Warum Pechvögel fliegen können. von Whiscy (Die Schutzengel-Trilogie 1) ================================================================================ Kapitel 12: Mord an Manu ------------------------ Als Janiel für ein Meeting in den sechsten Himmel gerufen wurde, dachte er sich nichts Böses dabei. Großer Fehler. Ahnungslos spazierte er die Himmelsleiter hinauf, beobachtete dabei, wie Wetterengel hektisch umherflitzten, um ja den täglichen Wetterplan einzuhalten, den der zuständige Karma-Engel aufstellte. Camael wollte Janiel in der Bibliothek treffen. An dem Ort, an dem die Akasha-Chronik aufbewahrt wurde. Die Chronik bestand aus Billionen von Büchern. Diese beinhalteten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines jeden Menschen, der je existiert hatte und existieren wird. Sie verkörperte vor allem eines: Gottes Plan. Die Richtlinie, an die sich alle Engel halten müssen. Allein das Prinzip dahinter war Janiel zuwider. Gottes Plan beinhaltete ihm zu viele unangenehme Tatsachen. Hungernde Kinder. Kriege. Seuchen. Naturkatastrophen. Alles Teile von Gottes tollem Plan. Gott liebte alle Menschen, er war für alle da. In Wirklichkeit waren es Angeloi, die ständig die Regeln brachen, die tatsächlich für die Menschen da waren. So wie er. Janiel erwartete eine Standpauke von Camael deswegen. Womöglich war der Meister des Karmas dahinter gekommen, dass Janiel geheime Wahrheiten über die Engelswelt an einen Menschen weitergegeben hatte. Es war seit dem Zeitpunkt seiner Enttarnung klar gewesen, dass er irgendwann die Konsequenzen des Regelbruchs zu spüren bekommen würde. Mit diesen Vorahnungen traf Janiel in der Bibliothek ein. Jedoch wartete Camael nicht alleine auf ihn. Azrael stand mit seinem schwarzen Notizblock daneben. Der Todesengel kam Janiel vor wie ein Anwalt, in seinem tiefschwarzen Sakko, dem blütenweißen Hemd und der schmalen Krawatte. Zusammen mit der verspiegelten Brille ergab sich für Azrael daraus ein Gesamtbild, das genau der Sorte Person entsprach, die man nicht vor seiner Haustür stehen sehen wollte. »Mein lieber Janiel, wir haben dich gerufen, um dich über deine Versetzung zu informieren«, kündigte Camael an. »Du wirst fortan wieder im fünften Himmel dem Engelschor dienen.« Janiel stutzte. »Wie meinen Sie das, werter Meister? Ich dachte, ich bin ein Leben lang auf der Erde stationiert. Haben Sie etwa einen Ersatz gefunden … ?« »Eher nicht, mein lieber Janiel«, sagte Camael und zeigte mit dem Daumen auf den Todesengel. »Nein. Oh nein. Das meint ihr doch nicht Ernst. Ihr habt mich extra herunter geschickt, damit ich ein Leben lang auf sie aufpasse! Ihr könnt jetzt nicht Eure Meinung plötzlich ändern!«, protestierte Janiel lauthals. »Beruhige dich, Janiel! Das ist nicht meine Meinung, das ist Gottes Plan. Ich handle stets im Namen des Herrn und im Sinne der Akasha-Chronik, das weißt du«, versuchte Camael zu erklären. Versuchte. Janiel wurde fuchsteufelswild. »Ihr könnt mich alle mal!«, fluchte dieser, kehrte auf dem Absatz um und floh aus dem sechsten Himmel. Ich habe mich verändert. Ich bin kein Pechvogel mehr. Abends lege ich meine Bücher für den kommenden Tag im Voraus bereit, genau wie mein Outfit. Ich schreibe mir genau auf, wann Klausuren stattfinden. Statt meine Mathehausaufgaben zu ignorieren, widme ich mich ihnen. Mein grünes Froschmaul-Bike habe ich zur Reparatur gebracht. Einmal die Woche räume ich das ganze Haus auf, putze. Wie Janiel es mir beigebracht hat. Meine Mutter freut sich. Hoffe ich. An dem Tag, an dem Eiael uns für – angeblich – das letzte Mal besucht hat, habe ich für mich diesen Entschluss gefasst. Ich werde für meine Familie leben. Für meinen Vater. Für meine Mutter. Und für Janiel. Er hat sich furchtbare Sorgen gemacht. Sobald Eiael und ich wieder in unserer Küche aufkreuzten, nahm Janiel dies zum Anlass, den okkulten Engel heftig zu verdreschen. Prügeleien unter Engeln sind ganz lustig anzusehen, muss ich sagen. In der Schule rede ich, wenn möglich, kein Wort mehr mit Valentine. Ich wüsste nicht, was. Genau wie mit Tobi. Nadines Ausgrenzung hält sich wieder in Grenzen, allzu lang können zumindest die Jungs aus unserer Klasse ihr nicht böse sein. Im Gegensatz zu Mona und Elise. Aber jetzt ist das Gleichgewicht wieder – zum Teil – hergestellt. Und ich? Ich hänge mit Janiel ab, egal was andere reden. Auf eine seltsame Art und Weise bin ich glücklich. Wo ist Janiel eigentlich? Ich sitze mal wieder auf meinen Lieblingskunstwerken (das werde ich mir wohl nie abgewöhnen), während ich Ausschau nach meinem Schutzengelchen halte. Wie erwartet schwirrt mir sobald jemand entgegen. Unerwartet: Es ist Jonas. Jonas?! »Hi Manu! Kann ich mich zu dir setzen?«, fragt er. »Klar«, sage ich. Da hocken wir nun. »Gibt’s was Bestimmtes, Jonas?«, hake ich nach, weil es irgendwie leicht auf mich wirkt, als würde er sich hinter meinem Rücken und den Steinen vor irgendwem verstecken wollen. »Nö. Nö nö!«, macht er. Ernsthaft. »Jonas, wer soll dich nicht finden?!«, platzt es aus mir raus. Jonas guckt mich an wie ein Auto. »Also … ich habe Mist gebaut … «, gesteht er endlich. »Weißt du noch, als du mich auf diese Party von der Katrin eingeladen hast?« »Sie heißt Karin!« Arme Karin. »Jaaa … genau … Karin … « »Du hast mit Nadine geschlafen. Ich weiß«, sage ich so dahin. »Eh … ja … das ist nur die halbe Wahrheit«, stammelt unser Supermodel. »Eigentlich DENKT sie das nur.« »WAS?!«, entfährt es mir. »Du hast gar nichts mit ihr gehabt?!« »Sie ist nicht wirklich mein Typ, stand doch in der Zeitung.« Also wirklich. »Wie kommt das dann bitte zustande … wenn sogar Nadine nicht abstreitet, mit dir … du weißt schon. Und wieso erzählst du eigentlich nicht allen die Wahrheit?! Die Arme wird von allen als Schlampe betitelt! Also sie ist zwar auch eine, aber nicht unbedingt so eine … im Sinne von … Sex und so … « »Naja, das Problem ist … jetzt ist es zu spät dafür. Und am Anfang hat mir das Gerücht nicht allzu viel ausgemacht. Als Kerl ist das anders, weißt du. Da regnet es High-Fives und so.« »Jonas, das ist die schlechteste Begründung, die ich je gehört habe!«, halte ich ihm vor. »Und warum versteckst du dich nun?« »Irgendjemand hat mir erzählt, dass sie schwanger ist.« Oh no. Und: Armer Konstantin. »Bist du dir da sicher oder ist das wieder so ein Gerücht?«, hinterfrage ich skeptisch. So ganz glauben kann ich das einfach nicht. Nadine ist doch viel zu gerissen, um schwanger zu werden. Naja, vielleicht ist aber auch was anderes gerissen. Halleluja, dass man als Jungfrau nicht solche Probleme hat. »Ich weiß es nicht. Aber treffen will ich sie nicht.« Kann ich verstehen. Ich will Nadine allgemein nie, nie, nie treffen. »Darf ich fragen, was du mit Nadine gemacht hast, dass sie nur DENKT, ihr hättet miteinander geschlafen?« »Nichts Schlimmes! Denk ja nichts Falsches von mir, Manu!«, verteidigt er sich im Voraus. Ich erwidere trocken: »Was soll ich schon denken. Bis eben dachte ich noch, du hättest bei Nadines Entjungferung mitgewirkt. War das nicht falsch genug … ?« »Nein, echt jetzt. Eigentlich bin ich nur vor den kleinen Zicken in ein Zimmer geflohen. Es war dunkel und ich war etwas betrunken … « » … und high, falls du Konstantins Kekse probiert hast … «, füge ich dem hinzu, woraufhin er fortfährt: » … jedenfalls war ich müde und habe mich ins Bett gelegt. Kann sein, dass Nadine da schon vorher lag. Als ich aufgewacht bin, lag sie definitiv neben mir, und sie hat sofort das Schlimmste angenommen« »Und du hast sie nicht korrigiert?!« »Naja, ich war noch restbetrunken. Sicher war ich mir da noch nicht«, gesteht mir unser Schulschwarm. »Jonas … « Wie kann man mit achtzehn Jahren und so einer Karriere noch so eine Pflaume sein! Unterbrochen wird unser großartiges Gespräch von Janiel, der endlich aufkreuzt. Allerdings: Völlig aus der Puste ist. »Komm Manu, wir müssen los«, beschließt er und will mich vom Stein zerren, lässt Jonas komplett außer Acht. »Moment Mal, du kannst nicht einfach meinen Kummerkasten mitnehmen!«, plärrt dieser. »Ich bin dein Kummerkasten?!«, schnaufe ich. »Hilf mir, Manu … «, fleht Jonas. Janiel nimmt mir das Antworten ab: »Keine Zeit, sorry Bro.« So ziehen wir von dannen. Ich weiß nicht, ob ich das gut oder schlecht finden soll. »Wir müssen uns verstecken!«, zischt Janiel leise. Ok, ich finde das schlecht. »Was ist jetzt schon wieder los?!«, zische ich im gleichen Tonfall zurück. Wir stehen nun in der Aula vor so einer hässlichen Möchtegern-Palme. »Ist heute Verstecko-Tag?!« »Keine Ahnung, wovon du redest, aber wir können auf keinen Fall raus … lass mich kurz nachdenken, Manu … «, brabbelt er vor sich hin. »Janiel, es hat geklingelt, ich gehe jetzt in den Unterricht … «, möchte ich ihn mit seinen wirren Gedanken stehen lassen. Da packt er meine Hand. »Manu, bitte geh nicht. Vertrau mir. Bitte.« Ok, Janiel. Ich vertraue dir. Deshalb verstecken wir uns hinter dieser Kunststoff-Palme, während alle an uns vorbeiziehenden Schüler, die in die Klassenzimmer eilen, uns blöd angaffen. »Lass uns da rein gehen … «, sagt Janiel schließlich, als die Luft rein ist und keine Seele mehr in der Aula verweilt. »Das ist der Kartenraum!«, protestiere ich. »Dafür haben wir keine Schlüssel!« »Oh doch … « Mein Schutzengel kramt ein Medaillon aus seiner Hosentasche. Es funkelt golden, stellt einen fünfzackigen Stern dar. Live erlebe ich mit, wie er das Ding zu einem Schlüssel umformt, ähnlich wie bei seiner eigenen Verwandlung, und uns damit den Raum aufsperrt. Und nicht nur ich. Mitten auf der Aula-Bühne guckt Schneewittchen Löcher in die Luft. Ich hätte nicht gedacht, dass ich Eiael so schnell wiedersehe. »Johann, mein alter Freund … Fräulein Manuela … «, begrüßt er uns und zieht seine schwarze Melone, die er heute dabei hat. Passt ganz gut zu seinem Filzmantel. »Lange nicht mehr gesehen!« »Eine Woche, um genau zu sein«, erkläre ich nüchtern. »Wie auch immer. Manuela, du weißt ja, was ich dir übers Sterben erzählt habe … «, sagt Eiael. Ich nicke. »Jetzt ist es Zeit dafür.« OMG WAS?! »Meister Camael hat mich geschickt, um dich in den Himmel zurückzuholen, Johann.« Hyperverwirrt sehe ich abwechselnd zwischen Schneewittchen und Janiel hin und her. Janiel scheint zu wissen, wovon unser irrer Engel redet. »Wolltest du dich deswegen verstecken?!«, stelle ich eher goldrichtig fest, anstatt zu fragen. »Vergiss es, Eiael. Ich werde Manu nicht alleine lassen!«, ignoriert Janiel mich. Ich fühle mich geehrt. Aber ignoriert. »Ich hab jetzt keine Lust mehr zu sterben, Eiael!«, brülle ich dazwischen. Kurz habe ich die Aufmerksamkeit von beiden, bevor sie mich weiterignorieren. »Das hatte ich befürchtet. Alte Freundschaft hin oder her, Befehl von oben ist Befehl von oben. Wie scharf bist du darauf, zu fallen, mein Strahlender?« Engelshierarchie-Bezeichnungen klingen leicht schwul. »Ich pfeif auf den da oben. Und wenn du ehrlich bist, tust du das auch, Eiael«, unterstellt Janiel ihm. »Hach, ich weiß nicht … « Eiael prescht vor, zieht aus dem NICHTS ein Schwert und schlägt damit auf uns ein. Schneller als erwartet reagiert Janiel, zieht mich weg. Das Leinwandgemälde neben uns (farbige Handabdrücke von Fünftklässlern) wird entzwei geschnitten. Wir fliehen hinter die Palme. Was zum Teufel ist in ihn gefahren?! Als ich einen Blick neben mich werfe, steht Janiel nicht mehr bei mir. Stattdessen stürzt er sich mit Karacho auf Schneewittchen. Mit bloßen Händen fängt er Eiaels Klinge ab. »Eiael, hör auf damit!«, schreie ich, was keine Konsequenz auslöst. Erfolgreich hält Janiel den okkulten Engel davon ab, ihn wie Butter zu durchtrennen, stemmt sich so gegen ihn, dass Eiael nach hinten zurücktreten muss, um sich abzufangen. Janiel stellt sich breit vor mich und die Palme. Im nächsten Moment packt Eiael einen neuen Zaubertrick aus: Es erscheint ein violettes, massives Seil um ihn herum, mitten in der Luft. Als hätte es seinen eigenen Willen, umschwebt es Janiel, umzingelt ihn. Zieht sich ruckartig fest. Seine Arme sind gefesselt. Fuck. Ich muss meinen Schutzengel beschützen! Demonstrativ dränge ich mich vor Janiel, und hinter die Palme. »Tu das nicht, Manu!«, keift er zwecklos. Schneewittchen setzt zum Hieb gegen die Beschützer-Palme an, als die absolut, absoluuuut falscheste Person überhaupt zufällig in die Szenerie reinlatscht. Nadine. Natürlich juckt es Eiael nicht die Bohne, dass ein ahnungsloser Mensch mitten im Gefecht steht und läuft sie praktisch über den Haufen, als er zur Attacke ansetzt. RUMMS! Typischerweise fängt Nadine an zu quieken wie ein Meerschweinchen, gefolgt von ein paar »Igitt«-Lauten. »Was soll die Scheiße, du Arsch!«, flucht Nadine außerdem. Sie setzt zu noch mehr Schimpfwörtern an, wird dann aber dadurch unterbrochen, dass Schneewittchen sie am Hals packt und somit den Boden von ihren Füßen trennt. Auf einmal ist unsere große Klappe mucksmäuschenstill. Eiael hebt die Ein-Meter-lange, dünne Klinge an ihre Kehle. Ähnlich, wie er es einst bei mir tat, mit dem Messer. Nur sieht das Ganze jetzt weitaus dramatischer aus. Liegt wohl an der schwarzen Melone auf seinem Kopf. »Wenn du mich nicht freiwillig mit Johann gehen lässt, meine Möchtegern-Madeleine, dann bringe ich eben diese Unschuldige hier um«, droht Eiael. Ich muss bei dem Wort »unschuldig« kichern. Dann rufe ich erfreut durch die Aula: »Mach doch! Wir mögen Nadine sowieso nicht!« »Ey, Manu …. Du … «, stöhnt Nadine bissig, obwohl Eiael ihr die Luft halb abschnürt. Auf die Ansage hin wirft der okkulte Engel Nadine weg wie ein Stück Müll. Mit der Schweinchen-Nase voran landet sie auf dem harten, heute noch nicht gestaubsaugten, Aula-Boden. Lecker. Nach fünf weiteren Flüchen, die nicht jugendfrei sind, rappelt Nadine sich wieder auf und stellt sich zu mir, neben die Palme. »Was ist das für ein Irrer?!«, fragt sie mich empört. Weil ich ja weiß, was ich darauf sagen kann. Ich zucke mit den Schultern, sehe ihr dann mit vollem Ernst in die Augen. »Auf ihn mit Gebrüll … ?« »Auf ihn mit Gebrüll!« Gleichzeitig lassen wir den gefesselten Janiel hinter der Fake-Palme stehen und stürmen Eiael. Er scheint eine leichte Multitasking-Schwäche zu haben, weil er immer zwischen Nadine und mir hin und her sieht und sich darum nicht entscheiden kann, gegen wen von uns beiden er vorgehen soll. Am Ende drücken wir zwei mit unseren Hintern Eiaels Rücken und Oberkörper platt zu Boden. Zufrieden sehen wir uns an. Wer hätte gedacht, dass eine Manu-Nadine-Kombo die hilfreichste Waffe im Kampf gegen schwarzmagische Engel ist?! »Urghs … «, macht Eiael, alle viere von sich gestreckt, während wir gemütlich auf ihm sitzen. »Ihr habt gewonnen … ich lasse dir Johann da … « »Wer ist Johann?!«, zickt Nadine. »Egal«, winke ich ab. »Nadine, ich muss dich was fragen.« Gespannt glotzt sie mich an. »Bist du wirklich schwanger … ?« »Wo hast du den Schwachsinn her, Manu?!«, zickt sie weiter. Puh. Das muss wohl ein Gerücht sein, dass auf Mona oder Elise gewachsen ist. Ich tippe auf Elise. Jonas wird sich freuen. Apropos. »Äh nicht so wichtig. Gratulation! Übrigens … Jonas hat mir erzählt … Er hat dich nicht angerührt, auf Karins Party. Nadine.« Ihre Miene verändert sich. Zum ersten Mal seit Jahren erkenne ich die Nadine wieder, mit der ich einst befreundet war. Sie atmet erleichtert auf. »Puh … Ich hatte schon Angst … Ich habe mich nicht getraut, nachzufragen, weil er mir die ganze Zeit aus dem Weg gegangen ist … « Ja, das klärt Einiges. »Warum sagst du mir das, Manu?« Ja, warum tue ich das. »YOLO FOREVER!« Ich grinse sie an. »Und, weil ich keine Lust habe, mir Jonas Gejammer anzuhören«, ergänze ich noch kleinlaut. Wunderlicherweise … grinst sie … zurück. »Dann verrate ich dir auch was, Manu.« Ich sperre meine Lauscher auf. »Tobi ist in dich verliebt, nicht in Valentine.« So sitzen wir auf dem Rücken eines Engels, der quälende Geräusche von sich brummt. In der Ferne der Aula ein anderer Engel plärrend, wir sollen ihn doch jetzt mal von den Fesseln befreien. »Ich glaube, ich habe mich in Manu verliebt«, sagte Tobi, einfach so. Nadine, die mit ihm über die Wiesen rund um das Schulgebäude streunerte, gab sich gefasster als sie war. Manu hatte es mal wieder geschafft, alle Aufmerksamkeit an sich zu reißen. »Du glaubst?«, prüfte sie ihn. »Ich bin mir … ziemlich sicher.« Nadine biss sich auf die Lippen. Verdammt sei Manu. Wie-man-am-besten-Freunde-wegnimmt, diesen Ratgeber sollte Manu mal schreiben. Der würde sich gut verkaufen. »Was findest du denn an ihr? Ich dachte, ihr wart nur Freunde bisher?«, hakte sie nach. »Nein. Wenn ich ehrlich bin, war da immer mehr. Ich hab’s nur erst jetzt gemerkt … wo es zu spät ist.« Tobi guckte sich auf die Finger, als er sprach. »Manu war schon immer etwas Besonderes für mich.« Am liebsten hätte Nadine sich die Ohren zugehalten, um dieses zuckersüße Liebesgeständnis nicht mitzubekommen. »Aber … ich wusste bis jetzt nicht, was das bedeutet. Ich dachte immer, Verliebtsein fühlt sich anders an. So wie mit dir damals.« In der Tat hatten Tobi und sie sich gedated. Genau dreimal. Beim dritten Date fiel für Nadine der Groschen, sie wollte lieber mit Tobi befreundet bleiben. Tobi hatte noch ein Weilchen daran zu knabbern, aber mit der Zeit entwickelte sich aus dieser tollpatschigen Liebelei eine Freundschaft auf Augenhöhe. »Wie … fühlt es sich denn jetzt an?«, fragte Nadine vorsichtig. »Ich möchte ihr wehtun.« Diese Antwort überraschte Nadine. »Ich möchte, dass sie genauso eifersüchtig wird, wie ich es war, wegen Jan.« »Du warst auf Jan eifersüchtig … ?« Pause. »Das habe ich gar nicht gemerkt … «, gab sie offen zu. »Ich bin ganz gut darin, meine Gefühle zu verstecken, mhm?« »Hm.« »Ich habe Jan sogar dazu gezwungen, sich von Manu fernzuhalten, nachdem offiziell Schluss war.« »Warum erzählst du mir das alles jetzt?« Eigentlich wollte sie nicht hören, wie ihr ehemaliger Verehrer von einer anderen schwärmte. Es kotzte sie an. »Ich brauche deine Hilfe.« »Ach ja?« Eiael schuldet uns Kuchen. Darin sind Janiel und ich uns einig. Als sich der okkulte Engel verdünnisiert, mit dem Versprechen, seinem Vorgesetzten zu melden, dass er uns nicht auffinden konnte, verdeutlichen wir diese Forderung nochmal, indem wir ihn einen Du-schuldest-uns-lebenslang-Kuchen-Vertrag unterschreiben lassen. Ich muss nie wieder gezwungenermaßen für Eiael backen! Yeah! Weil Nadine immer noch keine echte Ahnung davon hat, was zum Engel in unserer Aula da stattgefunden hat, fragt mich Janiel, ob er ihr Gedächtnis löschen soll. Eigentlich will ich das nicht. Wenn er das macht, wird sie wieder ihre gute Seite vergessen. Dann stellt Janiel klar, dass er mich nicht um Erlaubnis bittet, sondern mich nur darüber informiert. Aha. Goodbye, my good friend. Ich stecke Janiel einen Zettel zu. Den soll er Nadine geben, sobald ihr Bewusstsein den Status von vor gut zwanzig Minuten wiedererlangt hat. Den Jonas-hat-in-Wahrheit-gar-nicht-mit-dir-geschlafen-Zettel. Von Anonym. Es ist ein Dankeschön an Nadines Ehrlichkeit. Wegen der ich mich nun dazu berufen fühle, in der Mittagspause Valentine abzufangen. Um ein ernstes Wörtchen mit ihr zu reden. Valentine wittert das irgendwie und flüchtet raus. Also hinterher. Auf dem Schulparkplatz hole ich sie ein. »Nadine hat mir erzählt, dass Tobi und du eure Beziehung nur vortäuschen«, werfe ich ihr ohne ein Zögern an den Kopf. Valentine zittert. »K-keine Ahnung, w-wovon du r-redest.« Hab ich auch immer so schlimm gestottert, wenn ich unsicher war? »Ich weiß es jetzt, Valentine. Lass uns reden«, schlage ich vor. »Manu, da ge-gibt’s n-nichts mehr zu r-reden.« »Doch klar! Ich habe eure Lektion kapiert! Ich hätte nicht so tun sollen, als wäre Jan mein fester Freund gewesen! Ich hab’s verstanden! Ihr könnt mit dem Theater wieder aufhören!« »M-Manu. Du verstehst n-nicht … « »Was verstehe ich nicht?!«, fauche ich aus Versehen. Entsetzt guckt mich unser ehemaliges Mauerblümchen an. »M-Manu … ich liebe Tobi wirklich …« »Und, weiß er das … ?« »Manu … gönnst du mir das nicht?« »Und … ?« »Dann lass uns in Ruhe.« Das ist ein klares Statement. Valentines Unsicherheit schwindet dahin. Sie hat das nicht getan, um mir eine Lektion zu erteilen. Nein. Sie hat das für sich selbst getan. Dass Nadine sie erpresst hat, sie gedemütigt hat – das hat Valentine für sich ausgenutzt. Sie hat nie an mich gedacht. Kein einziges Mal hat sie an mich und meine Gefühle gedacht. »Ich hasse dich, Valentine!« Es trennen sich unsere Wege. Azrael konnte sich das Spektakel nicht länger untätig vom sechsten Himmel aus mitansehen. Er hatte noch viel zu viel zu erledigen, als sich mit diesem einen nervigen Menschen herumzuschlagen. Deshalb beschloss er, diesmal keinen weiteren Boten zu schicken. Sondern höchstpersönlich einen Erdenbesuch abzustatten, um die Statistik wieder einzurenken. Ordnung wurde bei Azrael groß geschrieben, er war äußert pingelig, was die Instandhaltung des Gleichgewichtes der Totenanzahl betraf. Es war überaus wichtig, sich an die Maßstäbe der Akasha-Chronik zu halten, da ansonsten Anarchie auf der Erde ausbrechen würde. Naja, seiner Meinung nach. Als Oberbefehlshaber der Todesabteilung trug er die Verantwortung dafür. Also besuchte er jene Bildungsanstalt des 21. Jahrhunderts, besser gesagt, eine Anordnung von grauen Betonklötzen. Den Architekten jener Epoche fehlte zweifellos jeglicher Geschmack. Vor der Schule stehend, rückte er sich seine Brille zurecht und schlug sein schwarzes Notizbuch auf. Blätterte. Da war es. Manuela Liedtke, fünfzehn Jahre alt, zehnte Klasse des Eberhardt-Frank-Gymnasiums. Todeszeitpunkt: 10. Oktober. Das war vor gut zwei Monaten. Höchste Zeit, ihre Seele in den dritten Himmel zu befördern. Vor dem Hauptschuleingang treffe ich auf einen neuen Lehrer. Oder Anwalt. Zumindest macht er einen strengen Eindruck. Vielleicht ist er auch Versicherungsvertreter. Kritisch mustert er unser Schulgebäude, einen Notizblock in der Hand haltend, und nuschelt irgendwas vor sich hin. Komischer Typ. Ich gehe an ihm vorbei, reiße die Eingangstür auf, da ruft er: »Halt!« Kommt näher. »Manuela Liedtke, fünfzehn Jahre alt?« Seine Stimme klingt sehr tief. »Äh … Ja … und wer sind Sie?«, frage ich überrascht. »Gestatten, Oberbefehlshaber der Todesengel, Azrael. Ich werde deinen Schutzengel in Gewahrsam nehmen. Bitte rufe ihn unverzüglich herbei.« »Sonst noch Wünsche?« Auf dem Absatz kehre ich um und laufe wie geplant zurück in die Schule. Langsam reicht’s mir mit den Engelsfaxen. Vor dem Lehrerzimmer treffe ich Janiel. »Du, da war grad so ein Spinner wie Eiael … Azra-irgendwas«, erzähle ich ihm so nebenbei. Janiel sträubt sich, genau so, wie er es sonst nur als Kater tut, wenn ich ihn aus Versehen nass mache. »Azrael ist hier … ?!« »Nein, das wäre es dann«, beantwortet Azrael, der mir hinterhergelaufen, meine rhetorische Frage. Er fasst sich an die Brille, in der sich das billige Neonröhrenlicht kurz widerspiegelt, was seiner Erscheinung ein extrem böses Antlitz verleiht. »Rhetorische Fragen beantwortet man nicht!«, weise ich den vermeintlichen Staubsaugerverkäufer zurecht. Den das nicht die Bohne juckt. Er zückt sein Notizbuch. »Ich werde jetzt deinen Namen für den heutigen Tag eintragen und unsere Macht Janiel notfalls gewaltsam dazu zwingen, mir seinen Schutzengelpass auszuhändigen.« »Mach doch, was du wi-«, will ich pöbeln, da hält mir Janiel den Mund zu und sagt: »Manuela ist nicht dazu bestimmt, heute zu sterben. Sie sieh dir an, Azrael. Sie hat noch ein ganzes Leben vor sich, und ich werde bis zu ihrem Tod in nicht weniger als achtzig Jahren an ihrer Seite bleiben.« »Du verstehst da etwas falsch, kleiner Promi. Das ist keine Bitte, das ist eine Ankündigung. Ich bin verantwortlich für unsere Statistiken, für das Gleichgewicht der Toten und der Lebenden im Rahmen der Zeit.« »Ich werde Manus Leben ganz sicher nicht für deine Statistik opfern«, entgegnet Janiel zornig. »Dann lasse ich dich ganz offiziell als gefallener Engel eintragen, kleiner Promi«, sagt Azrael unbeeindruckt und notiert sich etwas in seinem Notizblock-Buch. »Man wird Jagd auf dich machen. Du wirst bis in alle Ewigkeit im Gefängnis schmoren. Welch Ironie. Wenn du im fünften statt im zweiten Himmel landest, kannst du dann sogar noch deinen Nachfolgern lauschen.« Janiel fletscht die Zähne. Der Anzugträger lässt sich wahrscheinlich eher nicht mit bloßen Mädchenhintern bezwingen. Die Tür vom Lehrerzimmer öffnet sich. Heraus tritt Dr. Sommer. Der sich überhaupt nicht über irgendwas wundert. »Grüß Gott, Azrael!«, grüßt er den Todesengel. Und will einfach weitergehen. »Herr Sommer, warten Sie!«, schreie ich hinterher. »Woher … ?« »Hier spielt die Musik, Fräulein Manuela Liedtke. Beachte den Angeloi nicht«, nervt Azrael. Dr. Sommer bleibt stehen: »Gibt es etwa ein Problem?« »Ich bringe nur das Gleichgewicht der Toten wieder in Ordnung«, ruft ihm der Engel im Sakko zu. »Nichts weiter.« »Ach so«, gibt Dr. Sommer von sich. »Na dann.« »Moment … Herr Sommer … warten Sie! Was für ein Engel sind Sie?!«, halte ich ihn schon wieder auf. Janiel kommt ihm mit seiner Erklärung zuvor: »Angeloi bedeutet, er ist ein Schutzengel.« Schon beim Aussprechen des Satzes offenbart Janiel, dass ihn diese Enthüllung selbst wundert. Vergnügt und bestätigend grinst Dr. Sommer mich auf seine typische Art und Weise an. Ich kann es nicht fassen. Mein Lehrer ist ein Engel. »Also, wo waren wir stehen geblieben … ach ja. Janiel, ich bitte dich im Namen des Herrn, mir deinen Schutzengelpass freiwillig zu übergeben.« »Nein«, beharrt Janiel. Azrael seufzt. »Du machst es einem wirklich nicht einfach. Kein Wunder, dass so viel über dich getratscht wird.« Abermals rückt er seine Brille in Position, lässt kurz seinen Blick über sein Notizbuch wandern. Verharrt. »In der Tat könnte ich dir sogar einen Kompromiss vorschlagen, mit dem wir beide zufrieden wären. Angeloi? Antreten!« Dr. Sommer, der bereits am Ende des Ganges angelangt ist (weil er vermutlich jetzt eine Mathestunde geben soll, dieser Engel!), kehrt prompt wieder um, gehorcht Azrael wie ein Hündchen seinem Herrn. »Wenn ich diesen Angeloi mitnehme, dürfte das die Statistik ausgleichen«, verkündet Azrael. »Und wessen Schutzengel ist Dr. Sommer?!«, sprudelt es aus mir heraus. »Wir können doch nicht einfach jemand anders umbringen!« Ein bisschen Moral schlummert sogar in mir. »Ich bin Tobias Eichendorffs Schutzengel.« Ich dachte, der Tag kann nicht noch schräger werden. Hello, Murphys Law. »Also, sucht es euch aus. Einer von euch beiden Angeloi wird mich jetzt begleiten. Am besten freiwillig. Und macht schnell, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit«, meckert der Möchtegern-Versicherungsvertreter. »Würdest du Tobi, ich meine Tobias … verlassen, damit Manuela weiterleben kann?«, fragt Janiel Dr. Sommer vorsichtig. »Ich handle in Tobias freien Willen, soweit es mir zusteht. Ich denke, es wäre vereinbar«, erklärt dieser uns. Ich glaube, ich bin im falschen Film. »Sie wollen Tobi ernsthaft umbringen?! Freiwillig?! Was sind Sie eigentlich für ein schlechter Lehrer … und Schutzengel! WIE KÖNNEN SIE NUR!«, flippe ich aus, stelle mich direkt vor ihn und rüttele an seinem Kragen. Dr. Sommer wehrt sich nicht, bleibt ruhig und grinst weiter vor sich hin. Wie kann er nur dieses Grinsen aufsetzen, in so einer Situation! »Manu … einer muss gehen«, bringt Janiel schließlich matt über die Lippen. »Lieber Herr Sommer als ich.« Ich denke an das, was Azrael gesagt hat. Wenn beide Schutzengel sich weigern, die Erde zu verlassen, steckt der Anzugträger sie für die Ewigkeit ins Gefängnis. Janiel hat es erkannt. Einer muss gehen. Einer wird sterben. Einer wird leben. Das ist Gottes Plan. Gottes beschissener, beschissener Plan. Mein Vater hat mir nie beigebracht, was es bedeutet, für jemanden zu sterben. »Azrael. Nimm bitte Janiel mit in den Himmel«, sage ich.  Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)