Warum Pechvögel fliegen können. von Whiscy (Die Schutzengel-Trilogie 1) ================================================================================ Kapitel 7: Hitzeunempfindliche Kühlbeutel ----------------------------------------- »Manuela, du weißt, ich sehe das nicht gerne, wenn meine Schüler zu spät kommen«, predigt mir Dr. Sommer, als ich zu spät komme. »Es tut mir sehr leid, wird nicht mehr vorkommen«, murmele ich in meinen Schal hinein. Immer noch ist mein Gesicht glühend heiß, ich will nicht, dass das jemand mitbekommt. Böse funkele ich Karin und Co. an, während ich die Reihen zu meinem Platz durchquere. Diese zucken jedoch mit den Schultern und werfen mir Blicke à la Wir-können-doch-nicht-zu-spät-zu-hot-Dr.-Sommer-kommen zu. Kann ich auch irgendwie nachvollziehen. Er sieht echt gut aus. Ich frage mich schon seit geraumer Zeit, was er hier als Lehrer macht. Jede Modelagentur hätte ihn sofort genommen! Wie auch immer, Janiel hat bereits die Lage abgecheckt und blickt mich mitleidig an. »Manuela, woher weiß ich, dass eine Parabel offen ist?«, fragt Dr. Sommers liebreizende Stimme. »Ähm am Vorzeichen«, erwidere ich, während ich eigentlich ganz wo anders bin. »Das ist richtig!« Dr. Sommer strahlt bis über beide Ohren und es würde mich nicht wundern, würde gleich hinter ihm ein wuscheliger Hundeschwanz auftauchen, der heftig hin- und her wedelt. Die Mädchenherzen schmelzen dahin … jedoch nicht meines, es ist bereits nicht mehr da. »Ach ja … Manuela, komm dann bitte nach der Stunde noch zu mir«, fällt Dr. Sommer noch nebenbei ein. Daraufhin fährt er mit dem Unterricht fort. Die Mädels halten den Atem an. Ich. Allein. Mit. Dr. Sommer. Hey, halt, Stopp! Ich bin im falschen Film! Ja, er sieht gut aus, aber ich will doch nix von unserem Lehrer! Er doch nicht etwa von m… Wie zur Bestätigung kreuzen sich unsere Blicke. Er lächelt mich an. Und jeder bekommt es mit! Waah Chaos-Alarm! Los, Schutzengel, tu was! Ich rüttele an Janiel. Dieser zuckt mit den Schultern. Was-soll-ich-da-machen-er-ist-dein-Lehrer. »Hey, du sollst mich doch vor Unglück beschützen! Also wirklich!« »Als ob …«, wispert Janiel. So, für den Rest der Stunde hat er sich mein Anschweigen verdient. Bis zur Stunde der Wahrheit. Dr. Sommer und ich sind alleine im Klassenzimmer. Ich kann nicht mehr klar denken, ich schwöre! Nervös verlagere ich mein Gewicht von einem Bein aufs andere, während Dr. Sommer seine Sachen aufräumt. Er hat unzählige, kleine Sommersprossen auf der Nase, die im milden Sonnenlicht richtig süß zur Geltung kommen … Ok, ich schwärme schon ein bisschen für ihn, aber das ist nichts gegen … Schluck. Was habe ich nur angerichtet? Haha, ich liebe dich … nicht mehr. Super Satz, Manu! Toll gemacht, Bravo! Mein erstes Liebesgeständnis musste ja in die Hose gehen! Zudem … 1. unsere Freundschaft jetzt kaputt ist (wenn sie das nicht schon vorher war). 2. er mich nicht liebt (weil er eine super-gut-aussehende Freundin hat, glaube ich zumindest, weil ich sie nicht so genau gesehen habe). 3. er mich wie Luft behandelt. 4. ich ihn theoretisch gesehen nicht mehr liebe. Wenn das nicht tolle Voraussetzungen für eine Beziehung sind, dann weiß ich auch nicht. »Also, du kannst dir sicherlich schon denken, warum ich dich zu mir gerufen habe … «, labert Dr. Sommer. Nein, kann ich nicht. »Ich habe eure Mathetests aus einem ganz besonderen Grund noch nicht herausgegeben, Manu. Was du geleistet hast, ist einfach unglaublich!« Hä? Mein Blatt war doch leer. »Dass du diese Gleichung gelöst hast, ist ein Fortschritt für die Menschheit!«, überschüttet er mich mit Lob. »Ähm, Dr. äh nein Herr Sommer, ich glaube, das muss ein Missverständnis sein«, werfe ich ein. »Nein Manuela, ganz und gar nicht!« Freudig kramt er meinen leeren Mathetest heraus. Der nicht leer ist. Erstaunt glotze ich den Testbogen an. Seite über Seite gefüllt mit mathematischen Gleichungen … mit meiner Handschrift! »Wie ist das möglich?!«, rufe ich aus. Er dachte wohl, ich meine die fette EINS vorne auf dem Blatt. »Manuela, du hast eine Gleichung gelöst, in die ich aus Versehen einen Fehler getippt hatte. Es war eine unlösbare Gleichung! Die klügsten Köpfe der Nation brüten darüber schon seit Jahren und dank dir, Manuela, steht der Herstellung von hitzeunempfindlichen Kühlbeuteln nichts mehr im Wege!« Ach ja, wann stand der Herstellung von hitzeunempfindlichen Kühlbeuteln denn je etwas im Wege? Dr. Sommer fährt fort: »Deshalb habe ich eine spezielle Gruppe aus den besten Nachwuchsmathematikern unserer Schule zusammengestellt, damit wir gemeinsam nach München zur Preisverleihung für den deutschen Jugendmathematikpreis fahren können! Du bist bereits nominiert worden, Manuela.« Völlig baff klappt mir die Kinnlade runter. Deutscher Jugendmathematikpreis ? »Hier liegt bestimmt eine Verwechselung vor!«, versuche ich hektisch zu erläutern. »Aber nein, ich weiß doch, dass du das geschrieben hast. Du musst nicht so bescheiden sein, es ist keine Scham, gut in Mathe zu sein. Ich werde es auch nicht per Durchsage durchgeben.« Als er das sagt, zwinkert er mir zu, so nach dem Motto, Na-klar-bleibt-das-unter-uns. Ich glaube, bei dem ist alles Reden zwecklos. Also auf geht’s! – Womit auch immer ich das verdient habe. In der Pause nach diesem Gespräch eilen blitzschnell sämtliche Mädels aus meiner Klasse zu mir. Mir ist das total unangenehm, obwohl ich weiß, dass ich mich genauso benehmen würde. »Und? Was wollte Dr. Sommer von dir?«, sprudelt Karin sofort heraus. Hanna stellt schon Theorien auf. »Bestimmt hat er sich in Manu verguckt und die beiden haben eine heimliche Affäre, deswegen wird sie gleich sagen ‚Nix, er hat sich über meine miserablen Noten beschwert’ oder so was in der Art!« »Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«, nuschele ich. Das Mädel hat doch ein Rad ab! Die meisten Mädchen halten das allerdings für möglich. Wo bin ich hier gelandet?! Naja, fast alle. »Pah, das denke ich nicht, Hanna! Eher hat er ihr eine Strafarbeit aufgebrummt, weil sie nie die Hausaufgaben hat«, mault Nadine. Zwar gebe ich es ungern zu, aber in diesem Fall liegt sie goldrichtig. Bei mir kann man an einer Hand abzählen, wie oft ich die Hausaufgaben dabei habe. Vermutlich bin ich deswegen so eine Mathe-Niete. Weil ich niemandem die München-Sache auf die Nase binden will – dann kommt noch so was wie: Manu und Dr. Sommer in einem Hotelzimmer! –, gebe ich Nadine Recht: »Ja, genauso war es. Nix Spektakuläres« Tatsächlich ist Nadine mir manchmal sehr nützlich. Seufzen der Mädchenmenge. »Wie langweilig, jetzt hatten wir uns soo über schmutzige Details gefreut«, erwidert Sophie mit einem hinterhältigen Grinsen auf der Fassade. Tja, sorry, da muss ich euch leider enttäuschen! Die Mädels zischen ab, da sieht man mal, wie viele Freunde man hat, wenn tote Hose ist, doch ich bekomme noch durch Zufall mit, wie Karin noch sagt: »Dabei wirft er ihr immer so bezaubernde Blicke zu … ich glaub nicht, dass es da nichts gibt.« Ich muss Tobi in den Pausen gar nicht aus dem Weg gehen, das macht er schon selbst. Indem er Nadine aufsucht. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich froh, ihm nicht zu begegnen. Trotzdem bin ich traurig darüber, dass wir wohl nie mehr Freunde sein werden. Dabei habe ich doch sonst niemanden. Oder, das heißt, doch. »Hey Manu, was ist denn heute mit dir los? Du bist doch ganz neben der Spur«, stellt meine neue Freundin Valentine in der Pause nach der Stunde fest. »Ja also … «, beginne ich. »Ist es wegen deinem Typ?«, unterbricht sie mich. »Ähm … « »Keine Sorge, auch andere Mütter haben schöne Söhne!«, versichert sie mir. »Aber … « »Kein Aber! Du bist total hübsch und nett, vergiss den Kerl! Der war eh hässlich.« Das sagt ausgerechnet sie. »Die … « »Die inneren Werte zählen, ich weiß.« Sie seufzt. »Dabei wollte ich dich doch nur aufmuntern.« Jetzt ist sie zur kleinen, grauen Maus mutiert. Ich glaube, sie ist schizophren. Schweigend stehen wir da, so dass ich endlich auch einmal zu Wort komme. »Das hast du«, sage ich lächelnd. »Darf ich dich was fragen?« Valentine sieht mich schüchtern an. »Was genau ist denn mit Tobi? Ich habe ja gerade nur geraten, was los ist … « Tja, was soll ich dazu sagen. »Eigentlich nichts Großes. Wir ignorieren uns nur.« »Ihr habt also nicht Schluss gemacht?« »Haha. Wir waren doch nie zusammen.« Sie kapiert es endlich. »Oh Manu, das tut mir leid … « Tja. Tja. Mir auch. »Das mit den schönen Söhnen meine ich aber ernst. Schon allein unser Lehrer scheint auf dich zu stehen!« »Oh Valentine, du nicht auch noch … da läuft wirklich nichts!« »Von dir aus vielleicht nicht!«, behauptet sie grinsend. Hach, Valentine … »Ok, und was ist mit deinem Kumpel Jan?« »Da wird nie was draus, das schwöre ich!«, schwöre ich. »Niemals!« »Was findest du denn an Tobi, dass kein anderer in Frage kommt?«, wundert sie sich. Ich stocke bei dieser Schlussfolgerung. Ja, warum kommt denn kein anderer in Frage? »Weißt du … ich denke, Tobi hat ein gutes Herz.« Diese Antwort scheint sie zu erstaunen. Ich fahre fort: »Von Anfang an hat er mir immer geholfen, wenn es mir extrem schlecht ging. Er hatte da einfach ein gutes Timing, schätze ich.« Valentine überlegt, zerdrückt den Saum ihres Oberteils dabei. »Aber hilft Jan dir nicht auch… ?« Mhm. Da hat sie gar nicht mal so Unrecht. »Du hast es so gut, Manu. Ich beneide dich, wirklich.« Verdattert starre ich sie an, sage: »Das brauchst du wirklich nicht! Immerhin … « In diesem Moment werden wir von Lilly und Nadine unterbrochen, die sich herausfordernd vor uns stellen. »Was gibt’s?«, versuche ich harmlos zu klingen. Böser Fehler. »Wir wollen nur mal kurz klarstellen, dass ihr zwei euch eure Pläne in den Arsch schieben könnt«, zwitschert Nadine liebreizend. Entsetzt entfährt Valentine und mir: »Was für Pläne?!« »Wir wissen genau, dass du in Wahrheit hinter Dr. Sommer her bist, aber das kannst du dir abschminken, Manu!«, will mich Lilly irgendwie für dumm verkaufen. Oder auch nicht. Die meint das tatsächlich ernst! »Genau. Und du, Hässlon, solltest dich mal damit zurückhalten, Philipp anzuschmachten!«, verlangt Nadine von Valentine und zeigt mit dem nackten Finger auf sie. Moment Mal, ist Philipp nicht derjenige, der Valentine bisher am meisten gemobbt hat?! »Wie kommt ihr auf solche bescheuerten Ideen?! Habt ihr was Falsches gegessen?!«, keife ich mit erhobener Stimme zurück. Die Mädchen zucken zusammen, damit haben sie nicht gerechnet. Ich bin selbst darüber überrascht, dass ich zur Abwechslung einmal den Mund aufbekomme. Meine Stimme lockt Leute an. Genauer gesagt, ausgerechnet Philipp. »Was ist hier los, Nadine?«, will er die Lage abchecken und legt eine Hand auf ihre Schulter. Oh Nein, gleich fängt er mit dummen Kommentaren an. Vorsichtig schiele ich zu Valentine, die schon bibbert vor Angst. »Kommentare kannst du dir sparen, Philipp!«, pflaume ich ihn einfach an, bevor er überhaupt etwas gesagt hat. »Ich sage doch gar nichts?!«, stellt er korrekterweise fest. Ok. Touché. »Was ist hier los?« Bedröppelt sehen alle zu Boden. »Manu hat was mit Dr. Sommer!«, zischt schließlich Lilly in die Leere. »Habe ich nicht!«, protestiere ich. »Leugnen ist zwecklos! Wir wissen es alle, stimmt’s Nadine?«, stößt Lilly sie am Arm an. Nadine sagt dazu zwar nichts, stiert dafür Valentine extrem bösartig in die Augen. Wenn das nicht mal ein Todesblick ist. Wie ein verängstigtes Kaninchen tapst meine Freundin einen Schritt zurück. Das bemerkt sogar Philipp: »Was auch immer, aber dafür kann Valentine doch nichts, oder?« Schützend stellt er sich vor sie und unterbricht damit Nadines Augen-Attacke, deren Gesicht gerade zusammenfällt. Ich bin nach wie vor aufgebracht: »Was heißt hier, was auch immer, ich habe wirklich nichts mit einem Lehrer! Wenn ihr es genau wissen wollt: Ich habe einen Mathepreis gewonnen!« Jetzt ist es rausgeflutscht. Alle Beteiligten schauen mich ungläubig an. Philipp fängt als Erster an zu lachen. »Bist du nicht eine der schlechtesten aus der Klasse?! Haha, selten so einen guten Witz gehört!« Lilly und Nadine stimmen mit ein, und zu meinem Leidwesen grinst sogar Valentine. Erde, tu dich auf. Da werde ich gerettet. Es schwirrt herbei: Ausgerechnet Dr. Sommer. »Manuela! Die anderen Schüler, die mitfahren, stehen fest!«, ruft er begeistert aus. Na und wen interessiert’s. Wichtiger ist, dass Nadine und Co. verdammt dumm aus der Wäsche gucken. »Wir sind zusammen, ausschließlich mir, zu sechst. Eigentlich hätten viel weniger mitkommen dürfen, aber ich habe das für uns geregelt.« Er grinst mich an wie ein Honigkuchenpferd. Ich gerate in Versuchung, »Gut gemacht, Hündchen!« zu rufen, kann mich nur noch beherrschen, weil er sogleich fortfährt, ohne die Umstehenden zu beachten: »Die anderen fünf sind Jan Rottenmeier 10d, Josefine Tofurah Q11, Tobias Eichendorff 10a, Eduart Gelsenberg Q12 und Jonas Hüpsch Q12. Wir werden im Hotel in einem Zweierzimmer und einem Viererzimmer übernachten, daher versteht sich, dass du mit Josefine dein Zimmer belegen wirst, auch wenn du meiner Meinung nach eine fabelhafte Hotel-Suite für dich alleine verdient hättest, aber dann hätte Josefine auch eine bekommen müssen. Kann man nichts machen. Wir würden Donnerstagmorgen losfahren und Sonntagabend wieder ankommen, also hättet ihr noch am Montag schulfrei, wegen der Anstrengung. Treffpunkt ist hier, am Haupteingang um acht Uhr morgens.« Jetzt bin ich wirklich ausreichend informiert. Halt mal – Hat er gerade Tobias Eichendorff gesagt?! Oh nein oh nein. Tobi fährt mit nach München. Das wird ja super. Nadine ist nach diesem Monolog die Kinnlade saftig heruntergeklappt. »Herr Sommer, sagen Sie bloß, Manu hat wirklich was gewonnen?« »Gewonnen? In der Tat, und zwar nicht nur etwas! Unsere liebe Manuela ist ein wahres Genie, sie wurde für den deutschen Jugendmathematikpreis nominiert!«, prahlt er ungeniert. Mir ist das so was von peinlich, aber wenigstens gibt er es ihr. Noch verdutzter als Nadine ist zweifelsfrei Philipp: »Und Sie irren sich, wirklich nicht?! Stehe ich nicht auf der Liste? Vielleicht haben Sie Manus Test ja vertauscht … mit einem anderen aus der Klasse … « Tja Philipp, das hättest du wohl gerne. Aber nur so zu tun, als wäre man ein Streber, hilft nun mal nicht bei den Noten weiter (er schleimt immer nur bei den Lehrern herum). Auch Lilly ist ganz aus dem Häuschen: »Sie sind also noch Single?« Mehr hat sie aus dem Ganzen also nicht herausgehört. Die Frage kommt so unerwartet, Dr. Sommer weiß erst gar nichts darauf zu sagen, erwidert dann aber: »Ähm … ja. Kann ich dir irgendwie weiterhelfen … ?« Valentine beherrscht sich, nicht loszuprusten und auch ich schmunzele vor mich hin. Das hätte ich so gerne aufgenommen. Schließlich tippe ich Valentine an, wir nutzen die Verwirrung, um abzuhauen. Flüchten raus zu meinen Lieblingssteinen. »Das war gerade DER HAMMER!«, ruft Valentine überglücklich aus. »Hast du ihre Gesichter gesehen? Sag bloß, du hast Herr Sommer dazu angestiftet!« »Nein, ich habe wirklich diesen Preis gewonnen … «, gebe ich zu. Habe ich doch, oder? Ich zweifle selbst groß daran. Valentine staunt nur: »Wow, ein Genie bist du auch noch!« Bevor sie noch mehr Respekt vor mir bekommt, gestehe ich es ihr. »Du, Valentine … um ehrlich zu sein … ich kann mir das mit dem Preis gar nicht erklären.« »Nicht so bescheiden, Manu!« »Nein, wirklich! Meine Blätter habe ich nämlich leer abgegeben. Du warst noch nicht an der Schule, als wir ihn geschrieben haben.« Eine Weile lang weiß sie nichts zu antworten. »Das ist höchst merkwürdig«, gibt sie dann ihr Statement dazu ab. »Warst du vielleicht besoffen oder standest unter Drogen, als du diesen Test geschrieben hast, und erinnerst dich bloß nicht mehr? Manche Menschen hegen tief in ihrem Inneren eine Begabung, die allein in solchen Dämmerzuständen zum Vorschein kommt.« »Das glaube ich weniger. Da ist wahrscheinlicher, dass jemand den Test vertauscht hat«, entkräfte ich ihre These. »Valentine, ich schwöre dir, da geht was nicht mit rechten Dingen zu. Ich habe diesen Test wirklich nicht geschrieben, aber trotzdem war es genau meine Handschrift!« »Deine Handschrift?! Und du behauptest immer noch, ihn NICHT geschrieben zu haben?« So wie es aussieht, rede ich gegen einen Zementblock. Genau wie gegen Janiel, der die ganze Zeit nur grinst, während ich ihn durch die Stadt schleife, um Besorgungen zu erledigen, für den Fall, dass ich wirklich nach München fahre. Für den Fall. Ich bin mir noch nicht sicher, ob die Angst, Tobi zu begegnen siegt und ich doch noch in letzter Sekunde kneife. Dabei würde ich so gerne mitfahren, einfach nur um Nadine einen weiteren Magenhieb zu versetzen. Nachdem ich mich in der Drogerie mit Damenhygiene-Artikeln eingedeckt habe (ja, das muss sein), treffen wir zufällig auf Hans-Jürgen. Der niedliche Opi erkennt mich sofort wieder. »Hallo, Manuela, wie geht es dir?«, fragt er putzmunter. »Okay«, antworte ich. Er merkt, dass etwas nicht mit mir stimmt. »Was ist denn los? Nicht etwa schon wieder dieser Casanova!« Die letzten Worte ruft er empört aus, guckt zwischen Janiel und mir hin und her. »Nein, gar nicht. Diesmal ist sogar etwas Gutes passiert!«, verrät Janiel ihm. »Ach ja?«, erwidert Hans-Jürgen neugierig. »Ich habe einen Preis gewonnen, in Mathe«, vertraue ich ihm an. Hans-Jürgen zuckt kurz zusammen, freut sich aber für mich: »Na, wenn das nicht eine tolle Sache ist!« »Aber wenn ich ehrlich bin, kann ich es nicht glauben … dass ich diesen Test geschrieben habe. Weil: Ich habe ihn nicht geschrieben. Aber total sicher bin ich mir nicht, an dem Tag ist viel passiert … « Pause. Ich senke den Kopf. »Na na! Ich bin mir sicher, du hast das ganz alleine geschafft … Vermutlich musst du nur an dich glauben und wenn das nicht reicht, dann glaube ich für dich daran!«, macht er mir Mut und schielt dabei immer wieder zu Janiel herüber. Wir verabschieden uns wieder, und Janiel murmelt hinterher: »Da hat sich aber jemand gewundert … « Während ich am Abend vor der Abreise in meinem rosaroten Zimmer den alten Reisekoffer meiner Mutter aufreiße, latschen mir tausend Gedanken durch den Kopf. Ich weiß jetzt: Ich will nicht mit Tobi nach München. Nur dumm, dass Dr. Sommer das will. Mir hätte eigentlich von Anfang an klar sein müssen, dass Tobi in jedem Fall bei so einer Aktion mitfährt. Ich meine, HALLO, Tobi, das Mathe-Ass. Und überhaupt – was mache ich eigentlich, wenn auffliegt, dass ich keine Ahnung von Mathe habe? Wenn sie herausfinden, was ich zu erklären versucht habe? Und wer eigentlich? Langsam schwirrt mir der Kopf. »Hilfää!« »Ich bin hier!«, meldet sich mein Schutzengel zu Wort. Ich gebe keinen Mucks von mir. Was soll der denn da helfen?! Ignorant schreite ich an ihm vorbei und miste meinen Kleiderschrank aus. Nachdem ich endlich alles gerade so verstaut habe, sacke ich in mir zusammen. Das kann ja morgen echt heiter werden! Ich … ich bin am Ende. Er hasst mich bestimmt. Dafür, dass ich ihn »mal geliebt habe«. Und das wird mir jetzt auch noch unter die Nase gerieben. Angewinkelt lehne ich an der Tür, weiß, dass ich nicht so viel in Selbstmitleid schwelgen sollte. Einmal habe ich etwas gewonnen und ich hatte es verdient. Damals … Papa … Manchmal denke ich, ich bin so kaputt. Dann frage ich mich, wie werde ich wieder ganz? Doch mir antwortet niemand. Nie hat mir jemand geantwortet. Wer kommt von sich aus zu mir? Wen kümmert es, was mit mir passiert? Es war nie jemand da. Das wird mir jetzt bewusst. Am liebsten würde ich ewig so sitzen bleiben, das Gesicht in meinen verschränkten Armen vergraben. Weinen tue ich nicht. Ich wäre doch traurig, würde ich weinen, der Unterschied ist: Ich bin nicht traurig, ich bin verzweifelt. Ich weiß nicht weiter. Ich weiß es nicht. »Manu, ich glaube an dich. Aber du musst auch an dich glauben.« Vorsichtig hebe ich den Kopf. Er streckt mir die offene Hand aus, ist bereit, mir zu helfen. »Du hast es so weit geschafft, von ganz alleine, ohne irgendwelche Hilfe. Aber von jetzt an wirst du nie wieder alleine sein. Ich werde dich immer beschützen. Das ist meine Pflicht. Und das verspreche ich dir.« Endlich ist jemand da, denke ich mir, dabei habe ich es doch gewusst. Janiel glaubt an mich. Als er mir aufmunternd zunickt, merke ich, dass diese alten Zeiten vorbei sind. Ich bin nicht mehr allein. Ich ergreife Janiels Hand und erhebe mich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)