Koi no mae wa ... von Harulein (Wie alles begann ...) ================================================================================ Kapitel 8: [Tsuzuku] Vertraute Dinge ------------------------------------ [Wieder ein, zwei Monate später] Einmal ging ich tatsächlich mal alleine ins Badehaus. Meto war am Tag zuvor bei mir gewesen und hatte mir ein bisschen Geld gegeben, weil er, wie er sagte, mit seiner Familie etwas vor hatte und deshalb wollte, dass ich am nächsten Tag alleine baden ging. An diesem Tag waren viele Leute bei uns im Park, Haruna und Hanako hatten eine kleine Party vorbereitet und auch Leute von woanders eingeladen, es lief Musik und die meisten Leute waren entweder Punks oder Visuals. Es waren auch ein, zwei mir bekannte Gesichter dabei, Leute, die ich von früher kannte, aus meinem Leben vor der Straße. Ich sah sie von weitem und hoffte, dass sie mich ihrerseits nicht bemerkten, und so war es doch ganz gutes Timing, dass ich an diesem Tag ins Badehaus ging. Haruna bot mir an, derweil auf meine Sachen aufzupassen, und so packte ich meine Waschsachen in einen kleinen Beutel und verließ den Park in Richtung Badehaus. Es fühlte sich schon etwas seltsam an, alleine hinzugehen, bisher war Meto immer dabei gewesen. Als ich nach dem Duschen in die Halle kam, war es relativ voll, und mir fiel eine Gruppe auf, die recht laut und groß war, so 10 oder 12 junge Frauen, ungefähr in meinem Alter. Lag es daran, dass ich heute allein hier war und meine Wahrnehmung mehr auf meiner Umgebung lag als sonst, wenn ich mit Meto hier war und mich auf ihn konzentrierte? Ich wusste es nicht, aber ich spürte, dass mir diese Frauengruppe irgendwie … ein unwohles Gefühl machte. Ich ging schnell an ihnen vorbei, setzte mich in den unbesetzten Whirlpool und versuchte, mich nur mit mir selbst zu beschäftigen. Doch ich konnte nicht anders, als immer wieder zu diesen Frauen hinüber zu schauen, und auf einmal glaubte ich, in einer von ihnen eine frühere Freundin wieder zu erkennen. Eines der Mädchen, mit denen ich früher so etwas wie eine Beziehung gehabt hatte, und die ich betrogen hatte. Um den Whirlpool herum befand sich eine Wand aus künstlichen Pflanzen, und ich tauchte bis zum Kinn ins Wasser ein, machte mich so unsichtbar wie möglich, hoffend, dass sie mich nicht bemerkt hatte. Falls sie mich eben, als ich an der Gruppe vorbei gegangen war, gesehen hatte, musste sie mich erkannt haben, allein schon weil sie in der Zeit meine Freundin gewesen war, als die beiden Guns ‘n‘ Roses Tattoos auf meiner Brust entstanden waren, und die hatte so wohl niemand sonst. Als die Gruppe hinter der Wand entlang in Richtung des Außenbereiches ging, hörte ich sie reden, aber nichts davon, was sie sagte, ließ darauf schließen, dass sie mich erkannt hatte. Vielleicht war sie auch gar nicht die, als die ich sie erkannt zu haben glaubte, denn ganz sicher war ich mir da nicht. Aber ich hatte einen ganz schönen Schrecken bekommen und musste mich davon erst wieder erholen, ehe ich wagte, aufzustehen und in ein anderes Becken zu gehen. Mir war kalt und es gab hier seit ein paar Tagen einen neuen Pool ohne Sprudel, dafür mit ganz warmem Wasser. Es war schon seltsam, dass ich an ein und demselben Tag zwei Mal Leute aus meinem alten Leben sah, wenngleich ich mir bei dem Mädchen nicht sicher war, ob sie es wirklich war. Und diese Begegnung mit dem, was ich vor meiner Obdachlosigkeit gewesen war, weckte natürlich Erinnerungen in mir. Es waren Erinnerungen wie aus einem Film über „Sex, Drugs & Rock n’ Roll“, wobei das „Drugs“ sich nur auf Zigaretten und Alkohol bezog, gottseidank. Ich hatte ein so exzessives Leben geführt, mit so vielen Dingen, die einfach nicht gut waren und derer ich mich inzwischen schämte, Dinge wie eben zum Beispiel mehrere Partnerinnen parallel zu haben, und definitiv viel zu viel Alkohol … Okay, Alkohol trank ich immer noch, davon hatte ich nie lassen können. Aber in dem Zustand und Leben, das ich jetzt führte, war für so etwas wie Sex kein Raum mehr, ich war offenbar auch zu kaputt, empfand kaum mehr Erregung oder gar Lust … Um gedanklich wieder ins Hier und Jetzt zu kommen, dachte ich an Meto, und mir kam der Gedanke, dass er, obwohl Jungfrau und Single, vermutlich mehr Sexualität in sich trug als ich, obwohl ich in meiner Vergangenheit so viel davon gehabt hatte. Ich wusste es nicht sicher, warum das bei mir so verschwunden war, aber ich führte es irgendwie auf das zurück, was man „Depressionen“ nannte. Und irgendwo hatte ich das mal gehört, dass Depressionen zum Verlust der Libido führen konnten … Ich sah an meinem Körper herunter, sah, wie kaputt ich aussah, und am liebsten hätte ich das Wasser im Pool mit irgendeiner dunklen Farbe eingefärbt, um meinen abgemagerten, zerkratzten Körper nicht mehr sehen zu müssen … Ich sah ja, dass ich viel zu dünn war, und die Narben … Das Einzige, was ich an mir so gesehen schön fand, waren das ganze Bodyart an mir, und meine Hände, weil ich wusste, dass Meto die mochte. Und als ich versuchte, mir das Gefühl von sexueller Lust vorzustellen, und mich zu erinnern, wie sich das angefühlt hatte, da hatte ich auf einmal Tränen in den Augen, ohne zu wissen, warum. Ich blieb noch einen Moment im warmen Wasser sitzen, bis ich mich wieder halbwegs gefangen hatte, dann stand ich auf, ging duschen und mich abtrocknen, zog mich wieder an und verließ das Badehaus. Auf dem Weg zurück zum Park kam ich an einem Sexshop vorbei, der etwas herunter gekommen aussah und wohl auch Videokabinen hatte. Irgendwas in mir hatte Lust, dort hinein zu gehen, und ich folgte diesem Gefühl, betrat den Laden und ging in eine freie Kabine, um … was zu tun? Mir einen runter zu holen, obwohl mir dafür derzeit eigentlich jedes Gefühl und auch die Fantasien fehlten? Ich schloss die Tür hinter mir, setzte mich auf die kleine Bank, von der der rote Lack abblätterte, und sah auf den Bildschirm gegenüber. Es war kein Film drin, nur grauer Schnee. Mein Körper reagierte nicht auf die Situation, nicht mal, als ich meine Hose öffnete und hinein tastete. Ich hatte es so lange nicht versucht, und eigentlich war ich in einem Alter, wo man als Mann eigentlich sehr schnell in Wallung geriet, doch davon war jetzt nichts zu spüren. Und auch, als ich eine der herumliegenden DVDs einlegte und da ein beliebiger Hetero-Porno lief: Nichts, null, nada, nanimo. Es wunderte mich, und zugleich wusste ich, es hatte keinen Sinn. Offenbar war ich wirklich krank, denn dass man als Mann von dreiundzwanzig Jahren, und mit so viel sexueller Aktivität wie ich sie früher an den Tag gelegt hatte, auf einmal keine Reaktion mehr verspürte, musste bedeuten, dass meine Depression echt war. Ich verließ die Kabine und den Laden, ohne noch irgendwas zu versuchen Und weil ich aber noch nicht in den Park zurück wollte, ging ich stattdessen in einen Buchladen, an dem ich ebenso zufällig vorbei kam wie an dem Sexshop zuvor. Und da fand ich tatsächlich in der Abteilung über Psychologie ein kleines Heft zur „gesundheitlichen Aufklärung“, das ich einfach mal mitnahm. Mein Weg führte mich weiter in Richtung der Innenstadt, ich kaufte mir eine Flasche billigen Sake und setzte mich in einem kleinen Park auf eine Bank, öffnete die Flasche und las das Heft, während ich trank. Und darin stand tatsächlich etwas über die körperlichen Folgen von Depression und psychischem Stress. Nach so was wie Kopfschmerzen, Bauchweh und allerlei Hautproblemen wurde auch ein Verlust von Libido und sexuellen Gefühlen beschrieben, nur kurz und stichpunktartig, aber immerhin. Und so wusste ich jetzt, dass mein Zustand vielleicht gar nicht so seltsam war, denn wenn so etwas einfach ein Nebeneffekt von Depressionen war, ergab das Sinn. Dass ich depressiv war, wusste ich, obwohl ich noch nie deswegen bei einem Arzt gewesen war. Denn meine tiefe Traurigkeit, das Selbstverletzen, die Bulimie und all der Schmerz in mir waren unübersehbar, ich wusste selbst, dass mit mir etwas nicht stimmte. Und ich hatte eben nur dieses Wort „Depression“ dafür. Ich warf das Heft weg und trank weiter, die halbe Flasche aus. Danach musste ich eingenickt sein, denn als ich wieder zu mir kam, war es schon fast dunkel. Ich fror, stand zitternd auf, ließ die Flasche einfach stehen und machte mich langsam auf den Weg zurück in den Akutagawa-Park. Als ich dort ankam, waren nur noch ein paar Leute da. Haruna bemerkte mich und fragte, ob ich okay sei, doch dann merkte sie, dass ich getrunken hatte und fragte nicht weiter. Sie half mir, mein Schlaflager wieder herzurichten, und auch dabei, in den Schlafsack zu kommen, weil ich vor lauter Zittern mich kaum richtig bewegen konnte. Dabei dachte ich daran, dass sie eine Frau war, doch ich war froh, dass sie als in fester Beziehung lebende Lesbe kein Interesse an mir zeigen würde. Sie versorgte mich einfach, und hatte dabei eher etwas von einer Krankenschwester, als von einem hübschen, weiblichen Wesen … Als ich am nächsten Morgen mit brummendem Kopf aufwachte, war es schon hell, und ich sah Haruna mit Meto sprechen, hörte auch, wie sie sagte: „Tsu hat sich gestern betrunken, musst mal schauen, ob er heute halbwegs wach wird.“ Als Meto dann zu mir kam und mir die übliche Zitronenlimo anbot, war ich wirklich froh, ihn zu sehen. Seine Anwesenheit fegte meine ganze Schwere davon und ich fühlte mich wieder halbwegs menschlich und nicht mehr so sehr wie ein Sake-Zombie mit zig Kilo Gewichten auf den Schultern. „Warst du gestern baden?“, fragte er. Ich nickte. „Und, war gut?“ „Mit dir ist schöner.“ Er lächelte. „Ich weiß.“ „Ich hab … was rausgefunden …“, sagte ich leise. „Was denn?“ „Dass es … dazu gehören kann … wenn man depressiv ist, dass man dann … einfach keine Lust mehr hat, also keine Libido …“ „Hast du … es ausprobiert?“ Ich nickte wieder. „Ich war in ‘nem Sexshop, wollte nur mal versuchen … Aber war nichts …“ „Na ja, so wie es dir geht und so … ist das vermutlich kein Wunder. Vielleicht kommt das wieder, wenn es dir irgendwann besser geht?“ „Ja … vielleicht …“ „Bestimmt.“ „Ich hab nur keine Ahnung, wann das sein soll …“, sagte ich leise. „Wie kommt man wieder weg von der Straße?“ „Ich weiß es auch nicht“, sagte Meto. „Aber ich glaube nicht, dass es unmöglich ist.“ Meto setzte sich zu mir und holte ein paar Sachen aus seinem Rucksack, er war wohl mal wieder für mich einkaufen gewesen, hatte einfache Kekse, ein T-Shirt, einen Hoodie und eine bequeme Hose aus dunklem Sweatstoff dabei, alles noch mit Preisetiketten, die er jetzt mit einer kleinen Schere entfernte. „Ich hoffe, die Hose passt?“, fragte er. Ich stand langsam auf und hielt sie vor meinen Körper, und sie sah passend aus. Falls sie zu weit war, konnte ich sie immer noch nur zum Schlafen tragen. Der Stoff war jedenfalls dick und weich genug, um mich besser zu wärmen als eine Jeans. Im Unterschied zu mir, der ich durch das Straßenleben gezwungen war, auf allzu aufwändige Styles zu verzichten, war Meto heute ziemlich schick gemacht. Er hatte eine weite, knöchellange Hose aus schwarzem Nadelstreifenstoff an, die mit bunten Farbklecksen und Patches einen gekonnten Stilbruch zwischen dem eigentlich eleganten Image des Stoffes und punkig-bunten Farben darstellte, und ein passendes Oberteil von Listen Flavour mit einem pinkfarbenen Zombie-Teddy drauf, dazu lila Stiefel und eine rot-schwarze Strickmütze von Sex Pot Tokyo. Sein Makeup passte auch dazu, mit viel Blau um die Augen und knallroten Lippen. „Du siehst cool aus heute“, sagte ich. Meto lächelte, was durch den roten Lippenstift noch breiter aussah als sonst. „Danke.“ „Ich denke manchmal, ich würde auch gern mal wieder so aussehen … Aber das macht gerade wenig Sinn, ist einfach zu aufwändig. Und ich hab keinen Platz für so was …“, sagte ich leise. „Was würdest du denn tragen, wenn du könntest?“ „Lacksachen, vor allem. Ich hatte früher so viel schwarzes Lackzeug und Netzhemden und Halsbänder und so was alles …“ „Was ist damit passiert?“, wollte Meto wissen. „Ich hab das Meiste verkauft. Ich hatte ja kein Geld mehr, weil ich nach … Mamas Tod nicht mehr arbeiten konnte …“ „Was hast du denn gearbeitet?“ „Ich hab Tätowierer gelernt. Und dann … na ja, ich konnte einfach nicht mehr …“ Ich brach den Satz ab. Die Erinnerung an diese Zeit tat weh, und ich wollte eigentlich gar nicht weiter darüber reden … Meto schien das zu spüren, er fragte nicht weiter. Wir verbrachten den Tag zusammen im Park. Zwischendurch gingen wir nur einmal zu einem nahe gelegenen Konbini, weil ich Zigaretten brauchte, und ansonsten saßen wir auf meinem Platz. Haruna und Hanako kamen auch dazu, und noch ein weiteres Mädchen namens Yami, die aber eher still war und kaum etwas sagte. Im Beisein der drei Mädchen schien Meto das Sprechen wieder schwerer zu fallen, wirklich gut und flüssig sprach er aus unerfindlichen Gründen nur, wenn er und ich allein miteinander waren. Mir erschien sein Sprachproblem zuerst etwas seltsam, also, in der Art, wie es sich äußerte. Er stotterte, brachte die Reihenfolge der Worte durcheinander, verfiel in eine deutlich kindliche Sprache, und ab und zu benutzte er seinen Namen anstelle von „Ich“. Warum er diese Schwierigkeiten bei mir, wenn wir allein waren, nicht hatte, verstand ich auch nicht ganz, aber es war so und ich unterstellte ihm kein „Vorspielen“. Ihm war anzumerken, dass er sich für diesen rätselhaften Sprachfehler sehr schämte und sich große Mühe gab, richtiger zu sprechen, doch es gelang ihm erst, als die Mädchen wieder gingen. „Merkst du, was in dir … den Unterschied macht?“, fragte ich vorsichtig. „Also, was in deinem Kopf los ist, wenn jemand anders außer mir dabei ist und du dann nicht mehr so gut sprechen kannst?“ Meto zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht.“ „Und du hast keine Ahnung, warum das bei mir anders ist als bei anderen?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich kann sonst nie … gut sprechen. Und ich weiß auch nicht … wie das in mir drin funktioniert. Es ist einfach so.“ „Warst du mal bei einem Therapeuten deswegen?“ Wieder schüttelte Meto den Kopf. „Ich möchte das nicht.“ Das konnte ich irgendwie verstehen. Manchmal, wenn es mir so deutlich schlecht ging, dass andere mir rieten, mal einen Therapeuten oder wenigstens die Notfallbetreuung in der Unterkunft anzusprechen, egal wie unmöglich das war, hatte ich dasselbe Gefühl: Ich wollte irgendwie keine Therapie. Aber warum genau ich nicht wollte, wusste ich nicht. „Verstehe ich“, sagte ich. „Echt?“ „Ja. Ich meine, eigentlich könnten wir wohl beide mal Therapie gebrauchen. Aber ich hab auch dieses Gefühl von ‚Ich möchte das nicht‘.“ „Du kannst ja auch nirgendwo hingehen …“, sagte Meto. Ich nickte. Meto ging dann irgendwann, versprach aber, am nächsten Tag wieder zu kommen. Und so legte ich mich dann bald zum Schlafen hin. Ich war müde und doch dauerte es bestimmt eine halbe Stunde, bis ich wirklich eingeschlafen war. Mitten in der Nacht wachte ich auf. Ich hatte meinen Schlafsack nicht ganz zugemacht und so hatte mich die Kälte geweckt. Mit zitternden Händen tastete ich nach dem Reißverschluss, zog ihn hoch, und bemerkte dabei etwas, das mich sehr wunderte: Ich spürte meinen Körper kaum, doch meine Hand ertastete meine erregte Körpermitte. Eindeutig, und doch so seltsam, angesichts des vergeblichen Versuches gestern, diesen Zustand zu erzeugen. „Fuck … was soll das denn jetzt?“, entkam es mir. Zuerst versuchte ich, es zu ignorieren, doch davon ging es nicht weg, natürlich nicht. Mein Körper fühlte sich seltsam an, halb taub und halb erregt, es war ein unangenehmes Gefühl. Ich fragte mich, was ich wohl geträumt hatte, doch ich fand es nicht mehr heraus. Ich blieb eine Weile so liegen, dann hielt ich es nicht mehr aus, öffnete meinen Schlafsack wieder, stand auf und ging zu dem Toilettenhäuschen, das uns als Waschraum diente. Es war kalt und ich fror nach Außen hin, während in meinem Inneren die Hitze zunahm. Ich öffnete die Tür des Häuschens, schloss mich in eine der Kabinen ein und setzte mich auf den Deckel der Toilette. Lust empfand ich immer noch nicht, aber einen eindeutigen, körperlichen Druck, und den musste ich abbauen, sonst würde ich nicht wieder einschlafen können. Es fühlte sich nicht gut an, hier mitten in der Nacht zu sitzen und sich ohne wirkliche Lust und ohne Fantasien einen runter zu holen, es hatte so etwas Trauriges, Verzweifeltes an sich und ich fühlte mich so leer dabei. Danach saß ich noch eine Weile da, ehe ich meine Hose wieder schloss und aufstand, und als ich vor dem Waschbecken stand und meine Hände wusch, kamen mir die Tränen, ohne dass ich hätte benennen können, warum. Ich kehrte zu meinem Schlafplatz zurück, kroch in meinen Schlafsack, zog den Reißverschluss ganz hoch und drehte mich zur Wand hin. Doch es dauerte über eine Stunde, bis ich wieder einschlief. Am nächsten Morgen war Meto wieder schon da, als ich aufwachte. Als er sah, dass ich wach war, kam er zu mir. „Hey, Tsuzuku, wie geht’s dir?“, fragte er und setzte sich einfach zu mir. „Müde“, antwortete ich. „So siehst du auch aus“, sagte er. „Möchtest du dich erst mal waschen und so, und dann gehen wir ein bisschen los?“ Ich ging mich also ordentlich waschen, rasieren und ein klein wenig zurechtmachen. Und weil ich gestern ja im Badehaus gewesen war und dort geduscht hatte, konnte ich meine Haare auch offen lassen. Wenn sie ungewaschen waren, band ich sie meist zusammen. Meto kam zu mir und weil ich gerade Lust darauf hatte, fragte ich ihn, ob er einen schwarzen Kajalstift dabei hatte. Mir war nach ein bisschen Makeup. Meto kramte sein Schminktäschchen aus seinem Rucksack und reichte mir einen schon etwas abgenutzten, hölzernen Kajalstift und ein kleines Päckchen mit Feuchttüchern. „Kannst du beides behalten“, sagte er dazu. Und während ich in den Spiegel sah und mit dem Stift einen doppelten, schwarzen Lidstrich zog (und mich wunderte, dass ich das überhaupt noch hinbekam), stand Meto hinter mir und es schien ihm zu gefallen, dass ich mich schminkte. „Sieht gut aus“, sagte er, als ich fertig war. Wir packten meine Sachen zusammen und brachten sie zum Bahnhof ins Schließfach, dann gingen wir in die Innenstadt, zuerst zu einer Bäckerei, wo Meto zwei belegte Brötchen kaufte und dazu zwei Flaschen Limo. Mit dem Essen war es heute nicht so schwer, das bekam ich ganz gut hin, aber im Hintergrund meiner Gedanken schwebte noch die Erinnerung an die vergangene Nacht … Ich wusste nicht, ob ich mit Meto darüber sprechen sollte oder nicht. Aber, wie er eben so war, dieser verrückte Junge, bemerkte er irgendwie, dass bei mir irgendetwas los war. „Tsu? Alles okay?“ „Weiß nicht …“ „Komm, sag.“ „Ich hab dir doch gestern erzählt, dass … ich nicht mehr so wirklich … Lust habe … also, Libido und so was … Und letzte Nacht, da war‘s auf einmal wieder da, aber … nicht gut …“ „Nicht gut?“ „Ich bin mit Latte aufgewacht, und als ich das … abgebaut habe, das hat sich so leer und traurig angefühlt.“ Während ich sprach, dachte ich daran, dass mir solche Dinge auszusprechen früher nicht so schwer gefallen war. Ich war eher einer von denen gewesen, die aus allem einen zweideutigen Spaß machten, doch ebenso wie meine Libido war auch das jetzt verschwunden. Meto sah mich mitfühlend an. „Ich kenn das“, sagte er. „Ich bin doch auch alleine. Ich mag das auch nicht, alleine zu liegen und … mir selber …“ Er errötete, blickte auf seine Hände. „Viele Leute denken, dass man … wenn man … als Mann Männer mag … viel davon hat … viel Lust und so … aber so bin ich nicht. Ich … möchte keine … na ja, so Sexdates ...“ „Wartest lieber auf Mr Right, ne?“, fragte ich. Meto nickte. „Warst du schon mal verliebt?“ „Nein … Nicht wirklich.“ „Und trotzdem weißt du, dass du schwul bist?“ Wieder nickte er. „Ich weiß das einfach. Schon seit ich klein war, ich hab das immer im Kopf gehabt.“ „Wie merkt man so was als Kind?“ „Na ja, wenn man im Kindergarten so was wie Hochzeit oder Familie spielt, da wollte ich immer die Braut sein. Nicht, weil ich mich weiblich fühle oder so, das nicht, sondern einfach nur, weil ich mir als Partner nur Jungs vorstellen konnte, und das ist immer noch so.“ Er schwieg einen Moment, dann fügte er noch hinzu: „Ich bin eigentlich gern männlich. Nur … ich mag eben Jungs …“ „Ich kenne den Unterschied zwischen schwul und trans“, sagte ich. „Und trotzdem mag ich manchmal Kleider anziehen …“ „Ist doch okay. Für so was gibt’s ja Visual Kei und das alles. Kleider und Schminke sagen ja nicht unbedingt etwas darüber aus, auf wen du stehst und ob du lieber ein Mann oder eine Frau wärst. Ich hab da auch schon rumprobiert mit verschiedenen Styles, auch wenn ich im Moment nicht mehr aktiv dort bin.“ „Hast du … auch mal nen Mann … geküsst oder so?“, fragte Meto leise. „Ein einziges Mal, ja.“ „Und wie war das für dich?“ „Es war auf ner Party und mehr so im Spaß … Aber schon irgendwie gut. Ich hab da kein Problem mit. Nur hatte ich zu der Zeit ne Freundin.“ Ich sah Meto an, dass er nicht wusste, ob wir das Thema „Mein altes Leben“ weiter vertiefen sollten oder besser nicht, und es entstand ein etwas unangenehmes Schweigen. Dann nahm er einen Schluck Limo, stand er auf und fragte: „Brauchst du noch irgendwas? Also, Klamotten oder so was?“ Und als ich nicht antwortete, weil mir kaum mehr bewusst war, wie zerschlissen meine Sachen eigentlich waren, fragte er ganz direkt: „Neue Wäsche kann man immer mal gebrauchen, oder?“ „Ja, stimmt …“ Wenig später standen wir in der Männerabteilung einer halbwegs günstigen Modekette vor der Auswahl an Unterwäsche und Socken, und Meto fragte mich nach meiner Größe und danach, welchen Schnitt ich am liebsten trug. „Boxer, Retros, egal, alles außer Strings“, sagte ich. „Und welche Farbe?“ „Schlicht schwarz.“ Ich brauchte selbst gar nicht viel suchen, Meto kannte sich offenbar aus und wusste auch, was ich brauchte. Er suchte nichts Unpraktisches aus, sondern eine Menge ganz funktionaler Unterwäsche und mehrere Packen schwarzer Socken. Und er bezahlte alles und bestand auch darauf, sagte, dass ich mir mein weniges Geld fürs Badehaus aufsparen sollte. Danach gingen wir meine Sachen holen und zurück in den Park. Ich räumte meine Tasche auf und wir sortierten alles aus, was zu kaputt war, um es weiter zu tragen. Meine alte, zerschlissene Wäsche wanderte in einen Müllbeutel und wurde durch die neuen Sachen ersetzt, was sich schon ziemlich gut anfühlte. Es tat gut, mal wieder etwas Neues anzuziehen. Als Meto später ging und ich wieder allein war, kam mein Nachbar Hiro zu mir rüber und fing ein Gespräch mit mir an. Ich saß auf meinem Platz und entfernte gerade den Kajal mithilfe der Feuchttücher, und Hiro fragte, ob Meto mich geschminkt hatte. „Nee, das kann ich schon noch selber“, sagte ich. „Du wirkst ein bisschen … stabiler, seit er da ist.“ „Kann sein …“ „Haruna ist froh, dass sie sich nicht mehr alleine um dich sorgen muss“, sagte Hiro. „Du bist schon ein bisschen ihr Sorgenkind.“ Ich zuckte mit den Schultern, als sei mir das „egal“, doch das war es nicht. Auch, wenn ich Haruna und Hanako immer noch in gewisser Weise auf Abstand hielt, es machte etwas mit mir, dass sie sich um mich sorgte. Aber Hiro war keiner von denen, wo ich das hätte zugeben können. Hiro ging sich dann ein Sixpack Bier holen, und ich legte mich zum Schlafen hin. Nachts wachte ich einmal auf, weil er und ein anderer von uns ein kleines „Trinkgelage“ veranstalteten. Ich hatte aber überhaupt keine Lust, dabei mitzumachen, sondern drehte mich einfach um, kroch tiefer in meinen Schlafsack und schlief dann auch bald wieder ein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)