A Place to Belong von Puppenspieler ================================================================================ 42 -- Ein Blick in blaue Augen, und er wusste, was Zidane sagen wollte, noch bevor er es sagte.   „Chef, ich gehe.“   Bark seufzte schwer. Er hatte schon lange gewusst, dass es irgendwann dazu kommen würde. Hatte es in jedem sehnsüchtigen Blick in die Ferne gesehen, wenn die Prima Vista über den Kontinent dahinglitt, in jedem frustrierten Schlenkern seines Schwanzes, wenn er wieder unverrichteter Dinge von einem Streifzug in einer fremden Stadt zurückkehrte, ohne neue Informationen über das, was er suchte. Er hatte es gewusst. Er hatte auch gewusst, dass es bald kommen musste. Trotzdem konnte er nicht behaupten, dass es ihm gefiel, Zidane jetzt so gegenüberzustehen.   „Du kennst die Regeln.“   Zidane nickte. Es änderte nichts an seiner Entschlossenheit. Bark seufzte noch einmal, schüttelte dann aber den Kopf. „Nun, den Schlamassel habe ich mir selbst eingebrockt. Hab dich ja schließlich selbst so erzogen, nicht wahr? Aufgeben ist bei der Tantalus nicht.“ „Deshalb muss ich ja gehen. Ich muss einfach wissen–“ Bark hob die Hand. „Halt. Ich habe nicht nach deinen Beweggründen gefragt. Du hast dich entschieden, das sehe ich an deinem Blick. Da brauch ich keine großen Erklärungen mehr, das sagt sowieso mehr als tausend Worte es je könnten.“   Gemächlich erhob er sich von seinem Schreibtischstuhl. Er nahm sich alle Zeit der Welt, um die Papiere auf seinem Tisch noch zu ordnen: Pläne für ihre nächste Aufführung und den damit einhergehenden Diebstahl. Dieses Mal hatten sie es auf kostbare Juwelen abgesehen, die angeblich schon viele Jahrhunderte alt sein sollten. Gleich, ob sie es waren oder nicht, ihr Wert war trotzdem unermesslich hoch. Genau das Richtige für die Tantalus also.   Es war Absicht, dass er trödelte.   Zidanes Schwanz zuckte irritiert, ungeduldig herum. Der Junge war wie unter Strom, angespannt wie eine Bogensehne kurz vor dem Reißen. In Gedanken war er sicher längst auf seiner großen Reise auf der Suche nach dem eigenen Ich.   Fertig mit Aufräumen marschierte Bark ohne sichtbare Gemütsregung an ihm vorbei. „Du weißt, wo du mich findest. Ich warte im Frachtraum auf dich.“ Zidane schnaubte. „Wenn hier einer warten muss, dann ja wohl ich!“ Und schon stürmte er davon, an Bark vorbei, der sich gar nicht die Mühe machte, ihn zu überholen. Entsprechend war der Knirps der Erste, der den Frachtraum betrat.   Er war auch der Erste, der ihn wieder verließ.   Nach einem Kampf, den Bark mühelos hätte gewinnen können, hätte er es gewollt. Aber darum ging es nicht – es ging nur darum, zu sehen, dass Zidane stark genug war, um sich alleine durchzuschlagen. Wer sich halbwegs gegen ihn behaupten konnte, der bekam Barks Segen, der Tantalus den Rücken zu kehren, denn dann konnte er wenigstens sicher sein, dass die Leute, die über Monate oder Jahre hinweg seine Schützlinge gewesen waren, nicht bei nächster Gelegenheit wahlweise von irgendwelchen Wachen überwältigt wurden und im Knast landeten, oder schlimmer noch dazu übergingen, das Gizar-Kraut von unten zu betrachten.   Zidane würde es gut gehen. Es war beruhigend.   Trotzdem dauerte es eine ganze Weile, bis Bark die Sache so weit verwunden hatte, dass er sich aufraffen konnte, um zu seinen Leuten zurückzukehren und sie damit zu konfrontieren. Ein Mitglied der Truppe zu verlieren, das war nie einfach. Schwerer war es noch, wenn es sich um ein Mitglied handelte, dass so lange dabei gewesen war. Und so aufdringlich penetrant dabei. „Wird still werden ohne den Jungen“, kommentierte er kopfschüttelnd. Keine Kabbeleien über irgendwelche Dorfmädchen mehr zwischen Blank und Zidane. Keine Empörung seitens Ruby mehr darüber, weil Zidane ständig irgendetwas vergaß, um das sie bat. Keine suchenden Blicke in die Ferne. Keine frechen, respektlosen Sprüche, für die der Kerl eigentlich gepflegt übers Knie gelegt gehörte.   „Garharhar! Das wird jetzt eine ganz neue Tantalus!“   Fraglich, ob das wirklich gut sein würde. „Gut. Genug herumgetrauert! Wird Zeit, an die Arbeit zu gehen. Da muss ein Plan umgeplant werden. Edelsteine stehlen sich schließlich nicht von selbst und unser Hauptdarsteller hat das Schiff verlassen.“   Entschlossen machte er sich auf den Rückweg zu seinem Arbeitszimmer, doch weit kam er nicht: Ein großer Teil der Truppe war im zentralen Gang des Schiffsbauchs versammelt, und alle sahen sie ihn an, kaum, dass er herankam. „Ist er wirklich weg, und so?“ „Richtig. Zidane hat das Fernweh gepackt.“ Eher das Heimweh, aber gut. Weder waren Zidanes Beweggründe etwas, das vor seinen Kameraden ausgebreitet gehörte, noch hatte Bark vor, allzu lange den Verlust des Wildfangs zu betrauern. Sie konnten es sich nicht leisten, stillzustehen und sich darin zu verzetteln. Sie hatten zu tun! Entschlossen stemmte er die Hände in die Hüften. „Das heißt, wir haben jetzt ein Paar Hände weniger – aber auch ein Maul weniger zu stopfen. Garharhar! Das gleicht sich also aus. Blank?“ „Ja, Chef?“ „Du übernimmst seinen Part im Plan. Die genauen Informationen gebe ich dir, sobald ich sie fertig ausgearbeitet habe. Ein bisschen müssen wir doch ändern, jetzt, wo wir ein Mann weniger sind.“ Blank salutierte. Begeistert sah er nicht aus, aber den Wink mit dem Zaunpfahl hatte er bekommen. „Is‘ klar, Chef!“   „Abber des is scho trauri, zefix. De Zidane hod doch oanfoch d'zughörd, zefix.“ „Ja, er wird fehlen, und so.“ „Da kann man nichts machen, Leute“, gab Bark mit einem unbekümmerten Schulterzucken zurück – das Ergebnis beinahe lebenslanger Schauspielkunst. „Jetzt macht euch nicht ins Hemd deshalb. Zidane ist nicht der Erste, und er wird auch nicht der Letzte sein, der die Tantalus verlässt. Bis jetzt haben wir noch jeden Verlust verkraftet.“   Aber das ist etwas anderes, sagten die Blicke, die Bark begegneten. Niemals war jemand gegangen, der so eng mit der Tantalus verbunden war. Keins seiner unausgesprochenen Ziehkinder.   Niemand war dumm genug, das laut auszusprechen.   „Äber Chef, sag mol“, begann Ruby, verscheuchte die unausgesprochenen Gedanken damit aus der Luft. Sie stemmte eine Hand in die Hüfte und neigte den Kopf leicht zur Seite, halb fragend, halb provokant. „Könn wir nit endlich domit ophöre? Ich mein, jitz, der Zidane weg is', da fählt scho irjendwie dat Persönal, um weidazumache wie bisher. A wort doh all dran jewöhnt, in da Gropp zusamm'zuarbeite un jeder hatt' sein nötije Platz jehabt dun. Und wir verdiene jut. Die Mensche liebe ons. Alle woll'n unsre Vorstellönge sähn. Wir könnte einfach ene janz normole Theatertropp werde.“ Könnten sie. Bark hatte auch schon darüber nachgedacht. Oft genug. Er machte sich da nichts vor: Ein ehrliches Leben wäre für die Jungspunde viel gesünder als dieser Drahtseilakt zwischen Schauspiel und Diebstahl. Aber genau das war es, was die Tantalus ausmachte – was sie zusammenschweißte, miteinander verband.   Er war, so oft er darüber nachgedacht hatte, zu dem Schluss gekommen, dass ein ehrliches, bodenständiges Leben ihn nicht glücklich machen würde.   „Ruby, sei nich‘ so. Wir kriegen’s auch ohne Zidane hin, so wichtig is‘ der nicht für die Arbeit. Du musst dir keine Sorgen machen.“ „Wia de Blank des soage dud, zefix! Mia simmer de bessde Diabe inne goanze Lande, des schaukel mia mit lingse, zefix!“ „Genau, und so.“   Und er war nicht der Einzige. Sie alle brauchten dieses Leben, brauchten diesen Nervenkitzel. Und wer es nicht wollte – der musste nicht mitmachen. So wie Ruby. Ruby, die gerade empört mit dem Fuß auf den Boden stampfte. „Ich mach mer keine Sorjen um euch, du Hohlköpp! Bild dir mol bloß nit su vill op dich ei!“ Sie schnaubte, schüttelte energisch den Kopf. „Ich mog dat einfach nit! Wir sin die beste Schauspieler im janzen Land, wir haben‘s doh jar nit nötig, ons wie Jesindel mit Röberäien rumzuschlaje.“ „Es gehört aber dazu, und so“, gab Marcus mit einem Kopfschütteln zurück. Er hob in einer beschwichtigenden Geste die Hände und lächelte Ruby versöhnlich zu. „Du musst doch auch immer noch nicht mitmachen. Und wir bezahlen schon lange nichts mehr von Diebesgut, und so. Aber mich würde das nicht zufrieden machen, zwischen den Aufführungen nur Däumchen zu drehen und meinen Text zu lernen, und so. Den kann ich sowieso schon auswendig, und so.“ „Richdich, zefix! Mia san numoal mea als nua Schauschpieler!“   „Außerdem“, mischte Bark sich ein, ehe Ruby noch einmal explodieren konnte, „weißt du das schon seit Jahren, Ruby, und du bist trotzdem immer noch hier. Dich zwingt ja niemand. Du bist eine talentierte junge Dame, du könntest auch allein in der Theaterwelt Fuß fassen.“ Die Aussage nahm ihr den Wind aus den Segeln; sie schrumpfte sichtlich in sich zusammen, alles Feuer für den Moment verloren. Er wusste, dass sie sich nur Sorgen machte. Dass sie nicht verstehen konnte, wie man sich freiwillig in so viel Gefahr stürzen konnte, für ein paar Klunker, ein paar Gil, die man gar nicht mehr wirklich brauchte. Für schönen Ramsch und Tinnef, der am Ende in der Schatzkammer versauerte, bis man ihn irgendwann mal verhökern konnte, sobald Gras über die Sache gewachsen war. Manches ließ sich auch gar nicht verhökern, weil es so selten oder berühmt war, dass der Diebstahl gleich im ganzen Land bekannt wurde.   „Och mocht doh, was a wöllt!“, fauchte sie schließlich, „Äber ich du erworten, dat a eure Schauspielärei daröber nit vernochlässije dut!“ Und da kam sie, eine von Rubys gefürchteten Predigten. Bark grinste in seinen Schnauzbart hinein, als sie energisch herumwirbelte und sich vor Cinna aufbaute. „Do! Do has bei de letzte Vorstellung fast dein Text verjessen dun, jib’s zu! Ich hab jemerkt, wie du jezögert hast!“ „G-gnadn, zefix… Des hat doch koana von de Zuschaua gmerkd.“ „Äber ich hab et jemerkt! Sei jefälligst professionäller!“ Cinna schrumpfte in sich zusammen, klammerte sich an seinen Hammer, als könne der ihn über Rubys harsche Worte hinwegtrösten. Die junge Frau hatte derweil gar keine Augen mehr für ihn, war längst herumgewirbelt und mit wehenden Röcken zu Marcus gestiefelt. „Un do, Marcus! Et jeht nit, dat unser Hauptdarställer beinoh übber sei eijene Füß stolpert! Dat kannste doh wohl besser. Wenn ich dat nohmal sehe–!“ Sie musste ihre Drohung nicht einmal beenden. „Es kommt nicht wieder vor, und so!“   Blank, der längst ahnte, dass ihm als nächstes eine Schimpftirade blühte, war schon unauffällig zurückgewichen, hatte die nächste Tür angepeilt – doch er war zu langsam. Ruby holte ihn ein, noch bevor er überhaupt in die Reichweite des Türgriffs kam. Ihr behandschuhter Finger bohrte sich in seine Brust. „Vun dir brauch ich jar nit anfange! Do has doh bei der Vorföhrung noh diesem enen Weibsbild im Publiköm schöne Aug jemacht! Hast do denn jar keine Manieren?!“ „Ruby, ich–“ „Ja?!“ „Ich hab doch nur darüber nachgedacht, wie viel hübscher du bis‘!“ Für einen kurzen Moment hielt Ruby in ihrem Ärger inne. Bark war sich recht sicher, dass die Röte auf ihren Wangen nicht mehr nur ihrem Zorn zuzuschreiben war. Blank merkte es auch. Da war ein Anflug von Triumph auf seinem Gesicht, der Bark ein gehässiges Grinsen entlockte; er kannte Ruby eindeutig zu schlecht. „Glaub nit, dat ich op dein Süßholzjeraspel reinfalle du! Dir zieh ich dat Fell üba die Ohre, wenn dat nochmal vorkömmt!“   Bark hörte sie noch streiten, als er längst wieder an Deck stand und die Umgebung überblickte. Irgendwo da draußen in der Ferne, die sich im Nebel verlor, war Zidane. Suchte seine Herkunft. Würde er Erfolg haben, vielleicht würde er nie wieder zurückkommen. Würde er keinen Erfolg haben, würde er irgendwann wieder vor den Türen der Tantalus stehen. Ruby blökte empört. Marcus mischte sich ein. Bark lachte.   „Weißt du, ich glaube, ich hab‘ deine Kameraden unterschätzt, Junge. Garharhar! Es wird wohl doch nicht leiser ohne dich.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)