Heartbeats von Khaleesi26 (Michi-Woche) ================================================================================ Kapitel 1: Fantasy ------------------ Taichi Stöhnend drehte ich mich auf die andere Seite, als sie mir zum wiederholten Male mit der Hand durch mein Haar fuhr. Ich liebte das. Aber ich würde es niemals zugeben. Deswegen tat ich einfach so, als würde ich noch schlafen. „Steh endlich auf. Ich weiß genau, dass du wach bist“, hörte ich sie kichern. Ich musste grinsen, während ich weiter fest mein Kissen umklammerte und die Augen geschlossen hielt. „Und wenn ich nicht will?“ „Hmm.“ Ihre Hand entfernte sich und ich spürte, wie die Matratze sich hob, als sie aufstand. „Dann muss ich wohl ohne dich fliegen.“ Verschlafen öffnete ich ein Auge und sah, wie sie vor dem Spiegel stand und sich diese kleinen goldenen Sternenohrringe anlegte, die ich ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Mit ihren langen, gewellten Haaren und dem weißen, kurzen Sommerkleid sah sie aus wie ein Engel. Lächelnd drehte ich mich auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Das würdest du nicht tun, Mimi. Niemals.“ „Und wieso bist du dir da so sicher?“, hakte sie amüsiert nach. „Weil du mich schrecklich vermissen würdest. Ist doch klar“, ergänzte ich und warf ihr einen verstohlenen Blick zu. Sie legte den zweiten Ohrring an, drehte sich um und kam zurück ans Bett. „Das klingt auch gar nicht eingebildet, Herr Yagami.“ „Kann sein“, grinste ich und griff schnell nach ihrem Handgelenk, um sie zu mir aufs Bett zu ziehen. Kurz schrie sie auf, weil sie das nicht erwartet hatte, lachte dann jedoch. „Tai“, tadelte sie mich. „Wenn du nicht gleich aufstehst, kommen wir wirklich zu spät. Und der Flieger wartet nicht auf uns.“ „Ich weiß“, sagte ich und strich ihr mit der Hand eine Haarsträhne hinters Ohr. „Ich will nur noch eine Minute mit dir alleine sein.“ Dann beugte ich mich zu ihr und küsste sie. Ein unglaubliches Glücksgefühl breitete sich in meiner Brust aus. Es fühlte sich fast wie ein Traum an, ihre Lippen auf meinen zu spüren. Langsam löste sie sich wieder von mir und sah mich liebevoll an. „Bist du dir auch ganz sicher, dass du mitkommen willst?“ Ein leichtes Lächeln zierte mein Gesicht, während ich mich zwingen musste, den Blick von ihren vollen Lippen abzuwenden und in ihre haselnussbraunen Augen zu sehen. „Ich denke, ich war mir noch nie in meinem Leben so sicher.“ Ich konnte verstehen, dass sie Zweifel hatte. Ob es das Richtige war, was wir taten. Wir würden unser altes Leben hinter uns lassen und komplett neu anfangen. Nur wir beide – für immer vereint. „Ich bin froh, dass du das sagst“, meinte Mimi und küsste mich erneut auf die Wange, ehe sie aufstand und ich ihr nun endlich folgen musste. Sie hatte recht. Der Flieger würde nicht auf uns warten und ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass wir bereits viel zu spät dran waren. Ein neuer Lebensabschnitt lag vor uns und wir würden ihn gemeinsam beschreiten. Wir hatten uns beide dazu entschieden, Tokio hinter uns zu lassen und in New York neu anzufangen. Mimi vermisste ihr altes zu Hause und für sie stand es immer schon fest, dass sie nach ihrem Schulabschluss dorthin zurückkehren würde, um dort zu studieren. Und für mich stand fest, dass ich keinen Tag ohne sie sein wollte, seit ich sie das erste Mal vor einem Jahr geküsst hatte. Wir gehörten einfach zusammen und kein Ozean der Welt konnte uns voneinander trennen. „Bist du bereit?“, fragte sie mich, als ich aus dem Bad trat und sie bereits im Flur auf mich wartete. Die Koffer waren gepackt und warteten nur darauf, uns in ein neues Leben zu folgen. Ich trat neben sie und nahm ihre Hand. „Bereit, wenn du es bist.“ Sie lächelte und warf einen letzten Blick in die Wohnung, die wir uns in den letzten Monaten geteilt hatten. „Wirst du sie vermissen?“, fragte ich. Mimi schüttelte den Kopf. „Nein“, antwortete sie und sah mich entschlossen an. „Ich werde nichts vermissen, solange du bei mir bist.“ Dann nahmen wir unsere Koffer und Mimi schloss hinter uns ab. Wir ließen unser altes Leben zurück, ohne uns noch mal umzusehen. Doch das war auch nicht nötig. Denn wichtig war nur, dass wir beide gemeinsam in die Zukunft blickten … Der Wecker klingelte und ließ mich hochschrecken. Was? Aber wieso …? Ich drehte mich und streckte den Arm, um dem nervenden Klingeln ein Ende zu setzen. Dann fiel ich stöhnend zurück in die Kissen. Verschlafen rieb ich mir über die Augen, als augenblicklich mein Herz schwer wurde. Ein tiefer Schmerz breitete sich in meiner Brust aus und ich schloss erneut die Augen. Doch auch das half nichts. Selbst wenn ich wieder einschlafen würde, würde es nichts an der Tatsache ändern, dass das alles nur ein Traum war. Nun war ich aufgewacht und wieder in der Realität angelangt. Unsanft holte sie mich zurück auf den Boden der Tatsachen. Die Realität sah anders aus als mein Traum. Sie war schlimmer, schmerzhafter und ich wünschte, ich könnte irgendetwas tun, irgendetwas gegen sie unternehmen. Aber das konnte niemand. Sie würde einfach verschwinden und ich konnte nichts dagegen tun. Nichts. In meiner Fantasie waren wir zusammen. In der Wirklichkeit verließ sie mich, wahrscheinlich für immer. Ich hörte, wie jemand vor meine Zimmertür trat und klopfte. „Tai? Tai, bist du wach?“, fragte mich meine Schwester durch die geschlossene Tür. Ich seufzte, bevor ich ihr antwortete. „Jaah … Ja, bin ich.“ „Gut. Dann steh jetzt bitte auf. Wir kommen sonst zu spät. Und wir wollen sie doch nicht verpassen.“ Nein, das wollten wir nicht. Auf keinen Fall würde ich sie gehen lassen, ohne sie noch ein letztes Mal gesehen zu haben. Ich schleuderte die Decke von mir und sprang aus dem Bett. Mimi Unruhig zupfte ich am Ärmel meiner Jeansjacke herum, sah dabei immer wieder auf die Uhr. Nicht mehr lange. Nicht mehr lange und ich würde mein altes Leben hinter mir lassen – schon wieder. Es fühlte sich richtig an, denn es war das, was ich immer wollte. Meine Familie wusste das, meine Freunde wussten das und auch ich hatte es immer gewusst – dass ich nicht nach Tokio gehörte. Diese Gesellschaft engte mich zu sehr ein. Das war ich einfach nicht. Als wir damals von New York zurück nach Tokio gezogen waren, fühlte sich das gut an. Doch ich merkte schnell, dass ich mit meinen Ansichten einfach nicht mehr in diese Welt passte. Alle trugen dieselbe Schuluniform, alles war möglichst konform und aus der Reihe tanzen wurde nicht gern gesehen. Also hatte ich ziemlich schnell den Entschluss gefasst, nach meinem Abschluss zurück nach New York zu ziehen. Und nun war es soweit. Der Tag war gekommen, an dem ich mein Leben hier endlich hinter mir lassen konnte. Nur wollte ich nicht alles daran hinter mir lassen … Es gab einen Grund, warum ich meine Entscheidung dennoch in Frage stellte. Und dieser Grund war gerade auf dem Weg zum Flughafen, um sich von mir zu verabschieden – vielleicht für immer. Das Herz hämmerte mir bis zum Hals, während die Zeiger an der Uhr immer weiter rannten, als würden sie mir keine Zeit mehr lassen wollen. Hatten sie es so eilig, dass ich dieses Land verlassen sollte? „Mimi!“, hörte ich eine Stimme hinter mir rufen. Ich stand von meinem Platz auf und drehte mich um. Sie waren gekommen. Ich sah, wie Sora und die anderen auf mich zugestürmt und schnaufend vor mir zum Stehen kamen. „Tut … uns … leid. Wir sind … zu spät“, entschuldigte Sora sich völlig aus der Puste. „Aber nur, weil wir wegen dem da den Bus verpasst haben“, warf Matt ein und zeigte anklagend mit dem Finger auf seinen kleinen Bruder. „Du Verräter! Du warst doch selbst nicht pünktlich“, entrüstete dieser sich sofort und stemmte die Hände in die Hüfte. Joe, der Älteste von allen, ging dazwischen. „Hört sofort auf, euch zu streiten. Deswegen sind wir schließlich nicht hergekommen“, beschwichtigte er die beiden, während Izzy nur lachend den Kopf schüttelte. Auch ich musste lachen. Wahrscheinlich gab es doch einiges, dass ich vermissen würde. „Wo sind Kari und Tai?“, fragte ich, als ich schließlich meinen Blick prüfend durch die Gruppe wandern ließ. „Ihre Mutter wollte sie herfahren. Sind sie noch nicht da?“, hakte Sora nach. Ich schüttelte den Kopf. „Vielleicht stehen sie im Stau“, warf Matt fragend ein. „Hoffentlich schaffen sie es noch“, meinte Izzy und blickte skeptisch zur großen Uhr an der Anzeigetafel des Flughafens, dessen Zeiger immer noch weiter rannten. Traurig folgte ich seinem Blick. „Na ja, da kann man nichts machen. Es wird Zeit für mich“, sagte ich geknickt und wandte mich wieder meinen Freunden zu. Sora legte einen mitfühlenden Blick auf und nahm mich in eine Umarmung. „Sei nicht traurig. Und schreib uns, wenn du gut angekommen bist.“ „Das mache ich“, sagte ich und drückte sie fest an mich, ehe ich mich von ihr löste und mich von einem nach dem anderen verabschiedete. „Guten Flug“, sagte Takeru. „Keine Sorge. Wenn Tai nachher kommt, hau ich ihm eine rein dafür, dass er dich verpasst hat“, meinte Matt und ich musste gequält auflachen. Ich wusste, er würde das tun. „Komm uns mal besuchen“, sagte Izzy. „Ganz bestimmt. Irgendwann mal“, antwortete ich. „Gute Reise, Mimi. Und dass du mir immer fleißig lernst“, verabschiedete sich auch Joe von mir. Ich nickte und eine kleine Träne rollte mir über die Wange, die ich mir schnell wegwischte. Der Abschied fiel mir schwerer als ich für möglich gehalten hatte. „Na, dann …“, sagte ich und nahm meinen roten Koffer an mich. „Ich werde euch vermissen. Macht’s gut.“ „Wir dich auch“, sagte Sora und wir winkten uns zum Abschied, während ich den Gang zum Gate beschritt. Gerade, als ich durch die Kontrolle gehen wollte, hörte ich eine bekannte Stimme hinter mir meinen Namen rufen. Ich wirbelte herum, mit hämmernden Herzen. Sie hatten es geschafft. Er war hier. Endlich. „Mimi, warte“, rief Kari mir entgegen und kam auf mich zugestürzt. Ich machte den Leuten hinter mir platz und lief ihr in die Arme. „Du kannst doch nicht einfach abhauen, ohne, dass wir uns von dir verabschieden konnten“, seufzte sie und drückte mich fest an sich. Ich genoss diese letzte Umarmung so sehr, dass es weh tat. „Ich weiß. Tut mir leid. Schön, dass ihr es noch geschafft habt.“ Ich löste mich von ihr und mein Blick fiel auf denjenigen, der hinter ihr stand. Er hatte die Hände in den Hosentaschen versteckt und blickte verstohlen zur Seite, als könnte er mir nicht in die Augen sehen. Musste er es uns beiden denn so schwer machen? „Tai? Tai! Los, verabschiede dich von Mimi“, ermahnte ihn seine Schwester. „Ich wünsche dir einen guten Flug, Mimi. Und lass mal was von dir hören“, zwinkerte Kari mir zum Abschied zu. „Ganz bestimmt“, nickte ich. Sie ging zurück zu den anderen und nun war der Moment gekommen, vor dem ich am meisten Angst gehabt hatte. Ich hatte jedoch weniger Angst davor, ihm Lebewohl zu sagen als davor, dass er vielleicht meine Entscheidung ins wanken bringen könnte. Ich hatte Angst davor, ihn ein letztes Mal zu sehen, denn ich wusste, ich würde mich in diesem Moment fragen, ob es wirklich richtig war, was ich tat. „Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll“, ergriff Tai schließlich das Wort. Ich schüttelte den Kopf. „Ist schon in Ordnung. Du musst gar nichts sagen. Nimm mich … nimm mich einfach nur in den Arm.“ Tai drehte den Kopf und sah mich nun endlich an. Dann machte er einen großen Schritt auf mich zu und zog mich unvermittelt an sich. Ich schloss meine Arme um ihn, legte meine Wange an seine Brust und atmete ein letztes Mal seinen unvergleichlichen Duft ein. Ich spürte, wie Tai schwerfällig die Luft ausstieß. „Es ist so schwer, dich gehen zu lassen.“ „Dann komm doch mit“, sagte ich zum Scherz, doch mein Herz wusste, dass es keine Lüge war. Wie sehr hatte ich mir das gewünscht. Ich hörte, wie er grinste. „Du weißt, dass das nicht geht“, sagte er und drückte mir einen Kuss ins Haar, ehe er mich sanft von sich drückte. „Mein Leben ist hier, Mimi.“ „Ich weiß“, entgegnete ich verständnisvoll und traurig zugleich. Und meins war es nicht. Mein Leben wartete woanders auf mich und das wusste er. Und ich wusste, dass er wegen eines Kusses nicht alles hinter sich lassen würde. Das wäre zu viel verlangt. Auch wenn dieser Kuss so ziemlich das Beste war, was mir je passiert war. Doch wir hatten uns damals darauf geeinigt, dass es bei diesem einen Kuss bleiben würde. Dass wir unseren Gefühlen nicht nachgeben würden. Denn mein Plan, das Land zu verlassen, stand auch schon damals fest. Und wir wollten beide nicht, dass wir uns in eine Sache verrannten, von der wir wussten, dass sie kein gutes Ende nehmen würde. Und trotzdem war es der beste Geburtstag meines Lebens gewesen, als er mich geküsst hatte und ich würde ihn nie vergessen. „Da fällt mir was ein“, schoss es mir plötzlich durch den Kopf und ich griff nach meinem Ohrläppchen. Ich nahm den Ohrring ab und legte ihn Tai in die Hand. Es war ein kleiner goldener Stern. „Die Ohrringe hast du mir zum Geburtstag geschenkt, weißt du noch?“ „Natürlich weiß ich das noch.“ Grinsend runzelte Tai die Stirn. „Aber was soll ich damit?“ „Behalte ihn einfach. Damit du mich nicht vergisst“, lächelte ich. Tais Mundwinkel wanderten belustigt nach oben, doch er schloss trotzdem seine Hand um den kleinen Stern. „Als ob das jemals möglich wäre.“ Erneut zog er mich in eine Umarmung, die sich so schmerzhaft und endgültig anfühlte, dass es mir fast das Herz zerriss. „Ich werde dich vermissen“, sagte ich und schloss die Augen, um die Tränen zu unterdrücken. „Ich dich auch“, wisperte Tai. Als die Ansage durch die Halle drang, dass mein Flug bald starten würde, ließ er mich los. Ich beschloss es nicht noch schlimmer zu machen als es eh schon war und drehte mich einfach um, ging zu meinem Koffer. Kein Blick zurück. Ja, ich würde ihn wirklich vermissen. „Hey, Mimi!“ Seine Stimme drang aus der Ferne zu mir und ich warf einen letzten Blick über die Schulter. „Vielleicht komme ich dich irgendwann mal besuchen. Stehe einfach vor deiner Tür.“ Ich zog grinsend eine Augenbraue nach oben. „Das traust du dich eh nicht.“ „Werden wir sehen.“ Ich hob die Hand zum Abschied und zwinkerte ihm zu. Sein schiefes Grinsen war es, was mir als Letztes von ihm im Gedächtnis blieb. Als ich im Flugzeug saß, machte ich es mir bequem und steckte mir die Kopfhörer meines iPods ins Ohr. Gedankenverloren sah ich aus dem Fenster. Warum musste es nur so weh tun? Die Stimme der Sängerin von Echosmith erklang in meinem Ohr und trieb meine Gedanken erneut zu ihm. „Come with me And I'll take you away if you let me Stay with me And I'll cover your soul with my body Give me you're heart And I'll give you my love It's a work of art When you shine like the sun So give your heart to me Give your heart to me“ Ich schloss die Augen und sog das Gefühl in mich auf. Ich würde ihn vermutlich mehr vermissen als mir vorher bewusst gewesen ist. „Entschuldigung, ist hier noch frei?“ Eine Stimme drang an mein Ohr und ich entfernte meine Kopfhörer, um mich zu der Person umzudrehen, die mich angesprochen hatte. Mit großen Augen blickte ich in genau das Grinsen, welches ich zuletzt von ihm gesehen hatte. „T-Tai? Was machst du hier?“, fragte ich fassungslos. „Nach was sieht es denn aus?“, entgegnete er salopp und verstaute eine Tasche Handgepäck über uns, bevor er sich auf den Sitz neben mich fallen ließ. „Ich werde mir neue Sachen in New York kaufen müssen. Ich hatte gar keine Zeit richtig zu packen.“ Gestresst fuhr er sich durchs Haar. Fast wäre ich vor Aufregung von meinem Sitz aufgesprungen. „Sag mal, was wird das? Du willst doch nicht etwa …“, platzte es aus mir heraus. Ich konnte einfach nicht glauben, dass er hier war. Sein Grinsen wurde breiter und er lehnte mich zu mir herüber. „Du hast doch nicht wirklich geglaubt, dass du einfach so abhauen kannst? Ist dir denn völlig egal, wie sehr ich dich vermissen würde?“ Er strich eine Haarsträhne hinter mein Ohr, während ich ihn immer noch ungläubig anstarrte. „Aber … aber du kannst doch nicht einfach …“, sagte ich in einem Anflug von Protest, doch Tai verschloss meinen Mund mit seinen Lippen. „Doch, ich kann“, entgegnete er dann. „Ich komme mit dir. Und denk ja nicht, dass du mir das ausreden kannst.“ Er ließ sich in seinen Sitz fallen und sah sich suchend um. „Gibt’s hier eigentlich auch was zu essen? Ich habe einen Bärenhunger“, sagte er, als hätte er nicht mal eben eine Entscheidung getroffen, die sein ganzes Leben umkrempeln würde. „Hast du auch Hunger?“, fragte er mich. „Gott, was hast du?“, entfuhr es ihm jedoch gleich darauf, als er bemerkte, dass ich weinte. Doch ich konnte nichts dagegen tun. Die Tränen rollten einfach so über mein Gesicht. „Tut mir leid“, wimmerte ich und fiel ihm um den Hals. „Ich freue mich nur so sehr, dass du mitkommst. Auch wenn das total verrückt ist“, weinte ich an seiner Halsbeuge, während er beruhigend eine Hand an meinen Kopf legte. „Hör auf zu weinen, Mimi. Es ist alles gut. Ich bin hier und ich werde dich nie alleine lassen.“ Seine Worte klangen gedämpft in meinem Ohr, doch ich nickte trotzdem. Endlich waren wir zusammen … Plötzlich berührte mich jemand an der Schulter. Ich schrak hoch. Die Playlist lief immer noch. Eine Stewardess sah mich fragend an. „Miss?“ Ich richtete mich auf und nahm die Kopfhörer ab. „Äh … ja?“ „Wir wollen gleich starten. Würden Sie sich bitte anschnallen?“ „Oh ehm … ja, natürlich.“ Sie schenkte mir ein Lächeln und ging weiter. Gedankenversunken starrte ich auf den Sitz neben mir. Er war leer. Ich spürte, wie meine Augen feucht wurden. Es war nur ein Traum gewesen. Pure Fantasie, reines Wunschdenken, dass ich niemals laut aussprechen würde. Ich hatte keine Ahnung, dass es so sehr weh tun würde, ihn zurückzulassen. Offenbar hegte ich doch tiefere Gefühle für Tai, als ich mir bis jetzt eingestehen wollte und ich wusste nicht, was schlimmer war – weiter in Tokio leben zu müssen und meinen Traum aufzugeben oder ihn nicht mehr sehen zu können. Beides schien falsch zu sein. Gestresst legte ich eine Faust an meine Stirn. „Verdammt, Mimi. Was tust du hier nur?“ Taichi Ich ließ mich zurück ins Gras fallen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Du kannst schon mal vorgehen. Ich komme dann nach“, sagte ich an meine Schwester gewandt. Nach dem Abschied am Flughafen waren wir noch etwas spazieren gegangen und alle wollten sich danach noch in einer Bar treffen. Leider verspürte ich keine große Lust an dem Treffen teilzunehmen. „Ist gut. Kommst du zurecht?“, hakte Kari leicht skeptisch nach. „Ich werd’s überleben, Kari, okay? Also mach dir keine Gedanken.“ „Ist gut“, sagte sie leicht zögernd, ließ mich dann jedoch allein. „Dann bis später.“ Mein Blick wanderte gen Himmel, an dem gerade ein Flugzeug vorbeizog. Warum musste es so schwer sein, sie gehen zu lassen? Ich wusste doch, dass es so kommen würde, das hatte ich immer. Es stand nie die Frage im Raum, ob sie sich vielleicht umentscheiden könnte. Denn ich wusste, das würde sie nicht tun. Dafür kannte ich sie zu gut. Wenn sie sich einmal was in den Kopf gesetzt hatte … Seufzend schloss ich die Augen. Ich wünschte ich hätte sie noch ein letztes Mal küssen können. Aber was hätte das geändert? Außer, dass es nur noch mehr wehgetan hätte. Es war die richtige Entscheidung gewesen, diesen Gefühlen niemals nachzugeben. Mimis Entscheidung stand von Anfang an fest und sie konnte nun mal nicht beides haben – mich und New York. Unter anderen Umständen wäre ich vielleicht sogar mit ihr mitgegangen, wie ich es mir erträumt hatte. Doch es war einfach zu früh, alles hinter mir zu lassen. Dazu war ich nicht bereit. Mimi war schon immer ein Freigeist gewesen und ich konnte gut verstehen, dass sie sich in dieser Stadt, mochte sie auch noch so groß und bunt sein, eingeengt gefühlt hatte. Doch im Gegensatz zu ihr war ich hier einfach zu stark verwurzelt und egal, wie ich es drehte und wendete … es gab nun mal keine Zukunft, in der wir beide glücklich sein konnten. Auch wenn ich mir das immer gewünscht hatte. „Was machst du da?“ Ich wirbelte hoch und saß mit einem Mal kerzengerade im Gras. Hatte ich mir das nur eingebildet? Ich warf einen Blick über meine Schulter. „Schläfst du etwa schon wieder?“ Ihre Stimme klang so klar, dass es unmöglich ein Traum sein konnte. Sie stand vor mir. Einfach so. Genauso wie ich mich von ihr verabschiedet hatte, stand sie nun da und grinste mich an. „Mimi? Wieso … warum sitzt du nicht im Flugzeug?“ Sie kam zu mir und setzte sich neben mich ins Gras, während ich sie ungläubig anstarrte. „Kannst du dir das nicht denken?“ Ich starrte sie einfach nur an, wollte sie unbedingt berühren, um mich zu vergewissern, dass sie wirklich hier war. „Was guckst du denn so?“, fragte sie und drehte den Kopf in meine Richtung. „Kannst du es nicht glauben, dass ich zurückgekommen bin?“ „Nein, nicht wirklich …“, gab ich offen zu. „Dann muss ich dich wohl davon überzeugen“, grinste sie, lehnte sich zu mir und drückte mir einen Kuss auf die Wange. „Glaubst du’s jetzt?“ Ich atmete ihren Duft ein. Sie roch immer nach Rosen und mir war bis heute nicht bewusst, wie sehr ich diesen Duft an ihr liebte. „Warum bist du wieder hier?“, fragte ich sie. „Weil ich dich viel zu sehr vermisst hätte“, antwortete sie und strich mir liebevoll über die Stelle, wo sie mich eben geküsst hatte. „Das heißt, du gehst nicht weg? Du bleibst hier?“, hakte ich zweifelnd nach. „Ja, Tai. Ich bleibe hier.“ Ein Lächeln umspielte ihre Lippen und am liebsten hätte ich sie umarmt und nie wieder losgelassen. Ich wollte meine Hand an ihre Wange legen, doch das Vibrieren meines Handys lenkte meine Aufmerksamkeit auf sich … Es holte mich zurück in die Realität. Ich öffnete meine Augen und blickte in denselben Himmel wie eben. Sie war wieder nur meiner Fantasie entsprungen und ich wusste das. Doch irgendwie war das der einzige Weg, sie bei mir zu behalten. Das Wunschdenken, sie würde umkehren und hierbleiben, fand nur in meinem Kopf statt. Gedankenversunken holte ich mein Handy aus der Hosentasche und blickte aufs Display. Eine Nachricht von Mimi. „Werde planmäßig in 10 Stunden landen. Der Flug ist super öde. Freue mich jetzt schon auf deinen Besuch :-P“ Ich konnte ein Grinsen nicht unterdrücken und tippte schnell eine Antwort ein. „Meinen Besuch? Das traue ich mich doch eh nicht – deine Worte ;)“ Die Antwort kam prompt. „Vielleicht unterschätze ich dich ja auch, Taichi Yagami.“ Ich rollte mit den Augen. Sie war unmöglich. „Vielleicht. Mail mir deine Adresse.“ Ich steckte das Handy zurück in die Hosentasche und holte stattdessen den kleinen Stern hervor, den sie mir geschenkt hatte. Unfassbar, wie sehr sie mir bereits jetzt fehlte. Ich wusste selbst nicht, ob das nur so eine spontane Idee von mir war, oder ob ich es wirklich durchziehen würde. Vielleicht wäre ein Wiedersehen umso schmerzhafter für uns. Doch sie komplett aus meinem Leben streichen? Undenkbar. Ich würde es tun – irgendwann. Irgendwann würde ich zu ihr fliegen und sie wieder in meine Arme schließen. Und so lang würde ich sie festhalten. Und wenn es nur in meiner Fantasie war … „I think we dream So we don’t have to be apart for so long. If we’re in each other’s dreams We can be together all the time.“ - A.A. Milne, Winnie the Pooh Kapitel 2: Stars ---------------- Mimi Ich schmiss meine Tasche in die Ecke, genauso wie meine Schuhe und die Jacke. Ich musste schnell unter die Dusche. Hektisch eilte ich ins Schlafzimmer und kramte mir ein paar bequeme Klamotten aus dem Schrank, ehe ich ins Bad ging und die Dusche anstellte. Meine Sachen landeten auf dem Fußboden und als das heiße Wasser mich umhüllte, atmete ich das erste Mal an diesem Tag erleichtert aus. Endlich war Freitag und die Woche lag hinter mir. Eine Woche, die aus wenig Zeit und viel Arbeit bestand, da ich neben dem College für eine New Yorker Zeitung jobbte. Im Grunde war es eher so was wie ein unbezahltes Praktikum. Aber ich wollte unbedingt einen Fuß in die Tür kriegen, auch wenn ich noch lang nicht mit meinem Journalismus Studium fertig war. Es war immerhin eine Chance. Leider hieß das auch, dass ich extrem wenig Freizeit hatte – keine Zeit für Freunde, keine Zeit für irgendwelche Aktivitäten und das Schlimmste: keine Zeit für ihn. Nach einer viel zu kurzen Dusche stellte ich das Wasser ab und trat auf den nassen Fußboden meines kleinen Badezimmers. Das Apartment, was ich mir gemietet hatte, war nicht groß, aber es war bezahlbar. Und das war alles, was zählte. Von dem tropfenden Wasserhahn und den viel zu lauten Nachbarn mal abgesehen. Es war okay. Ich führte endlich das Leben, wie ich es mir immer vorgestellt hatte, frei und unabhängig. Ich trocknete mich ab, schlüpfte in kurze Stoffshorts und zog mir ein T-Shirt über. Meine Haare föhnte ich nur an und band sie dann zu einem unordentlichen Knoten zusammen. Meine Klamotten sammelte ich vom Boden auf und warf sie im Schlafzimmer aufs Bett. Ein Blick auf die Uhr. Kurz vor acht. Und ich hatte eine Verabredung. Nur, dass diese Verabredung bei mir zu Hause stattfand, anstatt in irgendeiner Bar in New York. Ich schnappte mir meinen Laptop und schlenderte damit in die Küche. Ich klappte ihn auf und fuhr ihn hoch, stellte ihn dann neben dem Herd ab, bevor ich eine Pfanne aus einem der Schränke kramte, um mir ein paar Nudeln zu braten. Es dauerte nicht lang, bis es klingelte und Tais Bild auf meinem Desktop erschien. Grinsend hob ich ab. Das Fenster ploppte auf und ein viel zu wacher Tai strahlte mir entgegen. „Guten Morgen, Prinzessin.“ Ich musste lachen. Es war immer wieder schön, am Ende der Woche seine Stimme zu hören. Irgendwie hatten wir es über das ganze letzte Jahr hinweg geschafft, regelmäßig Kontakt zu halten – obwohl ich das anfangs überhaupt nicht vorhatte. Erst hatte ich gedacht, es wäre für uns beide nicht gut, Teil im Leben des anderen zu sein, wenn wir doch eh immer getrennt waren. Doch Tai hatte einfach nicht lockergelassen und mir eine Mail nach der anderen geschrieben. Irgendwann kontaktierte ich ihn dann per Skype Videochat und als ich nach Monaten des Vermissens endlich sein Gesicht wiedersah … war das wie eine Erlösung. Hingegen aller Vernunft fühlte es sich gut an, ihm auf irgendeinem Weg nah zu sein und wenn es nur über die virtuelle Welt war. Seitdem skypten wir jeden Freitag um dieselbe Uhrzeit, weil das der einzige Tag war, an dem wir beide Zeit hatten. „Guten Morgen?“, lachte ich ihm entgegen. „Hier ist es bereits abends, schon vergessen? Wieso bist du eigentlich schon so wach?“, fragte ich stutzig. „Normalerweise siehst du aus, als wärst du gerade erst aus dem Bett gefallen, wenn wir um diese Uhrzeit skypen.“ „Jaah, normalerweise bin ich das ja auch“, erwiderte Tai grinsend. Ich unterbrach meine Kocherei und hielt kurz inne, um mit meinem Gesicht näher an den Bildschirm ran zu gehen. „Sag mal, bist du gar nicht zu Hause?“ Ich runzelte die Stirn. Hatte er etwa die Nacht durchgemacht und war noch gar nicht im Bett gewesen? „Nein, ehm … ich bin unterwegs“, erklärte er knapp und wich offensichtlich jemanden aus, der ihm entgegenkam. „Achso?“, fragte ich und machte mich daran, weiter die Nudeln zu wenden, die in der Pfanne vor sich hin brutzelten. „Und wohin, wenn man fragen darf?“ „Ich wollte mir ein Frühstück besorgen“, erklärte er mir kurz und knapp. Dabei schweifte sein Blick immer wieder ab, da er auf den Weg achten musste. Schmunzelnd zog ich eine Augenbraue nach oben. „Du lügst doch ohne rot zu werden. Also, wie heißt sie?“ Tai verdrehte die Augen und sah nun ernsthaft in die Kamera. „Ich lüge nicht und sie gibt es auch nicht. Was hast du da eigentlich an? Sieht ziemlich sexy aus.“ „Was …?“ Ich sah an mir hinab zu den kurzen Shorts, die ich trug. Dieser Lüstling. „Lenk nicht vom Thema ab“, tadelte ich ihn und hob den Desktop des Laptops etwas an, sodass er nicht mehr auf meine Beine starren konnte. „Hey!“, beschwerte er sich prompt. „Spielverderberin.“ Ich lachte, als Tai plötzlich abrupt stehen blieb. „So, ich bin da“, verkündete er. „Musst du schon auflegen? Du hast mir noch gar nicht erzählt, wie deine Woche war …“ Die Enttäuschung, die in meiner Stimme mitschwang konnte ich leider nicht verbergen. „Mache ich später“, sagte Tai, als wäre diese gemeinsame virtuelle Zeit überhaupt nicht kostbar für ihn. „Erst mal muss ich was essen. Meinst du, das Essen schmeckt hier? Riecht irgendwie nach Nudeln.“ „Nach Nudeln?“, lachte ich auf und sah ihn skeptisch an. „Du wolltest doch Frühstück besorgen. Bist du etwa vor einem Nudelrestaurant gelandet, oder wie?“ Tai zuckte unschuldig mit den Schultern. „Keine Ahnung. Sieht das für dich wie ein Nudelrestaurant aus?“ Dann drehte er die Kamera, sodass ich das Gebäude sehen konnte, vor dem er gerade stand. Ich kniff die Augen zusammen, um überhaupt was erkennen zu können. „Warum ist es bei dir so dunkel?“ Tai schwenkte die Kamera noch ein Stück weiter und ich konnte ein geöffnetes Fenster erkennen, aus dem Licht drang. Und etwas Rauch. „Das … das ist …“ „Jap“, sagte Tai, als er die Kamera wieder wendete. „Riecht eindeutig nach Nudeln.“ Ein spitzer Schrei entfuhr mir und ich ließ prompt den Pfannenwender fallen. „Tai, du … du bist jetzt nicht wirklich …“ Fassungslos sah ich ihn an, während er nur verstohlen breit grinste. „Sieh doch nach.“ Ich ließ den Laptop stehen und hechtete zum Fenster, um mich nach draußen zu beugen und nach unten zu sehen. Da stand er. Er stand einfach da unten. Direkt vor meiner Haustür. „Tai!“, schrie ich vor lauter Aufregung. Er sah zu mir nach oben und schaltete sein Handy aus. „Guten Morgen, Prinzessin. Lässt du mich rein?“ „Oh mein Gott“, entfuhr es mir und ich stieß mich vom Fenstersims ab, um zur Tür zu stürzen und ihm aufzumachen. Ich riss die Wohnungstür auf und blickte zum Fahrstuhl am Ende des langen Flures. Die Etagenanzeige sprang immer weiter nach oben und mit jedem Stockwerk, dass er überbrückte, schlug mein Herz einige Schläge schneller. Mein Puls raste, als sich endlich die Türen öffneten und Tai aus dem Fahrstuhl trat. Er hatte seine Reisetasche geschultert, grinste mir entgegen und ging geradewegs auf mich zu. Ohne nachzudenken stürmte ich ihm entgegen. Mit einem dumpfen Laut fiel seine Tasche zu Boden, als ich ihm in die Arme sprang. Sofort stieg mir der altbekannte, immer noch vertraute Duft in die Nase und ließ mein Herz für einen Moment aufhören zu schlagen. „Du … du bist hier.“ Ich konnte kaum atmen und es noch weniger fassen, dass er wirklich da war. War das auch kein Traum? „Ist ja gut“, lachte Tai, während er mich fest in seine Arme schloss. „Hol erst mal Luft.“ Ich löste mich von ihm und starrte ihn mit großen Augen an. „Du bist verrückt“, war alles, was ich hervorbrachte, denn ich versuchte noch immer zu begreifen, dass es diesmal die Realität war. Wir hatten so oft darüber gescherzt, dass er mich eines Tages besuchen kommen wollte. Aber ich hätte nie gedacht, dass er es tatsächlich tun würde. „Schon klar“, lachte er und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. „Bittest du mich jetzt endlich herein?“ Tai rümpfte die Nase und warf einen Blick über meine Schulter in Richtung Wohnung. „Sag mal, brennt’s bei dir?“ Ich wirbelte herum. „Ach du scheiße!“ Aus meiner Wohnung drang Rauch. „Die Nudeln!“ Ich rannte zurück in die Wohnung. Die Küche qualmte. Hustend und mit den Händen wedelnd kämpfte ich mich bis zum Herd vor, um die Pfanne vom Herd zu nehmen und in die Spüle zu schmeißen. Sofort drehte ich den Wasserhahn auf und öffnete alle Fenster, damit der Rauch abziehen konnte. Es dauerte nicht lange, dann lichtete sich der Qualm und Tai stand das Gesicht verziehend in meinem Wohnzimmer. „Das heißt wohl, es gibt keine Nudeln zum Frühstück“, stellte er belustigt fest und stellte seine Tasche neben dem Sofa ab. „Nein, sorry. Du hast sicher Hunger“, merkte ich an, schaffte es jedoch nicht den Impuls zu unterdrücken ihn anzustarren. Unfassbar, dass er tatsächlich von Tokio nach New York geflogen war, nur um mich zu sehen. „Was schaust du denn so?“, fragte Tai grinsend. „Tut mir leid“, sagte ich geistesabwesend und machte einige große Schritte auf ihn zu, nur um ihn erneut zu umarmen. „Ich muss mich einfach noch mal versichern, dass du wirklich da bist.“ Tai lachte auf und zog mich an sich. „Ich habe dir immer gesagt, dass ich irgendwann vor deiner Tür stehen werde.“ „Und ich hätte nie gedacht, dass du es wirklich tust.“ Wir mussten beide lachen, als wir uns voneinander lösten und Tai sich in meiner bescheidenen kleinen Wohnung umsah. „Nett hast du’s hier.“ „Na ja …“ Ich wippte unruhig mit den Füßen auf und ab. Die Wohnung war wirklich nicht besonders groß oder luxuriös. Im Gegenteil. Die Tapete war schon viel zu lang an den Wänden, das kleine Wohnzimmer war vereint mit der noch kleineren Kochnische und ich konnte froh sein, dass ich einen Kleiderschrank in mein Schlafzimmer bekam. „Es ist okay. Es ist alles, was ich mir zurzeit leisten kann“, sagte ich und zog Tai mit mir zum Sofa. Er ließ sich in den kleinen Zweisitzer plumpsen und streckte alle Viere von sich. „Ich finde es sehr gemütlich hier. Man, bin ich erledigt.“ Seine Knochen knackten, als er seinen Kopf nach links und rechts beugte. „Der Flug war viel zu lang und viel zu anstrengend.“ „Kann ich nachvollziehen“, kicherte ich, da ich diese Strecke schon mehr als ein Mal durchgemacht hatte. „Aber es hat sich gelohnt“, lächelte er dann und richtete seinen Blick auf mich. Seine Augen fixierten mich und ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. Schnell stand ich auf, damit er es nicht sehen konnte. „Wie lang willst du bleiben?“ „Dieses Wochenende?“ Stutzig grinsend sah ich ihn an. „Ehrlich? Du hast tausende von Kilometern zurückgelegt, nur um übers Wochenende zu bleiben?“ „Nun …“, meinte Tai und tat so, als würde er erst jetzt über diese Tatsache nachdenken. „Ich könnte auch für immer bleiben. Aber ich dachte, wir fangen mit diesem Wochenende an.“ Lachend schüttelte ich den Kopf. „Du bist echt verrückt.“ „Sagtest du schon.“ Eine Kurze Stille trat zwischen uns, in der wir uns einfach nur ansahen. Als müssten wir uns beide vergewissern, dass der jeweils andere vor einem stand. „Sag mal“, setzte Tai erneut an und seine Augen huschten von meinem Gesicht hin zu meinem Oberteil. „Mir ist das vorhin schon aufgefallen, als du mich umarmt hast, aber … ich muss das einfach wissen: trägst du gar keinen BH?“ Mein Mund klappte auf und ich starrte ihn empört an, ehe ich schleunigst meine Arme vor der Brust verschränkte. Dieser kleine, perverse … „Boah, Tai, ich … Ich habe eben nicht mit Besuch gerechnet. Man!“, fluchte ich und stapfte in Richtung Schlafzimmer, um mir was anderes anzuziehen. Sogar durch die Tür hindurch hörte ich ihn noch lachen. Das Schmunzeln auf meinen Lippen konnte ich mir nicht verkneifen. Es fühlte sich so unglaublich toll an, dass er hier war. Ich schlüpfte in Jeans, zog mir ein anderes Shirt an (diesmal mit BH) und öffnete meine Haare, damit ich sie schnell durchkämmen konnte. Dann ging ich zurück zu Tai ins Wohnzimmer, der gerade eine Nachricht in sein Handy tippte. Als er mich sah, steckte er es wieder ein. „Kari wollte nur wissen, ob ich gut angekommen bin.“ Ich setzte mich im Schneidersitz neben ihn und sah ihn erwartungsvoll an. „Also, was willst du machen? Ich meine, wir könnten ausgehen oder uns irgendeinen Film ansehen. Oh, warte … du bist sicher total müde und willst einfach nur schlafen, es ist schließlich schon spät. Ich könnte uns was zu Essen holen und dann legst du dich hin und …“ „Mimi“, unterbrach Tai mich in meinem Redefluss. Was wohl auch besser war, denn ich redete wie ein Wasserfall. „Sorry. Möchtest du was ganz anderes machen?“, fragte ich ihn verlegen. Tai zog eine Augenbraue nach oben. „Ich hab den totalen Jetlag. Ich habe im Flugzeug geschlafen und bei uns zu Hause wäre es jetzt früh am Morgen. Ich bin wach, also … zeig mir die Stadt. Und essen können wir auch unterwegs.“ Ungläubig sah ich ihn an. „Ich soll dir die Stadt zeigen? Jetzt?“ Tai lehnte sich zurück in die Kissen und zuckte mit den Schultern. „Klar, wieso nicht? Es ist Freitagabend. Ich dachte, New York schläft nie.“ Ein verschmitztes Grinsen legte sich auf seine Lippen. Ich erwiderte sein Grinsen und stand dann auf, um die Hände in die Hüfte zu stemmen. „Also gut, wie du willst. Ich zeig dir die Stadt. Es war eine atemberaubende Nacht – New York war atemberaubend. Dass ich eine tierisch anstrengende Woche hinter mir hatte und eigentlich dringend Schlaf benötigte, ignorierte ich. Tai war hier und das war alles, was zählte. Wir schlenderten über den Times Square, ich zeigte ihm einige für New York typische Bars, in denen ich meine wenige Freizeit verbrachte, wir spazierten durch den Zentral Park und wir aßen den weltbesten Hot Dog. Nach 02.00 Uhr nachts konnte ich jedoch mein Gähnen nicht mehr unterdrücken und sank immer weiter den roten Sessel hinab, während ich versuchte, die Flasche Bier, die ich in der Hand hielt, nicht über meiner Hose zu verschütten. „Willst du gehen?“, fragte Tai, der auf dem Sessel neben mir saß. Wir wollten unbedingt noch einen Absacker in einer meiner Lieblingsbars trinken, denn hier spielten jeden Abend Live-Bands und die Stimmung war entspannt und ausgelassen. „Was? Nein, wieso?“, entgegnete ich hellhörig und richtete mich wieder etwas auf, um wach zu werden. Tai lächelte nur wissend. „Meinst du, ich sehe nicht, wie müde du bist? Du brauchst Schlaf, Mimi. Ich weiß genau, wie hart deine Woche immer ist.“ Ich rollte zwar mit den Augen, aber er hatte recht. Ich war völlig erledigt. Mein Boss hatte mich extra Schichten schieben lassen, damit ich einige Artikel Korrektur lesen konnte. Er sagte, wenn ich mich gut anstellte, würde ich bald meinen eigenen ersten Artikel schreiben dürfen. „Aber ich wollte dir doch die Stadt zeigen“, beharrte ich unter einem Anflug von Protest, musste jedoch im nächsten Atemzug bereits erneut gähnen. Ein vielsagender Blick von Seitens Tai genügte und ich gab nach. „Schon gut, du hast ja recht. Vielleicht sollte ich wirklich etwas schlafen“, sagte ich. Wir stellten unsere noch halbvollen Getränke ab und verließen die Bar, die zum Glück nur ein paar Blocks von meiner Wohnung entfernt war. „Und was machst du jetzt, wenn ich schlafen gehe? Du meintest doch, du bist nicht müde.“ Tai zuckte mit den Schultern. „Ich werde mich einfach zu dir legen. Entweder ich schlafe auch ein oder ich beobachte dich beim Schlafen. Das wollte ich schon immer mal machen.“ Stutzig sah ich ihn an, während mir erneut heiß wurde. Doch dann lachte Tai plötzlich auf. „War nur ein Witz, Mimi. Jetzt schau doch nicht gleich so. Ich mache es mir natürlich auf dem Sofa bequem.“ Ich kicherte nervös, nicht wissend, ob ich erleichtert oder enttäuscht sein sollte. „Kommt gar nicht in Frage“, meinte ich dann. „Du bist der Gast, du bekommst das Bett. Schließlich hast du die halbe Welt überquert, nur um mich zu sehen.“ „Auch wieder wahr“, überlegte Tai und legte den Kopf schief. Dann sah er mich an und schenkte mir sein bezauberndstes Lächeln. „Und ich habe es bis jetzt keine Sekunde bereut.“ Seine Worte gingen mir direkt ins Herz. Ich wusste nicht wieso, aber trotz, dass wir über ein Jahr getrennt waren, fühlte ich mich Tai jetzt noch näher als je zuvor. Taichi Ich gähnte und rollte mich von der Seite auf den Rücken. Mit den Fingern fuhr ich über meine Augenpartien, ehe ich einen Blick auf den Wecker warf, der bei Mimi auf dem Nachttisch stand. 03.28 Uhr. Und ich tat kein Auge zu. Verdammter Jetlag. Doch das war nicht mein einziges Problem. Denn meine Gedanken glitten immer wieder zu Mimi ab. Zu unserem Abend. Wie sie sich gefreut hatte, als ich plötzlich vor ihr stand. Wie ich ihren Duft in mich aufnahm, als sie mich umarmte. Ich lächelte. Es war definitiv die richtige Entscheidung gewesen, zu ihr zu fliegen. Auch wenn ich schon jetzt wusste, dass nun der Abschied umso schmerzhafter werden würde. Aber daran wollte ich jetzt noch nicht denken, denn ich war endlich bei ihr und das war alles, was zählte. Und jetzt lag sie nebenan, nur eine Tür weiter. Uns hatten Monatelang ganze Kontinente getrennt und nun zu wissen, dass lediglich eine einfache Wand zwischen uns stand, war geradezu lächerlich. Keine Ahnung, wie ich es aushalten sollte, nicht durch diese Tür zu gehen und sie einfach an mich zu ziehen. Nur zu gerne würde ich diesem Impuls nachgeben, doch ich hatte sehr wohl mitbekommen, wie müde Mimi wirkte. Fast so, als hätte sie seit Tagen kein Auge zugetan. Sie musste wirklich eine harte Woche gehabt haben. Egal, ob ich nun hier war oder nicht, ich würde sie definitiv ausschlafen lassen. Dennoch schmiss ich die Decke zurück und stand auf, da Mimis Wohnung extrem warm war und ich Durst hatte. Ich öffnete leise die Schlafzimmertür und huschte ins Wohnzimmer, um mir eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank zu holen. Als ich am Sofa vorbeikam und einen Blick auf ihren Schlafplatz warf, musste ich jedoch feststellen, dass auch Mimi nicht schlief. Um genau zu sein – sie war gar nicht da. Ihr Bettzeug war zerwühlt, doch sie war nirgends zu sehen. Auch im Bad brannte kein Licht. Ich suchte den dunklen Raum mit den Augen ab und sah, dass das Fenster zur Feuertreppe weit geöffnet war. Natürlich. Wo sollte sie auch sonst sein. Ich schnappte mir zwei gekühlte Flaschen Wasser und stieg durch das Fenster. Ich ging die metallenen Treppen nach oben, ein paar Stockwerke, bis ich schließlich fast ganz oben war. Da saß sie. Mit nackten Füßen, nur in Shorts und Top gekleidet, die Haare zerzaust und war trotzdem wunderschön. Sie blickte in den Himmel und schien mich gar nicht wirklich zu bemerken, bis ich direkt vor ihr stand und ihr das Wasser vor die Nase hielt. „Durst?“ Sie lächelte müde und nahm die Flasche entgegen. „Danke.“ Ich ließ mich neben ihr nieder und sah sie mit etwas sorgenvollem Blick an. Ihre Augenringe sprachen Bände. „Kannst du nicht schlafen?“ Sie schüttelte den Kopf und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Nein. Ich habe Kopfschmerzen. Hab wohl ein bisschen zu viel getrunken.“ Stutzig zog ich eine Augenbraue in die Höhe, da ich sehr wohl wusste, dass Mimi lediglich ein Bier getrunken hatte. Aber ich ließ diese Aussage erst mal so stehen. „Du hast diese Woche viel gearbeitet, was?“, fragte ich dennoch, da ich mir irgendwie Sorgen machte. Wahrscheinlich war das total unbegründet, allerdings … Mimi war meine Freundin. Und so fertig wie gerade hatte ich sie noch nie gesehen. Seufzend stieß sie die Luft aus, ehe sie einen großen Schluck aus ihrer Wasserflasche nahm. „Ja, ich musste ein paar Überstunden machen, aber … ich weiß nicht. Irgendwie kann ich in letzter Zeit nicht besonders gut schlafen. Es ist seltsam. Immer, wenn ich todmüde ins Bett falle, bekomme ich Kopfschmerzen und kann nicht einschlafen. Und dann am Morgen … gehe ich zum College oder zur Arbeit und kann mich kaum konzentrieren. Es ist … es ist, als wäre ich gar nicht richtig da.“ Also doch. Mein Gefühl war richtig. Es ging ihr nicht gut und man sah es ihr an. Sie versuchte zwar, es zu verbergen, aber sie konnte vor mir nichts verheimlichen. Schon gar nicht, wenn ich ihr so nah war wie jetzt. „Warum hast du nichts gesagt? Ich wäre nicht gekommen, wenn ich gewusst hätte, dass du dich nicht gut fühlst“, sagte ich schuldbewusst. „Warst du schon mal beim Arzt deswegen?“ Sie quälte sich ein Lächeln ab „Sei nicht albern. Ich habe einfach zu viel gearbeitet. Das vergeht schon wieder. Ich brauche keinen Arzt. Und, dass du hier bist, ist das Beste, was in den letzten Monaten passiert ist. Das ist genau die Ablenkung, die ich brauche. Ich denke, ich habe mich einfach etwas übernommen. Diese vielen Überstunden und das alles …“ Sie versuchte sich rauszureden. Das wusste ich. Doch, was sollte ich tun? Sie bestand darauf, dass alles in Ordnung war und mimte die Starke. „Ich bewundere deinen Ehrgeiz, Mimi. Wirklich! Aber versprich mir, in Zukunft etwas mehr auf dich zu achten. Wenn du weiter so machst, wirst du noch krank und dann kannst du weder zum College, noch deinem Job nachkommen.“ Mimi starrte geknickt auf ihre Füße und wusste anscheinend nicht, was sie sagen sollte. Denn sie wusste, dass ich recht hatte. „Außerdem …“, fügte ich noch grinsend hinzu und stieß sie sanft in die Seite, um die Stimmung etwas aufzulockern „… stehen dir Augenringe gar nicht. Mal ehrlich, das sieht richtig verboten aus. Wenn du so vor die Tür gehst, machst du den Kindern noch Angst.“ Mimi lachte auf und stieß mich deutlich härter mit ihrem Ellenbogen zurück. „Du Idiot“, kicherte sie, ehe sie sich unvermittelt an meinen Arm klammerte und ihren Kopf auf meiner Schulter sinken ließ. Ihr rosiger Duft stieg mir erneut in die Nase und am liebsten hätte ich sie geküsst. „Du, Tai?“, fragte sie plötzlich leise. „Mmh?“ „Immer, wenn ich nicht schlafen kann, komme ich hier raus und schaue mir die Sterne an. Und dann … dann denke ich an dich.“ Mein Atem stockte und mein Herzschlag setzte eine Sekunde aus. Wow. So etwas Schönes hatte sie mir noch nie gesagt. Mein Blick folgte ihr nach oben in den wolkenlosen Sternenhimmel. „Das heißt also, du denkst jede Nacht an mich?“, neckte ich sie grinsend. Ich spürte, wie sie nickte. „Findest du das schlimm?“ „Nein, überhaupt nicht“, gestand ich. „Dann denkst du mindestens genauso oft an mich wie ich an dich.“ Mimi antwortete nicht, sondern sah einfach in die Sterne. „Findest du das schlimm?“, wiederholte ich ihre Frage, aus Angst, irgendetwas Falsches gesagt zu haben. Sie hob ihren Kopf und sah mich an. Ein Lächeln zierte ihr hübsches Gesicht. „Nein“, sagte sie leise. „Ich habe mir immer gewünscht, dass es dir genauso geht. Ich weiß nur nicht, was ich machen soll, wenn du in zwei Tagen einfach wieder verschwindest.“ Dieser Gedanke traf mich genauso hart wie sie. Wir wussten beide, dass unsere Zeit begrenzt war. Dass unsere Gefühle ein Ablaufdatum hatten. Ich betrachtete die Sterne, die lächelnd auf uns hinab leuchteten. Warum machten wir uns eigentlich so viele Gedanken? Wir waren doch hier. Jetzt gerade. In diesem Moment. Und ich wollte nicht, dass irgendetwas diesen Moment trübte – auch nicht der Gedanke, bald wieder ohne sie sein zu müssen. „Sieh mal da“, meinte ich und deutete nach oben. Mimi hob den Kopf etwas weiter an. „Wo?“, fragte sie verblüfft, doch dann weiteten sich ihre Augen vor Begeisterung. „Eine Sternschnuppe!“ „Schnell, schließ die Augen und wünsch dir was.“ Mimi setzte sich gerade hin, aufgeregt wie ein kleines Kind und schloss pflichtbewusst die Augen. Dann lächelte sie. „Meinst du, Wünsche können irgendwann in Erfüllung gehen? Auch wenn sie noch so abwegig sind?“ Ich nahm ihre Hand in meine und verschränkte unsere Finger miteinander. Sie öffnete ihre Augen und sah mich hoffnungsvoll an. „Ich denke, Träume können wahr werden, wenn wir es uns nur stark genug wünschen. Du kannst alles im Leben haben, wenn du bereit bist, dich deinen Träumen ganz hinzugeben“, sagte ich. „Ich will mit dir zusammen sein!“, sprudelte es plötzlich aus ihr heraus. Völlig perplex sah ich sie an. „Was?“ „Ich will mit dir zusammen sein, Tai!“, wiederholte sie noch einmal mit Nachdruck. Entschlossenheit leuchtete in ihren Augen auf und machte mich sprachlos. Wie machte sie das nur? Dieses Mädchen brachte es einfach fertig, mich seit einem Jahr völlig um den Verstand zu bringen. So sehr, dass ich sogar jegliche Vernunft über Bord geworfen und zu ihr geflogen war. Und jetzt … Jetzt, wo sie vor mir saß, mich mit ihren großen, haselnussbraunen Augen ansah, mir diese Worte entgegen schleuderte … ließ sie mein Herz noch höherschlagen und jeglicher noch so vernünftige Gedanke zerfiel zu Sand. Ohne nachzudenken legte ich eine Hand an ihre Wange und beugte mich zu ihr. Ihre weichen Lippen trafen auf meine und ich wusste nicht, wann ich mich jemals so vollkommen gefühlt hatte. Mit ihr schien alles so leicht und perfekt und erst jetzt bemerkte ich wirklich, wie sehr sie mir gefehlt hatte. Als wäre die ganze Zeit über ein Teil von mir fort gewesen. Und eben hatte ich ihn wiedergefunden. Wir küssten uns noch eine ganze Weile unter den Sternen und ich genoss ihre Wärme. Sog jede einzelne Berührung in mir auf, als wäre es unser erster und gleichzeitig unser letzter Kuss. Als müsste ich die Zeit anhalten. Doch irgendwann zwang ich mich dazu, mich von ihr zu lösen. Ich blickte auf ihre vom Küssen geschwollenen Lippen und fuhr sanft mit dem Daumen darüber. „Das war … unglaublich. Und ich würde gern die ganze Nacht lang mit dir hier sitzen und dich unter den Sternen küssen. Aber …“ „Aber?“, lächelte Mimi und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Ihr Atem streifte meine Haut. Sie war mir immer noch so nah, dass es mir unfassbar schwerfiel, sie nicht noch mal zu küssen. Dennoch stand ich auf. Verdutzt sah Mimi zu mir hoch. „Was hast du vor?“ „Das einzig Vernünftige“, grinste ich und hielt ihr meine Hand entgegen. „Ich werde dich jetzt zwingen ins Bett zu gehen. In dein Bett. Und dann werde ich dafür sorgen, dass du endlich ein Auge zu machst.“ Mimi schüttelte grinsend den Kopf, legte aber trotzdem ihre Hand in meine und ließ sich von mir hochziehen. „Na gut. Aber nur, wenn du mir noch einen Gute Nacht Kuss gibst.“ Mit einem Ruck zog ich sie an mich und schloss sie in meine Arme. „Das lässt sich einrichten.“ “Dreams do come true, if only we wish hard enough. You can have anything in life if you will sacrifice everything else for it.” ― J.M. Barrie, Peter Pan Kapitel 3: Connection --------------------- "If I could fall into the sky Do you think time would pass me by? 'Cause you know I'd walk a thousand miles If I could just see you tonight" ― Vanessa Carlton, A Thousand Miles Mimi Kaum zu glauben, dass schon vier Wochen vergangen waren, seit ich Tai das letzte Mal gesehen hatte. Nach seinem unerwarteten Besuch in New York, hatten wir ein traumhaftes Wochenende. Es war, als wäre das Stück, dass mir die ganze Zeit fehlte, zu mir zurückgekehrt. Und das hatte sich unglaublich gut angefühlt. Und jetzt? Vier Wochen später? … Stand ich hier und hatte mich kein einziges Mal bei ihm gemeldet. Seit vier Wochen hatte ich nicht seine Stimme gehört. Hatte seine Anrufe und Mailboxnachrichten ignoriert. Und das nur, weil ich vermutlich der dümmste Mensch auf der Welt war. Denn nun stand ich hier, in einem engen, stickigen Aufzug, den Finger schwebend über der Taste meines Handys. Sein Name leuchtete auf meinem Display auf. Er war nur einen Knopfdruck entfernt und trotzdem schaffte ich es nicht, abzuheben. Ich konnte es einfach nicht. Mein Herz hämmerte wie wild gegen meine Brust, meine Finger zitterten. Bis er aufgab. Eine weitere Nachricht auf meiner Mailbox erschien. Eine weitere Nachricht, die ich nicht abhören würde. Es würde mir das Herz zerreißen, seine Stimme zu hören. Seufzend und mit einem schlechten Gefühl in der Magengegend steckte ich das Handy wieder in meine Tasche. Warum konnte ich nicht das tun, was mein Bauch mir sagte? Wieso war ich nur so schwach? Das Wochenende mit ihm war atemberaubend gewesen und ihn nach einem Jahr wiederzusehen, war das absolut Schönste für mich. Ich wollte mit ihm zusammen sein. Das wollte ich wirklich! Aber da hatte ich nicht gewusst, dass zusammen sein auf dieser Distanz so schwer sein würde. Ich hatte ihn immer vermisst – während all der Zeit in New York. Aber nachdem er bei mir war, wir uns so nah wie nie zuvor gekommen waren … wurde aus dem einfachen Vermissen Sehnsucht. Schmerzhafte Sehnsucht. Und ich wusste, dass es ihm genauso ging. Wollten wir uns beide das wirklich gegenseitig antun? Der Fahrstuhl hielt plötzlich an und die Türen vor mir öffneten sich, was mich wieder zurück in die Realität riss. Ach, ja. Da war ja noch was. Nämlich mein Job, der gerade meine vollste Aufmerksamkeit forderte. Ich war auf einer After Show Party eingeladen, wo sich auch einige, der zur Zeit gefragtesten Models in New York befanden. Und ich sollte sie interviewen. Endlich! Ich durfte meinen eigenen Artikel schreiben. Die harte Arbeit der letzten Tage hatte sich also bezahlt gemacht und mein Chef setzte auf mich, dass ich diese Aufgabe nicht vermasselte. Ich hatte gerade schlichtweg einfach keine Zeit, an Tai zu denken. Ich musste das hier jetzt durchziehen. Und es war eine perfekte Ablenkung für meine Gefühle, die mich jeden Tag wieder zu übermannen schienen. Ich atmete noch einmal aus, strich mein schwarzes Kleid glatt und straffte die Schultern, ehe ich mein bezauberndstes Journalistin-Lächeln auflegte und aus dem Fahrstuhl trat. Ich mischte mich schnell unter die Leute, stellte mich vor und sprach mit den richtigen Personen, um neue Kontakte in der Branche zu knöpfen. Eins stellte ich ziemlich schnell fest: diese Leute liebten Alkohol. Viel, sehr viel Alkohol. Der Champagner, von dem ich nicht wissen wollte, wie teuer er war, floss in der Mitte des Raumes in einer gläsernen Pyramide verschwenderisch hinab. Nur so zur Deko. Natürlich gab es auch noch Angestellte, die das prickelnde Zeug auf Silbertabletts servierten. Oh, man. Wenn nur einer dieser Leute hier wüsste, in was für einer Behausung ich lebte … Tai hatte es nichts ausgemacht. Er hatte sich pudelwohl bei mir gefühlt. Ach, Tai … was er wohl gerade machte? „Hallooo?!“ „Ehm …“ Das blonde Model, das gerade vor mir stand und mit der ich eigentlich ein Interview führen sollte, wedelte aufgebracht mit der Hand vor meinen Augen rum. „Ja, bitte?“, fragte ich peinlich berührt. „Ob Sie das aufgeschrieben haben? Gott, warum schicken die eigentlich immer die Praktikanten?“, beschwerte sie sich lautstark, als wäre ich gar nicht anwesend und warf ihre langen Haare nach hinten. Was für eine Kuh. Immer schön freundlich bleiben, Mimi. „Keine Sorge, ich habe alles aufgeschrieben“, beschwichtigte ich sie, während sie die Hände in die Hüfte stemmte und mich von oben herab musterte. „Gut. Und schreiben Sie ja meinen Namen richtig. Ich werde das überprüfen. Mit C und nicht mit K, klar?“ „Ja, natürlich“, meinte ich nur und stöhnte in mich hinein. Das Model ließ mich ohne sich zu verabschieden stehen und begrüßte überschwänglich einige ihrer magersüchtigen Freundinnen. Ob die sich gegenseitig eigentlich leiden konnten? Schwer vorstellbar … Die Spitze meines Bleistiftes ruhte auf meinem Notizblock. Wie war ihr Name noch gleich? Irgendwas mit C oder K … keine Ahnung. Ich hatte es vergessen. Ohnehin war dieses Interview grottig gewesen und meine Notizen nicht zu gebrauchen. Na ja, wie auch immer. Vielleicht hatte ich ja bei der Nächsten mehr Glück. Ich drehte mich um und wollte gerade mein nächstes Zielobjekt ansteuern, als ich plötzlich ins Wanken geriet. Vor meinen Augen begann sich alles zu drehen und die lauten Stimmen im Raum drangen nur noch gedämpft an mein Ohr. Als würde mein Kopf unter Wasser stecken. Ich konnte mich gerade noch so auf den Beinen halten und schüttelte verwirrt den Kopf. Was war denn nun los? Warum war mir so schwindlig? So viel hatte ich doch gar nicht getrunken. Irritiert blickte ich mich um. Alle sahen mich an. Warum sahen mich alle an? Panik kroch in mir hoch und das Atmen fiel mir zunehmend schwerer. Ich griff an meine Brust, doch es wollte einfach kaum Luft in meine Lungen dringen. Alle sahen mich an. Alle lachten. Warum taten sie das? Sie sollten damit aufhören! Jemand trat vor mich und ich hob den Kopf. Schwitzte ich etwa? „Oh, Mimi.“ Was? Wieso war mein Boss hier? Er war doch übers Wochenende verreist. Was machte er hier? Wollte er mich kontrollieren? „Oh, Mimi. Du hast es wirklich vermasselt“, sagte er amüsiert, während ich ihn voller Entsetzen ansah. „Ich wusste, auf dich kann man sich nicht verlassen. Du bist eben nur eine kleine Praktikantin.“ Was zur Hölle …? Ich blickte mich um, panisch, völlig außer mir. Sie lachten. Sie lachten immer lauter. Er lachte, sie lachten. Alle lachten mich aus. „Aber … Aber ich habe d-doch …“, stammelte ich. „Ich habe doch das Interview geführt, ich habe doch …“ Ich sah hinab auf den Notizblock in meiner Hand und dort stand nur ein Wort. Versager. Was? Nein, das konnte nicht sein! Ich blätterte um. Versager. Versager. VERSAGER. Ja, so war es. Ich war ein Versager und sie lachten mich aus. „Hört auf“, begann ich zu wimmern und der Notizblock glitt mir aus der Hand. Er fiel zu Boden und ich neben ihm auf die Knie. Alle blickten von oben auf mich herab und dieses eine Wort, dass mein Schicksal besiegelte, hallte in meinem Kopf wieder. Ich kniff die Augen zusammen. Es tat weh. Es tat so weh. Sie sollten aufhören damit. Konnten sie mich nicht einfach in Ruhe lassen? „Hört auf! Hört endlich auf!“ Tränen rannen mir über die Wange, während ich meine Finger in meinen Haaren vergrub. Ihre Stimmen in meinem Kopf schmerzten und wurden immer lauter. „Hört auf, hört auf, HÖRT AUF!“ Ich schrie. Und plötzlich … wurde es ruhig. Das Einzige, was ich noch hörte, war mein eigenes, klägliches Wimmern. Ich wagte es, den Kopf zu heben und blickte in die Augen eines fremden Mannes, der vor mir kniete und mich besorgt ansah. Das war nicht mein Chef. Verwirrt und immer noch völlig aufgelöst sah ich mich um. Alle starrten mich an. Doch keiner lachte. Die Gespräche waren verstummt und der Mann, der vor mir kniete, legte mir eine Hand auf die Schulter. „Geht es Ihnen gut?“ Ich antwortete nicht, sondern richtete stattdessen meinen Blick auf den Notizblock neben mir. Er war leer. „Soll ich … soll ich einen Arzt rufen?“, fragte der Mann sorgenvoll. Endlich schaffte ich es, mich zu regen und schüttelte den Kopf. „Nein, es ist … mir geht es gut … es ist nur …“ Ich richtete mich auf und versuchte die Blicke zu ignorieren, die immer noch entsetzt auf mir ruhten. „Ich brauche frische Luft“, erklärte ich lediglich und drängte mich an dem Mann und den anderen Leuten vorbei, hinaus auf die Dachterrasse. Ich spürte, wie sämtliche Augen mir folgten. Konnten sie mich nicht einfach alle in Ruhe lassen? Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, wurde die Party fortgesetzt als wäre nichts gewesen. Musik und die Gespräche der Leute drangen durch die Glastür nach draußen, während ich erleichtert aufatmete. Frische Luft. Ja, das brauchte ich wirklich. So langsam ordneten sich meine Gedanken wieder und ich ging an den Rand der Terrasse, um mich auf der Brüstung abzustützen. Was um alles in der Welt war da drin mit mir geschehen? Hatte ich so was wie eine Panikattacke? Oder verlor ich jetzt völlig den Verstand? Getrunken hatte ich jedenfalls nicht genug, um diese Halluzinationen zu rechtfertigen. Aber zugegeben … es war nicht das erste Mal, dass ich mich merkwürdig benahm. In letzter Zeit hatte ich immer mehr das Gefühl mir selbst zu entgleiten. Als wäre ich nicht ich selbst. Es gab bereits einige merkwürdige Vorfälle, die ich jedoch alle dem Stress zuschob. Ein Mal war ich während einer Vorlesung panisch aus dem Hörsaal gestürmt, weil ich glaubte, ich hätte draußen jemanden schreien hören und keiner, der anderen hatte darauf reagiert. Ein anderes Mal las ich immer und immer wieder denselben Artikel, weil ich der Meinung war, dass der Fehler, den ich schon längst korrigiert hatte, immer wieder wie von Geisterhand auftauchte. Die halbe Nacht saß ich an diesem Artikel, weil er einfach immer wieder kam. Wie eine Fliege, die mich ärgern wollte. Ich dachte, der Laptop sei vielleicht kaputt und kaufte mir daraufhin am nächsten Tag einen neuen. Von den Kopfschmerzen und den Schlafstörungen mal abgesehen. Vielleicht hatte Tai recht gehabt und ich hätte wirklich zum Arzt gehen sollen. Tai … Der altbekannte Schmerz, wenn ich an ihn dachte, breitete sich erneut in meiner Brust aus und raubte mir den Atem. Ich dachte nicht weiter nach, sondern zückte mein Handy. Ich musste mit ihm sprechen … Jetzt! Taichi Wieder ging sie nicht ran. Und wieder wird sie keine meiner Nachrichten abhören. Schwer seufzend steckte ich das Handy zurück in meine Hosentasche und schloss die Tür zu meiner Wohnung auf. Was war nur mit ihr los? Wir hatten ein wundervolles Wochenende miteinander verbracht und Mimi sagte, sie wolle mit mir zusammen sein. Aber seit ich nach Tokio zurückgekehrt war, hatte sie sich nicht ein Mal bei mir gemeldet. Es hatte sich so richtig angefühlt, zu ihr zu fliegen. Warum fühlte es sich jetzt plötzlich falsch an? Lag es an mir? Hatte ich sie verunsichert? Lag es an den vielen Kilometern, die uns trennten? Wir hatten nicht direkt darüber gesprochen, ob der Kuss unter dem Sternenhimmel uns zu einem Paar gemacht hatte oder nicht. Und irgendwie war ich auch dankbar dafür. Ich wollte die wenige Zeit, die ich mit ihr hatte genießen und mich nicht fragen, wie es weitergehen sollte mit uns. Vielleicht war das ja der Fehler …? Was auch immer. Das ganze Grübeln brachte mich kein Stück weiter, solang Mimi nicht bereit war, mit mir zu reden. Ich öffnete die Balkontür, trat hinaus an die kühle Luft und lehnte mich über die Brüstung. Am liebsten würde ich sofort wieder in den Flieger steigen und zu ihr fliegen. Sie zur Rede stellen – warum sie nicht bereit war, uns eine Chance zu geben. Ich gab ja zu, eine Fernbeziehung auf diese Distanz ist nicht gerade einfach und war eigentlich das, was wir nie wollten, weswegen wir uns damals dazu entschieden hatten, unseren Gefühlen nicht nachzugeben. Aber … verdammt! Was sollte man denn tun, wenn das Herz so sehr nach jemanden verlangte, förmlich danach schrie? Ich hätte jetzt sagen können: ich hätte sie niemals küssen dürfen. Nicht das erste Mal. Und ganz sicher nicht das zweite Mal. Aber so sehr es auch wehtat, jetzt von ihr getrennt zu sein, so sehr wollte ich auch diesen Schmerz spüren. Denn er zeigte mir, wie viel sie mir bedeutete und dass ich für unsere Liebe kämpfen musste – ganz egal, wo auf der Welt sie war. Sie war die Eine, die ich immer lieben würde. Ob sie das nun wollte oder nicht. Das Klingeln meines Handys riss mich aus meinen Gedanken. Wahrscheinlich war das nur Kari, die fragen wollte, ob ich heute Abend zum Essen vorbeikomme. Ich holte das Ding aus meiner Hosentasche und wollte schon einfach so rangehen. Doch dann sah ich ihren Namen. Mimi. Groß und breit leuchtete er mich an, während mir das Herz in die Hose rutschte. Rief sie gerade wirklich zurück? Und ich war zu perplex um ran zu gehen? Gott, reiß dich zusammen, Tai! Schnell hob ich ab, ehe sie es sich wieder anders überlegen konnte. „Mimi?“ „Tai, ich …“ Ihre Stimme klang nur leise und sie musste gar nicht mehr sagen. Ich spürte, dass etwas nicht mit ihr stimmte … Mimi Es klingelte. Und ich wollte plötzlich nichts mehr, als dass er abhob. Obwohl ich ihn wochenlang zurückgewiesen hatte … ich war mir sicher, er würde rangehen. Tai ließ mich nicht im Stich. Niemals. Mein Herz schlug schneller, mit jeder weiteren Sekunde, in der er nicht abhob. Und dann … „Mimi?“ Ich schluckte. Ihn meinen Namen sagen zu hören war wie eine Erlösung für mich. Warum hatte ich ihn nicht schon eher zurückgerufen? Ich war so dumm … „Tai, ich …“, brachte ich lediglich hervor. Dann brach meine Stimme. Eine Träne rollte mir über die Wange und es war, als hätte Tai es gesehen. „Was ist passiert?“, fragte er sofort. Typisch, Tai. Ich konnte ihm eben nichts vormachen – nicht mal am Telefon. „Es ist …“ Ich musste erst mal Luft holen, also zwang ich mich, ein paar Mal so ruhig es ging ein und aus zu atmen und Tai gab mir die Zeit. „Es ist“, setzte ich erneut an „Es ist seltsam, Tai. Ich glaube, mit mir stimmt was nicht.“ Diesen Satz überhaupt laut auszusprechen, kostete mich einiges an Überwindung. Doch was eben auf der Party passiert war, konnte ich nicht länger ignorieren. Ich hatte ein Problem. Und das machte mich irgendwie hilflos. „Ich fühle mich nicht gut, Tai“, sagte ich schließlich. „Was meinst du damit, du fühlst dich nicht gut?“, fragte Tai sofort. Besorgnis und Aufregung schwang in seiner Stimme mit. „Bist du krank?“ „Nein … Nein, das ist es nicht“, antwortete ich. Ich hatte keine Ahnung, wie ich ihm das erklären sollte. „Ich habe einfach das Gefühl, dass ich nicht mehr ich selbst bin.“ Ich stützte mich auf der Brüstung ab und fuhr mir mit der freien Hand durchs Haar. „Hast du wieder zu viel gearbeitet?“, hakte Tai nach. „Nein … Ja, schon. Aber das ist es nicht.“ „Sondern?“ Ich überlegte. Wie sollte ich etwas erklären, dass ich selbst nicht verstand? Womöglich war ich am Ende tatsächlich nur gestresst und dies äußerte sich nun in Schlafstörungen und Panikattacken. Wäre jedenfalls nichts Ungewöhnliches und eine logische Erklärung. „Ich weiß nicht“, gab ich offen zu. „Wahrscheinlich hast du recht und ich bin einfach überarbeitet. Vielleicht brauche eine Auszeit von allem. Ich habe das Gefühl, dass mir irgendwie alles über den Kopf wächst.“ Stille. Warum sagte er nichts dazu? „Tai? Bist du noch da?“, vergewisserte ich mich. „Bin ich“, hörte ich ihn sagen und atmete erleichtert auf. „Warum kommst du nicht zu mir, Mimi?“ „Was?“ Irritiert hob ich eine Augenbraue. „Wie meinst du das, ich soll zu dir kommen?“ „Ich meine damit, dass du dir diese Auszeit einfach gönnen solltest. Kauf dir ein Ticket und flieg zu mir nach Tokio.“ Ich lachte auf. „Tai … das kann nicht dein Ernst sein. Ich kann doch nicht einfach …“ „Du kannst“, unterbrach Tai mich und klang dabei ziemlich entschlossen. Wow. Er meinte es also wirklich ernst. „Komm nach Hause, Mimi. Komm zu mir zurück.“ Er klang weder bittend, noch flehend. Er sagte es mit einer Überzeugung, als wäre es das einzig Richtige für mich. Und tief im Inneren wusste ich, dass er recht hatte. Mein Traum hier zu leben, wuchs mir so langsam über den Kopf und der Gedanke, jetzt bei ihm zu sein, fühlte sich verlockender an denn je. Tai war so was wie mein sicherer Hafen. Mein Anker, bei dem ich mich voll und ganz fallen lassen konnte. Ich lehnte mich locker gegen die Brüstung und warf einen Blick hoch in den Himmel. Dann lächelte ich. „Weißt du, was ich mir gerade ansehe?“ „Was?“ „Die Sterne.“ Ich konnte hören, wie er verschmitzt grinste und stellte mir sein Gesicht dabei vor, denn er wusste genau, dass ich immer an ihn dachte, wenn ich mir die Sterne ansah. „Tja, ich wünschte, ich könnte dasselbe behaupten“, sagte er amüsiert. „Aber ich sehe hier keine Sterne.“ „Bist du gar nicht böse auf mich, weil ich mich nicht gemeldet habe?“, platzte es plötzlich aus mir heraus, da mir diese Frage schon die ganze Zeit auf der Zunge lag. „Wieso sollte ich?“, entgegnete Tai ruhig. „Ich habe dich sehr vermisst und wäre am liebsten mit den nächsten Flieger zurück nach New York geflogen. Aber ich dachte mir, dass du sicher deine Gründe hast. Und außerdem …“ „Außerdem?“, hakte ich weiter nach. „Außerdem wusste ich, dass du es nicht ewig ohne mich aushältst.“ Sein gewitztes Grinsen konnte ich bis hier her hören. „Du arroganter Kerl“, lachte ich auf, musste jedoch zugeben, dass er recht hatte. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, zu glauben, dass ich ihm und meinen Gefühlen ewig aus den Weg gehen konnte? Oh Mimi, wie dumm du doch warst … Auch Tai musste lachen und ich war froh, dass wieder alles in Ordnung zwischen uns war. „Es tut so gut, deine Stimme zu hören“, gab ich zufrieden zu. Mir wurde ganz warm ums Herz. Als wäre schon wieder mein verlorener Teil zu mir zurückgekehrt. „Und weißt du was?“, fügte ich noch hinzu. „Wenn ich könnte, würde ich sofort den ganzen Sternenhimmel überbrücken, um dich zu sehen.“ Tai schwieg kurz, sagte dann jedoch: „Dann tu`s doch einfach.“ Ich wollte erneut protestieren, doch Tai ließ mir keine Zeit dazu. „Warum tust du nicht ein Mal das, was dein Herz dir sagt, Mimi? Ich weiß genau, dass du gerade nicht glücklich bist und ich weiß, dass du jetzt genauso gern bei mir wärst wie ich bei dir. Warum erlauben wir uns nicht, unsere Gefühle zuzulassen? Warum machen wir es uns so schwer, wenn wir doch beide wissen, was das Richtige ist?“ Seine Worte gingen mir unter die Haut. Warum fühlten sich diese Worte an, als wären sie direkt aus meinem Herzen gekommen? Und warum erlaubten wir unseren Herzen nicht, zusammen zu sein, wenn sie schon im selben Takt schlugen? „Du hast recht“, sagte ich plötzlich. „ … Was?“ „Du hast recht“, wiederholte ich mit Nachdruck. „Okay, das war jetzt irgendwie zu einfach“, überlegte Tai stutzig und ich musste lachen. „Aber du hast recht, Tai. Was soll ich sagen? Wir haben schon viel zu lang darauf verzichtet beieinander zu sein. Und ich kann dir auch nicht versprechen, dass ich mein Leben hier von heute auf morgen aufgeben werde. Aber ich kann dir versprechen, dass ich morgen bei dir sein werde. Ich will mir endlich wieder gemeinsam mit dir die Sterne ansehen.“ „Du willst … Warte mal! Hast du gerade gesagt, dass du morgen hier sein wirst?“, hakte Tai ungläubig nach. Ich nickte, auch wenn er es nicht sehen konnte. „Habe ich.“ „Mimi, bist du dir …?“ „Ich war noch nie so sicher, wie jetzt gerade“, beendete ich seinen Satz. Ich konnte hören, wie er lächelte und ich stellte mir vor, wie es sich anfühlt, sein Lächeln wiederzusehen. „So, tut mir leid, Tai, aber ich muss jetzt auflegen. Ich muss einen Flieger erwischen.“ Tai lachte. „Du bist total verrückt.“ „Manchmal muss man verrückte Dinge tun, um glücklich zu sein.“ Der Gedanke, morgen endlich wieder bei ihm zu sein, fühlte sich so befreiend an. Viel befreiender als ihm aus den Weg zu gehen. Also, wie konnte das dann falsch sein? „Ich freue mich auf dich, Mimi“, sagte Tai zum Abschied. „Ich freue mich auch“, lächelte ich zufrieden, bevor ich auflegte. Wie hatte ich nur ernsthaft glauben können, dass ich für diesen Jungen nicht um die halbe Welt fliegen würde, um ihn zu sehen? Und um ehrlich zu sein, hätte ich das schon viel eher tun sollen. Wie viel Zeit hatten wir verloren, weil ich an der Vorstellung festgehalten hatte, wir könnten es nicht schaffen? Wenn es jemand schaffen konnte, dann wir. Davon war ich nun fest überzeugt. Überschwänglich und mit Schmetterlingen im Bauch drehte ich mich um. Ich würde in diesen Flieger steigen und nichts und niemand würde mich davon abhalten können. Bis auf mein Kopf … Ich schwankte zur Seite, stolperte und fiel hin. So plötzlich, wie der Schmerz vorhin verschwunden war, so plötzlich war er wieder da, zog sich durch meinen ganzen Kopf, bis hin in meine Fingerspitzen. Ich verkrampfte mich. Meine Fingernägel bohrten sich in die Innenseite meiner Hand. Ich versuchte den Kopf zu heben, doch alles, was ich erkennen konnte, waren Lichter, die sich miteinander vermischten, zu einer großen bunten Welle wurden. Bis die Lichter schließlich schwarz wurden und die Welt gänzlich vor meinen Augen verschwand … Taichi „Ich freue mich auch“, sagte sie und legte auf. Ich steckte das Handy zurück in die Hosentasche und sah geradewegs in den Himmel. Ein Lächeln zierte mein Gesicht. Morgen würden wir uns die Sterne endlich wieder gemeinsam ansehen können. Ich war so froh, dass sie angerufen und sich mir anvertraut hatte. Mimi brauchte mich jetzt mehr denn je und ich hatte vor, für sie da zu sein. Egal, was es kostete. Mein Herz erwärmte sich bei dem Gedanken daran, dass ich sie morgen endlich wieder in meine Arme schließen und ihren Duft einatmen konnte. Wahrscheinlich wäre es besser, wenn ich vorher noch den Kühlschrank auffüllte. Mimi hatte schließlich gar nicht gesagt, wie lang sie vorhatte zu bleiben. Doch selbst, wenn es nur ein Tag sein sollte – wir würden ihn voll und ganz auskosten. Ich wandte mich um und legte eine Hand auf den Griff der Balkontür, als mich plötzlich ein Schmerz durchzuckte. Abrupt blieb ich stehen und starrte auf meine Hände. Der Schmerz zog sich bis in die Fingerspitzen. Dann setzte er sich in meinem Herzen fest und raubte mir fast den Atem. Ein Gefühl, dass ich gerade etwas Wichtiges verlor, erfasste mich mit so einer Heftigkeit, dass ich zu Boden sank und mein Shirt umklammerte. Meine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Woher diese plötzliche Angst kam, wusste ich nicht. Auch nicht, warum sie sich tief in mein Herz setzte, dort einnistete, als würde sie nie wieder von dort verschwinden. Gerade noch fühlte ich mich vollkommen und jetzt … Jetzt war es, als würde eine tiefe Leere mich erfüllen. Als hätte man mir den Teil, den ich gerade erst wiedergefunden hatte, wieder entrissen … Kapitel 4: Gold --------------- Taichi Nach dieser Panikattacke auf dem Balkon hatte ich nicht lange überlegt und mir ein Flugticket nach New York gekauft. Ich hatte alle meine Termine abgesagt und ich wartete auch nicht darauf, ob Mimi nicht doch am nächsten Tag vor meiner Tür stand – denn ich wusste, das würde nicht passieren. Ich hatte noch ein paar Mal versucht, sie zu erreichen, doch ihr Handy war abgeschaltet. Dieses Gefühl der Angst, die ich empfunden hatte und diese Enge, die sich auf meine Brust legte … ich konnte es mir nicht erklären. Ich wusste nur, dass es mit Mimi zusammenhing. Und dass es ihr nicht gut ging. Das spürte ich einfach. Kari und meine Freunde hatten mich für verrückt erklärt, einfach wegen einer Vermutung wieder nach Amerika zu fliegen. Doch sie verstanden nicht, wie stark unsere Verbindung war. Mimi brauchte mich. Und ich musste bei ihr sein – jetzt. Allerdings stellte sich dieses Bedürfnis als schwierig umsetzbar heraus. Denn Mimi war verschwunden. Als ich vor ihrer Wohnung stand, war sie dort nicht anzutreffen. Leider hatte der Flug länger gedauert als geplant. Alle Plätze waren ausgebucht, also musste ich über viele Umwege nach New York gelangen, wodurch ich insgesamt drei Tage verlor. Ich klingelte noch mal und hielt sogar einen Nachbarn auf, der gerade aus dem Wohnblock kam. Doch auch er hatte Mimi seit Tagen nicht gesehen. Verdammt! Wo konnte sie nur sein? Ich beschloss in sämtlichen Krankenhäusern in der Nähe anzurufen, doch auch da konnte man mir auf Grund der Schweigepflicht keine Auskunft geben, bis auf die Information, dass sich dort aktuell keine Mimi Tachikawa befand. Meine nächste Idee war, Mimis Eltern in Japan zu kontaktieren. Doch auch dort ging immer wieder nur der Anrufbeantworter ran. Nun stand ich da – ziemlich hilflos und wusste nicht weiter. Ich hätte Mimis Freunde gefragt, wenn ich gewusst hätte, wen ich fragen sollte. Hatte sie überhaupt viele Freunde hier in New York? Und wenn ja, wussten sie, wo sie war? Ich wusste, an welchem College Mimi studierte und beschloss, mich dort nach ihr zu erkundigen. Dort konnte man mir allerdings nur sagen, dass sie seit Tagen zu keiner Vorlesung mehr erschienen war. Also ging diese Spur auch ins Leere. Ich wusste noch nicht mal, bei welcher Zeitung Mimi arbeitete. Es gab unendlich viele Klatschpressen in New York. Wo sollte ich da nur anfangen? Und warum, zum Teufel noch mal, kam es mir so vor, als würde ich viel zu wenig über ihr Leben wissen? Wir redeten oft über so vieles, aber nie über die wichtigen Dinge. Ich hatte keine Ahnung, wer ihre Freunde hier waren, wo sie arbeitete und ich hatte absolut keine Idee, wo sie sich jetzt befand und ob es ihr gut ging – was das Schlimmste von allem war. Aber eins stand fest: Mimi verschwand nicht einfach von heute auf morgen, wenn es ihr gut gehen würde. Ich musste sie so schnell wie möglich finden. Mit diesen Gedanken öffnete ich die Tür meines Hotelzimmers und ließ mich aufs Bett fallen. Gestresst fuhr ich mir durchs Haar. Mimi, wo steckst du nur? Mein Handy klingelte. Ich zog es aus meiner Hosentasche und hob ab. „Ja?“ „Tai, wie geht’s dir? Bist du schon weitergekommen?“, platzte es aus Kari raus. Sie machte sich wohl große Sorgen. Sonst würde sie nicht so oft anrufen. Ich rieb mir mit den Fingern über die Augenpartien. „Mir geht’s gut. Und leider bin ich bis jetzt noch nicht weitergekommen. Jede Spur hat sich im Sand verlaufen“, erzählte ich ihr geknickt. Dann seufzte ich und starrte an die weiße Zimmerdecke. „Ich weiß ehrlichgesagt nicht, wo ich sie noch suchen soll.“ Kari schwieg kurz, doch dann sagte sie: „Komm doch nach Hause, Tai.“ „Was?“, entgegnete ich skeptisch. Hatte ich mich gerade verhört? „Warum kommst du nicht nach Hause?“, wiederholte Kari. Sorge schwang in ihrer Stimme mit. „Das bringt doch alles nichts. Du weißt nicht mal, wo sie sich gerade befindet und du hast keine Ahnung, wo du anfangen sollst. Du suchst eine Nadel im Heuhaufen, Tai. New York ist so groß. Du wirst sie dort niemals finden.“ „Ist das dein Ernst?“, erwiderte ich fassungslos. Wie kam sie darauf, dass ich den weiten Weg gemacht hatte, um jetzt einfach aufzugeben? Um Mimi aufzugeben? „Tai, du bist jetzt schon seit zwei Wochen dort und hast nicht die geringste Spur“, legte Kari nun die nackten Tatsachen auf den Tisch. Die allerdings nichts an meiner Entscheidung änderten. „Das ist mir egal. Ich bleibe“, beharrte ich entschlossen. „Bis ich sie gefunden habe und weiß, was mit ihr passiert ist.“ Karis tiefes Seufzen war nicht zu überhören. Doch dann lachte sie plötzlich leise auf. „Du bist ja schon genau wie sie.“ „Wie?“ „Genauso dickköpfig.“ Ich musste grinsen. Das war mir bis jetzt noch gar nicht wirklich aufgefallen. „Kann sein“, sagte ich lächelnd, weil sie irgendwie recht hatte. Mimi hätte auch nicht aufgehört mich zu suchen. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, hielt sie nichts und niemand davon ab, das auch durchzuziehen. Umso verwunderlicher, dass sie nicht in den Flieger gestiegen war, wie sie es angekündigt hatte. „Wahrscheinlich habt ihr doch mehr gemeinsam als ich dachte“, gab sich Kari schließlich einsichtig. „Ich wünsche dir noch viel Glück. Du wirst sie finden, Tai!“ Ich nickte entschlossen. „Das werde ich.“ Wir legten auf und ich ließ das Handy neben mir aufs Bett sinken. Mimi war irgendwo da draußen. Davon war ich überzeugt. Und ich musste sie nur finden. Ich musste den Menschen wiederfinden, der es geschafft hatte, dass ich mich vollkommen fühlte. Aufgeben kam nicht in Frage. Aber wo sollte ich anfangen? Wo sollte ich noch suchen? Ich hatte keine Hinweise mehr, die mich irgendwie weiterbringen würden. Und jeden Tag wieder vor ihrer Wohnung zu stehen und zu hoffen, dass sie vielleicht doch da war, war auch keine Lösung. Ich musste mir etwas einfallen lassen. Oder ich brauchte ein Zeichen. Irgendeine göttliche Fügung, die mich zu ihr führte. Aber solche Wunder gab es wohl nicht … Mein Handy klingelte erneut. Wahrscheinlich war es noch mal Kari, die etwas vergessen hatte, zu erzählen. Doch als ich aufs Display blickte, runzelte ich verwundert die Stirn. Eine unbekannte Nummer. Irritiert hob ich ab. „Hallo? Taichi Yagami hier.“ „Tai? Tai, bist du`s?“, fragte eine unbekannte, weibliche Stimme. Eine Stimme, die mich offensichtlich zu kennen schien. „Ja, ich bin`s. Wer spricht denn da?“ „Ich bin`s, Satoe. Mimis Mutter.“ Mit einem Mal saß ich kerzengerade im Bett. Ich presste das Handy so stark an mein Ohr, dass es beinahe wehtat und mein Atem beschleunigte sich vor Aufregung. „Frau Tachikawa! Tut mir leid, ich habe Sie nicht gleich erkannt“, entschuldigte ich mich schnell. „Ist schon in Ordnung“, gab sie zurück. Mein Herz hämmerte so stark gegen meine Brust, dass ich vor lauter Aufregung fast das Luftholen vergaß. „Ich habe eben unseren Anrufbeantworter zu Hause abgehört. Du hattest mehrere Male versucht, uns zu erreichen, stimmts?“, fragte sie. „Stimmt. Wissen Sie vielleicht, wo Mimi ist? Ich kann sie seit Tagen nicht erreichen“, platzte es sorgenvoll aus mir heraus. Oh, bitte. Sie musste mir einfach helfen können. „Ja … Ja, ich weiß, wo Mimi ist, aber ich …“, sagte sie mit leichter Unsicherheit in der Stimme. Was? Wieso redete sie nicht weiter? „Bitte, Frau Tachikawa. Sie müssen mir sagen, wo sie ist. Damit ich zu ihr kann“, flehte ich sie an. Wollte sie mir etwa gar nicht helfen? Warum zögerte sie so sehr? „Ich weiß, wo Mimi ist, denn ich bin bei ihr“, erklärte Satoe mir. „Ich bin mir nur nicht sicher, ob sie dich sehen möchte.“ Was? Mein Herz zog sich schmerzhaft in meiner Brust zusammen, während ich einfach nicht fassen konnte, was sie gerade gesagt hatte. Mimi wollte mich nicht sehen? Das konnte nicht sein. „Aber ich muss zu ihr, ich …“ „Es geht ihr sehr schlecht, Tai.“ „Was? Aber was soll das heißen?“, hakte ich aufgebracht nach. Das durfte einfach nicht wahr sein. Da bekam ich endlich jemanden zu sprechen, der wusste, wo Mimi war und dann sagte sie mir, dass Mimi mich nicht sehen wollte? Nein, das konnte ich unmöglich hinnehmen. „Bitte, helfen Sie mir. Sagen Sie mir, wo Mimi ist. Oder zumindest, was passiert ist. Ich weiß einfach nicht, wie ich sonst zurück nach Hause fliegen soll, wenn ich nicht weiß, wie es weitergeht.“ „Du bist hier?“, fragte Mimis Mutter erstaunt. „Ich bin in New York, ja. Ich hatte so ein Gefühl, dass etwas mit Mimi nicht stimmte. Sie wollte mich besuchen, aber … sie kam nicht. Deswegen bin ich hergeflogen. Ich spüre einfach, dass es ihr nicht gut geht und ich möchte für sie da sein. Bitte. Mehr verlange ich gar nicht.“ Ich hatte noch nie im Leben um etwas so sehr gefleht, aber wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann wäre es der Wunsch, Mimi wiederzusehen. Und sei es nur für einen Augenblick. Satoe schwieg eine Weile, als müsste sie über meine Worte nachdenken. Jede Sekunde, in der sie nichts sagte, brachte mich beinahe um den Verstand. „Ich wusste nicht, dass ihr euch so nahe steht“, sagte sie schließlich und ich atmete erleichtert aus. „Doch. Wir stehen uns sehr nahe. Mimi ist … Sie ist der wichtigste Mensch in meinem Leben.“ Diese Worte auszusprechen, fiel mir leichter als erwartet, denn sie waren die reine Wahrheit. Allerdings hätte ich mir gewünscht, sie das erste Mal zu Mimi selbst sagen zu können. „Oh, Tai“, meinte Satoe und begann zu schniefen. Weinte sie etwa? „Sie wird mich vermutlich dafür hassen, aber … ich kann sie nicht länger so leiden sehen. Wenn du ihr irgendwie helfen könntest, ihren Lebensmut wiederzufinden … ich wäre unendlich dankbar dafür.“ Ihre Worte machten mir Angst und gleichzeitig Hoffnung. Was war nur mit ihr passiert? „Sagen Sie mir, wo sie ist“, forderte ich nun etwas deutlicher ein. Sie musste wissen, wie ernst es mir mit ihrer Tochter war. „Ich schicke dir die Adresse. Wir sind in Kalifornien. Wann kannst du hier sein?“ In Kalifornien? Aber wieso … „Morgen. Ich werde morgen da sein“, versprach ich und hoffte gleichzeitig inständig, dass ich gleich noch einen Flug buchen konnte. „Ist gut. Bis dann, Tai. Und … danke.“ Ich verabschiedete mich und legte auf. Sofort sprang ich vom Bett auf und packte meine Sachen. Während ich alles in den Koffer schmiss, klingelte mein Handy. Eine Nachricht mit der Adresse, wo Mimi sich befand. Los Angeles also. Ich schnappte meinen Laptop und klappte ihn auf, um den nächstmöglichen Flug zu buchen. Zu meinem Glück ging schon in wenigen Stunden einer. Kein Problem, das war auf jeden Fall zu schaffen. Halte durch, Mimi … In Los Angeles angekommen, fuhr ich sofort zu der Adresse, die Satoe mir geschickt hatte. Sie führte in ein Hotel, wo Satoe und ihr Mann untergekommen waren. Dort war eine Nachricht für mich hinterlegt, dass sie sich am Strand von Malibu befanden und eine weitere Adresse, zu der ich gerne hinkommen könne, wenn ich wollte. Wenn ich allerdings zu kaputt war, wäre es auch in Ordnung, wenn ich mich erst einmal auf meinem Zimmer ausruhte. Ein verlockender Gedanke, denn ich fühlte mich müde und ausgelaugt, da ich vor lauter Sorgen kein Auge zugetan hatte. Doch Mimi war wichtiger. Ich gab mein Gepäck auf und schnappte mir das nächstbeste Taxi, dass vor dem Hotel hielt. Ich zeigte ihm die Adresse und weitere endlos lange Minuten verstrichen, bis ich endlich da war, wo ich hinwollte. Bei ihr. Ich fand Mimis Eltern in einem Café. Beide begrüßten mich herzlich. Mimi war jedoch nicht bei ihnen. „Tai, wie schön, dass du es geschafft hast“, sagte Satoe und umarmte mich. „Wo ist sie?“, platzte es gleich aus mir heraus, was vermutlich ziemlich unhöflich war. Aber ich konnte keine Sekunde länger warten. Satoe nickte ihrem Mann stumm zu und wies mich dann an, ihr zu folgen. „Komm, ich bringe dich zu ihr.“ Wir gingen nur wenige Meter, bis wir an den Strand kamen. Mit den Füßen im Sand blieb ich stehen und sah mich um. Es war schon spät und die Sonne ging langsam unter. Sie ließ den Sand golden erstrahlen und plötzlich … sah ich sie. Sie saß mit dem Rücken zu uns, nah am Meer, die Beine angezogen und lauschte den Wellen. Ihr offenes Haar wehte leicht im Wind und ich hätte nichts lieber getan, als sofort zu ihr zu rennen, ihr Gesicht in meine Hände zu nehmen und sie zu küssen. „Sie sitzt seit Stunden schon da. Und starrt apathisch aufs Meer hinaus“, ergriff Satoe das Wort. Ich folgte ihrem Blick, der unergründlich traurig wirkte. „Was ist mit ihr?“ „Weißt du, sie ist … sie ist …“ Sie wischte sich schnell eine Träne weg und versuchte sich zu sammeln, ehe sie schützend die Arme vor der Brust verschränkte, als müsste sie sich selbst festhalten. „Mimi ist zusammengebrochen. Vor ungefähr zwei Wochen.“ Also doch. Das war es, was ich gefühlt hatte. Der Schmerz. Diese plötzliche Angst, die sich nicht logisch erklären ließ. Es waren ihre Ängste. Es war ihr Schmerz, den ich gespürt hatte. „Man hat sie sofort ins Krankenhaus gebracht. Dort kam heraus, dass Mimi schön länger unter Kopfschmerzen und Schlafstörungen litt. Aber nicht nur das. Sie hatte Panikattacken, Halluzinationen. Sie hat Dinge gesehen und gehört, die gar nicht da waren. Die einfach nicht existierten, aber die sie in den Wahnsinn trieben. Manchmal hatte sie sogar so was wie Krampfanfälle. Die Ärzte haben sich natürlich sofort ihren Kopf angesehen und dann … dann haben sie festgestellt, dass sie einen Hirntumor hat.“ Ich schluckte schwer. Am liebsten wäre ich in mir zusammengebrochen. Das durfte einfach nicht wahr sein! Nicht sie! Nicht Mimi! „Aber … d-das kann man doch behandeln, oder? Sie wird doch sicher operiert, oder etwa nicht?“ Satoe nickte knapp. „Deswegen sind wir hier. Als wir davon erfuhren, sind wir sofort nach New York geflogen und mein Mann hat Kontakt zu einen der besten Chirurgen des Landes aufgenommen. Er ist ein Spezialist auf diesem Gebiet. Die Chancen, den Tumor zu behandeln, ohne dass bleibende Schäden entstehen oder Schlimmeres sind 50/50.“ Oder Schlimmeres? Was sollte das heißen, oder Schlimmeres? Wollte sie mir gerade sagen, dass Mimi vielleicht …? Ich ballte meine Hände zu Fäusten, um dem Schmerz nicht nachzugeben, der sich in meiner Brust ausbreitete. Ich musste jetzt unbedingt stark sein – für Mimi. „Aber es gibt etwas, dass mir noch mehr Sorgen bereitet“, erzählte Satoe weiter. Ich sah sie fragend an. „Ihre Symptome schritten schnell voran. Viel zu schnell. Die Panikattacken wurden schlimmer, auch die Halluzinationen. Allmählich verlor sie das Gefühl in den Fingern ihrer rechten Hand und auch ihr rechtes Bein spürte sie plötzlich nicht mehr. Sie verlor sich immer mehr. Sie denkt, sie ist verrückt. Und sie glaubt nicht daran, dass sie das alles überleben wird. Seitdem ist sie völlig apathisch. Wir sind jetzt seit einer Woche hier und warten auf die OP. Doch von Tag zu Tag geht es ihr schlechter. Es tut weh, dabei zuzusehen. Sie sitzt nur noch da und starrt vor sich hin. Sie stößt uns von sich und schickt uns weg, so oft sie kann, weil sie allein sein will. Aber wir bleiben immer in ihrer Nähe. Ich mache mir solche Sorgen, Tai. Ich weiß nicht, was wir noch machen sollen. Wenn sie keinen Willen hat zu kämpfen, dann … dann …“ Ihre Stimme brach erneut und nun konnte sie die Tränen, die über ihre Wangen rollten, nicht mehr zurückhalten. Ich legte mitfühlend einen Arm um sie, während ich versuchte, das alles zu begreifen. Niemals würde ich zulassen, dass sie sich aufgab. Dass sie einfach so aus meinem Leben verschwinden würde. Doch, was sollte ich tun, um ihr zu helfen? „Kann ich mit ihr reden?“, fragte ich schließlich vorsichtig. Satoe nickte. „Du kannst es versuchen. Aber sei vorsichtig. Und lass dich nicht irritieren. Sie ist nicht mehr die Mimi, die du früher kanntest.“ Ein flaues Gefühl ergriff mich und ließ mich zweifeln. Ich wollte es so sehr – doch konnte ich ihr überhaupt helfen? Ich sagte Satoe, dass es okay sei, wenn sie uns eine Weile allein ließ. Dass ich schon klarkommen würde. Doch im Grunde traute ich meinen eigenen Worten nicht. Das war alles zu viel auf einmal. Wie würde Mimi reagieren, wenn sie mich sah? Würde ich sie wiedererkennen? Oder war sie bereits nur noch ein Schatten ihrer selbst und ich der Narr, der nicht einsah, dass er nichts gegen das Schicksal ausrichten konnte? Langsam näherte ich mich ihr und gab mir dabei die größte Mühe, sie nicht zu erschrecken. Ich trat neben sie und ließ mich langsam neben ihr im Sand nieder. „Hallo, Mimi“, sagte ich, jedoch ohne sie anzusehen. Sie antwortete nicht, starrte einfach nur weiter aufs Meer hinaus und der Sonne entgegen. „Weißt du noch, wer ich bin?“ „Sei nicht albern, Tai“, erwiderte sie überraschend schnell. „Natürlich weiß ich, wer du bist.“ Erleichtert atmete ich aus. Irgendwie hatte ich Angst, nach allem, was mir ihre Mutter erzählt hatte, dass sie mich nicht erkennen würde. „Du hättest nicht herkommen sollen.“ Ich drehte den Kopf und sah sie an. Die untergehende Sonne ließ sie förmlich erstrahlen. Sie saß in einem goldenen Licht, dass voller Hoffnung auf sie herab schien. Und trotzdem waren ihre Augen leer. Als würden sie den Schein des warmen Lichts gar nicht wahrnehmen. Als wären sie ganz woanders. „Ich wollte dich sehen“, erklärte ich knapp. Als würde das alleine erklären, warum ich tausende von Kilometern auf mich genommen hatte. Dabei gab es so unendlich viele Gründe dafür bei ihr zu sein. „Und, wenn ich dich nicht sehen will?“, entgegnete Mimi mit einer Gleichgültigkeit in der Stimme, die ich nicht von ihr kannte. Ich erschrak innerlich, denn mir fiel schweren Herzens auf, wie sehr ihre Mutter doch recht behalten hatte. Sie hatte sich verändert. „Warum wolltest du mich nicht sehen?“, fragte ich. „Vielleicht, weil ich nicht möchte, dass du mich so siehst. Vielleicht, weil ich mich selbst nicht mal mehr so sehen möchte. Vielleicht auch, weil … weil ich mich nicht von dir verabschieden möchte.“ Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter. Ihre Worte schmerzten. Und doch wusste ich, dass sie gerade aufrichtig zu mir war. Sie wollte nicht, dass ich sie so sah. Sie wollte sich nicht verabschieden. „Du musst dich nicht verabschieden“, sagte ich entschlossen. „Ich weiß genau, dass du das …“ „Du weißt gar nichts“, gab sie tonlos zurück. Sie schien noch nicht mal verärgert oder zeigte irgendeine andere Art von Emotion. So, wie sie dasaß, aufs Meer hinausstarrte und einfach keinerlei Gefühl mehr in ihrer Stimme lag, hätte man meinen können, sie würde mit einem Geist reden. Dabei war ich hier. Genau hier neben ihr. „Ich lasse dich nicht gehen“, entschied ich. Meine Stimme war fest und entschlossen. „Ich lasse nicht zu, dass du mich verlässt und ich lasse auch nicht zu, dass wir uns voneinander verabschieden, hörst du?“ Die Emotionen überkamen mich und ich packte sie energisch an der Schulter, damit sie mich endlich ansah. Panisch wandte sie den Kopf und blickte mir plötzlich mit Entsetzen in die Augen. „Wer … wer bist du? Was willst du?“ Ich nahm meine Hand von ihr, während sie ein Stück zurückwich. „Nein, geh weg. Lass mich in Ruhe!“, fuhr sie mich an und wollte aufstehen. Doch ihr rechtes Bein gab unter ihr nach und sie fiel zurück in den Sand. „Was … was ist hier los?“ Sie umklammerte mit den Händen ihr Bein und betrachtete es, wie einen Fremdkörper. „Warum geht das nicht? Warum kann ich nicht aufstehen?“ Sie hatte eine Panikattacke. Und ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. „Mimi, es ist alles gut. Bitte, versuch dich zu beruhigen“, versuchte ich auf die einzureden und wollte ihr näher kommen, doch sie wich erneut vor mir zurück. „Gehen Sie weg! Ich habe das nicht getan. Ich habe gar nichts getan!“ Was sah sie gerade in mir? Sie sagte das mit so einer Überzeugung, als würde sie gerade auf der Anklagebank vor Gericht sitzen. Als würde ich ihr irgendein Leid zufügen wollen. Ihre Augen weiteten sich immer mehr, während sie völlig von Sinnen immer wieder auf ihr Bein einschlug. „Warum spüre ich denn nichts?“ Tränen rannen ihr übers Gesicht. Verdammt! Ich musste sie irgendwie beruhigen. Aber wie? Hilfesuchen sah ich mich um. Ich konnte unmöglich weglaufen und Hilfe holen. Mimi war kurz davor, durchzudrehen. Plötzlich kam mir ein Gedanke. „Mimi, sieh mal.“ „Nein, ich kann nicht …“ Sie umklammerte weiter ihr Bein, während ihre Finger begannen, sich zu verkrampfen. Schweißtropfen bildeten sich auf ihrer Stirn. Ich musste sie irgendwie erreichen. Kurzentschlossen griff ich nach ihrer Hand, um sie festzuhalten. „Sieh mal, Mimi“, wiederholte ich. Zunächst wehrte sie sich und sah mich weiterhin panisch an. „Nein, lass mich! Lasst mich alle in Ruhe!“ Ich zwang mich zu einem Lächeln und warf einen Blick nach oben. „Schau mal, eine Sternschnuppe.“ Wie ferngesteuert hörte Mimi auf einmal auf, um sich zu schlagen und ihr Kopf wanderte nach oben. Sie sah ebenfalls in den Himmel, an dem kein einziger Stern zu sehen war. „Da ist keine Sternschnuppe“, sagte sie nun viel ruhiger und wandte sich mir wieder zu. Ihr Blick klärte sich, als sie den goldenen Stern in meiner offenen Hand liegen sah. „Das … Das ist …“, stammelte sie und griff nach dem Ohrring. Prüfend betrachtete sie ihn von allen Seiten. „Den habe ich dir doch geschenkt.“ Endlich. Sie war zurück. Sie strich sich die Haare, die ihr ins Gesicht fielen hinters Ohr und eben derselbe Stern kam zum Vorschein. Ich lächelte und sah sie liebevoll an. „Erinnerst du dich wieder?“ Sie nickte. „Ja. Ich habe dir meinen Ohrring geschenkt, als wir uns damals am Flughafen voneinander verabschiedet haben.“ „Du hast mich also nicht vergessen?“, fragte ich erleichtert. „Ich habe dich nicht vergessen, Tai“, sagte sie leise. „Ich konnte mich nur nicht an dich erinnern.“ Plötzlich schossen Tränen aus ihren Augen und sie schlug sich die Hand vor den Mund. „Oh, Tai“, sagte sie und fiel mir schluchzend um den Hals. Ich schlang meine Arme um sie und drückte sie so fest es ging an mich. Nie wieder wollte ich sie loslassen. Endlich hatte ich sie wieder. „Es tut mir leid“, wimmerte sie. „Es tut mir leid. So leid. Ich wollte nicht, dass du das siehst. Ich … I-ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich glaube, ich bin verrückt.“ Ich schüttelte den Kopf und drückte sie sachte von mir. „Du bist nicht verrückt“, sagte ich mit ruhiger Stimme und strich ihr mit dem Daumen die Tränen aus dem Gesicht. „Du bist nur krank. Aber das ist nicht schlimm. Denn du wirst wieder gesund werden. Ganz gesund werden. Das weiß ich einfach. Die Ärzte werden dir hier ganz sicher helfen können.“ „Meinst du?“, entgegnete Mimi gerührt. Ihr Blick zerriss mir das Herz. Wenn sie schon nicht daran glaubte, dann musste ich eben für uns beide daran glauben. „Ja, ich bin mir ganz sicher“, nickte ich entschieden. Mimi lächelte. Sie lächelte tatsächlich. „Danke“, sagte sie nun etwas zuversichtlicher und hielt mir den Ohrring entgegen. „Nein, behalte ihn“, meinte ich und schob ihre Hand weg. „Aber, er gehört dir doch. Ich habe ihn dir geschenkt.“ Verständnislos sah sie mich an, doch ich lächelte nur. „Behalte ihn. Dann hast du einen Grund, ihn mir noch mal zu schenken.“ Mimis Mundwinkel wanderten nach oben. Dann beugte sie sich nach vorne und sie küsste mich. Erst ganz sanft, doch dann konnte ich nicht anders, als ihr Gesicht in meine Hände zu nehmen und meine Lippen auf ihre zu pressen. Meine Gefühle übermannten mich und plötzlich strömte alles gleichzeitig auf mich ein. Wut, Verzweiflung, Liebe, Hoffnung, Angst, Zuversicht … Und all diese Gefühle legte ich in diesen einen Kuss. Als wäre es unser Letzter. Ich durfte sie einfach nicht verlieren. Wir hatten uns gerade erst gefunden und jetzt wollte das Leben mir sie wieder entreißen? Als wir uns voneinander lösten, rutschte ich hinter sie und schloss meine Arme um sie. Sie lehnte sich gegen meine Brust und wir sahen uns gemeinsam die blutrote Sonne an, die fast schon am Horizont verschwunden war. „Du schaffst das, Mimi“, sagte ich nach einer Weile. „Die Welt dreht sich, weil dein Herz schlägt.“ Ich konnte spüren, wie ein Lächeln über ihre Lippen huschte. Diesmal glaubte sie mir. Sie war stärker als sie dachte. Das hatte ich immer gewusst. Und jetzt wusste sie es auch wieder. „Wollen wir gehen?“, fragte ich, als die Sonne komplett verschwunden war und so langsam die Nacht hereinbrach. Mimi nickte. Ich stand auf und griff ihr unter die Beine, legte meine Hand um ihre Taille und hob sie hoch. Sie schlang die Arme um meinen Hals und ich trug sie durch den Sand zurück zu ihren Eltern, die beide lächelnd auf uns warteten. „Not all broken things need to be fixed. Sometimes they just need to be loved.“ ― Brittainy C. Cherry, The Silent Waters Kapitel 5: Promise ------------------ Mimi Ich war so dankbar, für jeden einzelnen Tag, den ich mit Tai verbringen durfte. Es waren nicht viele, seit er in Kalifornien angekommen war. Aber die wenige Zeit, die uns noch blieb, beschlossen wir zu nutzen. Tai war sehr verständnisvoll. Verständnisvoller als man es von einem normalen Freund erwarten konnte. Gleich nachdem wir im Hotel angekommen waren, machte er eine Liste für mich, mit den Dingen, die ich unbedingt noch vor meiner OP tun wollte. Erst sträubte er sich dagegen und meinte, ich hätte noch jahrelang Zeit diese Liste abzuarbeiten. Doch wir wussten beide, dass das vielleicht nicht stimmte. Vielleicht würde ich nie wieder Zeit haben, die Dinge zu tun, die ich tun wollte. Da uns nur noch drei Tage blieben, beschränkte ich mich auf das Wesentliche: 1. Mit Tai gemeinsam die Sterne betrachten. (Das erledigten wir gleich am ersten Abend) 2. So viel Eis essen, bis einem schlecht wird. (Auch das wurde ziemlich schnell abgearbeitet) 3. Segeln fahren. (Machten wir am zweiten Tag) 4. Einen Cocktail kreieren und ihn nach mir benennen. (Ich durfte ihn nicht trinken, aber Tai versicherte mir, er würde grandios schmecken, ein bisschen zu süß, aber lecker.) 5. Am Strand übernachten und morgens den Sonnenaufgang sehen. Ich weiß, es waren nicht viele Punkte und für andere Menschen mochten es ganz banale Sachen sein. Doch mehr war in meinem Zustand leider nicht mehr möglich, so sehr ich es auch gewollte hätte. Und trotzdem waren das wahrscheinlich die drei besten Tage meines Lebens. Nachdem vier von den fünf Wünschen abgearbeitet waren, blieb nur noch einer übrig. Und so waren wir hier. Die Sonne war bereits untergegangen und Tai hatte uns am Strand ein kleines Lagerfeuer gemacht und unsere Schlafsäcke hergerichtet. Ich starrte hinaus auf das dunkle Meer, das bei Nacht noch unendlicher und tiefer erschien als sonst. Und trotzdem hatte es etwas Beruhigendes auf mich. Denn obwohl man es nicht komplett sehen konnte, so hörte man es doch und wusste, dass es da war. Ob auch ich noch da war, wenn ich in der Dunkelheit verschwinden würde? „Alles okay?“, fragte Tai schließlich und setzte sich neben mich in den Sand. „Geht’s dir gut?“ Ich nickte zufrieden. „Es könnte nicht besser sein. Danke, Tai. Du hast so viel für mich getan, in den letzten Tagen. Und ich frage mich, ob ich dir je zurückgeben kann, was du mir gegeben hast.“ Tai dachte kurz über meine Worte nach. Inzwischen hatte er es aufgegeben, das Offensichtliche auszublenden. Und das Offensichtliche war, dass meine Chancen 50/50 standen, dass ich nach der OP wieder ganz die Alte war. Vor Tais Ankunft war ich an einem Punkt angelangt, an dem ich mein Schicksal akzeptiert hatte. An dem ich angenommen hatte, dass mir vielleicht nicht mehr viel Zeit blieb. Doch, nachdem er hier aufgetaucht war und meine Welt erneut auf den Kopf gestellt hatte, hatte sich alles verändert. Ich hatte mich verändert. Plötzlich fiel es mir schwer loszulassen. Mein Schicksal wollte ich nicht mehr akzeptieren. Ich wollte nicht einfach verschwinden. Ich wollte ihn nicht verlassen. „Wenn du willst, können wir uns was versprechen“, schlug Tai plötzlich vor. Ich wandte den Kopf in seine Richtung und sah ihn fragend an. Dann nahm er meine Hand in seine und drückte sie ganz fest. „Die Liste muss nicht zu Ende sein, Mimi. Lass sie uns gemeinsam fortführen.“ „Und welches Versprechen soll ich dir geben?“ „Versprich mir, dass du zu mir zurückkommst.“ Ich schloss bedrückt die Augen. „Das kann ich dir nicht versprechen.“ „Dann gebe ich eben dir ein Versprechen“, sagte Tai entschlossen. Ich öffnete meine Augen und sah ihn an. „Wenn es jemals ein Morgen gibt, an dem wir nicht zusammen sind, dann gibt es etwas, an das du dich immer erinnern musst. Du bist mutiger als du glaubst, stärker als du scheinst, und schlauer, als du denkst. Aber am wichtigsten ist, dass, selbst wenn wir getrennt sind, ich immer bei dir sein werde. Das verspreche ich dir.“ Er legte eine Hand auf mein Herz, das in diesem Augenblick nur für ihn schlug. Es war voll mit Liebe und die Worte, die er mir gesagt hatte, würde ich für immer dort aufbewahren – ganz egal wie lang für immer auch war. Ich würde sie nie vergessen. Tai würde immer ein Teil von mir bleiben, an welchem Ort wir beide uns auch immer befanden. „Ich liebe dich“, sagte ich und eine Träne rollte mir die Wange hinunter. Tai lächelte sanft und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Gott, womit hatte ich ihn nur verdient? Liebevoll sah er mir in die Augen. „Ich liebe dich auch.“ Ich wusste nicht, ob es unser letzter gemeinsamer Abend war oder ob wir eine Zukunft hatten. Aber an diesem Abend sahen wir uns ein letztes Mal gemeinsam die Sterne an und ich hoffte inständig auf eine Sternschnuppe – auf, dass mein sehnlichster Wunsch in Erfüllung gehen möge. „Ich habe Angst.“ Meine Mutter versuchte es sich nicht anmerken zu lassen, dass es ihr genauso ging. Also spielte sie die Starke und rang sich ein zuversichtliches Lächeln ab, während sie mir über den Kopf strich. „Das musst du nicht“, sagte sie so liebevoll, wie eine Mutter das eben tut. „Es wird alles gut, Kleines.“ Sie drückte mir einen Kuss aufs Haar und trat zur Seite, damit auch mein Vater sich verabschieden konnte. „Wir warten hier auf dich“, sagte er und drückte mich an sich. Ich betete zu Gott, dass sie nicht umsonst warten sollten. Es klopfte an der Zimmertür und Tai trat ein. „Oh, tut mir leid, wenn ich störe“, entschuldigte er sich und wollte schon wieder rausgehen. „Halt, nein warte“, hielt ich ihn auf und warf meinen Eltern einen flehenden Blick zu. „Könntet ihr uns kurz alleine lassen?“ Sie tauschten kurze Blicke, nickten dann jedoch einverstanden und verließen das Zimmer. Plötzlich waren da nur noch er und ich. Und diese furchtbare Ungewissheit zwischen uns. „Schön, dass du gekommen bist“, sagte ich und lächelte ihn an, auch wenn ich eigentlich nie wollte, dass er mich so sah. Ich trug lediglich ein OP Hemdchen. Alles war vorbereitet und nun lag ich hier, in einem weißen Bett, in einem Krankenhauszimmer und war meinem Schicksal machtlos ausgeliefert. „Machst du Witze?“, entgegnete er keck und holte sich einen Stuhl, um sich zu mir ans Bett zu setzen. Ich schmunzelte. „Tut mir leid. Es ist nur … unser Abend gestern war perfekt. Wenn es einen Abschied zwischen uns geben sollte, dann wäre das der Schönste von allen gewesen. Hier ist es so …“ „Bedrückend?“, beendete Tai meinen Satz. „Ich weiß. Aber wir stehen das gemeinsam durch, Mimi. Du bist nicht allein.“ Ich griff nach seiner Hand und er umschloss sie mit beiden Händen. „Wenn du wieder aufwachst, bin ich hier.“ Ich nickte schwach und musste kämpfen, um nicht auf der Stelle loszuheulen. Er war einfach unglaublich. Und in diesem Moment liebte ich ihn mehr als ich jemals für möglich gehalten hätte. Es klopfet erneut an der Tür. Eine Schwester kam rein und warf mir einen entschuldigenden Blick zu. „Tut mir leid, dass ich Sie unterbrechen muss, aber es ist alles vorbereitet. Wir können anfangen.“ Ich nickte gefasst und versuchte noch einmal tief durchzuatmen. Die Schwester bat Tai zu gehen und er trat zur Seite, damit sie mich, mit samt meinem Bett rausschieben konnte. Nun war es also so weit. Ein letzter Blick. Ein letzter Gedanke. Ein letztes … „Moment, warten Sie bitte.“ Die Schwester sah mich fragend an, als wir schon fast aus dem Zimmer raus waren. „Aber wir müssen wirklich gehen. Der Doktor wartet bereits im OP auf Sie“, erklärte sie mir ruhig. Flehend sah ich sie an. „Bitte, nur noch eine Minute.“ Sie sah zu Tai rüber, überlegte kurz, und nickte dann schließlich. Sie ging einige Schritte zurück, um uns den nötigen Freiraum zu geben, während Tai zurück an mein Bett geeilt kam und nach meiner Hand griff. „Was ist? Ist alles in Ordnung? Mimi, du musst keine Angst haben. Ich werde …“, begann er leicht panisch, doch ich schüttelte nur lächelnd den Kopf, was ihn zum Schweigen brachte. „Ich möchte dir ein Versprechen geben.“ Irritiert sah er mich an. „Ein Versprechen?“ Ich nickte. „Ja. Du hast mir gestern eins gegeben und nun möchte ich dir eins geben.“ An unserem letzten gemeinsamen Abend hatte Tai mir etwas versprochen. Und ich war nicht dazu im Stande gewesen, ihm das zu versprechen, was er hören wollte. Ich konnte es nicht. Aber ich konnte ihm etwas Anderes versprechen. „Wenn ich das hier überlebe, dann verspreche ich, dass ich dich heiraten werde, Taichi Yagami.“ Tai klappte der Mund auf und sogar die Schwester warf uns einen leicht schockierten Blick über die Schulter hinweg zu. „Das … was?“ Nun grinste er verschmitzt. „Du versprichst, dass du mich heiraten wirst? Aber ich habe dich doch gar nicht darum gebeten, mich zu heiraten.“ Ich zuckte lediglich mit den Schultern und schenkte ihm einen gleichgültigen Blick. „Na, und? Ist mir doch egal, ob du mich darum gebeten hast, oder nicht. Ich habe das eben beschlossen. Wenn ich das hier überlebe, werde ich dich heiraten! Ob du willst oder nicht.“ Tais Mundwinkel wanderten belustigt in die Höhe. „Du bist völlig verrückt“, lachte er auf. Dann gab er mir einen letzten Kuss. „Na, gut. Ich nehme dich beim Wort, Mimi Tachikawa. Und wehe, du hältst dein Versprechen nicht.“ Ich grinste zufrieden und strich ihm sanft über die Wange, ehe ich der Schwester zunickte. Tai ließ meine Hand los. Aber diesmal fühlte es sich nicht wie ein Abschied an. Sondern wie der Beginn einer neuen Zukunft für uns beide. „If ever there is a tomorrow when we're not together there is something you must always remember. You are braver than you believe, stronger than you seem, and smarter then you think. But most important thing is, even if we're apart I'll always be with you." - A. A. Milne, Winnie the Pooh Kapitel 6: Creation ------------------- Taichi Diese Warterei machte mich wahnsinnig. Mimi war schon seit Stunden zurück aus dem OP gekommen, aber niemand durfte zu ihr. Ich saß mit ihren Eltern im Wartezimmer und die Minuten fühlten sich wie Jahre an. Ich hatte noch nie so sehr gehofft, dass die Zeit endlich verging. Denn ob Mimi über den Berg war oder nicht, konnten die Ärzte uns erst sagen, wenn sie die Augen aufschlug. Allerdings war die OP gut verlaufen, wie uns der leitende Chirurg berichtete. Mimi war tapfer gewesen und sie konnten den kompletten Tumor aus ihrem Kopf entfernen. Welche Areale dabei in Mitleidenschaft gezogen wurden, war allerdings nur schwer abschätzbar, da der Tumor ja schon zuvor einige Regionen des Gehirns beeinflusst hatte. Doch egal, was passierte, ich würde nie aufhören, an das Mädchen zu glauben, dass ich liebte. Nach weiteren quälenden zehn Stunden war es dann soweit. Mimi hatte ihre Augen aufgeschlagen und die Ärzte eilten zu uns, um uns zu holen. Allerdings durften zunächst lediglich die Angehörigen, also Mimis Eltern zu ihr. Ich verstand das und wartete geduldig. Es vergingen weitere zwei Stunden, in denen ich nichts hörte und je mehr Zeit verstrich, desto größer wurde die Angst, dass vielleicht doch etwas schief gegangen sein könnte. Was war, wenn sie nach der OP einfach nicht mehr dieselbe war? Wenn die Operation zwar ihr Leben gerettet, aber dafür ihren Verstand völlig getötet hatte? Ich konnte mich nur allzu lebhaft an die letzten Tage erinnern, in denen Mimi immer wieder ausgeklinkt war, geschrien hatte, und unter Krampfanfällen litt. So ein Leben wünschte ich ihr nicht. Ich wollte, dass sie glücklich war und ihr Leben voll und ganz genießen konnte. Sie sollte nicht der willenlose Sklave ihres eigenen Körpers sein … „Taichi Yagami?“ Abrupt richtete ich mich auf. „Ja, hier!“, salutierte ich beinahe wie auf Kommando, als eine Schwester meinen Namen aufrief. „Sie können nun zu ihr.“ Mein Herz begann, wie wild gegen meine Brust zu schlagen, als würde es herausspringen wollen. Meine Beine drohten nachzugeben und mir blieb die Luft weg, als ich in Mimis Zimmer trat und als erstes die vielen Kabel, Schläuche und Gerätschaften sah. Dann fiel mein Blick auf sie. Sie lag wieder in ihrem Bett, mit den weißen Laken. Ihr Kopf war verbunden und sie sah müde aus – sehr müde. Trotzdem sah sie mich an. Und lächelte ein wenig. Ihre Eltern standen links und rechts neben ihrem Bett. Auch ich trat nun zu ihr und wusste nicht, was ich sagen sollte. Sie so zu sehen, schmerzte unheimlich – und gleichzeitig war ich froh, sie überhaupt zu sehen. „Da ist er ja“, sagte Mimi plötzlich mit einer quälend rauen Stimme. „Mein zukünftiger Ehemann.“ Mir stockte der Atem. Das wusste sie noch? „Dein, bitte was?“, platzte es aus ihrem Vater raus und er warf uns abwechselnd verwirrte Blicke zu, während ihre Mutter einfach nur hinter hervorgehaltener Hand kicherte. „Haben wir was verpasst? Ob das an der OP liegt?“, fragte ihr Vater irritiert in die Runde. „Geht’s dir auch gut, Schätzchen?“ „Ich habe mich nie besser gefühlt“, sagte Mimi mit schwach, aber überzeugend. Ihr Vater warf mir einen bedeutungsschweren Blick zu und ich konnte einfach nichts tun, außer entschuldigend zu grinsen. Ich hätte ehrlichgesagt nicht erwartet, dass sie sich nach der OP noch daran erinnern könnte. Vielleicht hatte sie es auch nur gesagt, weil sie aufgeregt war und Angst hatte. Angst davor, vielleicht nicht wieder aufzuwachen. Doch so, wie sie es jetzt sagte, hatte sie es offenbar ernst gemeint. „Könnt ihr uns kurz allein lassen?“, bat Mimi ihre Eltern. Ihre Mutter nickte. „Natürlich, aber wenn etwas ist, dann rufst du uns, ja?“ „Mach ich.“ Sie verließen den Raum. Und ich stand da wie der letzte Idiot und bekam den Mund nicht auf. Dass sie mich so eiskalt erwischen würde, hätte ich nicht gedacht. „Nun mach dir nicht in die Hose, Tai“, meinte Mimi belustigt. „Ich werde dich schon nicht sofort vom Fleck wegheiraten.“ Ich lockerte meine Schultern und setzte mich auf den Stuhl, der neben ihrem Bett stand. „Du hast das ernst gemeint?“, hakte ich leicht verunsichert nach. „Habe ich jemals etwas nicht ernst gemeint?“, stellte sie die Gegenfrage. Keine Ahnung, wieso, aber irgendwie musste ich grinsen. Dieses Mädchen war einfach ein Unikat. „Habe ich schon erwähnt, dass du verrückt bist?“ „Mehrmals.“ „Gut, aber … wenn du das wirklich durchziehen willst …“, ich nahm ihre Hand in meine und beugte mich leicht nach vorn, um ihr direkt in die Augen zu sehen. „Dann musst du wenigstens so fair sein und mir die Chance geben, dir einen richtigen Antrag zu machen.“ Ich konnte mir weitaus Schlimmeres vorstellen, als das Mädchen, das ich liebte zu heiraten. Es kam zwar auch für mich alles etwas überraschend und plötzlich, doch Mimis Krankheit hatte mir zusehends die Augen geöffnet. Als wir Mimis Liste abarbeiteten, war sie wirklich glücklich gewesen. Doch im Grunde erschien mir das Ganze wie ein schlechter Scherz. Ihre Liste hätte viel länger sein sollen. Sie sollte nicht nur lachhafte fünf Punkte beinhalten, die man innerhalb von drei Tagen erledigen konnte. Mimi hatte so viel mehr verdient. Wir hatten so viel mehr verdient. Das Leben kann sich jederzeit auf einen Schlag verändern und am Ende bereut man die Dinge, die man nicht getan hat. Ich wollte nicht, dass Mimi je wieder etwas bereuen musste. Sie sollte all die Dinge tun, die sie tun wollte. Und wenn sie mich heiraten wollte, dann würde ich sie heiraten. Denn auf meiner Liste stand schon lange nur noch sie. „Du wirst viel Zeit haben, um mir einen Antrag zu machen“, sagte Mimi plötzlich. Ich sah sie verdutzt an. „Wie meinst du das?“ Ihr Blick trübte sich und sie wandte das Gesicht von mir ab, konnte mir nicht mehr in die Augen sehen. „Die Ärzte haben, gleich nachdem ich aufgewacht war, einige schnelle Tests durchgeführt. Sie konnten zwar den Tumor komplett entfernen und die Heilungschancen stehen nicht schlecht, aber …“ Sie stockte, als würde es ihr schwerfallen, es laut auszusprechen. „Ich spüre mein rechtes Bein immer noch nicht. Und das wird wohl auch eine ganze Weile so bleiben, vielleicht sogar für immer.“ Sprachlos sah ich sie an. „Und, was bedeutet das?“ „Das bedeutet, dass ich nicht das Leben führen kann, was ich gerne führen würde. Was ich gern mit dir führen würde.“ Nun sah sie mir wieder in die Augen. Traurig und verletzt. „Weißt du, Tai?“, sagte sie und ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Ich wollte es dir eigentlich nicht sagen, aber ich habe vor, wieder nach Tokio zu ziehen.“ „Was?“ „Ich werde wieder zu meinen Eltern ziehen. Sie werden sich um mich kümmern. Ich werde für eine ziemlich lange Zeit nicht mehr alleine zurechtkommen und ich … ich will dich nicht damit belasten.“ „Das ist doch Blödsinn“, schoss es aus mir heraus. Ich rutschte näher an sie heran, um ihr Gesicht zu berühren. „Was redest du denn da, Mimi? Meinst du wirklich, du wärst eine Last für mich? Meinst du, ich würde hier sitzen, wenn das wahr wäre? Meinst du, ich hätte dir dieses Versprechen, mich zu heiraten abgenommen, wenn du eine Last für mich wärst? Du bist so vieles für mich, aber ganz sicher keine Last. Und wenn du wieder nach Hause willst, dann lass mich dich begleiten. Lass mich für dich da sein und dich unterstützen. Zusammen schaffen wir das.“ Sie musste einfach begreifen, dass es nicht mehr möglich war, sie aus meinem Leben zu verbannen. Vorher nicht und jetzt erst recht nicht. „Aber Tai“, meinte Mimi nur und begann zu weinen. „Du kannst nicht von mir verlangen, dass ich dir das aufbürde. Wie soll ich dir das jemals wiedergeben? Wie soll ich das je wieder gut machen?“ „Liebe kann man nicht aufwiegen, Mimi. Man gibt sie einfach. Ohne etwas dafür zu verlangen. Aber wenn du mir etwas wiedergeben willst, dann gib mir dich zurück. Stoß mich nicht wieder von dir. Sag mir einfach, dass du dein Versprechen halten und mich irgendwann heiraten wirst. Und dann werde ich auf dich warten, egal, wie lang es dauert. Denn ich würde mich immer für dich entscheiden. Jedes Mal wieder.“ Ihre Tränen rannen nur so übers Gesicht. Ich küsste jede einzelne davon weg. Und endlich nickte sie. Sie versprach mir, dass wir zusammen nach Tokio zurückgehen würden. Sie versprach mir irgendwann ihr Versprechen wahr zu machen und mich zu heiraten. Und sie versprach mir, was immer auch geschehen würde, mich nie wieder von ihr zu stoßen. Das Leben hatte uns beiden eine zweite Chance gegeben. Eine Chance, nach der wir nur noch greifen mussten. Und ich war fest entschlossen, dies auch zu tun. Mimi Es sollten zwei Jahre vergehen, bis Tai mir endlich einen Antrag machen durfte. Damals im Krankenhaus hatte ich ihn dazu genötigt, mit dem Antrag zu warten, bis ich wieder richtig laufen konnte – denn ich wollte auf unsere Hochzeit tanzen und das nicht auf Krücken. Sondern auf meinen eigenen zwei Beinen. Wir wussten beide, dass die Möglichkeit bestand, dass dieser Tag niemals kommen würde. Doch das Risiko ging ich ein, denn ich war fest entschlossen, diesen Kampf zu gewinnen. Damals flogen wir gemeinsam, nachdem ich mich wieder erholt hatte, zurück nach Tokio. Ich ließ mein Leben in New York hinter mir – diesmal für immer. Denn dieser Traum, den ich versucht hatte zu leben, existierte schon lang nicht mehr. Ich hatte einen neuen Traum. Und dieser Traum hieß Tai. In den letzten zwei Jahren war er nicht von meiner Seite gewichen, egal, wie schwer es manchmal auch wurde. Neben meinen zahlreichen Therapien und Rehamaßnahmen, absolvierte ich ein Fernstudium und beendete somit, was ich in New York angefangen hatte. Es war wirklich nicht immer leicht gewesen. Hoffnung wurde getrieben von Zweifel und manchmal war ich kurz davor, alles hinzuschmeißen. Sämtliche Therapien abzublasen, weil sie doch eh nichts brachten. Doch Tai ermutigte mich stets, weiterzumachen. Nicht aufzugeben und für das zu kämpfen, was ich wollte. Ich wollte ein gemeinsames Leben mit ihm, so, wie ich es mir vorstellte. Ich war nicht mehr bereit, irgendwelche Abstriche zu machen – nie wieder. Und nun standen wir hier. Zwei Jahre waren vergangen. Tai war an diesem Tag ganz aufgeregt, denn er hatte eine Überraschung für mich. „Nicht gucken! Wehe, du guckst!“, ermahnte er mich zum hundertsten Mal. Ich stöhnte. „Tai … selbst, wenn ich gucken wollte, würde es nicht gehen. Du hast dieses verdammte Tuch so fest gebunden, dass ich wahrscheinlich nie wieder irgendwas sehen kann“, beschwerte ich mich und zerrte an dem roten Tuch, womit er meine Augen verbunden hatte, um es zu lockern. Doch Tai drückte meine Hand zur Seite. „Jetzt hör auf zu schummeln. Wir sind ja gleich da.“ „Ich schummle nicht“, seufzte ich und sackte in mich zusammen. „Wie sieht das eigentlich aus? Starren die Leute uns nicht schon an? Ich meine, du fährst eine Frau im Rollstuhl die Straßen entlang UND hast ihr die Augen verbunden.“ Ich hörte, wie er lachte. Na, er musste ja nicht hier sitzen und konnte nichts sehen. Was hatte er nur vor? Seit Tagen schon war er total hippelig gewesen, hatte nachts kaum geschlafen. Doch immer, wenn ich ihn darauf ansprach, wich er mir aus und fand dabei ständig eine neue fadenscheinige Ausrede. „So, wir sind dahaaa“, flötete er, als wir abrupt stehen blieben. „Halleluja“, entgegnete ich, während Tai mir auch schon die Augenbinde abnahm. Es dauerte einige Sekunden, bis ich mich an das helle Licht gewöhnt hatte. Ich rieb mir mit dem Handrücken über meine Augenpartien, als sich das Bild vor mir langsam klärte. Verwundert sah ich mich um. „Wo sind wir hier?“ Die Wohngegend, in die er mich gebracht hatte, sah ziemlich schick aus. Sehr idyllisch und wahrscheinlich weit ab von der Innenstadt. Tai trat vor mich und breitete demonstrativ die Arme aus. Er strahlte übers ganze Gesicht. „Das, mein Schatz, ist unser neues zu Hause.“ Mir klappte die Kinnlade nach unten. „Ehm … unser was?“ „Unser neues zu Hause“, grinste Tai nur breit und trat zur Seite, damit ich mir das Gebäude hinter ihm genauer ansehen konnte. Es war ein wunderschönes, weißes Haus. Nicht besonders groß, aber sicher mit Platz genug für eine ganze Familie. Allerdings verstand ich noch nicht so ganz, was er mit „Unser neues zu Hause“ meinte. „Stell dir vor“, setzte Tai seine Erklärungen weiter fort. Er wirkte völlig euphorisch. „Nach hinten raus gibt es sogar einen kleinen Garten und wenn du möchtest, pflanzen wir dir dort ein Beet an. Dann kannst du dein eigenes Gemüse anbauen. Oder eben Blumen. Ganz, wie du magst. Es hat vier Schlafzimmer. VIER! Das heißt, es ist genug Platz für uns, unsere Kinder und wir könnten uns sogar noch ein Büro einrichten. Oh man, ich muss dir unbedingt alles zeigen. Warte mal ab, bis du die Küche gesehen hast.“ Tai machte sich daran, mich in Richtung des Hauses zu schieben, doch ich hielt ihn auf. „Halt, warte mal. Nicht so schnell“, verlangte ich und er blieb stehen. „Was ist denn? Gefällts dir etwa nicht?“, fragte er betrübt und trat vor mich. „Doch. Doch, das schon“, meinte ich leicht verlegen und strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr. „Nur, könntest du mich vielleicht nicht ganz so ins kalte Wasser schmeißen? Ich meine, wo hast du plötzlich das Geld her, um ein Haus zu kaufen?“ Tai lächelte sanft und kniete sich vor mich hin. „Tut mir leid, wenn ich dich eben so überrumpelt habe. Vielleicht kam das jetzt doch alles etwas zu plötzlich für dich. Aber ich wollte dich eben überraschen. Du weißt, dass meine Großmutter verstorben ist. Und sie hat Kari und mir eine beträchtliche Summe hinterlassen. Und da dachte ich mir, wie könnte ich das Geld denn besser investieren, als in unsere gemeinsame Zukunft.“ Ich musste lachen. „Du bist einfach unglaublich, Taichi Yagami“, sagte ich und legte eine Hand an seine Wange. Seine Augen begannen zu leuchten. „Das heißt, du freust dich?“, fragte er erwartungsvoll. Ich nickte. „Ich denke, ich war nie glücklicher. Du denkst einfach immer daran, wie du mich glücklich machen kannst und dafür bin ich dir unendlich dankbar.“ Tai erhob sich und beugte sich zu mir, um mir einen leidenschaftlichen Kuss auf die Lippen zu hauchen. Ich wusste nicht, wie man mehr Liebe für einen anderen Menschen empfinden konnte, wie ich sie für Tai empfand. Er war nicht nur mein bester Freund, sondern auch mein Geliebter und ich wollte nie wieder ohne ihn sein. „Komm, dann zeig ich dir jetzt das Haus“, verkündete er stolz und ging zur Tür, um sie aufzuschließen. Er kam zurück, um mich aus meinem Rollstuhl zu heben. Auf Händen trug er mich bis zur Türschwelle. „Bereit?“ Ich grinste verschmitzt und sah ihm in die Augen. „Ja, aber würdest du mich bitte vorher runterlassen?“ Tai blinzelte ein paar Mal verwirrt, bis er begriff, was ich da eben gesagt hatte. „Du willst, dass ich dich runterlasse? Bist … bist du dir da sicher?“ Er warf einen zweifelnden Blick über die Schulter und überlegte anscheinend, ob er nicht doch lieber den Rollstuhl holen sollte. „Wenn ich’s dir doch sage. Vielleicht bist du ja nicht der Einzige, der heute eine Überraschung hat“, lachte ich auf. „Und jetzt lass mich endlich runter.“ Tai war zwar immer noch irritiert, aber er tat, was ich wollte und setzte mich vorsichtig ab. Sein Arm blieb jedoch fest um meine Taille geschlungen. „Es ist okay, Tai. Du kannst jetzt loslassen.“ Ich schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln, um ihm zu signalisieren, dass es wirklich in Ordnung war. Zwei Jahre lang hatte ich hart dafür gekämpft, um heute an diesen Punkt anzugelangen. Um jetzt hier zu stehen – endlich. Nach so langer Zeit konnte ich endlich den nächsten Schritt wagen. Tai ließ mich vorsichtig los. Seine Augen ruhten wachsam auf mir, bereit sofort nach vorn zu schnellen, wenn ich stürzen würde. Doch die Zeiten waren vorbei. Als seine Hände sich entfernt hatten, stand ich auf meinen eigenen zwei Füßen. Es kostete mich noch etwas Anstrengung, doch ich konnte das schaffen. Ich wollte das schaffen! Ich setzte einen Fuß nach vorne. Und noch einen. Ich ging einfach über die Türschwelle. Als hätte ich die letzten zwei Jahre nie etwas Anderes getan. Drinnen blieb ich stehen und drehte mich zu Tai um, der mit offenem Mund dastand und mich anstarrte. „Mimi … du bist …“ „Ich weiß“, kicherte ich und konnte nun meine Freude nicht mehr verbergen. „Ist das nicht cool?“ Ich klatschte in die Hände und am liebsten wäre ich wie ein kleines Mädchen in die Luft gesprungen. Tais Mundwinkel wanderten in die Höhe und er kam auf mich zugestürmt. Er hob mich hoch und wirbelte mich in der Luft herum, sodass wir beide lachen mussten. Dann setzte er mich ab und musterte mich von oben bis unten. „Ich kann das grad nicht fassen“, sagte er begeistert. Er nahm mein Gesicht in seine Hände und presste mir einen Kuss auf die Lippen. Ich lachte in den Kuss hinein. Es war unglaublich zu sehen, wie sehr er sich freute. „Oh mein Gott“, platzte es plötzlich aus ihm heraus. „Das heißt ja …“ Ich verdrehte gespielt genervt die Augen. Ich wusste genau, was das hieß. „Schon gut“, sagte ich. „Du darfst endlich.“ Tai grinste übers ganze Gesicht. „Es wird Zeit, dein Versprechen einzulösen.“ Dann nahm er meine Hand in seine und ging vor mir auf die Knie. „Wahrscheinlich trittst du mich gleich weg, so stark, wie du jetzt bist. Aber um ehrlich zu sein, trage ich das Ding schon seit zwei Jahren mit mir rum“, sagte Tai und holte eine kleine blaue Schmuckschatulle aus seiner Hosentasche. Überrascht und überwältigt zugleich schlug ich die Hand vor den Mund. Hatte er seit zwei Jahren gesagt? „Ich habe gleich damals, als wir wieder in Tokio gelandet waren, einen Ring für dich gekauft. Nur leider hattest du mir ja verboten, dir einen Antrag zu machen“, erzählte Tai und öffnete die Schatulle. Ein strahlender Silberring mit einem funkelenden Diamanten kam zum Vorschein. Mein Herz setzte für einen Schlag aus und ich schnappte nach Luft. „Tai, du kannst doch nicht …“, wollte ich gegen so einen teuren Ring protestieren, doch Tai verbot mir den Mund. „Lass mich, das ist mein großer Moment. Ich habe schließlich zwei Jahre lang gewartet.“ Ich biss mir auf die Unterlippe und hielt den Atem an, so aufgeregt war ich plötzlich. „Mimi Tachikawa, du bist mein Mond und meine Sterne und ich habe dir mal gesagt, dass ich mich immer wieder für dich entscheiden würde. Egal, wie lange es gedauert hätte. Ob es zwei Jahre oder zehn Jahre oder eine Ewigkeit gedauert hätte. Ich hätte auf dich gewartet. Weil ich dich liebe. Und heute bitte ich dich, entscheide du dich für mich und heirate mich. Werde meine Frau, Mimi.“ Ich konnte die Tränen nicht unterdrücken, die über mein Gesicht rannen. Ich hatte mich geirrt. Es war möglich einen anderen Menschen noch mehr zu lieben. Ich brachte lediglich ein schwaches Nicken hervor. Tai grinste und erhob sich, als ich ihm auch schon um den Hals fiel. „Ja, ja, ja! Ich entscheide mich für dich, Tai. In hundert Leben, in hundert Welten, in jeder möglichen Form der Realität – ich würde mich immer für dich entscheiden.“ Ich küsste ihn so innig, wie ich nur konnte, während Tai seine Arme um mich schlang und mich erneut hochhob und im Kreis drehte. Dann steckte er mir den Ring an. Der Moment, auf den wir beide so lang gewartet hatten, war endlich gekommen. Nun konnten wir gemeinsam unsere Zukunft kreieren – und diesmal würde uns nichts und niemand mehr davon abhalten können. “And I’d choose you. In a hundred lifetimes, in a hundred worlds, in any version of reality, I’d find you and I’d choose you.” ― Kiersten White, The Chaos of Stars Kapitel 7: Infinite ------------------- Taichi Konzentration. Konzentrier dich, Tai. Wie war das noch mal? Zwei nach vorn und zwei nach hinten … oder doch anders rum? Und dann? Wie gings dann weiter? „Autsch!“, beschwerte sich Mimi zum wiederholten Male bei mir, als ich ihr auf die Zehen trat. Schon wieder. „Nein. Nein, nein, nein. So klappt das nicht.“ Der Tanzlehrer stoppte die Musik und sah mich mit verschränkten Armen an. Sein Fuß wippte ungeduldig auf und ab. „Sie müssen es fühlen, hören Sie? FÜHLEN! Können Sie nichts fühlen?“ Dieser Typ redete mit mir, als wäre ich bescheuert. „Ich FÜHLE schon etwas. Ich fühle nur nicht … das hier.“ Ich machte eine abwertende Handbewegung und Mimi und er verdrehten nahezu zeitgleich die Augen. Herrgott noch mal, wieso wollte dieser verfluchte Tanz denn einfach nicht in meinen Kopf? Oder besser gesagt: warum machten meine Füße einfach nicht, was sie sollten? Nachdem ich Mimi den Antrag gemacht hatte, stürzte sie sich geradezu in die Hochzeitsplanungen, die nun inzwischen vier Monate andauerten. Ich hatte stark protestiert, doch Mimi bestand darauf, einen Tanzkurs zu besuchen. Wir waren hier, um unseren Hochzeitstanz einzustudieren. Mimi war eine begnadete Tänzerin, wie ich feststellen musste. Nur leider hatte sich herausgestellt, dass ich mich wie ein dicker Bär auf zwei tollpatschigen Füßen bewegte. Ich konnte mir weder die Abfolge merken, noch fand ich den Rhythmus. Ich hatte einfach null Taktgefühl. Und so langsam schien auch Mimi ihre Geduld mit mir zu verlieren. „Kannst du es nicht wenigstens versuchen, Tai?“, flehte sie. Oh, konnte sie diesen Hundeblick nicht lassen? „Ich versuche es ja“, seufzte ich und fuhr mir gestresst durchs Haar. „Die ganze Zeit versuche ich es, aber … ich kanns nun mal einfach nicht.“ „Oh, bitte“, meinte der Tanzlehrer abschätzig. „Jeder kann tanzen. Tritt bei Seite, Jungchen.“ Jungchen? Er wedelte mit der Hand, um mich zu verscheuchen. Wiederwillig trat ich einen Schritt zurück, um Platz zu machen. Er schnappte sich Mimis Hand, packte sie an der Taille und zog sie an sich. Dieser ekelhafte, schleimige Typ. Auffordernd sah er mich an. „Die Musik?“ Ich warf ihm einen tötenden Blick zu und grummelte in mich hinein, während ich zum Player ging und die Musik erneut anschaltete. „Eins, zwei, drei. Eins, zwei, drei“, machte er vor und wirbelte dabei meine Verlobte umher. Wieso sah das bei denen so einfach aus? „Sehen Sie?“, fragte er in meine Richtung, während er den Arm hob und Mimi eine grazile Drehung hinlegte. „Ist ganz leicht.“ Ich geb dir ganz leicht – dachte ich bei mir und biss die Zähne zusammen, bevor ich noch irgendetwas sagte, was mir später leidtun würde. Ich versuchte wirklich mich zusammenzureißen – für Mimi. Weil sie das hier verdient hatte. Weil sie ihre Traumhochzeit wollte, auf die sie so lange gewartet hatte. Aber verdammt. Musste sie mich deswegen einmal quer durch die Hölle jagen? Als das Lied verstummte und die beiden einen perfekten Tanz aufs Parkett gelegt hatten, sahen beide mich erwartungsvoll an. „So, und jetzt Sie“, forderte der Tanzlehrer mich auf. Ich verdrehte die Augen und nahm seinen Platz ein. Mimi sah zu mir auf. „Versuch’s einfach, Tai. Bitte, ja?“ Ich seufzte und schenkte ihr ein Lächeln. Was ich nicht alles für sie tun würde. Die Musik setzte ein und ich versuchte all meine Gedanken zu sammeln. Eins, zwei, drei. Eins, zwei, drei. Soweit so gut. Jetzt die Drehung und dann … Ich öffnete den Arm und wollte Mimi unter ihn durchführen, doch irgendwie legte ich zu viel Kraft in diese Bewegung und ehe ich mich versah, flog Mimi förmlich davon. Ihre Finger entglitten mir und sie stolperte gleich mehrere Schritte nach hinten, bis sie das Gleichgewicht gänzlich verlor und auf den Po landete. „Oh, mon dieu!“, entfuhr es dem Lehrer und er schlug die Hände vor den Mund. Ich ballte die Hände zu Fäusten und sah ihn erzürnt an. Was? Tat der Typ etwa so, als wäre er Franzose? „Auuuh“, jaulte Mimi auf und zog wieder meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Sie saß auf den Knien und rieb sich den Po. „Oh, Schatz“, meinte ich reumütig und eilte zu ihr. Ich kniete mich vor ihr hin. „Es tut mir leid. Das war ganz sicher keine Absicht.“ „Ist schon gut. Wir kriegen das schon noch hin“, entgegnete sie großzügig und schenkte mir ein Lächeln. Unglaublich, welche Geduld sie mit mir hatte. „Also, ich sehe da wenig Hoffnung.“ „Was?“ Ich warf dem Typen einen abschätzigen Blick zu und stand auf. „Sind wir doch mal ehrlich. Es tut mir leid, meine Süße. Aber ihr Verlobter hat im wahrsten Sinne des Wortes zwei linke Füße“, sagte er und schüttelte müde lächelnd den Kopf. Machte er sich etwa lustig über mich? Und wie hatte er Mimi da gerade genannt? „Wissen Sie, stehen Sie mal auf einem Fußballfeld. Ich würde wetten, Sie würden sich da genau so dämlich anstellen, wie ich mich hier beim Tanzen“, antwortete ich spitz. „Fußball?“, lachte er auf. „Sie wollen ja wohl nicht Fußball mit Tanzen vergleichen. Dann könnten Sie genauso gut eine Blockflöte mit einem Klavier vergleichen. Tanzen ist Leidenschaft. Tanzen spiegelt die Seele wieder. Fußball dagegen ist … nahezu primitiv.“ Ok, das reichte. Ich fletschte wie ein bissiger Hund die Zähne und machte einen drohenden Schritt auf ihn zu. „Ich kann dir ja gerne mal mit meinem primitiven Fuß in deinen tanzenden Arsch treten. Na, wie gefällt dir das?“ Der Typ wich einen Schritt zurück und gab einen Laut von sich, der dem eines kleinen ängstlichen Welpen glich. Angewidert verzog er das Gesicht. „So was … das ist ja unerhört!“, fauchte er mich an. „Das habe ich während meiner gesamten Karriere noch nicht erlebt.“ Von welcher Karriere sprach dieser Kerl da eigentlich? Er sammelte seine Sachen vom Boden der Tanzhalle auf und eilte zur Tür. Seine Halsschlagader pulsierte und Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn, während er immer wieder verängstigt zu mir rüber schielte. „Tut mir leid, meine Liebe. Aber unter diesen Umständen kann ich sie unmöglich weiter unterrichten“, sagte er an Mimi gewandt, die immer noch auf dem Boden saß und ihn mit offenem Mund hinterher sah. „Wirklich schade, um ihr Talent. So ein vulgärer, anstandsloser, …“ Man hörte ihn noch über mich schimpfen, als die Tür schon längst scheppernd hinter ihm zugefallen war. Wütend starrte ich ihm hinterher. Sein Glück, dass er freiwillig die Flucht ergriffen hatte. Einen Tanz länger und mir wäre der Geduldsfaden gerissen. „Tai, du …“ Oh, verflucht. Mimi. Mist, das konnte was geben. Ich hatte unseren Tanzlehrer beleidigt, ihm gedroht und ihn in die Flucht geschlagen. Und ohne daran zu denken – aber ich hatte unseren Hochzeitstanz ruiniert. Mimi hatte es sich so sehr gewünscht und jetzt? Wer sollte uns jetzt das Tanzen beibringen? Ich konnte mich wohl auf was gefasst machen. Sie würde mir den Kopf abreißen. Ganz sicher würde sie gleich auf mich losgehen und mich anschreien, was für ein riesen Idiot ich doch wäre. Ich wagte einen Blick in ihre Richtung. Fassungslos und mit offenem Mund starrte sie mich an. „Tai, du hast nicht ernsthaft …“, stammelte sie und ich machte mich auf das Schlimmste gefasst. Mimi war schon immer sehr impulsiv gewesen. Aber das? Das würde sie ausrasten lassen! „Tai, du hast … du hast ihn ja total zur Schnecke gemacht!“, prustete sie plötzlich lauthals los. „Der hatte ja richtig die Hosen voll!“ Stutzig sah ich sie an, doch Mimi … hielt sich nur den Bauch vor Lachen. Okay, das war jetzt irgendwie nicht die Reaktion, mit der ich gerechnet hatte. „Unfassbar! Ich glaub’s nicht, dass du das gemacht hast“, lachte sie weiter und hatte bereits Tränen in den Augen. Ich konnte mein Grinsen nicht mehr unterdrücken und ging vor ihr in die Hocke. „Hey, warum findest du das so lustig?“, fragte ich amüsiert. „Ich habe unseren Tanzlehrer vergrault. Was wird denn jetzt aus unserem Hochzeitstanz?“ Unter Tränen hob Mimi den Kopf. Ihre Wangen waren ganz gerötet vor Lachen. „Ach, der war doch sowieso ne Pfeife.“ Ich prustete los. War das ihr Ernst? „Als ob man dir nicht das Tanzen beibringen könnte. Ich bitte dich, Taichi Yagami. Du hast zwar zwei linke Füße. Aber man muss dich nur zu nehmen wissen“, sagte sie überzeugt und stand auf. „Zu nehmen wissen, huh?“, grinste ich ihr breit hinterher, als sie zur Musikbox ging und erneut auf Play drückte. Als die zarten Violinen ihres Lieblingsliedes erklangen, stellte sie sich in die Mitte des Raumes und streckte ihre Hand nach mir aus. Es war eine Streichversion von „Stay With Me“, die Mimi über alles liebte. „Na, komm schon“, sagte sie und sah mich herausfordernd an. Perplex zeigte ich mit dem Finger auf mich. „Wie? Du willst, dass ich mit dir tanze? Aber du weißt doch, dass ich es nicht kann.“ Mimi schüttelte den Kopf. „Komm her. Wir kriegen das schon hin. Vertrau mir.“ Wenig überzeugt zog ich eine Augenbraue nach oben. Dennoch stand ich auf und ging zu ihr. Wir stellten uns in Position. Ich nahm ihre Hand in meine und zog sie an der Taille an mich. Es war eigentlich ein sehr langsamer und geschmeidiger Tanz. Aber irgendwie fehlte mir bisher wohl die nötige Anmut dazu. Doch diesmal versuchte ich mich ganz auf die Melodie einzulassen – und auf Mimi. Wir gingen ein paar Schritte vor und ein paar zurück, immer im Takt der Musik, bis Mimi ihre Hände hob und sie seitlich an meine legte. So tanzten wir im Kreis und ich konnte deutlich den Druck spüren, den sie auf meine Hände ausübte. Ein verschmitztes Grinsen legte sich auf mein Gesicht. „Du führst.“ Mimi lächelte wissend. Wir bewegten uns immer sicherer zu den sanften Klängen des Streichquartetts. Ich nahm Mimi seitlich an der Taile, hob sie hoch und wir drehten uns im Halbkreis. Sie grinste. „Und du sagst, du kannst nicht tanzen.“ „Hätte ich gewusst, dass es so einfach ist …“ Ich ließ mich weiter von ihr führen. Es fiel mir nicht schwer. Ich vertraute niemanden so sehr wie ihr. Es fühlte sich wunderschön an, wie wir uns bewegten. So perfekt. Als hätten wir nie etwas anderes getan. Das zeigte mir einmal mehr, wie sehr wir doch zusammengehörten. Mimi war mein Gegenstück, in jeder Weise. Die Dinge, die ich nicht konnte, glich sie aus. Und wenn ich einmal über die Strenge schlug, verzieh sie mir stets. Das war Liebe. Das waren wir. Und auch wenn ich es nie zugegeben hätte – ich hätte ewig so mit ihr weiter tanzen können. Für immer. Mimi „Willst du das wirklich?“, fragte ich ihn. Das war seine letzte Chance einen Rückzieher zu machen. „Wir könnten uns auch eine Ausrede einfallen lassen“, bot ich ihm weiter an, doch Tai schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, ich will mit dir tanzen.“ Es war unser Hochzeitstag. Der schönste Tag in unserem Leben. Wir feierten mit unseren Freunden und der Familie. Doch unseren Hochzeitstanz hatten wir uns bis ganz zum Schluss aufgehoben. Ich war mir bis zuletzt nicht sicher, ob Tai das wirklich mit mir durchziehen würde. Doch plötzlich kam es mir so vor, als könnte ihn nichts in der Welt davon abhalten. Die Musik setzte ein und wir fingen an, uns im Takt zu bewegen. Ich begann die Führung zu übernehmen und Tai ließ es zu. So wie er mich die letzten zwei Jahre durchs Leben geführt hatte, so führte ich ihn nun in unser Neues. Ich schüttelte leicht den Kopf und musste grinsen. „Was ist?“, fragte Tai lächelnd. „Warum lachst du?“ „Ach, nur so“, meinte ich, während er mir voll und ganz weiter vertraute. „Ich finde es nur witzig, dass du plötzlich darauf bestanden hast, mit mir zu tanzen. Wo du dich doch am Anfang mit Händen und Füßen dagegen gewehrt hast. Tai zuckte leicht mit den Schultern. „Tja, ich wusste ja auch nicht, dass ich die beste Lehrerin direkt vor der Nase habe.“ „Da ist was dran“, lachte ich und drückte sanft seine Hand, sodass er wusste, dass er jetzt zurückgehen musste. Es war erstaunlich, wie sehr sich Tai in den Tanz einfügte. Niemand bemerkte, dass ich diejenige war, die führte. Wir waren wie eine Einheit. Zwei Teile eines Ganzen. Ich wusste, solang er an meiner Seite war, würde ich mich immer komplett fühlen. Damals war ich mir oft unsicher gewesen, ob der Weg, den wir beschritten wirklich der Richtige war. Ich hatte viele Zweifel, die uns, doch die vor allem mich betrafen. Heute weiß ich, dass sie völlig unbegründet waren. Denn unsere Herzen schlugen im selben Takt – das taten sie schon immer. Und wenn ich ganz ehrlich zu mir war, dann hatte ich es auch schon immer gewusst. Dass Tai der Richtige für mich war. Dass ich niemals wieder einen anderen Menschen so sehr lieben würde wie ihn. Und dass wir einfach alles überstehen konnten, solange wir uns hatten. Tai hatte mich nie aufgeben. Und dafür war ich unendlich dankbar. Durch ihn konnte ich wieder hoffen. Denn es gab eine Zeit in meinem Leben, in der ich nicht an Morgen dachte, weil das Morgen für mich nicht mehr existierte. Es hatte aufgehört zu existieren, genauso wie die Zeit danach. Doch durch Tai wurde sie wieder lebendig. Die Zeit schritt weiter voran und ich konnte jede einzelne Sekunde davon genießen – weil ich ihn hatte. Nun wusste ich, solange er bei mir war, würde es immer ein Morgen geben. Wir beide gehörten zusammen. Für immer. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)