Koi no mae wa ... von Harulein (Wie alles begann ...) ================================================================================ Kapitel 2: [Meto] Verrückt -------------------------- Am nächsten Morgen war ich schon früh wach. Und tatsächlich war eins der ersten Dinge, die mir einfielen, das, was ich heute vorhatte: In diesen Park gehen und schauen, ob und was ich für Tsuzuku tun konnte. Ich war schon ganz schön aufgeregt, so etwas hatte ich kaum jemals getan, mich um jemand Fremden bemüht. Ich hatte mich schlicht nie getraut. Und dass es außerdem gerade dieser Ort war, der Treffpunkt der hiesigen Punk- und VKei-Szene, veranlasste mich dazu, dass ich nicht lange herumlag, sondern aufstand und überlegte, was ich heute am besten anzog, und wie ich mich schminken sollte. Ich wollte nicht overdressed aussehen, aber schon noch so, dass man mir meine Freude am Visual Kei ansah. Ich suchte mir ein kunstvoll zerfetztes Shirt in Schwarz und Rot aus, dazu eine mit Sicherheitsnadeln und silbrigen Schnallen geschmückte, schwarze Hose, und nahm beides samt Unterwäsche mit rüber ins Bad, wo ich erst mal unter die Dusche verschwand. Duschen, Haare waschen, anziehen, und dann schminken und meine Haare ein wenig stylen, das alles nahm einige Zeit in Anspruch, obwohl ich nicht mal auf mein volles Programm an Make-up mit bunten Kontaktlinsen und Glitzer zurückgriff, sondern für meine Verhältnisse ganz dezent blieb. Dennoch war es, als ich mit allem fertig war und wieder zurück in mein Zimmer ging, schon acht Uhr und ich dachte, so konnte ich raus gehen. Ich hatte ein kleines Café im Sinn, wo es ein schönes, kleines Frühstück gab, und dort wollte ich als erstes hin, danach in den Park. Draußen war es hell, die Sonne schien und es sah nach einem schönen Tag aus, wahrscheinlich würde es sogar ganz schön warm werden. Ich nahm mir trotzdem eine kleine Jacke mit, schnappte mir meine Tasche und ging die Treppen runter. Im Eingangsbereich standen meine Lieblingsstiefel, dunkellilafarbene Doc Martens, die zog ich an und machte mich dann auf den Weg. Das kleine Café lag in der Nähe des Akutagawa-Kouen, und ich konnte von dem Fensterplatz, an dem ich dann saß, rüber schauen, den kleinen Park und die ihn zum Teil überspannende Fußgängerbrücke sehen, die über den Fluss dahinter führte. Unter dieser Brücke lebte Tsuzuku also, eine andere Brücke gab es in dieser Gegend auch nicht. Der Park hatte eine Stelle für Lagerfeuer, die jetzt zwar kalt war, aber ich sah ein paar Leute dort sitzen, mir fiel ein Mädchen dort auf, die langes, dunkelblaues Haar hatte, und einen auffälligen, rot karierten Minirock trug. Die anderen Leute waren eher schlicht gekleidet und in dunklen Farben, ich ordnete sie eher den Obdachlosen, als den Punks und Visuals zu. Zuerst einmal frühstückte ich gemütlich, sah dabei aus dem Fenster und beobachtete die Menschen, die auf den Straßen und die im Park gegenüber. Ich sah Firmenangestellte in Anzug und Kostüm vorbeilaufen, Kinder und Jugendliche in Schuluniformen auf dem Weg zur Schule, Mütter mit Kinderwägen, ältere Damen, manche sogar im Kimono … Und drüben sah ich die abgerissenen Obdachlosen und die Punks, die ganz in ihrer eigenen Gesellschaft zu leben schienen. Ich ahnte, wohin ich gehörte, ich fühlte mich zu ihnen hingezogen, den Leuten, die aussahen wie ich es schön fand, wie ich auch selbst aussah. Und ich würde ihnen gegenüber Meto sein, diesen Namen benutzen, weil mein Taufname Yuuhei Asakawa dort meinem Gefühl nach nicht hinpasste. Nach dem Frühstück wagte ich es dann, verließ das Café und ging über die Straße. An der Ampel musste ich noch kurz stehen bleiben, und während ich wartete, dass sie auf blau umsprang, sah ich rüber, ob mich schon jemand bemerkte. Neu zu einer Gruppe dazu zu kommen, war ja nicht so einfach, und ich hoffte, dass sie mich einfach mit meinem zu ihnen passenden Aussehen annahmen. Als ich den Park betrat, kam gerade in dem Moment von der anderen Seite aus eine Gruppe von jungen Leuten an, die alle eindeutig szenetypisch gekleidet waren. Vorne ging ein Mädchen mit kurzen, grün-schwarzen Haaren, sie lief auf das blauhaarige Mädchen zu, diese sprang auf, sie umarmten und küssten sich. „Ein lesbisches Pärchen, das ist gut“, dachte ich, und hoffte, dass sie mich als Mann, der auf Männer stand, freundlich aufnehmen würden. Die Chancen dafür schienen gut zu stehen. Ich ging auf die Gruppe zu, die sich jetzt um den Lagerfeuer-Platz sammelte, und jetzt suchte ich auch genauer, ob ich Tsuzuku irgendwo bei ihnen entdecken konnte. Er war aber nicht zu sehen, also ging ich in Richtung der Brücke, wo Taschen und Schlafsäcke lagen und auch ein paar Leute saßen. Aber auch hier fand ich ihn nicht, und ich befürchtete schon, dass er mir falsche Angaben gemacht hatte. „Hey“, hörte ich hinter mir jemanden rufen und drehte mich um, sah das Mädchen mit den langen blauen Haaren und dem roten Minirock auf mich zukommen. „Suchst du jemanden?“ Ich realisierte, dass sie mich bemerkt und angesprochen hatte, und sofort setzte meine Stimme aus und ich merkte, wie ich klatschmohnrot wurde. „… J-ja …“, brachte ich viel zu leise heraus. „I-ich… suche… einen …. hier …“ Innerlich hasste und verfluchte ich mich für diesen Sprachfehler, doch davon wurde es eher schlimmer. „Wie heißt er denn?“ Das Mädchen, sie war vielleicht etwa so alt wie ich, sah mich ein bisschen mitleidig an. „Tsu … Tsuzuku … oder so …“, antwortete ich leise. „Tsuzuku?“ „Lebt er … hier … nicht?“ „Doch, doch. Also, wir haben hier einen, der so heißt. Aber … na ja, es ist ungewöhnlich für ihn, dass er jemand Neues kennen lernt …“ Das Mädchen sprach vorsichtig, so als gäbe es etwas, über das offen zu sprechen nicht einfach war. Sie sah sich suchend um. „Also, seine Sachen liegen hier. Vielleicht ist er drüben am Fluss, manchmal sitzt er gerne dort.“ Ich sah hin, wo an der Wand auf dem gepflasterten Boden eine schwarze, abgenutzte Reisetasche, ein Schlafsack und eine einfache Matte lagen. Das war also sein Schlafplatz, mehr besaß er nicht. „Ich bin übrigens Haruna“, sagte das Mädchen. „Komm mit, ich zeig dir, wo er sein könnte.“ Ich folgte Haruna einen schmalen Pfad entlang, durch ein kleines Gebüsch, auf dessen anderer Seite wir das Flussufer erreichten. Hier standen ein paar Bänke, manche in kleinen Nischen versteckt, und auf einer dieser Bänke sah ich Tsuzuku sitzen. Er hatte die Knie angezogen, die Arme darum gelegt und den Kopf darauf, so als machte er sich ganz klein und unsichtbar. Vom Flussufer aus war diese Bank nicht zu sehen, nur wenn man diesen kleinen Pfad nahm und dann hinsah, entdeckte man sie, und das ganze Bild, wie Tsuzuku dort auf der Bank kauerte und nicht mal aufblickte, hatte etwas so Einsames und Trauriges, dass mir Tränen in die Augen stiegen. „Tsuzuku?“, sprach Haruna ihn vorsichtig an. „Hier ist jemand für dich …“ „Geh weg, Haruna.“ Er sah immer noch nicht auf, hatte sein Gesicht hinter seinen Unterarmen verborgen. Ich betrachtete ein wenig seine Tattoos und sah, dass unter dem dunkelblauen Drachen auf der Außenseite seines Unterarms die Haut irgendwie uneben schien, wie Narben … „Kommt schon, geht weg!“ Seine Stimme klang erschreckend nach Weinen. Ihm ging es ganz offenbar gar nicht gut, und es tat mir schon leid, dass ich hergekommen war. Er wollte mich wohl doch nicht wieder sehen. „Wie heißt du eigentlich?“, flüsterte Haruna zu mir. „… M-meto …“, antwortete ich ebenso leise. „Komm doch erst mal ein wenig mit zu uns, Meto. Vielleicht geht’s Tsuzuku später wieder besser, dann kommt er auch dazu.“ Den letzten Satz sagte sie mit heraushörbarer Aufforderung an Tsuzuku, dann gab sie mir mit einer Berührung am Arm zu verstehen, dass wir zum Park zurückgingen. Ich folge ihr, sah mich aber noch einmal nach Tsuzuku um, der sich jedoch nicht rührte. Mir dämmerte, dass mit ihm etwas ganz und gar nicht in Ordnung war, und ich fragte mich, ob ich mir nicht zu viel vorgenommen hatte, als ich beschlossen hatte, ihm zu helfen. „Wa-was … Tsuzuku … denn h-hat?“, fragte ich leise und wurde ob meines Stotterns schon wieder rot. „Ihm geht’s oft so. Deshalb hat‘s mich auch so gewundert, dass er jemanden kennen gelernt hat, denn normalerweise hält er sich von anderen eher fern. Ich weiß nicht, was in ihm vorgeht, aber wir kennen ihn nicht anders, er hat wahrscheinlich so was wie eine Depression, es ist ziemlich ... schlimm. Wo hast du ihn denn getroffen?“ „G-gestern … auf … Stadtfest … I-ich bin … mit … ihm zu-zusammen … gestoßen …“ „Und da willst du ihn jetzt wiedersehen?“, fragte Haruna verwundert. „Ich … ich d-dachte … er da … so … einsam aussah … und dachte ich, vielleicht ich … ihm was h-helfen kann …?“, brachte ich mit Mühe heraus. „Das ist aber sehr nett von dir. Nur … na ja, wir hier können alle nicht viel für ihn tun. Er redet nicht darüber, was in ihm vorgeht, erzählt so gut wie nichts … Ich weiß nicht, wie du ihm helfen könntest.“ Haruna setzte sich zu den anderen, bot mir einen Platz neben sich an und stellte mich den anderen vor. „Das ist Meto. Er hat gestern zufällig Tsu getroffen und ist so lieb, er möchte ihm helfen“, sagte sie. „Hat irgendjemand von euch nen Plan, wie das gehen kann?“ „Was sollen wir Tsuzuku helfen, wenn er sich nicht helfen lassen will?“, fragte einer auf der anderen Seite des Platzes. „Er gehört in eine Klinik, das sieht doch ein Blinder!“ „Wie denn, wenn er keine Krankenversicherung hat?!“, fragte Haruna zurück. „Wir sind im Moment wahrscheinlich die einzigen Leute, die er überhaupt noch hat, ich glaube, er hat keine Familie mehr, und so, wie es jetzt ist, geht’s nicht weiter. Ich hab keine Lust mehr, zuzusehen, wie er sich weiter selbst kaputt macht, und ich lasse keinen so einfach untergehen.“ „… S-sich selbst … kaputt macht?“, fragte ich, wieder viel zu leise. „Er ritzt sich“, flüsterte Haruna. „Und er hat Bulimie.“ „Oh …“, entfuhr es mir erschrocken. Ritzen, sich selbst verletzen, davon hatte ich zwar schon gehört, aber noch nie jemanden gekannt, der so etwas tat. Und Bulimie … essen und dann willentlich erbrechen … erschreckte mich ebenso. Und dennoch, obwohl er mich eben abgewiesen hatte und ich nun so erschreckende Dinge über ihn erfuhr, schwand mein Interesse an ihm nicht. Etwas in mir mochte ihn irgendwie, und ich wollte diesem Teil von mir Raum geben. Ich stand einfach auf, ging von der Gruppe weg, wieder den kleinen Pfad hinauf, zurück zu der Bank, wo er immer noch saß, in derselben Haltung. „H-hey …“, sagte ich leise. Er bewegte sich ein wenig, sah mich aber immer noch nicht an. Ich sammelte meinen ganzen Mut zusammen und alles, was ich an Sprechfähigkeit aufzubieten hatte, und sagte: „I-ich weiß … ich seh’s ja … dir geht’s nicht gut, und du möchtest … alleine sein. Aber … ich möchte dir nur … was sagen.“ „Raus damit“, sagte er, ohne aufzublicken. „Ich … hab gestern … noch lange an dich gedacht. Ich würde gern … was für dich tun … und zwar mehr als nur den einen Tausend-Yen-Schein …“ Erst, als ich es ausgesprochen hatte, bemerkte ich selbst, dass ich auf einmal viel sicherer sprach und kaum mehr stotterte. Es wunderte mich sehr, warum fiel mir das Sprechen mit einem Mal so leicht? „Sag … sag einfach, was kann man tun, damit es dir … ein wenig besser geht?“ Jetzt hob er den Kopf, und ich blickte in zwei vom Weinen stark gerötete Augen, ein völlig verheultes Gesicht mit wund gebissenen Lippen und einer roten Stelle an der Stirn, die aussah, als hätte er sich den Kopf gestoßen. Ich sah Verwunderung in seinem Ausdruck, er verstand nicht, warum ich, ein Fremder, etwas für ihn tun sollte. Wie hätte ich ihm auch erklären sollen, dass ich ihn irgendwie mochte, obwohl wir uns nicht kannten? „Hast du … irgendeinen Wunsch?“, fragte ich. „Vielleicht … deine Sachen waschen? Oder ein schönes, warmes Bad?“ „Ist das dein Ernst?“, fragte er, klang auch komplett ungläubig. Er schien nicht fassen zu können, dass ich mich um ihn sorgte. „Ja.“ Als ich es aussprach, war ich mir ganz sicher. „Das ist mein Ernst.“ Ich dachte an mein vieles Geld, das mir diese gute Tat ermöglichte, und auch ein wenig daran, dass ich selbst ja so alleine war. Auch, wenn Tsuzuku offenbar kein einfacher Mensch war, ich sah etwas in ihm, das mich hoffen ließ, dass wir uns vielleicht anfreunden konnten. Allein schon, dass mir ihm gegenüber das Sprechen so überraschend leicht fiel, war mir Grund genug. „Ich habe Zeit … viel Zeit …“, sagte ich. „Wir können ins Badehaus gehen, oder deine Sachen waschen, oder was anderes, was du willst … Ich zahle.“ Tsuzuku antwortete erst nicht, blickte an mir vorbei, so als wagte er nicht, mir zu glauben und mich anzusehen, und wusste nicht, was er sagen sollte. „… Wow …“, sagte er schließlich und veränderte dabei seine Haltung, streckte die Beine ein wenig aus und stützte seine Hände auf seine Knie. „Ich hab absolut keine Ahnung, womit ich das verdient habe, und du musst echt komplett verrückt sein, aber du lässt mich jetzt wahrscheinlich eh nicht mehr in Ruhe, oder?“ „Nein“, sagte ich und fühlte mich auf einmal so leicht, dass es mir ein kleines Lächeln auf die Lippen zauberte. „Und ich darf aussuchen?“ Ich nickte, lächelte. „Badehaus“, sagte Tsuzuku, lächelte zurück, und dieses Mal erreichte es auch seine Augen. Irgendwie schien in ihm ein Schalter umgesprungen zu sein, er sah plötzlich so glücklich aus, und ich sah zum ersten Mal, was ich bisher nur geahnt hatte: Dass er schön war, und ein wunderschönes Lachen hatte. „Okay, dann Badehaus“, antwortete ich. Und so machten wir uns zusammen auf den Weg. Am Bahnhof gab es diese großen Schließfächer, wo man für ein paar Yen einen Schlüssel mieten und seine Sachen einschließen konnte, und dort schlossen wir Tsuzukus Habseligkeiten ein, ehe wir rüber zum Badehaus gingen. Das große Badehaus am Bahnhof war ein relativ neues Schwimmbad, das mit einem traditionellen Onsen so gut wie nichts mehr gemein hatte. Es gab nur ein einziges heißes Becken, das auch mehr einem modernen Whirlpool glich, und das Beste war, dass es im ganzen Bad kein Tattoo-Verbot gab. Es gingen viele ausländische Touristen dorthin zum Schwimmen, sie kamen aus Europa oder Amerika, und von denen waren viele tätowiert, sodass sich inzwischen in diesem Schwimmbad niemand mehr daran störte. Vor der Kasse gab es einen Stand, an dem man Badesachen kaufen konnte, und da Tsu sagte, dass er keine Badehose besaß, und ich meine nicht dabei hatte, kauften wir uns einfach beide welche, die ich bezahlte. Handtücher konnte man leihen, auch das taten wir, dann zahlte ich unseren Eintritt und wir gingen uns umziehen. Ich zog mich einfach vor dem Spind um, Tsuzuku ging dafür lieber in eine Kabine, und als er wieder kam, sahen wir uns einen Moment lang einfach nur an, jeder ein wenig erstaunt über die viele Körperkunst des anderen. Er hatte nicht nur komplett zutätowierte Arme, sondern auch zwei große Tattoos auf der Brust, eines am Bauch, eins am Hals und einen hübschen Schmetterling unten am Rücken. Und das war noch nicht alles, zu den Tattoos kamen zwei Brustwarzen-Piercings, eins im Bauchnabel, und dazu ein ringförmiges Implantat auf seinem Brustbein. „Guns ‘n‘ Roses?“, fragte ich und deutete auf die beiden Tattoos auf seiner Brust. Er nickte, lächelte. „Die fand ich mal ziemlich cool. Und du, dein Baby da? Wer ist das?“ „Ich bin das“, sagte ich und lächelte ein bisschen stolz. „Wow!“ Er lächelte zurück. „Echt cool, wirklich.“ Er beugte sich ein wenig vor, sah sich meine Ohr-Piercings an und sagte: „Ja, das Baby hat dieselben, ne?“ „Wie viel … hast du insgesamt?“, fragte ich. Tsuzuku strich sein schwarzes Haar hinter die Ohren, und ich sah, dass er locker doppelt und dreifach so viele Piercings in den Ohren hatte wie ich. Einer seiner großen Tunnel schien gerissen zu sein, der andere war noch intakt, und zusammen mit seinen beiden Piercings in Nase und Augenbraue sah es einfach richtig toll aus! „Cool!“ Ich war ziemlich begeistert. Und wo wir schon mal dabei waren, zeigte ich ihm auch noch mein Zungenpiercing. Er hatte darauf so ungefähr die für mich beeindruckenste und interessanteste Antwort, die ich mir vorstellen konnte: Streckte mir nun seinerseits die Zunge raus, sodass ich sah, dass seine an der Spitze nicht gepierct, sondern richtig gespalten war! Ich muss ihn wohl ziemlich hin und weg angestarrt haben, denn er grinste und fragte: „Magst du’s?“ „Ja!“, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen, denn ich fand das echt richtig cool. Tsuzuku lachte. „Eine Leidenschaft haben wir beide also schon mal gemeinsam, ja?“ „Sieht so aus“, sagte ich und bemerkte wieder, wie unglaublich leicht mir das Sprechen bei ihm fiel. Ich konnte es wirklich kaum glauben! Da sprach ich hier einfach mit einem Mann, den ich gerade nicht mal einen Tag lang kannte, mit dem ich mich aber so gut verstand, als ob wir uns schon ewig kennen würden, und mir kamen die Worte so leicht und vor allem richtig über die Lippen! Wir gingen zu den Vorduschen, und während ich mich abbrauste, beobachtete ich ihn ein bisschen, wie er sich seinerseits wusch. Er war wirklich sehr dünn, seine Beine wie Streichhölzer und seine Rippen deutlich zu sehen, und überall hatte er Narben, an den Beinen, am Bauch, und an den Unterarmen, besonders am linken … „Wo gehst du normalerweise hin, wenn du dich waschen willst?“, fragte ich, als wir die Duschen verließen. „In der Notunterkunft gibt’s so Waschräume, da gehe ich zweimal pro Woche hin. Aber … ich mag’s da nicht so, man hat keine Ruhe.“ Der Whirlpool war gerade komplett frei, und wir setzten uns dort hinein, in das heiße, sprudelnde Wasser. Tsuzuku legte den Kopf in den Nacken, fuhr sich mit den Händen durch die schwarzen Haare und seufzte wohlig. „Ahh, wie lange hab ich so was nicht mehr gemacht …“ Im Vergleich zu vorhin war er jetzt wie ausgewechselt, entspannt und gut drauf. Einzig die immer noch gerötete Stelle an seiner Stirn sah noch nach Verletzung aus. Ich hoffte, dass das aus Versehen entstanden war, nicht mit Absicht … „Gefällt es dir hier?“, fragte ich. Er nickte. „Tut echt gut. Ich kann zwar immer noch nicht glauben, dass das hier gerade wirklich wahr ist, aber … mir geht’s gut.“ „Geht mir genauso.“ Er sah mich verwundert an. „Genauso?“ Sollte ich ihm erzählen, wie einsam ich gestern noch gewesen war? Dass ich sonst diesen Sprachfehler hatte, der sich bei ihm jetzt wie ausgeknipst anfühlte? „Ja“, sagte ich schließlich. „Genauso. Weißt du … mir fällt das Sprechen sonst nicht so leicht. Ich bin … nicht gerade gut darin. Ich stottere ganz furchtbar, werde rot, kriege keine richtigen Sätze zustande.“ „Hörst dich jetzt gar nicht so an.“ „Das meine ich ja“, erklärte ich. „Ich kann nicht glauben, dass ich das hier gerade tue. Ich spreche mit dir, wie ich seit Jahren mit niemandem mehr sprechen konnte. Und das, obwohl wir uns ja echt kaum kennen.“ „Okay, das ist wirklich ziemlich unglaublich“, sagte Tsuzuku. „Du kennst mich gar nicht, und dennoch bin ich der Einzige, mit dem du so reden kannst?“ „Ich kann’s mir auch nicht erklären, echt nicht.“ „Und ich dachte immer, ich glaube nicht an Wunder …“ Tsuzuku lachte beinahe. „Aber langsam glaube ich, du bist das Verrückteste, was mir bisher so begegnet ist.“ „Findest du, ich bin verrückt?“ „Ja. Aber im positiven Sinne. Du musst nämlich wirklich ganz schön verrückt sein, wie du vorhin am Fluss einfach so wieder bei mir angekommen bist, obwohl ich so abweisend war. Machst du das immer so?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Noch nie.“ „Ich sag ja, du bist verrückt, Meto.“ „Dann bin ich gerne verrückt.“ „Wenn du mir jetzt noch sagst, warum das Ganze?“, fragte er weiter. „Weil ich dir gerne helfen will. Und … na ja, weil ich auch niemanden so wirklich habe. Ich bin ziemlich allein.“ „Und da suchst du dir ausgerechnet mich aus?“ „Mit dir kann ich normal reden. Mit niemandem sonst. Das ist mir Grund genug.“ „Okay, das lasse ich gelten.“ Tsuzuku lächelte wieder, dann wurde er ernst und sagte: „Ich … bin gerade auch ganz überrascht von mir selbst. Ich mache so was … eigentlich … auch nicht so, also das hier, mit jemandem, den ich gar nicht kenne, irgendwas unternehmen …“ „Aber ist doch schön, oder?“ „Ja … aber auch, na ja, irgendwie verwirrend …“, sagte er. „Ich kenn das nicht mehr …“ „Nicht mehr?“, fragte ich nach. „Ich hab ja nicht immer auf der Straße gelebt. Ich hatte auch mal ein normales Leben. Aber … dahin kann ich nicht mehr zurück …“ Ich wusste nicht recht, was ich darauf erwidern sollte. Es erschien mir noch viel zu früh, ihn danach zu fragen, was dazu geführt hatte, dass er auf der Straße lebte und so allein war. Aber irgendwie musste ich ihm mein Mitgefühl ausdrücken, und so legte ich vorsichtig meine Hand auf seine Schulter. Er fühlte sich warm an. „Ich … weiß nicht, was dir passiert ist … aber … ich möchte trotzdem … dir helfen“, sagte ich leise und weil das Thema so schwer war, stockte ich wieder ein wenig. „Sag mir einfach, wenn ich was für dich tun kann, okay?“ „Das tust du doch schon.“ Tsuzuku lächelte wieder ein klein wenig. „So was wie das hier, das hat lange niemand mehr für mich getan.“ „Fällt’s dir schwer? Also, wenn dich jetzt jemand von den Leuten aus dem Park ins Badehaus einladen würde?“, fragte ich. Tsuzuku nickte. „Deshalb sag ich ja, du musst verrückt sein. Ich kann eigentlich niemanden so nah an mich ran lassen, die anderen und so … Von denen würde mich keiner berühren, das würde ich gar nicht zulassen.“ „Magst du die anderen nicht?“ Er sah mich einen Moment lang nachdenklich an. „Ich weiß nicht … So wirklich hassen tu ich sie nicht, ich … ich glaube, es ist mehr Angst oder so …“ „Und bei mir, jetzt so?“ „Irgendwie geht’s mit dir, aber ich hab echt keine Ahnung, warum.“ „Das ist … seltsam. Aber auch schön, oder?“ „Schön, mh …“ Er blickte an mir vorbei, an die Wand, und sah auf einmal wieder so traurig aus. „Nicht schön?“, fragte ich leise und vorsichtig. „Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob ich das überhaupt noch kann, etwas wirklich … schön zu finden“, sagte er und klang dabei furchtbar traurig. Sein Blick wirkte leer, beinahe leblos, und seine Stimme klang … fast wie ein Geist. Ich konnte mir denken, dass es das war, was Haruna vorhin „Depression“ genannt hatte. Aber ich traute mich nicht, Tsuzuku jetzt danach zu fragen, obwohl ich schon irgendwie wissen wollte, warum er so furchtbar traurig war. Und so sagte ich nichts darauf, wir saßen eine Weile schweigend in dem sprudelnden Wasser, und irgendwann fing Tsuzuku an, von ganz alltäglichen Dingen zu reden, Sachen, die für einen Obdachlosen eben zum Alltag gehörten, so was wie die Unruhe in der Unterkunft oder die Frage, wo man ab und zu ein paar neue Kleider her bekam. Schließlich fragte er mich dann, wie es denn bei mir aussah, wo ich her kam und wie ich lebte. Ich tat mich schwer, auf diese Fragen wahrheitsgemäß zu antworten. Irgendwie dachte ich, dass er sich als Obdachloser mir gegenüber minderwertig fühlen könnte, wenn ich ihm erzählte, aus was für einem vornehmen Haus ich kam. Und dass er sich noch minderwertiger fühlte als sowieso schon, wollte ich nicht. Also dachte ich mir etwas aus. „Ich wohne in Natsukita“, log ich, Natsukita war eine große Hochhaussiedlung mit vielen kleinen Wohnungen, in denen vor allem ärmere Familien lebten. „Meine Eltern arbeiten beide, Geschwister hab ich keine …“ „Natsukita … hm, ich glaube, ich hatte mal eine Freundin dort, früher …“, sagte Tsuzuku. „Wo hast du denn gewohnt, bevor du … auf der Straße gelandet bist?“, fragte ich. „Sangenjinja“, nannte er den Namen eines Viertels unserer Stadt. „Aber ich halte mich von der Gegend heute lieber fern …“ „Warum?“ „Es macht mich traurig.“ „Oh … okay“, sagte ich leise. „Sag mal … hast du denn noch irgendwie jemanden, also Familie?“ „Nein.“ Mit einem Mal war sein Blick komplett verschlossen, verbot jede weitere Nachfrage. Und so erfuhr ich erst mal nichts weiter, nur eben, dass er keine Familie mehr hatte. Mir gingen Vorstellungen und Ideen durch den Kopf, davon, wie es sein konnte, dass ein Mann von Anfang Zwanzig keine Familie mehr hatte … Waren sie tot oder nur der Kontakt abgerissen? Wie war das passiert? War es der Grund für seine Traurigkeit? Ein bisschen saßen wir noch zusammen, redeten aber nicht mehr viel, und dann stand Tsuzuku auf einmal auf, nahm sich sein Handtuch und sagte: „Ich möchte gehen.“ Ich dachte mir, dass dieses Gespräch ihm gerade zum Ende hin wehgetan hatte, und stand ebenfalls auf und folgte ihm zu den Duschen. Doch als ich dort ankam, war er nicht zu sehen, ich lief zwischen den Leuten herum und suchte ihn, bis ich ihn in einer Ecke zwischen zwei Umkleidekabinen fand, wo er auf einem kleinen Vorsprung saß, wieder die Knie angezogen und die Arme darum, diese eindeutige Haltung, an der man sofort sah, dass es ihm gar nicht gut ging. „Hey, was los?“, fragte ich leise und vorsichtig. Wieder, wie vorhin im Park, antwortete er zuerst nicht. „Hat dir … von dem, was wir geredet haben, etwas so wehgetan?“, fragte ich weiter. Er nickte nur, verbarg dann sein Gesicht wieder hinter seinen Armen. „Das tut mir Leid, wirklich. Ich wollte nur … dich ein bisschen kennen lernen, verstehst du?“ Ich wusste nicht, was zu sagen oder zu tun jetzt richtig war, aber ich wollte, dass Tsuzuku sich wieder sicherer fühlte, und so blieb mir nur, zu fragen: „Möchtest du … eine Umarmung oder so?“ Er sah mich an, ein bisschen ungläubig, doch dann nickte er. Die Ecke, in der er saß, war ziemlich eng, und ich fand kaum Platz neben ihm, also stand er dann doch auf und ich legte mit aufgeregt klopfendem Herzen meine Arme um ihn. Er war ein wenig teilnahmslos, auch für ihn schien die letzte Umarmung lange her zu sein. Aber ich dachte nur daran, dass er viel wärmer war, als er aussah, und dass ich ihm unbedingt helfen wollte. „Ist das gut?“, fragte ich, und meine Hand wagte sich in seinen Nacken, unter sein nasses, schwarzes Haar, streichelte dort ein wenig. „Ja …“, antwortete er, seine Stimme klang ganz weich, so nah an meinem Ohr. Wir blieben eine Weile so, standen in dieser versteckten Nische und umarmten einander, und es fühlte sich an, als kannte ich Tsuzuku schon Wochen und Monate. Und mangels anderer, vergleichbarer Menschen in meinem Leben nannte ich ihn in meinen Gedanken einen guten Freund. Als er sich wieder aus meiner Umarmung löste, sah er tatsächlich ein klein wenig glücklicher aus. Wir gingen dann wieder duschen, danach zum Anziehen, und verließen schließlich das Badehaus, gingen rüber zum Bahnhof und holten seine Sachen. Auf dem Rückweg zum Park fühlte sich alles irgendwie so leicht und stimmig an, und mir fiel auf, dass mein Plan, mich zu Hause einzuschließen, sich jetzt ganz weit weg anfühlte, weil es hier draußen einen neuen Sinn gab, für den es sich lohnte, raus zu gehen. „Was … denkst du jetzt über mich?“, fragte ich. Tsuzuku lächelte. „Dass du ein kleiner Verrückter bist, den ich aber irgendwie mag.“ Er sah mich an, blieb stehen, ich ebenso, und dann fragte er: „Meto … wie lange muss man sich kennen, bis man normalerweise das Gefühl hat, einen Freund gefunden zu haben?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Aber wenn man zusammen badet und sich umarmt, dann ist man doch ‚Freunde‘, oder?“ „Es ist total verrückt“, sagte er wieder. „Komplett verrückt und irre.“ „Aber auch schön …“, erwiderte ich. „Ja“, sagte Tsuzuku und lächelte wieder. „Du hast Recht, das ist schön.“ Wir erreichten den Park und brachten seine Sachen zu seinem Schlafplatz. Haruna war auch da, und ihre Freundin, die mir als Hanako vorgestellt wurde. „Tsu strahlt ja richtig“, sagte Haruna. „Wie hast du das denn gemacht?“ „Wir … im Badehaus … waren.“ Ach Mist! Kaum war ich wieder mit anderen zusammen, war mein Sprachfehler wieder da … Offenbar, und das erschien auch mir jetzt als ‚verrückt‘, konnte nur Tsuzuku diesen Fehler bei mir für eine Zeit abschalten. „Macht ihr das jetzt öfter?“, fragte Hanako. Offenbar, so hörte es sich an, hatte mein Auftauchen hier schon die Runde gemacht, und dass ich ganz offensichtlich einen guten Draht zu dem sonst so verschlossenen Tsuzuku gefunden hatte, war inzwischen der ganzen Gemeinschaft hier bekannt. Ich nickte nur. Und musste an das Bild eines Kometen denken, der plötzlich und überraschend auftauchte und den dunklen Himmel eines Menschen auf einen Schlag erhellte. Ich setzte mich dann noch ein wenig bei den anderen hin, während Tsuzuku auf seinem Schlafplatz blieb. Kurz ging ich zu ihm rüber, fragte, ob er nicht auch dazu kommen wollte, doch er sagte, das sei ihm zu viel und er wäre müde, wollte schlafen. Es war noch mitten am Tag, aber er kroch tatsächlich in seinen Schlafsack und drehte sich zur Wand der Brücke hin, zeigte eindeutig, dass er schlafen wollte. Ich ging dann auch bald nach Hause, nahm aber auf dem Weg einen kleinen Umweg durch die Innenstadt, wo ich ein bisschen durch die Läden streifte. Ich sah mir Klamotten an, die im Preis soweit runter gesetzt waren, dass Tsuzuku sich vielleicht etwas davon leisten konnte. Er trug sicher S oder sogar XS, so dünn wie er war, und ich schaute gezielt nach diesen Größen. Irgendwann, so nahm ich mir vor, würde ich mit ihm mal neue Kleider kaufen gehen. Gebrauchen konnte er das sicher. Zu Hause ging ich gleich rauf in mein Zimmer, machte mir Musik an und klickte mich ein wenig durchs Internet, sah mir Bilder von Visuals zur Inspiration für meine eigenen Looks an und landete dabei irgendwie auf der Seite eines kleinen Sweet Lolita-Modelabels, wo mir einige der süßen Kleider doch sehr gefielen. Im Moment trug ich am liebsten Schwarz und eher männliche Kleidung, aber ich besaß zwei süße Perücken, ein niedliches Kleid, Röcke, passende Accessoires, und ein paar dieser Teaparty-Schuhe in rot, für die Tage, an denen ich Lust auf ein mädchenhaftes Outfit hatte. Den Rest des Tages verbrachte ich dann mit meiner Spielekonsole, holte mir zwischendurch was zu essen aus der Küche unten. Und als mir das Spielen zu anstrengend wurde, weil ich auch müde war, legte ich mich ins Bett, wo ich aber noch eine ganze Weile wach lag und nachdachte, über diesen Tag, der sich so lang anfühlte und an dem sich für mein Gefühl so viel sehr schnell verändert hatte. Ich hatte jetzt so was wie einen guten Freund, jemanden, an den ich denken konnte, sodass ich mich nicht mehr so allein fühlte. Zwar war Tsuzuku wohl kein einfacher Mensch und trug eine große Last an Traurigkeit und Schmerz mit sich herum, aber ich mochte ihn dennoch gern, und ich wollte ihm helfen. Dass es mir sogar irgendwie gelang (immerhin hatte er sich von mir umarmen lassen), gab mir das Gefühl, dass ich offenbar doch etwas geben konnte, und imstande war, ihm zu helfen. Morgen würde ich nicht zu ihm gehen können, weil meine Eltern einen Ausflug mit mir vorhatten, aber übermorgen wollte ich wieder in den Park, Tsuzuku wieder sehen und schauen, was ich noch für ihn tun konnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)