese Welt ergab wirklich keinen Sinn. Aki ließ seine Hand los und sprang ein Stück die Treppe hinauf, um sich zu Bücken. „Fang!“, rief er und warf eine Orange in seine Richtung. Tatsächlich wuchsen verschiedene Früchte, an den Ästen der Bäume, die aus dem Nirgendwo hier hineinzuragen schienen. Gerade rechtzeitig noch hob Haru die Hände, schaffte es jedoch nicht schnell genug zuzugreifen und jonglierte unfreiwillig, ehe die volle Frucht in seinen Händen zu liegen kam. Er sah sie an, schaute dann zu Aki. Verdammt, wieso hatte er noch nichts gesagt? „Danke“, flüsterte er nun und ging vorsichtig zur Treppe hinüber, um sich darauf zu setzen. Ob es wohl angemessen war, irgendwann einmal einen Aufsatz über diese verlorenen Seitenauswüchse der Geisterwelt zu schreiben? Zumindest ein paar seiner Mentoren könnte es interessieren, selbst wenn er dafür wohl einiges würde erklären müssen. Noch einmal seufzte er, ehe er seine Umhängetasche öffnete, um sein Messer hervorzuholen. Sein kleines Geschenk lag noch immer darin. Vielleicht war es von Anfang an eine alberne Idee gewesen. Immerhin war Aki kein Mensch und verstand diese Dinge eventuell nicht einmal. Ohne etwas zu sagen, schloss er die Tasche wieder und begann die Orange zu schälen. Aki kam zu ihm, setzte sich zwei hölzerne Stufen über ihn hin und stellte seine nackten Füße zu beiden Seiten von Harus Hüfte. Wollte er etwas implizieren? Sicher nicht. Die Schale ließ Haru vorsichtig in seine Tasche gleiten. Vielleicht konnte er damit später einen Versuch betreiben – immerhin hatten sie einen magischen Ursprung. Dann löste er vorsichtig ein Stück aus der Orange heraus und biss hinein. Süß. Die Frucht schmeckte vor allem süß. Süßer, als er es von einer Orange vermutet hätte. Auch brachte sie das Gefühl eines warmen Sommerwindes auf der Haut mit sich. Wie merkwürdig. Ob auch das Geistermagie war? Gab es nicht in dieser griechischen Mythologie eine Geschichte über eine Frau, die vom Gott der Unterwelt entführt wurde und dann dort bleiben musste, weil sie dort eine Frucht gegessen hatte? Wie es wohl wäre hier mit Aki bleiben zu müssen? Er aß weiter. Vorhin hatte Aki seine Finger geküsst. Warum? Hatte er auch Gefühle oder war es nur seine Art. Denn Aki hatte manchmal seltsame Arten einfache Zuneigung und Neugierde auszudrücken. Schon hatte er die halbe Frucht gegessen, als Aki sich vorbeugte. Die Arme stützte er auf Harus Schultern ab, um ihn ansehen zu können. „Haru?“, fragte er, die goldenen Augen direkt auf sein Gesicht gerichtet. „Ja?“, erwiderte Haru. Schon wieder stieg die Röte ihm ins Gesicht. „Warst du heute nicht hergekommen, um mir etwas zu sagen?“ Was? Woher wusste er das? Haru erstarrte. Hatte er etwas vergessen? Gab es Kitsune, die Gedanken lesen konnten? Er zögerte, hielt inne. Obwohl noch immer der süßliche Geschmack der Orange in seinem Mund lag, fühlte sich seine Zunge wie ausgetrocknet an. „Aki“, brachte er schließlich hervor. Verflucht. Er atmete tief durch, sammelte sich und stand dann auf. Aki ließ es zu, musterte ihn neugierig. Wieso mussten diese Dinge so schwer sein? „Eigentlich“, begann er und griff in seine tatsächlich trockene Umhängetasche, „hatte ich dir etwas geben wollen.“ Er holte das kleine, in weißes Papier verpackte Päckchen hervor. „Ich habe es selbst gemacht.“ Vorsichtig nahm Aki das Päckchen entgegen und schnüffelte daran. „Ich rieche Reismehl“, stellte er fest. „Und Erdbeeren?“ Als Haru nicht antwortete, begann er das Band, mit dem das Papier zusammengehalten wurde, zu lösen und befreite die kleine Bambusbox damit aus dem Inneren. „Ich …“ Wie sollte Haru es nur erklären? „Wir haben etwas, das nennt sich White Day und ich weiß, es ist eigentlich albern. Aber ich dachte …“ Oh, er sollte seine Worte besser wählen, sicherer. „Normalerweise machen wir dort Süßigkeiten aus weißer Schokolade, allerdings dachte ich, etwas traditionelleres wäre für dich angemessener.“ Deswegen hatte er sich für weiße Mochi entschieden, hatte sie selbst gemacht, wie seine Mutter es ihm beigebracht hatte. Ein verschmitztes Lächeln umspielte Akis Lippen. „Ich weiß sehr wohl, was es mit diesem White Day auf sich hat“, meinte er dann. „Immerhin wünschen sich die Menschen für alle möglichen Unterfangen Glück, wenn sie zum Schrein kommen.“ Natürlich taten sie das. Nicht zuletzt wahrscheinlich auch, da Inari gute Ernte und Glück ebenso wie Fruchtbarkeit repräsentierte. „Ich …“, begann er. Aki stand ebenfalls auf und machte einen Schritt auf ihn zu. Anders als Haru schien er keine Zweifel zu haben, was er wollte. „Danke, Haru“, flüsterte er. „Ich fühle mich geehrt.“ War das nicht, wie Leute anfingen, die einem … Haru konnte seinen Gedanken nicht zu Ende denken, als Aki ihm noch einen Schritt näher kam. Ihre Gesichter waren nur eine Handbreit voneinander entfernt, während noch immer ein sanftes und doch verschmitztes Lächeln Akis Lippen umspielte. Fast so, als würde er ihn reizen, ihn anstacheln wollen. Dann auf einmal berührten sich ihre Lippen und Haru erkannte erst nach einem Moment, dass er es gewesen war, der seine Lippen gegen die des anderen gedrückt hatte. Sofort wich er zurück. „Es tut mir leid“, flüsterte er, doch Aki griff seine Hand und zog ihn wieder an sich heran. Wieder lagen ihre Lippen aufeinander, während Harus Herz bis in seinen Hals hämmerte. Er wusste nicht, was er sagen, was er denken wollte. Also schloss er einfach die Augen und gab sich dem Kuss hin. Sein erster richtiger Kuss auch noch. Wie lange lagen ihre Lippen so aufeinander? Er konnte es nicht sagen, doch irgendwann löste Aki sich von ihm. Noch immer lag das kleine Paket in seiner Hand, während er mit der anderen die Harus hielt. Zumindest hatte das Lächeln auf seinen Lippen an Schärfe verloren, war nun sanfter, weicher, als er seine Stirn gegen die Harus legte. „Du wolltest mir etwas sagen, Haru“, flüsterte er. „Ich …“ Haru atmete erneut tief ein und aus. „Ich weiß, dass du nicht bist wie ich, dass du anders denkst und fühlst, als ich, aber Aki … Ich mag dich. Sehr.“ Nun kam doch ein leises Kichern über Akis Lippen, ehe er einen Kuss auf Harus Wange hauchte. „Du hast Recht“, erwiderte er leise. „Ich bin nicht wie du. Und vielleicht sind meine Gefühle nicht ganz so, wie deine.“ Haru schluckte. „Doch heißt das nicht, dass ich dich nicht auch gern habe“, fuhr Aki fort. „Und wenn es die Antwort ist, die du erwartest: Ich mag dich auch, Haru.“ Unsicher musterte Haru ihn. Was sollte das heißen? Vielleicht las Aki tatsächlich seine Gedanken – und sei es, weil diese zu deutlich an seinem Gesicht zu erkennen waren. Denn er flüsterte: „Ich mag es dir nahe zu sein, Haru. Deswegen habe ich mich dir immer wieder gezeigt. Deswegen habe ich dich hierher gebracht.“ Sein Lächeln wurde wieder breiter. „Das heißt wohl, dass ich dein Geschenk annehme.“ Haru schürzte die Lippen und sah auf die kleine Box. Was sollte er jetzt sagen? „Darf ich … dich noch einmal küssen?“ Statt zu antworten drückte Aki seine Lippen gegen die Harus, zog ihn in einen innigen Kuss. „Ist das Antwort genug?“ Haru nickte nur, verharrte für einige Sekunden. Als Aki sich von ihm löste, atmete er beinahe auf. So lange hatte er mit sich gehadert, etwas zu sagen und wusste jetzt doch nicht, wie er fortfahren sollte. „Komm“, meinte Aki nun und zog ihn mit sich zur Treppe zurück. „Setz dich.“ Haru tat, wie ihm geheißen. Damit öffnete Aki die Box, nahm einen der Mochis heraus und biss hinein. Bedächtig kaute er, während Haru noch immer neben ihm saß, zögerte und schließlich die Orange, die er zuvor in Gedanken wohl auf der Treppenstufe abgelegt hatte, aufnahm. Etwas Sand klebte daran, doch nicht viel. Er putzte ihn ab, als Aki ihn auf einmal wieder ansprach. „Sag mal, Haru, darf man so ein Geschenk auch teilen?“ Haru zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht.“ „In dem Fall …“ Aki drückte das halbe übrige Mochi gegen Harus Lippen, bis diese sie öffnete. Dann lächelte er. „Danke, Haru“, flüsterte er und küsste ihn auf die Stirn. „Danke.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)