Wegweiser ins Licht von Cognac ================================================================================ Kapitel 21: Vergangene Tage --------------------------- Kapitel 21: Vergangene Tage Der kalte Regen prasselte unaufhörlich gegen das mit Tropfen übersäte Glas der raumhohen zweiflügligen Fenster des Hospitals, in das man ihn gebracht hatte. Wie angewurzelt stand der blasse Junge inmitten des kargen weißen Flures und starrte hinaus in die verwaschene und triste Eintönigkeit hinter den Scheiben. Er wirkte ganz und gar abwesend, wie der physischen Welt entschwunden. Tuschelnd gingen die Leute an ihm vorbei, doch er blendete die auf ihn gerichteten Blicke einfach aus. Ihn kümmerte es nicht im Geringsten, was andere von ihm hielten oder was er für einen Eindruck auf sie machte. Bleich wie er war, dünn und mit seinen fahlen Klamotten, der grauen Hose und dem zerschlissenen weißen T-Shirt, musste man ihn wohl für ein armes Waisenkind ohne jedwedes Zuhause halten. Wie oberflächlich die Menschen doch waren. So verharrte er weiter stillschweigend und ohne sich zu rühren, wie ein Stein in einem Gebirgsbach, dessen strömendes Wasser die Menschen verkörperten, welche spurlos an ihm vorbei flossen und davongetrieben wurden, während er als einziges zurückblieb. Eine Krankenschwester bemerkte ebenfalls den auffälligen Jungen am Fenster. Sie ging nichts ahnend auf ihn zu, um ihn zu fragen, was er hier mache oder ob er auf der Suche nach jemanden sei. Als sie ihm immer näherkam, drehte er seinen Kopf automatisch in ihre Richtung, als hätte er sie gewittert. Was sich ihr dann bot, war ein düsterer und vor Diabolik strotzender Anblick, bei dem sich einen die Nackenhaare aufstellten. Seine Augen waren rot unterlaufen und wirkten kalt, aber nicht leer. Sie verströmten Verbitterung, Hassgefühle, tiefste Abscheu und eine bis dato noch unergründliche, jedoch stetig wachsende Böswilligkeit. Die Frau wich erschrocken zurück. Ihr anfängliches und zuvorkommendes Lächeln war einem durch Angst zersetzten Blick gewichen, was auch dem Jungen nicht entging. „Fürchten sie sich vor mir?“, hauchte er tonlos, seine Augen dabei wie spitze Pfähle, die den Körper der Krankenschwester aufzuspießen versuchten. Seine schauerlichen Worte machten es seinem Gegenüber unmöglich einen Ton hervorzubringen. Etwas vergleichbares hatte die Dame noch nie zuvor erlebt. Zügig wendete sie sich ab und ging wieder ihres Weges, ohne es zu wagen, sich noch einmal umzudrehen. Jemand der nicht dabei gewesen war, hätte glatt denken können, der leibhaftige Teufel sei ihr auf den Fersen. Für einen zwölfjährigen Jungen strahlte der Verbliebene wahrlich eine gefährliche und einschüchternde Aura aus, die jeden einen Bogen um ihn machen ließ. Niemand weiteres versuchte erneut das Gespräch mit ihm zu suchen, was ihm nur gelegen kam. Sie sollten ihn ja in Frieden lassen. Unverändert blieb er somit allein am Fenster stehen, sein Augenmerk wieder nach draußen gerichtet, als könne allein der Regen ungestraft zu ihm sprechen und ihn mit seinem sanften Rauschen beruhigen. Ein Mann um die Vierzig mit dunkelgrauem Haar und schwarzen Anzug, verließ eines der Patientenzimmer, die hinter dem Jungen lagen. Er schien als einziges keine Hemmung davor zu haben, auf den Burschen zuzugehen und ihm gar eine väterliche Hand auf die Schulter zu legen. Dieser ließ ihn gewähren, was alles in allem den Eindruck suggerierte, es handle sich um ein verwandtschaftliches Verhältnis. „Wie geht es ihr?“, presste der Knabe hervor, seine Stimme nun nicht mehr annähernd so frostig wie sein Äußeres Auftreten. Er klang schlagartig besorgt und gleichzeitig todunglücklich. Der Mann bei ihm seufzte frustriert, sodass der Junge den Kopf hängen ließ. Auf gute Neuigkeiten war demnach wohl nicht zu hoffen. „Sie befindet sich in einem äußerst kritischen Zustand. Das Auto, dass sie auf dem Weg von der Schule erfasst hat, hat sie schwer verletzt.“ „Wie…“, setzte der Halbwüchsige an, doch der Ältere verstand ziemlich schnell, worauf er hinauswollte. „Der Fahrer hat sich betrunken ans Steuer gesetzt und war viel zu schnell unterwegs gewesen, sodass er am Fußgängerüberweg nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte.“, redete er weiter, wobei sich beim Zuhören ein schwerer Kloß im Hals des Jungen bildete, welchen dieser nur mit Mühe und Not herunterschlucken konnte. „Er verlor nach der Kollision die Kontrolle und fuhr mit über 70 km/h gegen einen Baum. Er war sofort Tod gewesen.“, fügte der Mann noch hinzu. „Sehr gut.“, krächzte der Zwölfjährige mit den platten dunklen Haaren und der schneeweißen Haut. Kurz zuckten die Mundwinkel auf seinem -mit dicken Haarsträhnen umrahmten- Gesicht, doch die Freude, über das Ableben der verantwortlichen Person hinter diesem Unfall, wehrte nicht lange. Es war nur ein flüchtiges Gefühl, dass genauso schnell wieder verschwand, wie es aufgetaucht war. „Kanae?“ Der Junge zuckte auf, reagierte dann aber ziemlich ungehalten über die Anrede des Mannes. „Nenn mich gefälligst nicht mehr so. Diesen Namen habe ich abgelegt, als ich euch beigetreten bin. Hast du das etwa schon vergessen?“, zischte er. „Es ist immer noch der Name, den dir deine Eltern gegeben haben.“, war alles, was der Ältere dazu erwiderte. „Rede verdammt nochmal nicht von ihnen.“, verlangte Kanae schroff. „Sie zählen schon lange nicht mehr zu meiner Familie.“ Er drehte sich zu dem Mann in Schwarz um. „Ihr seid meine Familie und ich möchte auch nur mit dem Namen angesprochen werden, den IHR mir gegeben habt.“ Ohne sich groß über sein Auftreten zu echauffieren, schloss der Mann im Anzug die Augen und ließ seine Hände in den Hosentaschen verschwinden. „Du wirst dich daran gewöhnen müssen, in der Öffentlichkeit deine alte Existenz weiterhin zu nutzen. Sie kann dir durchaus noch dienlich sein, denn sie fungiert wie eine Schutzhülle und verschleiert dein wahres Ich vor den Augen anderer.“ Er öffnete seine Augen wieder. Graue und gewitzte Augen, die schon viel gesehen haben mussten, funkelten den Jungen entgegen. „Glaube mir, du wirst diesen Rat noch früh genug zu würdigen wissen.“ Der blasse Bursche schnaubte bloß abwertend, getragen von seinem jugendlichen Übermut. Nach einer Weile sah der Mann auf seine Armbanduhr. „Sie sind spät dran.“ Kanae zog die Luft scharf ein, ehe er sich äußerte. „Natürlich sind sie das. Sie haben sich noch nie groß um uns gekümmert. Hätten sie nicht nur ihre Arbeit im Kopf und ihre Tochter wie versprochen von der Grundschule abgeholt, dann wäre sie nicht zu Fuß losgelaufen und dann wäre dieser Unfall auch nicht passiert. Es ist einzig und allein ihre Schuld.“ „Ja das stimmt.“, bestritt der Mann die Hassreden des Jungen in keinster Weise. „Du hast allen Grund sie zu hassen und zu verachten. Sie haben auch dich von klein auf stets vernachlässigt, um ihrer beiden Karrieren willen. Du warst ganz auf dich allein gestellt, bis ich dich unter meine Fittiche genommen habe. Allerdings spüre ich, dass auch du dir die Schuld daran gibst, was deiner Schwester wiederfahren ist.“ „Niemand liebt sie mehr als ich und keiner hat sich bisher so um sie gekümmert, wie ich es tat. Ich habe ihr versprochen immer auf sie aufzupassen, doch ich habe mein Versprechen gebrochen.“ Der Zwölfjährige ballte die Fäuste. In seiner Stimme schwammen die verworrensten Emotionen mit und er kam einem einzigen Nervenbündel gleich. Der Mann hingegen blieb ganz gefasst, weiterhin Herr der Lage. „Einzig und allein deine gewissenlosen Rabeneltern tragen die Verantwortung dafür. Belaste dich selbst nicht damit. Das darfst du nicht. Wenn du zulässt, dass diese Gefühle dich übermannen, wirst du schwach und verwundbar.“, ermahnte er seinen Schützling mit strenger Mimik. „Sie werden dafür bezahlen.“, flüsterte der Junge. „Ja das werden sie, versprochen.“, beteuerte sein Mentor. „I-Ich will zu ihr, solange wir ungestört sein können.“ „In Ordnung.“ Der Mann in Schwarz trat einwilligend beiseite, sodass der Junge auf die Tür zugehen konnte, aus der der Ältere zuvor gekommen war. An dem Schild neben dem Zimmer stand in Kanji-Zeichen der Name des dort untergebrachten Patienten: Hitomi Nishimura. Er griff nach der Klinke. „Denk aber stets daran, was ich dir gesagt habe. Verstanden Cognac?“ Das Gesicht des Mannes war durch das Licht von draußen gänzlich in Schatten gehüllt. Ein Auge des Jungen blitzte über seine Schulter hinweg zu dem Organisationsmitglied. „Verstanden Genever.“ Shinichi spürte die wohltuende Wärme ihres Körpers neben sich, als er so langsam aus seinem behaglichen Nickerchen erwachte. Das süße -noch schlafende- Gesicht seiner Freundin war dabei das Erste was er erblickte. Sie war tief und fest am Schlummern, so machte es zumindest für Shinichi den Eindruck. Konzentriert begann er damit Shiho zu beobachten, während sie nebeneinander im Bett lagen. Er verfolgte ihre ruhige Atmung und zählte die einzelnen Strähnen ihres wundervoll duftenden Haares, welche in ihrem Gesicht lagen. Als sich der Oberschüler einen Spaß erlauben wollte und anfing ein etwas dümmliches Gesicht zu ziehen, öffnete die rotblonde Schönheit neben ihm unerwartet die Augen. „Was wird das denn, wenn es fertig ist?“, sprach sie leise, doch bescherte es Shinichi beinahe den Herzinfarkt seines Lebens. „Musst du mich denn so zu Tode erschrecken. Ich dachte du schläfst.“, keuchte der Schwarzhaarige, dessen Puls sich nur stoisch wieder beruhigen wollte. Shiho kicherte still vor sich hin und küsste ihrem Geliebten auf die Nasenspitze, wodurch all der unnötige Groll gegen sie verpuffte und ein einzig strahlendes Lächeln zurückließ. „Du kannst wirklich hartnäckig sein, weißt du das?“ Die junge Frau zuckte sorgenfrei mit den Schultern. „Ich habe das bekommen was ich wollte und tue nicht so, als hätte es dir nicht auch gefallen. Zumindest konnte ich somit deine Gedanken für ein paar Stunden in eine andere Richtung lenken.“ Mit einem verspielten Grinsen zog Shiho die Bettdecke ein Stück an sich herunter, um noch ein bisschen mehr von sich preiszugeben. „Was würde ich nur ohne dich anstellen.“, lachte Shinichi und küsste sie auf den Mund. Der Detektiv des Ostens ließ sich mit dem Rücken auf das Bett fallen und schaute hinauf zur Decke. Trotz der friedlichen Atmosphäre in seinem Schlafzimmer hielt die Ruhe in seinem Kopf nicht lange an und er legte nach kurzer Zeit erneut sein Denkergesicht auf. Shiho griff sich die Hand ihres Freundes und verschränkte ihre Finger mit seinen, sodass sie zumindest seinen Blick zurückgewann. „Woran denkst du gerade?“, wollte sie von ihm wissen. Eigentlich erübrigte sich diese Frage, doch beabsichtigte Shiho es sie dennoch zu stellen und eine Unterhaltung, statt einem anhaltenden Schweigen unter ihnen vorzuziehen. „Ich habe darüber nachgedacht, wie ich es schaffe Amuro und gleichzeitig auch mich selbst wieder… nun ja, zurückzuholen.“, sinnierte Shinichi geknickt. Zusätzlich beschäftigte ihn die Möglichkeit, dass seine geheimen Widersacher noch ein Ass im Ärmel hätten, jetzt wo ihr Bombenleger zur Strecke gebracht wurde. Vor dem Einschlafen hatte er, nach Hattori, auch Shiho auf den neuesten Stand gebracht. Über eine Verbindung zu einem Auftraggeber, der es vermutlich allein auf Shinichi abgesehen hat und darüber hinaus auch noch über seine wahre Identität Bescheid wusste, damit war er nicht herausgerückt. Shiho hatte so einen erleichterten Eindruck gemacht, fest davon überzeugt das Schlimmste überstanden zu haben, dass er ihre ursprüngliche gute Laune nicht sofort wieder in den Boden stampfen wollte, doch war das Thema noch keinesfalls vom Tisch, so viel stand für Shinichi fest. Auch die Person, die Conan als entführt abgestempelt hat, war immer noch Teil ihres Problems. Wie sollte dieser selbsternannte Entführer Forderungen stellen und seine Geisel früher oder später wieder frei lassen, wenn er ein solches Druckmittel überhaupt nicht besaß. Als er zu Shiho hinüber sah und den abwartenden Blick der Rotblonden auffing, erinnerte er sich wieder daran, worüber sie eigentlich gerade geredet haben. „Es ist so, bei Rei fehlt mir einfach jeglicher Anhaltspunkt und das Conan rein theoretisch gar nicht gefunden werden kann, verkompliziert alles nur noch mehr.“, griff er den Dialog wieder da auf, wo er aufgehört hatte. Zu seiner Verwunderung schien Shiho nicht im Entferntesten so ratlos zu wirken, wie er. „Was das angeht habe ich mir auch schon meine Gedanken gemacht und ich glaube eine Idee gefunden zu haben, dich mal wieder aus der Zwickmühle zu holen, so wie sonst auch immer.“ Sie rückte näher an ihn heran, sodass nur noch wenige Zentimeter zwischen ihnen verblieben. „Du und dein Miniaturformat werdet wieder gemeinsam in Erscheinung treten. Der kleine Conan Edogawa gerettet aus den Fängen seines Entführers durch den großartigen Meisterdetektiv Shinichi Kudo. Ran wird ein Stein vom Herzen fallen ihren kleinen Bruder wohlbehalten zurückzubekommen und dir auch nicht länger böse sein. So wäre dann immerhin ein Problem gelöst.“ Der Oberschüler starrte seine Freundin an, als käme sie nicht von dieser Welt. „W-Was? W-Warte mal, ganz langsam. Wie genau stellst du dir das vor?“ Shiho verdrehte die Augen, als läge die Antwort wie selbstverständlich auf der Hand. „Dummkopf, das wäre doch nicht das erste Mal, dass wir eine passende Täuschung dafür auf die Beine stellen.“ „Ja, aber du kannst dich nicht mal eben als Conan ausgeben, sowie bei der letzten Gelegenheit und wer käme sonst dafür in Frage?“, erklärte Shinichi, was ihm bei diesem Vorschlag wie ein unüberwindbares Hindernis erschien. Shiho winkte allerdings nur ab und zwinkerte ihm zu. „Lass mich einfach mal machen. Vertrau mir, ich habe schon alles genauestens durchdacht. Ayumi hat sich nämlich bereiterklärt uns dabei zu helfen. Hat doch seine Vorzüge sie als Geheimnisträgerin zu wissen.“ Augenblicklich ging auch Shinichi ein Licht auf. Warum war er von selbst bloß nicht darauf gekommen? „Aber was ist mit dem angeblichen Entführer, der das alles überhaupt erst so hingebogen hat?“ Shiho gähnte bei seiner Frage, als würden sie sich darüber unterhalten, wer für den nächsten Einkauf zuständig wäre. „Also wenn ich die Sache richtig beurteile, liegt unser gekidnapptes Opfer wohlbehalten neben mir und kann zurückkehren wann es ihm passt. Um diese Person hinter der Botschaft können wir uns danach immer noch kümmern.“ Shinichi konnte sich ein darauffolgendes breites Grinsen nicht verkneifen. Diese Frau war doch wirklich mit allen Wassern gewaschen. Zufrieden gestimmt über seinen Anblick drehte sich Shiho auf die Seite, doch es dauerte nicht lange, bis Shinichi an ihren Rücken heranrutschte und einen Arm um sie legte, den er behutsam vor ihren Bauch platzierte. „Du bist einfach der Wahnsinn.“, schwärmte er, was ihr sehr zu gefallen schien. Shiho reckelte sich genüsslich und spielte dabei mit dem Edelstein ihrer Kette herum, was alles darstellte, was sie zurzeit am Leibe trug. Das rosafarbene Gestein zwischen ihren schmalen Fingern war ein Turmalin, eine der Geburtssteine des Oktobers, der Monat, in dem auch sie Geburtstag hatte. Kaum einer kannte ihren Geburtstag, nur der Professor und Shinichi. Das lag unter anderem daran, dass sie diesen Tag nie feierte, hatte sie noch nie. Dafür gab es nie einen Anlass, auch wenn Akemi sich früher immer etwas ausgedacht hatte, um sie zu überraschen und ihr eine Freude zu machen. Das auch Shinichi über diesen Tag Bescheid wusste, zeigte umso mehr, wie nahe er ihr stand, näher wie sonst kein anderer Mensch auf dieser Welt. Während die beiden Verliebten ihre Zweisamkeit in der Villa der Kudos noch ein wenig genossen, war Shuichi Akai bereits wieder seit den frühen Morgenstunden auf Achse. Im Moment fuhr er mit der Yamanote-Linie durch den Stadtbezirk Minato. Der FBI-Agent vertrat zunehmend die Meinung, etwas Großem auf der Spur zu sein. Parallel dazu wuchsen auch vermehrt die Zweifel daran, dass die Organisation nach der großen Säuberung wirklich vollständig zerschlagen wurde. Sicherlich existierten die Männer in Schwarz nicht mehr so, wie sie es einst taten, doch was sprach dagegen, dass sich Überlebende um einen neuen Anführer gesammelt haben und nun auf Vergeltung aus sind. Gin wäre mitunter der Hauptkandidat für solch eine Rolle. Der blonde Hüne war schon immer von Rache zerfressen gewesen, vor allem gegen Shiho. Zuerst müsse der Dreckskerl aber an Akai vorbei, ehe er auch nur in die Nähe von Akemis Schwester gelangen könnte. Der Schlüssel zu der Antwort, wie viel an dieser Sache wirklich dran sei, konnte nach Shuichis Verständnis nur die Firma Nishimuras beherbergen. Wenn die neue Leiterin Yamaguchi nicht in krumme Machenschaften verwickelt war, dann würde er seinen Job umgehend an den Nagel hängen. Ein Vibrieren in seiner Jackentasche ließ Akai nachschauen, wer ihm soeben eine Nachricht geschickt hat. Es war seine kleine Schwester Masumi, die eine von ihr verfasste SMS mit dem Betreff „Extrem wichtig!“ gekennzeichnet hatte. Shuichi wusste, dass Sera gerne mal ein wenig übertrieb und über die Stränge schlug, doch als er die Nachricht für ihn durchlas, wurden seine Augen zunehmend größer. Meinte sie das ernst? War sie sich da absolut sicher? Akai schaute sich kurz bedächtig in der Bahn um, als könnte jemand Unbefugtes auf seinem Handy mitlesen, doch stand niemand nah genug an ihn dran. Noch einmal überflog er die entscheidende Passage in der von Seras getippten Mitteilung. Wenn dem wirklich so war, dann wäre eine Rückkehr der Schwarzen Organisation nur umso wahrscheinlicher. Unfassbar, dabei war sich das FBI absolut sicher gewesen, sie sei an jenem Tag ums Leben gekommen und nun das. >Nächster Halt, Hamamatsucho< verkündete eine Durchsage über die Lautsprecher. Die Bahn verlangsamte schrittweise ihr Tempo und trudelte gemächlich in die angekündigte Station ein, auf dessen Gleisen, um diese morgendliche Uhrzeit, ein reger Betrieb herrschte. Unzählige Pendler warteten bereits auf ihre Anbindung und positionierten sich an den Türen des Zuges. Shuichi stand auf dem Flur zwischen den gegenübergestellten Sitzplätzen und hielt sich mit einer Hand an einen der über ihn befindlichen Griffe fest, als das Verkehrsmittel zum Stillstand kam. Als die Türen aufsprangen und ein Schwall von Menschen ein- und ausströmte, betrachtete der FBI-Agent die umliegenden Hochhäuser des südlichen Zentrums Tokyos. Der Himmel über der Hauptstadt war nur schwach mit Wolken bedeckt und die Sonne spiegelte sich gleichermaßen in den verglasten Fassaden des Shiodome Buildings, wie auf der Oberfläche des seichten Teiches im Shibarikyu-Park zu Fußen des Bahnhofes. Akai überlegte Masumi direkt eine Antwort zurückzusenden. Wenn ihre Mutter recht hatte und sie irrte sich leider selten, dann müsse auch Shinichi und Shiho so schnell es ging davon erfahren. Er zückte sein Handy wieder hervor, bereit seiner jüngeren Schwester zu texten, da schlenderte zwischen den Passanten, vor seinem Waggonfenster, ein ihm vertrautes Gesicht durch die Massen. Kurz, fast wie in Zeitlupe, huschten die blauen Augen des blonden Mannes zu dem Agenten herüber, bevor er unbekümmert seinen Weg fortsetzte. Shuichi wollte nicht so recht glauben, was oder besser gesagt wen er gerade gesehen hatte. Unmöglich, dachte er sich. Das Signal zum Schließen der Türen erklang und nur in allerletzter Sekunde, gelang es Akai den Zug noch rechtzeitig zu verlassen, ehe er mit ihm weiterfahren würde. Er starrte angespannt das Gleis hinunter und konnte den blonden Schopf der Person ausmachen, wie diese über die Treppen in die untere Querverbindung der Station abtauchte. „Amuro. Was zum Teufel machst du nur hier?“, flüsterte der Mann mit der schwarzen Skimütze und versuchte seinen verschwunden geglaubten Kollegen von der Sicherheitspolizei einzuholen, bevor er ihn aus den Augen verlieren würde. Er hatte ihn gesehen, da besaß Shuichi keinen Zweifel und dennoch habe er nicht auf ihn reagiert und war einfach weitergelaufen, dabei machte jeder der ihn kannte sich große Sorgen um ihn und er hatte nichts Besseres zu tun, als mitten durch das Zentrum Tokyos zu spazieren? Akai drängelte sich auf der Treppe an einigen Leuten vorbei, die ihm etwas Unverständliches hinterherriefen, doch interessierte dies dem Agenten recht wenig. Vielmehr beschäftigten ihn die Fragen, warum Amuro ihn nicht erkannt hat und warum er einfach weitergelaufen war. In der unteren Etage des Bahnhofes angekommen, konnte Shuichi seine Verfolgung zum Glück schnell fortsetzen, als er Amuro gut sichtbar auf einen der Ausgänge zusteuern sah. Eilig bahnte er sich einen Weg hinterher. Über eine Fußgängerbrücke hinweg und auf sicherem Abstand bestehend, blieb er Bourbon dicht auf den Versen, welcher genau auf die Nippon Radiozentrale zulief. Mit den Händen in den Taschen und den Kopf leicht gesenkt, den Blick aber starr nach vorne gerichtet, blieb Akai weiter an ihm dran. Unter ihnen schlug eine breite vielbefahrene Straße eine Presche durch den Großstadtdschungel, an dessen Horizont sich ein roter prägnanter Turm aus Stahl, der Tokyo Tower, in den Himmel erhob. Bourbon schien seinen zweiten Schatten nicht zu bemerken und betrat das Gebäude Nippons. Shuichi blieb vor dem Eingang zur Lounge stehen und spähte durch die verglaste Vorderfront hindurch, bis Amuro in einem der Aufzüge verschwand. Erst dann folgte auch Akai seinem ehemaligen Rivalen in den Sitz des Radiosenders. Bei den Fahrstühlen angekommen, verriet die gelbe Anzeige über der stählernen Tür, dass der Aufzug hinunter in die Tiefgarage fuhr. Ohne zu zögern stieg Shuichi in einen zweiten Fahrstuhl und fuhr ebenfalls in das zweite Untergeschoss des Gebäudes. Als eine reine Vorsichtsmaßnahme entsicherte er die Pistole, welche er hinten im Hosenbund stecken hatte, als er sich auf dem Weg nach unten befand. Der Aufzug hielt, die Tür schwang auf und Shuichi betrat vorsichtig das mit Betonstützen durchzogene Parkdeck in denen vereinzelte Autos und Kleinlaster parkten. Auch einige Übertragungswagen des Senders standen hier. Hauptsächlich waren es mittlere Transporter, das Dach gespickt mit Antennen und Funkschüsseln und mit dem Schriftzug von Nippon TV an den Seiten. Rote Schriftzeichen auf weißem Grund. Niemand war zu sehen, niemand war zu hören. Es war verdächtig ruhig und weit und breit kein Amuro. Akai suchte erneut den Griff seiner Waffen, während er sich ausgiebig umsah, die Augen zu Schlitzen geformt. Ihn überkam ein ungutes Gefühl. „Warum verfolgst du mich?“, hallte auf einmal eine Stimme hinter Shuichi, sodass sich die FBI-Agent rasch umdrehte, die Pistole aber im Verborgenen hielt. Wie aus dem nichts stand Bourbon plötzlich vor ihm, sein Gesicht ausdruckslos und kühl. Shuichi war für einen kurzen Moment irritiert, wirkte dann aber ziemlich verärgert, als er sich ein wenig lockerer machte und seine Lederjacke wieder über die Waffe zog. „Sag, wolltest du mich etwa erschießen, so wie du es mit Scotch getan hast?“, ließ der Blonde seine Kenntnis über die bereits entdeckte Bewaffnung Akais durchsehen und verursachte gleichzeitig ein flaues Gefühl beim FBI-Agenten, als er auf den damaligen Vorfall anspielte, woran ihm in Wahrheit keine Schuld traf und das wusste Amuro eigentlich auch. Also warum diese provokante Bemerkung? „Hör auf so einen Unsinn zu erzählen und sag mir lieber was du hier machst?“, erwiderte Shuichi grimmig. „Das gleiche könnte ich auch dich fragen Rye.“, entgegnete Bourbon mit ungewohnt rauer Stimme. Was Rye? Shuichi, der ohnehin nicht begriff was Amuro hier trieb, war nun ganz durcheinander. Wieso sprach er ihn mit seinem alten Codenamen an? „Alle dachten du seist entführt worden oder etwas dergleichen. Wenn dem nicht so ist, dann verrate mir wieso du einfach aus dem Krankenhaus verschwunden bist. Ran macht sich unglaubliche Sorgen um dich. Sie weint sogar noch häufiger als früher.“ „Ran wer?“, bemerkte der Blonde ohne eine Regung in seiner Stimme. Shuichi riss bei diesen Worten die Augen auf. War das ein schlechter Scherz oder meinte Amuro das etwa ernst. Seine Tonlage und auch sein Ausdruck wirkten nicht so, als würde er wirklich verstehen, was Akai von ihm wollte. „Du solltest dich besser wieder um deine Angelegenheiten kümmern und dich nicht in anderer Leute Angelegenheiten einmischen.“, riet ihn Rei Furuya ungeziert und bewegte sich auf einen der parkenden Fahrzeuge zu. Er drückte auf einen Autoschlüssel und die Lichter eines schwarz glänzenden Mazdas, das gleiche Modell wie es Bourbon einst in weiß besaß, leuchteten kurz auf. „Ich verstehe kein Wort Amuro. Was hast du vor? Wo willst du hin? Wieso hast du mich kurz vor der Explosion in der Detektei versucht anzurufen? Was hast du gesehen?“ „Jetzt höre endlich auf mich voll zutexten oder du wirst es bereuen kapiert.“, warnte ihn Bourbon und öffnete die Fahrertür vor ihm. „Du redest wirres Zeug. Vielleicht sollte dir die Führung mal ein paar freie Tage spendieren, würde dir sicherlich gut tun und jetzt entschuldige mich.“ Damit bestieg Amuro den Wagen und startete den Motor. „Hey warte.“, rief Shuichi, doch bewirkte er damit rein gar nichts. Mit aufheulenden Motor stieg Bourbon sogleich in die Eisen und jagte an ihm vorbei. Ohne das Akai etwas dagegen unternehmen konnte, war er auf und davon. „Amuro“ Shuichi starrte den Reifenspuren des Wagens nach und lauschte dem Lärm des Fahrzeugs, dessen Schall sich allmählich in der Tiefgarage verlor. „Sag nicht, du kannst dich an nichts mehr erinnern.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)