Warum Pechvögel fliegen können. von Whiscy (Die Schutzengel-Trilogie 1) ================================================================================ Kapitel 13: Nächstenliebe-Quatsch --------------------------------- »Ich erkläre dir kurz den Ablauf, als Dank für die Kooperation«, sagt Azrael, sich die Brille zum tausendsten Mal zurechtrückend. »Nachdem wir Janiel zurück in den Himmel gebracht haben, nehmen wir ihm sein Schutzengel-Equipment weg. Dadurch wird aus ihm offiziell wieder derjenige, der er einst war: Unser C-Promi.« »Das ist doch untertrieben, sogar ich habe ihn gekannt! Er ist auf jeden Fall ein A-Promi!«, quäkt Dr. Sommer dazwischen. »Wie dem auch sei. Dadurch wirst du, Manuela Liedtke, fünfzehn Jahre alt, demnächst deiner eigenen Dummheit zum Opfer fallen. Ich kann weder versprechen, dass es schnell geht, noch, dass es nicht wehtut. Aber lass dir gesagt sein: Deine Seele wird Erlösung finden. Gott wird dich empfangen, mit all seiner Liebe und du wirst Ruhe im dritten Himmel finden, dem Paradies der verstorbenen Seelen. Falls du auserwählt und als geeignet empfunden wirst, darfst du sogar einen Copytest machen, um ein Engelsamt anzutreten. Zurzeit hören einige auf, deshalb haben wir Personalmangel«, erklärt der Todesengel mir gnädigerweise. Ich höre nur mit halben Ohr zu. Denn ich sehe Janiel hinterher, blicke in sein zermürbtes Gesicht. Er will nicht gehen, er will mich nicht alleine lassen. Ich weiß. Aber ich muss. Ich kann Tobi nicht an meiner Stelle sterben lassen. Und ich kann nicht von Janiel verlangen, für mich, egal zu welcher Zeit, hinter Gittern zu büßen. Zwar habe ich keinen Schimmer davon, wie so ein Himmelsgefängnis aussehen könnte, aber in meiner Fantasie stelle ich mir eine Ewigkeit hinter Stäben nicht besonders toll vor, egal wie viele Wolken und Sänger in der Nähe sind. »Deine verbleibende Zeit beträgt von nun an 24 Stunden. Nach diesem Tag wirst du tot sein.« Azrael weist Dr. Sommer mit einer winkenden Hand an, ihm dabei zu helfen, Janiel wegzuverfrachten. Dann verabschiedet er sich von mir: »Wir sehen uns im Himmel wieder, Manuela Liedtke. Bis dahin: Carpe Diem!« Janiel sagt nichts. Nichts. » … « Ich bin allein. Jetzt bin ich zum ersten Mal seit Wochen vollkommen unbeobachtet und komplett allein. Es fühlt sich seltsam an. Ich kann gar nicht glauben, dass ich mein ganzes Leben, bevor ich Janiel traf, so verbracht habe. Da ist niemand mehr, der mich überwacht. Der mich nervt. Der mich stalkt. Der mich mit seinen bescheuerten Aktionen quält. Da bin nur ich. Weil ich sterbe, nehme ich die Welt um mich herum anders wahr als sonst. Die Luft ist nicht kalt, sie riecht nach Herbst. Nach Wind, nach Ahornblättern, nach Winterbeginn. Der Winter wird morgen beginnen. Ohne mich. Ein Sonnenstrahl, der meine Haut berührt, scheint sie fast zu verbrennen, so heiß empfinde ich jenen, der die Atmosphäre in zwei Hälften teilt. Wie Gut und Böse. Den Nachmittagsunterricht habe ich verpasst, kein Schüler tummelt sich mehr am Eberhardt-Frank-Gymnasium. Den Bus auch, aber das macht nichts. Ich beschließe, nach Hause zu laufen, durch den Wald. Zu Fuß dauert das natürlich viel länger, als mit dem Rad. Deswegen komme ich erst nach drei Stunden zu Hause an, als es bereits dunkel ist. »Manuela, warum kommst du so spät heute? Warst du noch mit Freunden unterwegs?«, fragt meine Mutter hoffnungsvoll. Klar, sie ist froh, wenn ich mal nicht zuhause sitze und Horrorromane lese. Sie wünscht sich für mich das Beste. Was muss sie sich für Sorgen gemacht haben. »Ich liebe dich, Mama!«, presse ich hervor, taumele auf sie zu und drücke sie ganz fest. »Ich liebe dich so sehr!« Sie tätschelt mir den Kopf, lässt mich dabei nicht los. »Ich dich auch, mein Schatz.« »Wollen wir heute Popcorn machen und fernsehen?« »Natürlich. Möchtest du vorher noch was essen? Wir haben noch Pizza im Tiefkühlfach.« Wir lümmeln auf dem Sofa, mit Popcorn und Pizza, gucken Soaps. Mama kommentiert, wie dumm sich die Figuren anstellen in ihren Liebesbeziehungen. Ich lache. Und lache. »Mama, wie hast du Papa eigentlich kennen gelernt?« Normalerweise darf ich so etwas nicht fragen. Habe ich mir verboten. Bis jetzt. »Das war kurz nach dem Tod deiner Großmutter. Ich war recht zerstreut in der Zeit danach, stand öfter neben mir. Ich habe es nicht einmal geschafft, richtig einzukaufen. Als ich vor lauter Zitterei eines Tages meine Einkäufe fallen ließ, da half mir dein Vater, sie wieder einzusammeln. Er begleitete mich nach Hause und trug meine Taschen. Er war ein sehr hilfsbereiter Mann. In den Wochen danach half er mir immer wieder, fast wie durch Schicksal begegneten wir uns. Er war immer da, wenn ich ihn brauchte. Wenn ich mich nicht auch in ihn verguckt hätte, hätte ich gedacht, er wäre ein Irrer. Ich kann kaum glauben, dass das jetzt schon über zwanzig Jahre her ist!«, erzählt Mama. Meine Großmutter habe ich nie kennengelernt, aber ihr habe ich meinen Namen zu verdanken. Sie hieß nämlich auch Manuela. Das ist sehr schade, ich frage mich, wie sie wohl war. Diese andere Manuela. Laut Mama sind wir uns anscheinend ähnlich: »Oma hätte dich sehr geliebt, mein Spatz. Ihr hättet euch bestimmt gut verstanden. Schon allein, dass ihr dasselbe Schmunzeln habt! Und den Eifer hast du definitiv von deinem Vater.« »Eifer? So was habe ich nicht«, entgegne ich. »Das hätte dein Vater auch gesagt.« Sie lächelt. Wir vermissen ihn sehr. Aber Mama ist stark. Viel stärker, als ich es je war. Ich wäre auch gern so stark wie sie. Aber weil ich das nicht bin, gehe ich in mein Zimmer. Und weine mich in den Schlaf. Guten Morgen, Welt. Wir sehen uns in weniger als zwölf Stunden wieder, Papa. Wie verbringt man seinen letzten Tag auf der Erde? Es gibt bestimmt jede Menge kreative Leute, denen weiß der Kuckuck was einfallen würde, von Piraterie bis hin zu Fallschirmspringen. Weil ich aber erst fünfzehn bin und mir keine Kreditkarte besorgen kann (und unsportlich bin), verbringe ich ihn ganz normal Ich gehe zur Schule. Ich muss mich verabschieden. Morgens ist die Erste, der ich Lebewohl sagen möchte, Nadine. Vor dem schwarzen Brett fange ich sie ab. »Hey, Nadine.« Wie erwartet glotzt sie mich dumm an. »Hey … Manu … « »Ich möchte dir etwas sagen.« »Dann … tu’s doch … ?«, giftet sie mich grundlos an. Wie immer. »Ich hatte immer große Angst, mit dir darüber zu reden. Aber heute ist mir klar, dass es total lächerlich war. Ich hätte dich einfach gleich fragen sollen, anstatt das alles in mich hineinzufressen und allein darüber zu grübeln«, offenbare ich. »Nadine, es hat mir wirklich wehgetan, dass du mich von einen Tag auf den anderen plötzlich fallen gelassen hast. Ich mag dich nämlich wirklich sehr … die alte Nadine. Was ich nie verstanden habe, ist: Warum hasst du mich eigentlich so? Warum?« Nadine speichert Sauerstoff anstatt einen Ton von sich zu geben. Das habe ich echt noch nicht oft geschafft. »Du weißt es nicht?«, sagt sie schließlich. »Nein.« Ich zögere, ob ich noch etwas daran hängen soll. Mache ich. »Nein, ich habe keine Ahnung.« Stirnrunzelnd blinzelt sie mich an, mehrmals hintereinander. Es ist eine Gefühlsregung, die ich meiner damaligen Freundin zuschreibe. Der guten Nadine. »Tja, dann wirst du es wohl nie erfahren«, kontert sie schnippisch. Fail. Sie wird sich wohl niemals ändern. Da kann ich machen, was ich will. »Tja, ich werde es dir trotzdem verzeihen«, mache ich, was ich will. »Ich muss wohl was ganz schön Schlimmes angestellt haben.« Verdattert ist gar kein Ausdruck für Nadines Mimik. Zusätzlich erkläre ich ihr: »Ich möchte dir nur sagen: Es tut mir leid, wie das mit uns gelaufen ist.« Als Nadine und ich noch Freunde waren, da dachte ich weniger über den Tod nach. Bei ihr zuhause ging es immer lebhaft zu. Ihre kleine Halbschwester Miriam kam ständig mit neuen Ideen angelaufen. Sie quetschte sich zwischen Nadine und mich, wenn wir uns in Wehrmanns riesigem Haus irgendwelche schlechten Talkshows im Fernsehen anguckten. Obwohl es so groß und geräumig war, kuschelten wir immer eng aneinandergedrängt auf demselben Fleck. Mitten in einem Kissenlager. Einmal schminkten wir Miriam wie einen Clown mit der teuren Schminke ihrer Mutter und schossen Grimassen-Bilder davon. Nadine war die Visagistin und ich die Fotografin. Wir waren ein gutes Team. In der ersten Pause nerve ich die nächsten Menschen, die mir am Herzen liegen. »Mädels und Karotten, ich muss mich bei euch entschuldigen«, sage ich, Hanna und Karotte jeweils einen Arm um die Schultern legend. »Ich hätte vielleicht nicht einfach so rausstürmen sollen an dem Abend bei Valentine … « Karin lächelt mich so süß an wie eh und je: »Hach Manu! Keiner von uns ist dir da böse! Die Fragen waren einfach etwas zu persönlich, stimmt’s, Sophie?« »Ja, ich hätte das nicht so provozieren sollen, es geht uns ja eigentlich nichts an, ob du wieder was mit deinem Exfreund hast oder nicht … «, entschuldigt sich Sophie. »Hach, Mädels!«, seufze ich herzergreifend. Hanna und Karotte schielen zueinander. »Ähm, Manu … alles ok bei dir?«, erkundigt sich Hanna. Ich winke ab. Karotte ist sich meines Befindens genauso unsicher: »Wirklich? Wir haben uns schon Sorgen gemacht … dass du … naja … ausrastest.« Heute raste ich garantiert nicht aus. »Jan hat sich von der Schule abgemeldet.« Muss ich jetzt erschrocken tun? In die Runde lächelnd erkläre ich: »Ich weiß!« »Wir reden nicht von Karotte.« »Ich weiß!« Alle Beteiligten mustern mich schief. »Ich liebe euch, Leute!«, werde ich romantisch. Überschwänglich knuddle ich Hanna und Karotte, die ich immer noch rechts und links von mir im Arm halte, heftig durch. »Bitte bleibt immer so!« Natürlich finden mich meine Mitschüler für den Moment überaus merkwürdig, aber das macht mir nichts aus. Heute macht es mir nichts aus. In der nächsten Stunde haben wir Mathe, Dr. Sommer strahlt die Klasse an, wie am ersten Tag. Ich frage mich, ob nur schöne Menschen dazu befugt sind, zu Engeln zu werden. Oder ob ich vielleicht auch bald diesen Copytest, von dem Azrael sprach, ausfüllen darf. Ich frage mich, ob ich Janiel wiedersehen werde. Ich hoffe. Träume im Unterricht. Unser heißer Mathelehrer killt die harmonische Stimmung im Klassenzimmer, indem er anfängt, Blätter eines dicken Papierstapels durch die Reihen zu geben. »Da ihr alle bestimmt gut aufgepasst habt, schreiben wir heute eine Ex!«, frohlockt unser Sonnenschein. Die Schüler sind angewidert. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Mein letzter Tag auf Erden und ich schreibe einen unangekündigten Mathetest. Und das auch noch gerne (ich habe tatsächlich gelernt die Woche). Zwanzig Minuten Zeit bekommen wir. Es sind nur vier Aufgaben. Ich lese mir die erste durch. Überlege mir einen Lösungsweg, kritzele ihn mit Bleistift auf das Aufgabenblatt statt aufs Karopapier. Ich gucke mir die zweite an. Die weiß ich. Die dritte auch. Die vierte ist knifflig. Ich sehe es als Herausforderung. Formuliere alle Aufgaben aus. Nach fünfzehn Minuten bin ich fertig und kann beim Zurücklehnen beobachten, wie Klassenstreber Philipp ins Schwitzen gerät. Valentine sieht man ihr Können oder Nicht-Können nicht an. Valentine. Dr. Sommer geht durch die Reihe, drängt sich plötzlich zu mir nach hinten: »Na, schon fertig, Manuela?« »Äh!«, lächele ich ihn schief an. Er nimmt mir meine beiden Blätter weg, zwinkert. »Ich habe nichts anderes von dir erwartet!« Bevor er abzischen will, flüstere ich: »Herr Sommer!«, woraufhin er sich zu mir herunterbeugt. »Ja, Manuela?« »Passen Sie bitte gut auf Tobi auf! Und kommen sie ja nicht wieder auf die Idee, vor seinem hundertsten Lebensjahr abzuhauen!« Nadine, die neugierig aufschaut, versteht unser Geflüster komplett falsch, sie rollt nämlich die Augen. Das wird mal wieder Gerüchte geben. Aber heute, da macht mir das nichts aus. Es gibt eine Person, mit der ich noch unbedingt reden muss, bevor ich sterbe. Ironischerweise laufe ich ihr, ohne zu suchen, da über den Weg, wo wir das erste Mal miteinander geredet haben: in der Mädchentoilette neben dem Getränkeautomaten vor den Chemiesälen. »Valentine«, sage ich, als sie sich die Hände wäscht und ich in den Vorraum hereinplatze. Sie beeilt sich, schnappt sich Trockentücher und will verschwinden. »Warte.« »Ich d-denke, wir haben über alles geredet, was es zu reden gibt, Manu«, erwidert sie nur. Fast die ganze Nacht habe ich geweint. Fast die ganze Nacht habe ich darüber nachgedacht, was ich ihr sagen werde. »Valentine, es ist okay, dass du mit Tobi zusammen bist. Mach ihn glücklich.« Meiner Freundin stockt der Atem. »Willst du mir jetzt die Erlaubnis dafür geben … ?« Das hört sich nach dem Motto: Für-wen-hältst-du-dich an. »Nein. Ich will nur, dass ihr beide glücklich seid. Du hattest damals Recht, Valentine, als du gesagt hast, dass ich an niemandes Gefühle gedacht habe. Du hast mir gezeigt, was ich für ein Mensch war. Ich möchte mich ändern.« In der Zeit, die mir noch bleibt. »Ich verstehe es vermutlich am besten, wie es ist, in Tobi verliebt zu sein … also kann ich es dir nicht krumm nehmen, oder?« »Manu … was sagst du da … «, kann Valentine meine Worte nicht fassen. »Was ist in dich gefahren … ?« Ich kann nicht mehr. Sie hat nicht diesen Blick drauf, denselben wie Nadine. Obwohl sie jetzt viel hübscher aussieht, entdecke ich in ihrem Augenglanz das Mauerblümchen von damals, das liebe, aber traurige Mädchen. Sie sieht so traurig aus. Sie sieht ein bisschen aus, wie ich. Ich kann nicht mehr, ich weine. Valentine legt die Arme um mich, immer lauter schluchze ich. Schmiege meinen Kopf an ihre Schulter. »Was ist los, Manu?« Ich kann nicht mehr, ich sage es ihr: »Ich werde sterben, Valentine.« Wir weinen beide. Mein letztes Stündlein schlägt. Nachdem Valentine und ich uns wieder eingekriegt, die Tränen getrocknet und Chemie geschwänzt haben, erzählen wir uns, was uns so lange auf der Seele gebrannt hat. Sie dachte, ihr Umstyling hätte etwas verändert. Hat es aber nicht. Ich dachte, sie wäre damit glücklich gewesen. War sie aber nicht. Sie dachte, ich würde mit Jungenherzen jonglieren. Habe ich aber nicht. Ich dachte, dass sie Daniel mochte. Tat sie. Aber er eben nicht. Sie dachte, ich hätte etwas Besonderes an mir, das sie nicht hat. Habe ich aber nicht. Ich dachte, sie hasst mich. Tut sie aber nicht. Sie dachte, ich wäre etwas Besseres. Bin ich aber nicht. Nach einer Weile kommt Philipp vorbei, der Streber, der uns Schwänzer aufsammeln will. »Hey ihr zwei, wir haben Unterricht!«, zieht er seine Schleimer-Tour ab. »Heute nicht, Philipp«, korbe ich ihn. Valentine grinst ihn, gemeinsam mit mir, frech an. Darauf errötet der Junge leicht. »Was habt ihr vor?« »Spiel und Spaß.« Weil ich heute durchdrehen darf, geben meine süße Freundin und ich uns ein Zeichen, bevor wir das mit Philipp machen, was er unserer Meinung nach verdient hat. Wir drücken ihn zu Boden und malen ihm mit Edding einen Schnurrbart auf die Oberlippe. »Das ist dafür, dass du so mies zu Valentine warst!«, rechtfertige ich unsere Jux-Tat, die eher dem Todes-Wahnsinn als der Gerechtigkeit entspringt. »Genau! Und das ist dafür, dass du immer heimlich bei mir abschreibst!«, merkt Valentine an und vollendet mit gekonntem Strich unser Meisterwerk. »Hey … ho … Ich habe nicht abgeschrieben … «, protestiert der Schuldige. »Ach ja? Hast du etwa immer solche Stielaugen?« Valentine hält sich beide Hände vor die Augen, streckt die Zeigefinger aus und wackelt damit. Damit ähnelt sie leicht einer Weinbergschnecke. »Ich … eh … «, startet Philipp einen Rechtfertigungsversuch, der dabei bleibt. Kaum, dass wir ihn »freilassen«, entwischt er uns wieder, in Richtung Chemiesaal. »Ich gehe ihm mal nach«, beschließt Valentine. »Sehen wir uns nochmal nach dem Unterricht?« Ich nicke. Noch habe ich Zeit. Noch. Ein wenig. Während Valentine sich Redox-Reaktionen antut, pilgere ich zu meinem Lieblingsort an der Schule, um dort meine letzte Stunde zu verbringen. Eine halbe davon liege ich einfach nur auf meinem Lieblingsstein und starre in den Winterhimmel. Tschüss, Herbst. Ich habe in meinem kurzen langen Leben nichts Großartiges auf der Welt hinterlassen. Aber wenigstens habe ich an meinem letzten Tag die Menschen um mich herum glücklich gemacht. Es heißt immer, Gott liebt die Menschen. Ich liebe Gott nicht. Ist er jetzt traurig? Es sind noch genau dreißig Minuten, als ein Gesicht plötzlich die Wolke ersetzt, der ich gerade eine Drachen-Form andichte. »Valentine hat es mir erzählt«, platzt aus Tobi panisch heraus. »Ich bin ein Idiot, Manu.« »Ich weiß.« Satz des Tages. »Ich wollte dir einen Denkzettel verpassen … obwohl ich selbst an allem schuld bin … Ich verstehe total, wenn du nichts mehr mit mir zu tun haben willst – Ich bin so ein Idiot«, macht er sich selbst fertig. »Ist okay, Tobi. Ist okay«, sage ich. Aber nicht so wie sonst. Nicht so bettelnd. Nicht so froh. Ich sage es, weil ich es tatsächlich ok finde. »Ich bin kein Stück besser gewesen.« Dieser Junge, den ich so sehr liebe, dass ich für ihn sterbe. Er raubt mir nicht länger den Atem. »Ich wollte dir genauso wehtun wie du mir«, stelle ich fest, lehne mich auf und stütze mich auf meinen Ellbogen. »Schätze, wir sind quitt.« »Wir sind nicht quitt, Manu.« Er beugt sich zu mir vor, nimmt meine Wange in seine feingliedrige Hand. »Ein Engel kam und sagte mir, dass du für mich sterben wirst.« Auch der eigene Todestag ist für Überraschungen gut. Das hat Herr Sommer also für mich getan. Der Schuft. »Freiwillig«, hängt er nachdrücklich an. »Wie kannst du nur, Manu?« »Jeder stirbt mal.« »Jetzt ist nicht der Moment für Witze.« Und ich dachte, du liebst meinen Humor. »Ich tue das nicht nur für dich«, stelle ich klar. »Ich tue es genauso für Jan.« Sekundenlang hält er inne, starrt mir überrascht in die Augen. Erläuternd füge ich hinzu: »Er landet sonst im Gefängnis.« Diese Aussage klärt für Tobi gar nichts. »Ich lasse dich nicht sterben, Manu. Schon gar nicht für jemanden wie mich. Oder Jan.« Ich könnte gerührt sein, bin aber geschüttelt. »Du hast da nichts mitzureden, Tobi. Das Ganze ist beschlossene Sache! Leb dein Leben und mach gefälligst Valentine glücklich!«, pfeffere ich ihm verbal eine. »Mein Schutzengel hat mir gesagt, es ist noch nicht zu spät. Wir können die Rollen tauschen. Lass mich gehen, Manu«, bietet Tobi mir ernsthaft an. Das bietet Tobi mir ernsthaft an. »Das kann ich nicht, weil ich dich liebe«, schlage ich sein Angebot aus. »Ich kann und will das nicht. Außerdem hängen an dir mehr Menschen. Rein sozial-ökonomisch betrachtet, richtet dein Tod viel mehr emotionalen Schaden an … « »Manu … ich kann das nicht zulassen, weil ich DICH liebe.« Hahaha. Das kann nicht sein. Ich lache ihn aus. Kugele mich vor Lachen. »Das habe ich wohl verdient … bei meinem ersten Ich-liebe-dich ausgelacht zu werden … «, schmunzelt Tobi bedauernswert. Ich kriege mich immer noch nicht ein. Rolle vom Stein. »Danke Tobi, das versüßt mir meine letzten Minuten enorm! Du solltest mal überlegen, mit Comedy anzufangen!« »Ich meine das wirklich so, Manu. Ich … hatte so ein Gefühl noch nie für sonst jemanden. Lange wusste ich nicht, was es bedeutet. Erst in München ist es mir klar geworden. Aber ich habe den falschen Weg eingeschlagen … wir hätten einfach miteinander reden sollen, oder?« Allmählich habe ich mich wieder beruhigt. Oder wie man das nennt, wenn es einem so stark in die Seiten sticht, dass man sich nicht mehr rühren kann. »Manu?«, setzt er nochmal an. »Ich habe meinen Schutzengel schon hoch geschickt. Er regelt gerade, dass deiner zurückkommt.« »WAS?!«, flippe ich aus. Statt was darauf zu erwidern, lächelt er mich an, mit seinem Ich-strahle-heller-als-die-Sonne-Grinsen. Hektisch krame ich mein Handy hervor, glubsche auf die Uhr. Es ist Zeit. Zeit zu sterben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)