Heartbeats von Khaleesi26 (Michi-Woche) ================================================================================ Kapitel 4: Gold --------------- Taichi Nach dieser Panikattacke auf dem Balkon hatte ich nicht lange überlegt und mir ein Flugticket nach New York gekauft. Ich hatte alle meine Termine abgesagt und ich wartete auch nicht darauf, ob Mimi nicht doch am nächsten Tag vor meiner Tür stand – denn ich wusste, das würde nicht passieren. Ich hatte noch ein paar Mal versucht, sie zu erreichen, doch ihr Handy war abgeschaltet. Dieses Gefühl der Angst, die ich empfunden hatte und diese Enge, die sich auf meine Brust legte … ich konnte es mir nicht erklären. Ich wusste nur, dass es mit Mimi zusammenhing. Und dass es ihr nicht gut ging. Das spürte ich einfach. Kari und meine Freunde hatten mich für verrückt erklärt, einfach wegen einer Vermutung wieder nach Amerika zu fliegen. Doch sie verstanden nicht, wie stark unsere Verbindung war. Mimi brauchte mich. Und ich musste bei ihr sein – jetzt. Allerdings stellte sich dieses Bedürfnis als schwierig umsetzbar heraus. Denn Mimi war verschwunden. Als ich vor ihrer Wohnung stand, war sie dort nicht anzutreffen. Leider hatte der Flug länger gedauert als geplant. Alle Plätze waren ausgebucht, also musste ich über viele Umwege nach New York gelangen, wodurch ich insgesamt drei Tage verlor. Ich klingelte noch mal und hielt sogar einen Nachbarn auf, der gerade aus dem Wohnblock kam. Doch auch er hatte Mimi seit Tagen nicht gesehen. Verdammt! Wo konnte sie nur sein? Ich beschloss in sämtlichen Krankenhäusern in der Nähe anzurufen, doch auch da konnte man mir auf Grund der Schweigepflicht keine Auskunft geben, bis auf die Information, dass sich dort aktuell keine Mimi Tachikawa befand. Meine nächste Idee war, Mimis Eltern in Japan zu kontaktieren. Doch auch dort ging immer wieder nur der Anrufbeantworter ran. Nun stand ich da – ziemlich hilflos und wusste nicht weiter. Ich hätte Mimis Freunde gefragt, wenn ich gewusst hätte, wen ich fragen sollte. Hatte sie überhaupt viele Freunde hier in New York? Und wenn ja, wussten sie, wo sie war? Ich wusste, an welchem College Mimi studierte und beschloss, mich dort nach ihr zu erkundigen. Dort konnte man mir allerdings nur sagen, dass sie seit Tagen zu keiner Vorlesung mehr erschienen war. Also ging diese Spur auch ins Leere. Ich wusste noch nicht mal, bei welcher Zeitung Mimi arbeitete. Es gab unendlich viele Klatschpressen in New York. Wo sollte ich da nur anfangen? Und warum, zum Teufel noch mal, kam es mir so vor, als würde ich viel zu wenig über ihr Leben wissen? Wir redeten oft über so vieles, aber nie über die wichtigen Dinge. Ich hatte keine Ahnung, wer ihre Freunde hier waren, wo sie arbeitete und ich hatte absolut keine Idee, wo sie sich jetzt befand und ob es ihr gut ging – was das Schlimmste von allem war. Aber eins stand fest: Mimi verschwand nicht einfach von heute auf morgen, wenn es ihr gut gehen würde. Ich musste sie so schnell wie möglich finden. Mit diesen Gedanken öffnete ich die Tür meines Hotelzimmers und ließ mich aufs Bett fallen. Gestresst fuhr ich mir durchs Haar. Mimi, wo steckst du nur? Mein Handy klingelte. Ich zog es aus meiner Hosentasche und hob ab. „Ja?“ „Tai, wie geht’s dir? Bist du schon weitergekommen?“, platzte es aus Kari raus. Sie machte sich wohl große Sorgen. Sonst würde sie nicht so oft anrufen. Ich rieb mir mit den Fingern über die Augenpartien. „Mir geht’s gut. Und leider bin ich bis jetzt noch nicht weitergekommen. Jede Spur hat sich im Sand verlaufen“, erzählte ich ihr geknickt. Dann seufzte ich und starrte an die weiße Zimmerdecke. „Ich weiß ehrlichgesagt nicht, wo ich sie noch suchen soll.“ Kari schwieg kurz, doch dann sagte sie: „Komm doch nach Hause, Tai.“ „Was?“, entgegnete ich skeptisch. Hatte ich mich gerade verhört? „Warum kommst du nicht nach Hause?“, wiederholte Kari. Sorge schwang in ihrer Stimme mit. „Das bringt doch alles nichts. Du weißt nicht mal, wo sie sich gerade befindet und du hast keine Ahnung, wo du anfangen sollst. Du suchst eine Nadel im Heuhaufen, Tai. New York ist so groß. Du wirst sie dort niemals finden.“ „Ist das dein Ernst?“, erwiderte ich fassungslos. Wie kam sie darauf, dass ich den weiten Weg gemacht hatte, um jetzt einfach aufzugeben? Um Mimi aufzugeben? „Tai, du bist jetzt schon seit zwei Wochen dort und hast nicht die geringste Spur“, legte Kari nun die nackten Tatsachen auf den Tisch. Die allerdings nichts an meiner Entscheidung änderten. „Das ist mir egal. Ich bleibe“, beharrte ich entschlossen. „Bis ich sie gefunden habe und weiß, was mit ihr passiert ist.“ Karis tiefes Seufzen war nicht zu überhören. Doch dann lachte sie plötzlich leise auf. „Du bist ja schon genau wie sie.“ „Wie?“ „Genauso dickköpfig.“ Ich musste grinsen. Das war mir bis jetzt noch gar nicht wirklich aufgefallen. „Kann sein“, sagte ich lächelnd, weil sie irgendwie recht hatte. Mimi hätte auch nicht aufgehört mich zu suchen. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, hielt sie nichts und niemand davon ab, das auch durchzuziehen. Umso verwunderlicher, dass sie nicht in den Flieger gestiegen war, wie sie es angekündigt hatte. „Wahrscheinlich habt ihr doch mehr gemeinsam als ich dachte“, gab sich Kari schließlich einsichtig. „Ich wünsche dir noch viel Glück. Du wirst sie finden, Tai!“ Ich nickte entschlossen. „Das werde ich.“ Wir legten auf und ich ließ das Handy neben mir aufs Bett sinken. Mimi war irgendwo da draußen. Davon war ich überzeugt. Und ich musste sie nur finden. Ich musste den Menschen wiederfinden, der es geschafft hatte, dass ich mich vollkommen fühlte. Aufgeben kam nicht in Frage. Aber wo sollte ich anfangen? Wo sollte ich noch suchen? Ich hatte keine Hinweise mehr, die mich irgendwie weiterbringen würden. Und jeden Tag wieder vor ihrer Wohnung zu stehen und zu hoffen, dass sie vielleicht doch da war, war auch keine Lösung. Ich musste mir etwas einfallen lassen. Oder ich brauchte ein Zeichen. Irgendeine göttliche Fügung, die mich zu ihr führte. Aber solche Wunder gab es wohl nicht … Mein Handy klingelte erneut. Wahrscheinlich war es noch mal Kari, die etwas vergessen hatte, zu erzählen. Doch als ich aufs Display blickte, runzelte ich verwundert die Stirn. Eine unbekannte Nummer. Irritiert hob ich ab. „Hallo? Taichi Yagami hier.“ „Tai? Tai, bist du`s?“, fragte eine unbekannte, weibliche Stimme. Eine Stimme, die mich offensichtlich zu kennen schien. „Ja, ich bin`s. Wer spricht denn da?“ „Ich bin`s, Satoe. Mimis Mutter.“ Mit einem Mal saß ich kerzengerade im Bett. Ich presste das Handy so stark an mein Ohr, dass es beinahe wehtat und mein Atem beschleunigte sich vor Aufregung. „Frau Tachikawa! Tut mir leid, ich habe Sie nicht gleich erkannt“, entschuldigte ich mich schnell. „Ist schon in Ordnung“, gab sie zurück. Mein Herz hämmerte so stark gegen meine Brust, dass ich vor lauter Aufregung fast das Luftholen vergaß. „Ich habe eben unseren Anrufbeantworter zu Hause abgehört. Du hattest mehrere Male versucht, uns zu erreichen, stimmts?“, fragte sie. „Stimmt. Wissen Sie vielleicht, wo Mimi ist? Ich kann sie seit Tagen nicht erreichen“, platzte es sorgenvoll aus mir heraus. Oh, bitte. Sie musste mir einfach helfen können. „Ja … Ja, ich weiß, wo Mimi ist, aber ich …“, sagte sie mit leichter Unsicherheit in der Stimme. Was? Wieso redete sie nicht weiter? „Bitte, Frau Tachikawa. Sie müssen mir sagen, wo sie ist. Damit ich zu ihr kann“, flehte ich sie an. Wollte sie mir etwa gar nicht helfen? Warum zögerte sie so sehr? „Ich weiß, wo Mimi ist, denn ich bin bei ihr“, erklärte Satoe mir. „Ich bin mir nur nicht sicher, ob sie dich sehen möchte.“ Was? Mein Herz zog sich schmerzhaft in meiner Brust zusammen, während ich einfach nicht fassen konnte, was sie gerade gesagt hatte. Mimi wollte mich nicht sehen? Das konnte nicht sein. „Aber ich muss zu ihr, ich …“ „Es geht ihr sehr schlecht, Tai.“ „Was? Aber was soll das heißen?“, hakte ich aufgebracht nach. Das durfte einfach nicht wahr sein. Da bekam ich endlich jemanden zu sprechen, der wusste, wo Mimi war und dann sagte sie mir, dass Mimi mich nicht sehen wollte? Nein, das konnte ich unmöglich hinnehmen. „Bitte, helfen Sie mir. Sagen Sie mir, wo Mimi ist. Oder zumindest, was passiert ist. Ich weiß einfach nicht, wie ich sonst zurück nach Hause fliegen soll, wenn ich nicht weiß, wie es weitergeht.“ „Du bist hier?“, fragte Mimis Mutter erstaunt. „Ich bin in New York, ja. Ich hatte so ein Gefühl, dass etwas mit Mimi nicht stimmte. Sie wollte mich besuchen, aber … sie kam nicht. Deswegen bin ich hergeflogen. Ich spüre einfach, dass es ihr nicht gut geht und ich möchte für sie da sein. Bitte. Mehr verlange ich gar nicht.“ Ich hatte noch nie im Leben um etwas so sehr gefleht, aber wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann wäre es der Wunsch, Mimi wiederzusehen. Und sei es nur für einen Augenblick. Satoe schwieg eine Weile, als müsste sie über meine Worte nachdenken. Jede Sekunde, in der sie nichts sagte, brachte mich beinahe um den Verstand. „Ich wusste nicht, dass ihr euch so nahe steht“, sagte sie schließlich und ich atmete erleichtert aus. „Doch. Wir stehen uns sehr nahe. Mimi ist … Sie ist der wichtigste Mensch in meinem Leben.“ Diese Worte auszusprechen, fiel mir leichter als erwartet, denn sie waren die reine Wahrheit. Allerdings hätte ich mir gewünscht, sie das erste Mal zu Mimi selbst sagen zu können. „Oh, Tai“, meinte Satoe und begann zu schniefen. Weinte sie etwa? „Sie wird mich vermutlich dafür hassen, aber … ich kann sie nicht länger so leiden sehen. Wenn du ihr irgendwie helfen könntest, ihren Lebensmut wiederzufinden … ich wäre unendlich dankbar dafür.“ Ihre Worte machten mir Angst und gleichzeitig Hoffnung. Was war nur mit ihr passiert? „Sagen Sie mir, wo sie ist“, forderte ich nun etwas deutlicher ein. Sie musste wissen, wie ernst es mir mit ihrer Tochter war. „Ich schicke dir die Adresse. Wir sind in Kalifornien. Wann kannst du hier sein?“ In Kalifornien? Aber wieso … „Morgen. Ich werde morgen da sein“, versprach ich und hoffte gleichzeitig inständig, dass ich gleich noch einen Flug buchen konnte. „Ist gut. Bis dann, Tai. Und … danke.“ Ich verabschiedete mich und legte auf. Sofort sprang ich vom Bett auf und packte meine Sachen. Während ich alles in den Koffer schmiss, klingelte mein Handy. Eine Nachricht mit der Adresse, wo Mimi sich befand. Los Angeles also. Ich schnappte meinen Laptop und klappte ihn auf, um den nächstmöglichen Flug zu buchen. Zu meinem Glück ging schon in wenigen Stunden einer. Kein Problem, das war auf jeden Fall zu schaffen. Halte durch, Mimi … In Los Angeles angekommen, fuhr ich sofort zu der Adresse, die Satoe mir geschickt hatte. Sie führte in ein Hotel, wo Satoe und ihr Mann untergekommen waren. Dort war eine Nachricht für mich hinterlegt, dass sie sich am Strand von Malibu befanden und eine weitere Adresse, zu der ich gerne hinkommen könne, wenn ich wollte. Wenn ich allerdings zu kaputt war, wäre es auch in Ordnung, wenn ich mich erst einmal auf meinem Zimmer ausruhte. Ein verlockender Gedanke, denn ich fühlte mich müde und ausgelaugt, da ich vor lauter Sorgen kein Auge zugetan hatte. Doch Mimi war wichtiger. Ich gab mein Gepäck auf und schnappte mir das nächstbeste Taxi, dass vor dem Hotel hielt. Ich zeigte ihm die Adresse und weitere endlos lange Minuten verstrichen, bis ich endlich da war, wo ich hinwollte. Bei ihr. Ich fand Mimis Eltern in einem Café. Beide begrüßten mich herzlich. Mimi war jedoch nicht bei ihnen. „Tai, wie schön, dass du es geschafft hast“, sagte Satoe und umarmte mich. „Wo ist sie?“, platzte es gleich aus mir heraus, was vermutlich ziemlich unhöflich war. Aber ich konnte keine Sekunde länger warten. Satoe nickte ihrem Mann stumm zu und wies mich dann an, ihr zu folgen. „Komm, ich bringe dich zu ihr.“ Wir gingen nur wenige Meter, bis wir an den Strand kamen. Mit den Füßen im Sand blieb ich stehen und sah mich um. Es war schon spät und die Sonne ging langsam unter. Sie ließ den Sand golden erstrahlen und plötzlich … sah ich sie. Sie saß mit dem Rücken zu uns, nah am Meer, die Beine angezogen und lauschte den Wellen. Ihr offenes Haar wehte leicht im Wind und ich hätte nichts lieber getan, als sofort zu ihr zu rennen, ihr Gesicht in meine Hände zu nehmen und sie zu küssen. „Sie sitzt seit Stunden schon da. Und starrt apathisch aufs Meer hinaus“, ergriff Satoe das Wort. Ich folgte ihrem Blick, der unergründlich traurig wirkte. „Was ist mit ihr?“ „Weißt du, sie ist … sie ist …“ Sie wischte sich schnell eine Träne weg und versuchte sich zu sammeln, ehe sie schützend die Arme vor der Brust verschränkte, als müsste sie sich selbst festhalten. „Mimi ist zusammengebrochen. Vor ungefähr zwei Wochen.“ Also doch. Das war es, was ich gefühlt hatte. Der Schmerz. Diese plötzliche Angst, die sich nicht logisch erklären ließ. Es waren ihre Ängste. Es war ihr Schmerz, den ich gespürt hatte. „Man hat sie sofort ins Krankenhaus gebracht. Dort kam heraus, dass Mimi schön länger unter Kopfschmerzen und Schlafstörungen litt. Aber nicht nur das. Sie hatte Panikattacken, Halluzinationen. Sie hat Dinge gesehen und gehört, die gar nicht da waren. Die einfach nicht existierten, aber die sie in den Wahnsinn trieben. Manchmal hatte sie sogar so was wie Krampfanfälle. Die Ärzte haben sich natürlich sofort ihren Kopf angesehen und dann … dann haben sie festgestellt, dass sie einen Hirntumor hat.“ Ich schluckte schwer. Am liebsten wäre ich in mir zusammengebrochen. Das durfte einfach nicht wahr sein! Nicht sie! Nicht Mimi! „Aber … d-das kann man doch behandeln, oder? Sie wird doch sicher operiert, oder etwa nicht?“ Satoe nickte knapp. „Deswegen sind wir hier. Als wir davon erfuhren, sind wir sofort nach New York geflogen und mein Mann hat Kontakt zu einen der besten Chirurgen des Landes aufgenommen. Er ist ein Spezialist auf diesem Gebiet. Die Chancen, den Tumor zu behandeln, ohne dass bleibende Schäden entstehen oder Schlimmeres sind 50/50.“ Oder Schlimmeres? Was sollte das heißen, oder Schlimmeres? Wollte sie mir gerade sagen, dass Mimi vielleicht …? Ich ballte meine Hände zu Fäusten, um dem Schmerz nicht nachzugeben, der sich in meiner Brust ausbreitete. Ich musste jetzt unbedingt stark sein – für Mimi. „Aber es gibt etwas, dass mir noch mehr Sorgen bereitet“, erzählte Satoe weiter. Ich sah sie fragend an. „Ihre Symptome schritten schnell voran. Viel zu schnell. Die Panikattacken wurden schlimmer, auch die Halluzinationen. Allmählich verlor sie das Gefühl in den Fingern ihrer rechten Hand und auch ihr rechtes Bein spürte sie plötzlich nicht mehr. Sie verlor sich immer mehr. Sie denkt, sie ist verrückt. Und sie glaubt nicht daran, dass sie das alles überleben wird. Seitdem ist sie völlig apathisch. Wir sind jetzt seit einer Woche hier und warten auf die OP. Doch von Tag zu Tag geht es ihr schlechter. Es tut weh, dabei zuzusehen. Sie sitzt nur noch da und starrt vor sich hin. Sie stößt uns von sich und schickt uns weg, so oft sie kann, weil sie allein sein will. Aber wir bleiben immer in ihrer Nähe. Ich mache mir solche Sorgen, Tai. Ich weiß nicht, was wir noch machen sollen. Wenn sie keinen Willen hat zu kämpfen, dann … dann …“ Ihre Stimme brach erneut und nun konnte sie die Tränen, die über ihre Wangen rollten, nicht mehr zurückhalten. Ich legte mitfühlend einen Arm um sie, während ich versuchte, das alles zu begreifen. Niemals würde ich zulassen, dass sie sich aufgab. Dass sie einfach so aus meinem Leben verschwinden würde. Doch, was sollte ich tun, um ihr zu helfen? „Kann ich mit ihr reden?“, fragte ich schließlich vorsichtig. Satoe nickte. „Du kannst es versuchen. Aber sei vorsichtig. Und lass dich nicht irritieren. Sie ist nicht mehr die Mimi, die du früher kanntest.“ Ein flaues Gefühl ergriff mich und ließ mich zweifeln. Ich wollte es so sehr – doch konnte ich ihr überhaupt helfen? Ich sagte Satoe, dass es okay sei, wenn sie uns eine Weile allein ließ. Dass ich schon klarkommen würde. Doch im Grunde traute ich meinen eigenen Worten nicht. Das war alles zu viel auf einmal. Wie würde Mimi reagieren, wenn sie mich sah? Würde ich sie wiedererkennen? Oder war sie bereits nur noch ein Schatten ihrer selbst und ich der Narr, der nicht einsah, dass er nichts gegen das Schicksal ausrichten konnte? Langsam näherte ich mich ihr und gab mir dabei die größte Mühe, sie nicht zu erschrecken. Ich trat neben sie und ließ mich langsam neben ihr im Sand nieder. „Hallo, Mimi“, sagte ich, jedoch ohne sie anzusehen. Sie antwortete nicht, starrte einfach nur weiter aufs Meer hinaus und der Sonne entgegen. „Weißt du noch, wer ich bin?“ „Sei nicht albern, Tai“, erwiderte sie überraschend schnell. „Natürlich weiß ich, wer du bist.“ Erleichtert atmete ich aus. Irgendwie hatte ich Angst, nach allem, was mir ihre Mutter erzählt hatte, dass sie mich nicht erkennen würde. „Du hättest nicht herkommen sollen.“ Ich drehte den Kopf und sah sie an. Die untergehende Sonne ließ sie förmlich erstrahlen. Sie saß in einem goldenen Licht, dass voller Hoffnung auf sie herab schien. Und trotzdem waren ihre Augen leer. Als würden sie den Schein des warmen Lichts gar nicht wahrnehmen. Als wären sie ganz woanders. „Ich wollte dich sehen“, erklärte ich knapp. Als würde das alleine erklären, warum ich tausende von Kilometern auf mich genommen hatte. Dabei gab es so unendlich viele Gründe dafür bei ihr zu sein. „Und, wenn ich dich nicht sehen will?“, entgegnete Mimi mit einer Gleichgültigkeit in der Stimme, die ich nicht von ihr kannte. Ich erschrak innerlich, denn mir fiel schweren Herzens auf, wie sehr ihre Mutter doch recht behalten hatte. Sie hatte sich verändert. „Warum wolltest du mich nicht sehen?“, fragte ich. „Vielleicht, weil ich nicht möchte, dass du mich so siehst. Vielleicht, weil ich mich selbst nicht mal mehr so sehen möchte. Vielleicht auch, weil … weil ich mich nicht von dir verabschieden möchte.“ Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter. Ihre Worte schmerzten. Und doch wusste ich, dass sie gerade aufrichtig zu mir war. Sie wollte nicht, dass ich sie so sah. Sie wollte sich nicht verabschieden. „Du musst dich nicht verabschieden“, sagte ich entschlossen. „Ich weiß genau, dass du das …“ „Du weißt gar nichts“, gab sie tonlos zurück. Sie schien noch nicht mal verärgert oder zeigte irgendeine andere Art von Emotion. So, wie sie dasaß, aufs Meer hinausstarrte und einfach keinerlei Gefühl mehr in ihrer Stimme lag, hätte man meinen können, sie würde mit einem Geist reden. Dabei war ich hier. Genau hier neben ihr. „Ich lasse dich nicht gehen“, entschied ich. Meine Stimme war fest und entschlossen. „Ich lasse nicht zu, dass du mich verlässt und ich lasse auch nicht zu, dass wir uns voneinander verabschieden, hörst du?“ Die Emotionen überkamen mich und ich packte sie energisch an der Schulter, damit sie mich endlich ansah. Panisch wandte sie den Kopf und blickte mir plötzlich mit Entsetzen in die Augen. „Wer … wer bist du? Was willst du?“ Ich nahm meine Hand von ihr, während sie ein Stück zurückwich. „Nein, geh weg. Lass mich in Ruhe!“, fuhr sie mich an und wollte aufstehen. Doch ihr rechtes Bein gab unter ihr nach und sie fiel zurück in den Sand. „Was … was ist hier los?“ Sie umklammerte mit den Händen ihr Bein und betrachtete es, wie einen Fremdkörper. „Warum geht das nicht? Warum kann ich nicht aufstehen?“ Sie hatte eine Panikattacke. Und ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. „Mimi, es ist alles gut. Bitte, versuch dich zu beruhigen“, versuchte ich auf die einzureden und wollte ihr näher kommen, doch sie wich erneut vor mir zurück. „Gehen Sie weg! Ich habe das nicht getan. Ich habe gar nichts getan!“ Was sah sie gerade in mir? Sie sagte das mit so einer Überzeugung, als würde sie gerade auf der Anklagebank vor Gericht sitzen. Als würde ich ihr irgendein Leid zufügen wollen. Ihre Augen weiteten sich immer mehr, während sie völlig von Sinnen immer wieder auf ihr Bein einschlug. „Warum spüre ich denn nichts?“ Tränen rannen ihr übers Gesicht. Verdammt! Ich musste sie irgendwie beruhigen. Aber wie? Hilfesuchen sah ich mich um. Ich konnte unmöglich weglaufen und Hilfe holen. Mimi war kurz davor, durchzudrehen. Plötzlich kam mir ein Gedanke. „Mimi, sieh mal.“ „Nein, ich kann nicht …“ Sie umklammerte weiter ihr Bein, während ihre Finger begannen, sich zu verkrampfen. Schweißtropfen bildeten sich auf ihrer Stirn. Ich musste sie irgendwie erreichen. Kurzentschlossen griff ich nach ihrer Hand, um sie festzuhalten. „Sieh mal, Mimi“, wiederholte ich. Zunächst wehrte sie sich und sah mich weiterhin panisch an. „Nein, lass mich! Lasst mich alle in Ruhe!“ Ich zwang mich zu einem Lächeln und warf einen Blick nach oben. „Schau mal, eine Sternschnuppe.“ Wie ferngesteuert hörte Mimi auf einmal auf, um sich zu schlagen und ihr Kopf wanderte nach oben. Sie sah ebenfalls in den Himmel, an dem kein einziger Stern zu sehen war. „Da ist keine Sternschnuppe“, sagte sie nun viel ruhiger und wandte sich mir wieder zu. Ihr Blick klärte sich, als sie den goldenen Stern in meiner offenen Hand liegen sah. „Das … Das ist …“, stammelte sie und griff nach dem Ohrring. Prüfend betrachtete sie ihn von allen Seiten. „Den habe ich dir doch geschenkt.“ Endlich. Sie war zurück. Sie strich sich die Haare, die ihr ins Gesicht fielen hinters Ohr und eben derselbe Stern kam zum Vorschein. Ich lächelte und sah sie liebevoll an. „Erinnerst du dich wieder?“ Sie nickte. „Ja. Ich habe dir meinen Ohrring geschenkt, als wir uns damals am Flughafen voneinander verabschiedet haben.“ „Du hast mich also nicht vergessen?“, fragte ich erleichtert. „Ich habe dich nicht vergessen, Tai“, sagte sie leise. „Ich konnte mich nur nicht an dich erinnern.“ Plötzlich schossen Tränen aus ihren Augen und sie schlug sich die Hand vor den Mund. „Oh, Tai“, sagte sie und fiel mir schluchzend um den Hals. Ich schlang meine Arme um sie und drückte sie so fest es ging an mich. Nie wieder wollte ich sie loslassen. Endlich hatte ich sie wieder. „Es tut mir leid“, wimmerte sie. „Es tut mir leid. So leid. Ich wollte nicht, dass du das siehst. Ich … I-ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich glaube, ich bin verrückt.“ Ich schüttelte den Kopf und drückte sie sachte von mir. „Du bist nicht verrückt“, sagte ich mit ruhiger Stimme und strich ihr mit dem Daumen die Tränen aus dem Gesicht. „Du bist nur krank. Aber das ist nicht schlimm. Denn du wirst wieder gesund werden. Ganz gesund werden. Das weiß ich einfach. Die Ärzte werden dir hier ganz sicher helfen können.“ „Meinst du?“, entgegnete Mimi gerührt. Ihr Blick zerriss mir das Herz. Wenn sie schon nicht daran glaubte, dann musste ich eben für uns beide daran glauben. „Ja, ich bin mir ganz sicher“, nickte ich entschieden. Mimi lächelte. Sie lächelte tatsächlich. „Danke“, sagte sie nun etwas zuversichtlicher und hielt mir den Ohrring entgegen. „Nein, behalte ihn“, meinte ich und schob ihre Hand weg. „Aber, er gehört dir doch. Ich habe ihn dir geschenkt.“ Verständnislos sah sie mich an, doch ich lächelte nur. „Behalte ihn. Dann hast du einen Grund, ihn mir noch mal zu schenken.“ Mimis Mundwinkel wanderten nach oben. Dann beugte sie sich nach vorne und sie küsste mich. Erst ganz sanft, doch dann konnte ich nicht anders, als ihr Gesicht in meine Hände zu nehmen und meine Lippen auf ihre zu pressen. Meine Gefühle übermannten mich und plötzlich strömte alles gleichzeitig auf mich ein. Wut, Verzweiflung, Liebe, Hoffnung, Angst, Zuversicht … Und all diese Gefühle legte ich in diesen einen Kuss. Als wäre es unser Letzter. Ich durfte sie einfach nicht verlieren. Wir hatten uns gerade erst gefunden und jetzt wollte das Leben mir sie wieder entreißen? Als wir uns voneinander lösten, rutschte ich hinter sie und schloss meine Arme um sie. Sie lehnte sich gegen meine Brust und wir sahen uns gemeinsam die blutrote Sonne an, die fast schon am Horizont verschwunden war. „Du schaffst das, Mimi“, sagte ich nach einer Weile. „Die Welt dreht sich, weil dein Herz schlägt.“ Ich konnte spüren, wie ein Lächeln über ihre Lippen huschte. Diesmal glaubte sie mir. Sie war stärker als sie dachte. Das hatte ich immer gewusst. Und jetzt wusste sie es auch wieder. „Wollen wir gehen?“, fragte ich, als die Sonne komplett verschwunden war und so langsam die Nacht hereinbrach. Mimi nickte. Ich stand auf und griff ihr unter die Beine, legte meine Hand um ihre Taille und hob sie hoch. Sie schlang die Arme um meinen Hals und ich trug sie durch den Sand zurück zu ihren Eltern, die beide lächelnd auf uns warteten. „Not all broken things need to be fixed. Sometimes they just need to be loved.“ ― Brittainy C. Cherry, The Silent Waters Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)