Warum Pechvögel fliegen können. von Whiscy (Die Schutzengel-Trilogie 1) ================================================================================ Kapitel 2: Der Aushilfs-Schutzengel ----------------------------------- Schon den ganzen Tag hatte Camael den kleinen Menschen beobachtet, inzwischen hatte er Gefallen an dem bemitleidenswerten Wesen gefunden. »Oh je, dieser Mensch braucht wahrhaftig einen Schutzengel!« Da tippte ihm ein anderer Engel auf die Schulter. Es war Azrael aus der Todesabteilung. Wie immer machte er ein mürrisches Gesicht – oder die Schwärze seines piekfeinen Sakkos erweckte diesen Eindruck, Camael wusste es nicht so genau. »Ich störe Sie ja nur ungern, aber wie Sie wissen, hätte ich hier gerne eine Unterschrift«, sagte Azrael, rückte sich die schwarze Rechteckbrille zurecht und hielt ihm ein Klemmbrett vor die Nase. »Muss das denn wirklich sein?« »Sie hat keinen Schutzengel. Sie darf nicht weiterleben. Mir ist egal, wie jung sie ist, wenn die Zahlen nicht stimmen … «, antwortete er und drückte ihm zwangsweise das Klemmbrett in die Hand. »Doch wenn sie einen hätte, bliebe sie verschont«, erwiderte Camael leise. »Naja. Nach höchstens 120 Jahren muss ich sie eintragen, es sei denn, dies widerspräche der Akasha-Chronik in irgendeiner Hinsicht – dann würde ich sogar vorher noch aufkreuzen, das wisst Ihr.« »Das genügt mir, mein lieber Azrael. Ich, Camael, der Meister des Karmas, werde dafür sorgen, dass sie sofort einen Schutzengel erhält und ihr restliches Leben geruhsam verläuft, bis zu ihrem Tode.« So machte Camael sich auf die Suche nach einem geeigneten Schutzengel, denn er selbst war nicht befugt, die Erde zu betreten. Am liebsten hätte er einen der Angeloi damit beauftragt, doch im ersten Himmel traf er, außer am Empfang, niemanden an. »Wo sind denn alle?« »Wir haben gerade Erntezeit, außerdem gibt es zu wenig Naturkatastrophen und somit Baby-Boom«, erklärte die geflügelte Empfangsdame mit sanfter Stimme. Camael schüttelte den Kopf und stapfte in den zweiten Himmel. Doch dort sah es ähnlich mager aus. »Wo … ?« »Im Moment haben die Wachen hier aller Hand zu tun, Meisterin Anael hat neuerdings verstärkte Kontrollen verordnet«, plapperte die zweite Empfangsdame drauf los. Er seufzte. Vor gut fünfzig Jahren hätten in diesen beiden Himmeln noch eine Menge arbeitsloser Angeloi herumgelungert. Was muss die Menschheit auch so fortschrittlich sein. Obwohl es ihm widerstrebte, höhere Engel als Angeloi um Hilfe zu bitten, betrat Camael den dritten Himmel. In Shechaqim ruhten die verstorbenen Seelen, sowohl die guten, als auch die schlechten. »Guten Tag, ist jemand da … ?« Doch hier war sogar nur die Empfangsassistenz anwesend, die die Seelenfragment-Beauftragten mit Snacks für zwischendurch versorgte. »Bedauere, wir sind hier alle total im Stress. Jede Sekunde müssen wir eine neue Reihe aufziehen, und Dalquiel ist sogar ausgefallen, deshalb bin ich am Tresen alleine für eine Weile.« »Danke, ich schau mal im vierten vorbei.« »Viel Glück.« Der vierte Himmel war – neben dem siebten – der größte von allen. Hier lag das himmlische Jerusalem, die Stadt der Engel. Umso hoffnungsvoller war Camael, als er gleich am Eingang der ersten Mauer auf Hakem traf. »Gott sei Dank! Hast du eine Minute, Hakem?« »Aber nur eine. Wir haben gleich ein Meeting über den Missbrauch der Kirche«, meinte dieser und wedelte hektisch mit den Händen. »Oh. Ist das heute?« »Offensichtlich … « »Sag, gibt es hier irgendjemanden, der Zeit für eine Aufgabe hätte?« Noch hatte Camael die Hoffnung nicht aufgegeben. »Wie lange?« »Lebenslang.« »Keinen.« Reichlich frustriert marschierte der Karma-Engel in den fünften Himmel. Allmählich war es ihm egal, was die hohen Engel davon halten würden, Schutzengel spielen zu müssen. Endlich. Da saß einer. Mitten im Wolkenmeer. Eifrig schrieb der Engel Noten auf ein Blatt nieder. Camael schloss daraus, dass es sich um den sagenumwobenen Janiel handeln musste, den Komponisten des Engelschors für die Dienstags-Konzerte. Bisher hatte Camael über ihn gehört, dass Janiel mit niemandem ein Wort sprach, seit er sein Amt im Himmel angetreten hatte. Und das sollte auch nicht allzu lange her gewesen sein. »Mein treuer Janiel.« » … « »Ein neuer Auftrag für dich führt mich zu dir, Janiel«, betonte Camael. »Folge mir!« Janiel sah kurz von seinem Notenblatt auf, starrte Camael sekundenlang an und widmete sich dann wieder dem Komponieren. »Wahrlich, er ist so anstrengend, wie sie sagen«, dachte sich Camael. Dann probierte er, es dem Strahlenden auf die harte Tour beizubringen: »Nun denn, du möchtest dich doch nicht mit dem Meister des Karmas anlegen, junger Engel.« » … « Gekonnt ignorierte Janiel den Meister des Karmas. »Ach herrje.« Camael seufzte, bückte sich und entriss Janiel schließlich seine neueste Komposition. »Du hast jetzt eine neue Arbeit. Für ein Menschenleben lang schicke ich dich auf die Erde, ob du willst oder nicht. Meine Aufgabe als Meister des Karmas ist es, das Wesen der Akasha-Chronik zu wahren, und du als Neuling machst mir garantiert keinen Strich durch die Rechnung, weil du als Promi giltst. Du kommst jetzt sofort mit.« Völlig entsetzt glotzte Janiel die zerrissenen Notenblätter an, erhob sich daraufhin mit gesenktem Haupt. Er hatte zu folgen. Endlich sah er das auch ein. So begleitete Janiel Camael zum Schauplatz und bekam das Menschenmädchen gezeigt, das der Meister des Karmas auf der Erde entdeckt hatte. »Siehst du diesen Menschen? Er lebt schon seit einer langen Weile ohne einen Schutzengel«, sagte er. Abfällig linste Janiel herunter. Seine Augen wanderten umher, bis er schließlich die Gestalt erkannte, auf die Camael deutete. Janiel riss schockiert die Augen auf. »Das … kann nicht sein … « Camael erstaunte. Janiel hatte ja … gesprochen? Die ersten Worte, die Janiels Mund verließen … hatte er, Meister Camael, gehört! Damit würde er demnächst mächtig angeben können. »Nun denn, um diesen Menschen beschützen zu können, junger Strahlender, gewähre ich dir eine Sondergenehmigung auf ein Pentagramm samt Schutzengelpass. Pass gut darauf auf, denn falls du eines dieser Dinge verlierst, wird unser Okkultismus-Engel kommen, um dich zurechtzuweisen. Der sechste Himmel ist zuständig für die Wahrung des Wesens der Akasha-Chronik, wir sind sehr bemüht, uns möglichst daran zu halten, ist das klar?« »Ich … kann das nicht … Meister Camael.« »Du bekommst das Grundregelbuch für angehende Schutzengel. Es ist genauso ein Beruf wie B-Promi im Engelschor. Du wirst dich doch dazu herablassen können, junger Strahlender.« » … « Camael seufzte. »Du machst es mir wirklich nicht einfach.« Er drückte dem schockierten ehemaligen Komponisten das Grundregelbuch in die Hand, das er scheinbar mit einem »Puff!« aus der Luft gezaubert hatte. »Pass auf, ich erkläre es dir sogar: Kein Mensch kann von Natur aus auch nur einen Monat ohne Schutzengel überleben. Menschen sind von Natur aus stur, dumm und töricht. Das neue Zeitalter der Technik bestärkt dies, es macht sie noch unvorsichtiger und leichtsinniger als je zuvor. Die natürliche Art des Menschen bewegt sie dazu, immerzu ihren Platz in der Rolle des Stärkeren zu sichern, sei es in der Karriere oder in einer Jungenbande. Das ist es, was die Menschen gefährlich und gewalttätig macht. Wenn Menschen sich nicht gegenseitig vernichten, dann tun es Dummheit und Naturkatastrophen. Schutzengel sind da, um die Menschen vor jenen Gefahren zu beschützen. Dieser Mensch hier ist von übernatürlichem Glück gesegnet worden, denn er lebt noch. Doch mit jeder Minute die verstreicht, rückt sein Ende näher. Der liebe Azrael wartet nebenan, klopft mit seinem Bleistiftrücken auf seine Todesliste. Willst du dafür verantwortlich sein, dass dieser Mensch stirbt? Seine Seele ist so rein und unschuldig wie die eines frisch geborenen Kindes. Ohne einen Schutzengel ist dieser Mensch hilflos seiner eigenen Dummheit ausgeliefert.« Janiel sah immer noch herab, auf die Erde. Ihm war mulmig zumute. Schwindlig. Er hätte nie gedacht, dass er jemals zurückkehren könnte. Unter diesen Umständen. »Ich mache es.« »Danke, mein lieber Janiel. Wir gehen am besten in mein Büro, für den Papierkram … « »Warten Sie, Meister!« Völlig von der Rolle beobachteten die beiden, wie das seiner eigenen Dummheit ausgelieferte Mädchen bei Rot über die Ampel ging. Ich fliege. Es ist warm, es flimmert rot-orange vor meinen Augenliedern. Wind umfängt mich, ein leises Klirren erklingt. Ein süßlich-heißer Geruch weht mir entgegen. Wenn es sich so anfühlt, tot zu sein, dann darf das bitte so bleiben. Bleibt es natürlich nicht. Das wohlige Sommerbrisen-Kokon-Gefühl macht sich vom Acker, dem weicht knallharter Schmerz. Mal wieder. Warum nur? War das heute nicht schon genug Leid? Ich fühle mich, als wäre ich voll Karacho gegen eine Wand gelaufen. Zögernd öffne ich meine Augen. Es riecht nach Benzin. Ich liege seitlich auf hartem Asphalt. Meine linke Schulter ist scheinbar dagegen geknallt. Ein Sprinter blockiert die Straße, der Depp von Fahrer hat sich einmal quer über die Straße gestellt. Ja, so mach ich das auch mal, wenn ich Lieferantin bin. Theoretisch gesehen könnte ich das sogar werden, mit meinen miserablen Noten. Als ich mich bewegen will, merke ich, dass jemand auf mir drauf liegt. Und auf einmal weiß ich wieder, was passiert ist. Ich wollte doch über die Straße … und habe nicht wirklich auf die Fußgängerampel geachtet … Oh Mann, ich Genie. Das hätte ein böses Ende nehmen können. Schwein gehabt! Jetzt muss ich das mit dem bekloppten Lieferwagenfahrer zurücknehmen. Ich will mich unbedingt bei dem Fremden bedanken, der mich zur Seite gestoßen hat. Immer noch liegt er auf mir, zumindest zur Hälfte, und präsentiert mir seinen stolzen Hinterkopf. Es ist ein Junge, höchstens ein, zwei Jahre älter als ich. Soweit man eine Person von hinten beurteilen kann. »Alles okay?«, frage ich, weil er sich nicht rührt. Da wendet er mir endlich sein Gesicht zu. »Alles okay? Haha. Das sollte ich wohl lieber dich fragen.« Er lächelt. Lächelt, glücklich darüber, dass wir beide noch leben. Die Sonne hat wieder angefangen zu scheinen, ihre Strahlen berühren unsere Gesichter und tauchen sie in ein goldenes Licht. Ich erröte (noch so eine Macke) und bedanke mich für die Rettung. Er steht auf, reicht mir die Hand. »Ist doch keine Ursache. Das wäre doch sehr traurig gewesen, wenn dir etwas passiert wäre.« Nein, denke ich. Nein. Es wäre ein Grund zum Feiern gewesen. Eine ganze Schul-Volleyballmannschaft hätte sich daran ergötzt. Er sieht mich an und mir fällt auf, was für ein hübscher Kerl er ist. Die goldblonden Haare fallen ihm ein wenig ins Gesicht, dazu einladend, einmal kräftig durchzuwuscheln. Da fährt der Lieferwagen einfach davon. »So ein Arschloch. Begeht einfach Fahrerflucht!« Dem kann ich nur zustimmen. Inzwischen sind eine Menge Leute stehen geblieben und starren uns an. »Hey Leute, hier gibt es nichts zu sehen, lauft weiter!«, ruft er in die Runde. Tatsächlich hören die Passanten auf zu glotzen. »Nochmals vi-vielen Dank«, stammele ich. »Ich hab’s! Als Dankeschön lade ich dich auf eine Tasse Tee oder Kaffee ein!« »Ein Kaffee gegen ein Leben?«, sagt er und lacht auf. Meine Nervosität löst sich in Luft auf. Zusammen mit dem Schock. Sein Lachen ist kein Du-bist-so-dumm-und-naiv-Lachen, es ist ein Du-hast-so-süße-Gedanken-Lachen. »Ja oder Nein? Oder hast du noch etwas anderes vor als Menschenleben zu retten?«, frage ich. »Ich begleite dich gerne in ein Café. Nicht, dass dir unterwegs was geschieht.« Jetzt muss ich zurückstrahlen. »Das ist süß von dir.« »Ich könnte jetzt sagen, ‚Genau wie du‘ aber das käme etwas zu schmalzig rüber.« »Ja, da hast du Recht.« Wieder muss ich grinsen. Manchmal muss man etwas verlieren, um etwas anderes zu gewinnen. In meinem Fall: meinen Verstand. »Da fällt mir ein: Wie heißt du eigentlich, mein Schutzengel?« Eine Sekunde lang kommt es mir so vor, als würde er mich verwundert ansehen, dann sagt er: »Janiel.« »Was ist denn das für ein Name?« »Ein hebräischer.« »Also bist du Jude?« »Nein, Christ.« »Hey, das bin ich auch!« »Ach wirklich?« Wir schlendern durch die Stadt, auf der Suche nach einem Schuppen, der gemütlich aussieht. Es ist das erste Mal, dass ich mit einem Jungen in ein Café gehe. Und dann auch noch mit einem Helden. Möglicherweise hat sich mein Pech nur darauf vorbereitet, sich in pures Glück zu verwandeln. Möglicherweise ist jetzt meine Zeit gekommen. Möglicherweise habe ich mir nicht nur die Schulter, sondern auch den Kopf gestoßen. Ich grinse glücklich vor mich hin. Dauerhaft. »Ladies first.« Janiel hält mir die Tür auf. Ein Gentleman ist er auch noch. Ich würde mich glatt in ihn verlieben, wenn … … Tobi hat eine Freundin. Das Grinsen verschwindet. »Geht’s dir gut?«, erkundigt sich Janiel. »Ja. Ja. Alles in Ordnung.« Wir suchen uns einen Platz, lassen uns in einer Sesselecke nieder. »Ich glaube, ich habe nur ein paar blaue Flecken, nichts weiter.« Er atmet erleichtert aus, legt den Kopf nach hinten. »Da bin ich froh!« Die Bedienung kommt, wir bestellen uns beide eine heiße Tasse Kaba (für Kaffee fühle ich mich noch zu jung und er sich scheinbar auch). »Gehst du eigentlich immer über die Straße, ohne nach rechts und links zu gucken?« Ich könnte mich jetzt gemobbt fühlen, aber sein Tonfall ist zu sanft dafür. Allgemein klingt seine Stimme so … melodisch. »Oft aber selten.« »Spektakuläre Antwort.« »Rettest du eigentlich jeden Tag irgendwelche Mädchen vor dem Dummheits-Tod?« Er zuckt. »Hoffentlich nicht.« Habe ich da irgendeinen Nerv getroffen? Leider bin ich nicht feinfühlig genug, um weiter darüber nachzudenken. »Ich möchte gern etwas mehr über dich erfahren.« Bitte, was? Das wollte noch nie jemand. Ich bin Manuela, und wer ich bin, das interessiert sowieso keinen. »Und was genau?« »Wie wäre es mit deinem Namen?« »Manu. Manuela. Aber alle nennen mich Manu.« »Und dein Alter?« »Ich bin fünfzehn, und du?« Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich jetzt denken, dass er ernsthaft überlegt. Janiel kratzt sich an der Schläfe, antwortet langsam: »Ich bin siebzehn. Was machen deine Eltern?« »Meine Mutter ist Altenpflegerin.« »Und … « »Wird das hier etwa ein Verhör?!«, sage ich einen Tick zu laut, so, dass die Gäste neben uns kurz aufhorchen. »Nein. Ich war nur neugierig, wer mir gegenüber sitzt.« »Sorry. Frag mich einfach … etwas anderes … « »Dann erzähl du doch lieber etwas?« Ich schlucke. Okay. »Ich bin … der wohl größte Pechvogel auf Erden. Schon seit Jahren passiert mir jedes denkbar mögliche Unglück. Es ist meistens nichts Großes, es sind nur viele Kleinigkeiten. Öffentliche Verkehrsmittel erwische ich grundsätzlich nicht, Teller zerspringen fast von allein … Fettnäpfchen lasse ich keins aus, Vogelkacke landet auf mir, genau wie Eiszapfen, Schneebälle, Wasserbomben, Dreck, Holzspäne und Erbrochenes, zumindest wenn ich es wage, einen Freizeitpark zu besuchen.« »Das hört sich nach einem spannenden Leben an.« »Ha. Hahaha.« »Also war heute die Krönung.« »Heute war die Krönung.« »Hast du schon mal darüber nachgedacht, woran dein Pechvogeldasein liegen könnte?« »Du meinst Genetik oder so was?« Er zwirbelt eine Haarsträhne um seinen Zeigefinger und lacht schief. »Du bist genau so, wie du aussiehst.« Ich würde mich ja freuen, weiß aber nicht, was ich von diesem Kompliment halten soll. »Ähm … wie sehe ich denn aus?« »Geheim.« Sein Zwinkern verrät mir, dass er es mir nicht verraten wird. »Dann bist du jetzt dran. Erzähl mir, wie man so ein toller Held wird«, sage ich. »Ha. Ha. Ha.« »Schieß los. Du kannst mir natürlich auch erzählen, was sich deine Eltern bei deinem Namen gedacht haben.« »Mein Name ist völlig normal. Sie waren nun mal … sehr christlich. Im Prinzip hat mir Gott meinen Namen gegeben.« »Bist du auch gläubig?« In dem Moment bringt uns die Kellnerin die ersehnten Heißgetränke. Wir bedanken uns beide brav. »Also ich … denke ja.« »Du bist dir also nicht ganz sicher.« »Gott hat einen Plan für uns alle, das ist sicher.« Ich nehme einen Schluck aus meiner Tasse, während ich beobachten kann, wie Janiel gedanklich abdriftet und mehr eine stumme Konversation mit der Fensterscheibe abhält, als mit mir. Komischer Kerl. Streng religiös erzogen. Das muss hart sein, den ganzen Tag Bibel lesen und so. Und die Gottesdienste jeden Sonntag erst. Ich weiß wovon ich rede, ich habe mir letztes Jahr die Konfirmation angetan, um meine Mutter zu beruhigen. »Ich glaube nicht an Gott«, gebe ich zu. Janiel wacht aus seinen Gedanken auf. Ich fahre fort: »Wenn es einen Gott gibt, sicher nicht für mich. Ich kann einfach nicht an einen guten Gott glauben, der so viel Unglück auf der Erde zulässt.« »Was Glück und was Unglück ist, ist doch eher Ansichtssache, findest du nicht?« »Wenn jemand stirbt … dann ist das niemals Glück … « Sieben Stunden später. Ich liege im Bett und denke nach. Tobi hat eine Freundin. Nadine hat einen Knutschfleck. Und ich? Ich habe … ach du Scheiße. Ich habe einen imaginären Freund, den ich demnächst meiner Klasse vorstellen soll. Das habe ich völlig außer Acht gelassen. Oder besser gesagt: Vollkommen vergessen. Außerdem hat meine liebe Mama mich vorhin zur Schnecke gemacht, weil die Schule angerufen hat, mit der Aussage: »Ihre Tochter hat die Schule geschwänzt« was ja mal überhaupt nicht zutrifft, weil ich nur eine einzige Stunde abwesend war (in der ich mich im Prinzip nur für den Sportunterricht aufgewärmt habe). Jetzt habe ich Hausarrest. Aber ich würde sowieso nirgendwo mehr hingehen. So kann ich mich doch nicht in der Öffentlichkeit blicken lassen, die Lüge haftet stets an mir. Ich dumme, dumme Kuh! Hätte ich doch einfach gesagt: »Non, je n’ai pas un petit ami.« [Übersetzung: Nein, ich habe keinen festen Freund] Aber nein, ich bescheuertes Miststück muss gleich sündigen gehen. Ich bin so erbärmlich. Und fett (ich muss unbedingt mit der Diät anfangen). Und hässlich (kurzer Blick in den Spiegel zur Bestätigung: Jep). Und dumm (siehe mein Fast-Tod vorhin). Kein Wunder, dass mir immer das Pech ins Gesicht springt. Ob man da was dagegen machen kann? Ich habe wahrscheinlich so was wie eine magische Anziehungskraft darauf. Janiel kommt mir wieder in den Sinn. Er würde vermutlich beten. Haha. Oh Mann, ich sollte mich nicht so über seinen Glauben lustig machen. Nach unserem Abschied tauschten wir keine Nummern. Warum auch. Er hat mich gerettet, ich lebe noch. Die Pechsträhne kann wieder weitergehen. Als ich das Licht ausmachen will, fällt mein Blick zufällig auf den Kalender. Der zehnte Oktober. Sein Todestag. Am nächsten Morgen tut mir wieder alles weh. Auf meiner linken Schulter zeichnet sich ein fetter Bluterguss ab und meine Hände schmerzen immer noch, obwohl ich die Steine zu Hause noch rausspülen konnte (sie steckten nicht wirklich tief). Meine Wange ist ganz geschwollen, jetzt sehe ich aus wie ein Monster. Wieder fallen mir die Sätze aus der ersten Reihe ein. Ja, ich bin nicht schön. Was dagegen? Sollen sie doch nur reden. Ich habe nämlich einen Entschluss gefasst. Ich werde meiner Klasse meinen nicht vorhandenen Freund vorstellen. Jawohl, das werde ich! Ich habe zwar noch keinen blassen Schimmer, wie ich das anstellen soll, aber mir wird schon irgendwas einfallen. Hoffe ich zumindest. Jedenfalls können die sich alle auf was gefasst machen. Mit diesen Gedanken schlüpfe ich in meinen Krümelmonster-Hoodie und beginne so meinen neuen Tag. Diesmal habe ich dazu gelernt und den Wecker eine ganze Stunde früher gestellt, meine Sachen am Abend raus gelegt und meinen Rucksack gepackt. Deswegen schaffe ich es auch pünktlich zum Bus. Heute scheint mein Glückstag zu sein, denn der Busfahrer hält direkt vor meiner Nase, so dass ich die Erste im Pubertiertransporter bin und den letzten freien Platz erwische. Im Klassenzimmer werde ich zunächst ignoriert, na ja, zumindest, bis Nadine kommt. »Hast uns allen wohl doch was vorgelogen, wie?«, entgegnet sie mir spitz. Ganz cool bleiben, Manu. Du schaffst das. »Nein, ganz und gar nicht. Wenn du magst, kannst du ihn ja gern kennen lernen. Aber wundere dich nicht, wenn es das dann auch war.« Diesen Gesichtsausdruck, den Nadine gerade macht, werde ich niemals vergessen, das schwöre ich. »Sofern es ihn überhaupt ge-gibt!«, haspelt sie. Hätte nicht gedacht, dass ihr das mal passieren könnte, das mit dem Gestotter. Ist ja eher mein Ding. »Ach komm, lass sie doch jetzt endlich mal in Ruhe«, unterbricht uns Karin, die sich bis eben noch mit Hanna und Sophie unterhalten hat. »Genau, wenn Manu mit ihrem Freund glücklich ist, dann geht das doch niemanden etwas an«, pflichtet Sophie ihr bei. Danke ihr beiden, ich könnte euch küssen! Nadine gibt sich ihrer Mimik nach zu urteilen geschlagen, ist aber dennoch sauer auf mich. Wie immer eben. »Dass ihr auch alles glaubt, was man euch erzählt.« Da mischt sich auch noch Hanna ein: »Hör mal Nadine, Manu hat nicht gelogen. Ich habe die beiden gestern zusammen in der Stadt gesehen und es hatte nicht gerade den Anschein, als stünden sie sich nicht Nahe. Nur weil du der Meinung bist, dass sie eine Niete ist, heißt das noch lange nicht, dass andere Menschen das genauso sehen. Also hört jetzt beide auf mit den Zickereien! Inzwischen geht das jedem hier auf die Nerven.« Gute Rede, Applaus! Perfekt, sie hat mich und Janiel wohl gestern im Café gesehen. Momentchen Mal – Hat sie gerade gesagt, wir sollen »beide« mit den Zickereien aufhören?! Ich habe ganz gewiss nicht so ein Affentheater veranstaltet! Aber bevor sie mir noch weiter in den Rücken fällt, halte ich doch lieber die Klappe. Genau wie Nadine, aber im Gegensatz zu mir hat es ihr einfach nur die Sprache verschlagen. Bevor ich in die Pause gehe, warte ich auf Karin, Hanna und Sophie vor dem Klassenzimmer. Die drei trödeln öfter mal. »Danke! Danke, fürs Einmischen! Ich hätte echt nicht gewusst, wie ich damit fertig werde!« Mmmh na ja, vielleicht ist das ein bisschen zu viel Dank gewesen. Denn die Geschichte mit meinem Freund hat sich wie ein Lauffeuer auf dem Pausenhof verbreitet. Zum Beispiel haben sich auf einmal Menschen, die mich eigentlich ignorieren, zu mir gesellt, um mich auszufragen. Denkste. Was man selber nicht weiß, kann man auch keinem erzählen. »Wie heißt er denn?« »Seit wann seid ihr zusammen?« »Wie lange geht das schon?« »Wie habt ihr euch kennen gelernt?« »Sieht er gut aus?« Das sind so die häufigsten Fragen. Damit meine imaginäre Liebesaffäre mit Hannas Fakten übereinstimmt, habe ich eine kleine Geschichte zusammengestellt, die so ziemlich der Wahrheit entspricht. Bis auf die Tatsache, dass ich immer noch Single bin. »Vor zwei Wochen bin ich ganz ahnungslos in die Stadt gegangen und so verpeilt wie ich bin, bin ich aus Versehen bei Rot über die Ampel, und naja, es hätte mich beinahe erwischt, wenn er mich nicht zurückgezogen hätte. Natürlich habe ich mich dafür revanchiert und ihn auf einen Kaffee eingeladen. Das ist alles.« Mehr muss man dazu auch nicht sagen, Menschen lieben es doch, sich nicht-wahre-Dinge auszudenken und es dann »romantisch« zu nennen. Ich finde das Schauspiel-Stück echt gelungen. Vielleicht sollte ich es ja an die Schülerzeitung schicken? Jedenfalls hat sich mein Imaginärer-Freund-Problem in Luft aufgelöst und bei der Fragestellung »Wie heißt er?« musste bislang eben Janiels Name in der Kurzform hinhalten. Also »Jan«. Wird, denke ich, kein Problem sein, da ich ihn sowieso nie wieder sehen werde. Wenn ich genauer darüber nachdenke, dann finde ich das eigentlich ziemlich schade. Er war ja schon nett, außerdem würde ich hier gar nicht mehr auf diesem Stein sitzen und nachdenken können, wenn er nicht gewesen wäre. Und sein Lächeln. Steht plötzlich kopfüber vor mir. »Hallo!« Ich schrecke zurück, purzele rückwärts über den riesigen Stein, auf dem ich hocke. Hier gibt es einen Haufen davon – die sollen darstellen, dass unsere Schule sich mit moderner Kunst befasst. »Alles okay?« Gleicher Satz, falsche Stimme. »Tobi! Wie konntest du nur!«, ziehe ich ihn zur Rechenschaft und schaue ihn ganz, ganz böse an. Was erlaubt sich das Kerlchen eigentlich?! »Sorry, ich wollte dich nicht so erschrecken, dass du vom Stein fällst«, entschuldigt er sich. »Kannst du mir verzeihen?« Och nein, jetzt kommt der olle Hundeblick. Dem ich hoffnungslos verfalle. »Mal sehen.« Schweigen. »Na gut okay, ich verzeihe dir! Bist du jetzt zufrieden?!« Jetzt strahlt er mich wieder an wie ein Honigkuchenpferd. Dieser Bengel treibt mich noch in den Wahnsinn … »Ach, ich wollte dich noch etwas fragen … «, beginnt er und gesellt sich zu mir auf den Stein. Ich frage mich, wie der sich wohl fühlt, wenn hundert Kilo auf ihm sitzen. Bestimmt ist ihm kotzübel. »Wie ist das nun mit deinem Freund? Du bist gestern ganz einfach weggerannt.« Wenn ich der Stein wäre, dann hätte ich mich gerade übergeben. »Ist eigentlich nicht so wichtig«, antworte ich mit einem Hauch von Trauer, den er hoffentlich nicht gehört hat. Hat er. »Was ist denn los? Habt ihr etwa Streit?« Da geht mir plötzlich ein Licht auf: Ich kann ja Schluss machen und sagen, mein Freund will nichts mehr mit mir zu tun haben. Dann muss ich ihn auch nicht Nadine zeigen – Sie besteht immer noch darauf, ihn kennen zu lernen, obwohl sie eigentlich kein Recht dazu hat. Ich schaue Tobi an. Mir fällt wieder Nadines Knutschfleck ein. So vergrabe ich mein Gesicht in meinen Armen und nuschle: »So in etwa.« Plötzlich geschieht das Unglaubliche. Tobi umarmt mich. »Das wird schon wieder. Und wenn nicht, dann hat er dich nicht verdient.« Für eine Sekunde bleibt die Welt stehen, ich fühle mich so geborgen wie noch nie zuvor. Das hat noch nie jemand zu mir gesagt. Gleichzeitig fällt mir ein: Jetzt oder nie. »Tobi … und was ist mit dir?« Er löst sich von mir, sieht mich verwundert an. »Was soll sein?« »Na …«, sage ich vorsichtig. »… mit deiner Freundin.« Seine Reaktion ist anders als erwartet. Er zieht die Augenbrauen zusammen, lächelt. Tobi-typisch. »Welche Freundin?« Meine Augen weiten sich. Schock-schwere-Not. »Du hast keine Freundin?« »Habe ich nie behauptet.« »Ach so … haha. Dummes Missverständnis.« »Scheint so.« Es klingelt. »Wir sollten reingehen.« »Ja.« Der Rest des Tages verläuft relativ normal, und wenn ich normal sage, dann meine ich, dass der Tag super ist! Niemand verliert mehr ein böses Wort über mich und ignoriert werde ich auch nicht. Nur Nadine schweigt, aber das ist was Positives. Immerhin gibt es momentan ein weitaus interessanteres Thema: unseren Dr. Sommer. Okay, er hat keinen Doktortitel, aber es ist nun einmal der perfekte Spitzname für unseren heißen Referendar (oder ist er schon Lehrer? Kann ich mir nicht vorstellen, er sieht doch viel jünger aus als Quackie). Nun denn, man weiß immer, wann wir Mathe haben, da wir dann Besuch von Chantal und Lilly aus der Parallelklasse bekommen, die echt nichts Besseres zu tun haben als zu spannen. Sogar nach dem Unterricht kleben die Mädels noch an ihm, solange, bis er auf dem Parkplatz in seinem schwarzen VW verschwindet. Während ich das beobachten darf, erwische ich im Nachhause-Bus zum wiederholten Male den letzten freien Zweisitzer. Und sobald ich zu Hause ankomme, fängt es an zu schütten wie aus Eimern. Schon wieder ein Heidenglück gehabt. Ist gar nicht typisch für einen Pechvogel wie mich. Ich entscheide mich dazu, nicht weiter darüber nachzudenken und das Glück einfach zu genießen. Am Nachmittag kuschele ich mich zusammen mit einem guten Horrorbuch (Ich mag Horror, was dagegen?) in mein warmes, weiches Bett und lasse die Oktober-Atmosphäre auf mich wirken. Der Himmel tönt die Erde in ein sanftes Grau, während die ersten Regentropfen herunterprasseln. Dunkler. Es färbt sich dunkler. Die Zweige wiegen sich hin und her, unfreiwillig schleudert der Wind sie in seiner stürmischen Melodie vor und zurück. Pfeifen. Lauter. Donner. Der Sturm brettert gegen die Hauswände. Es hagelt. Knallt. Muss ich jetzt Angst haben? Hängt noch Wäsche draußen? Peng! Die Tür knallt zu. Moment, das ist wirklich passiert. Das ist mir einen Tick Horror zu viel. Da geht das Licht aus (Danke, Murphys Law). Ich halte den Atem an, das vierhundertseitige Monstrum namens Buch zwischen den Fingern verklemmt. Das Geräusch einer quietschenden Kreide hallt durch die Wohnung. Fassungslos starre ich mein Buch an. Das wird jetzt bitte nicht real. Der Schmöker handelt von Poltergeistern, die eine Vorstadtfamilie heimsuchen. Da-da-das ist unmöglich! U-N-M-Ö-G-L-I-C-H! Vorsichtig schlage ich die Decke beiseite, wehe das ist ein böser Scherz. »Ahuuu!« Was war das? Ein Jaulen? Um zu überprüfen, was hier vor sich geht, tapse ich trotz Finsternis aus dem Zimmer. Böser Fehler. Binnen Sekunden stoße ich gegen mindestens drei Gegenstände mit meinem kleinen Zeh. Es poltert, scheppert. Aua. Falls ich einen Einbrecher treffe, wird der mich zuerst einmal auslachen. An die Geister aus meinem Buch glaube ich nicht wirklich. Darauf beharre ich zumindest. Im Flur ist niemand. Da ertönt das Jaulen schon wieder. Es kommt von der Haustür. Ein Kratzen. Bedacht darauf, es alleine mit einem Einbrecher oder Versicherungsvertreter aufnehmen zu müssen, schnappe ich mir einen Regenschirm. Ich schleiche lautlos zum Hauseingang. Kann ein Röcheln wahrnehmen. Na warte! Mit einem Ruck reiße ich die Türe auf, habe damit das Überraschungsmoment auf meiner Seite. Es donnert und blitzt, ich schrecke auf. Schreie. Da steht eine Katze. Das Viech starrt mich mit großen, runden Augen an und zeigt nicht einmal ein Anzeichen von Angst. Grrrr, dabei habe ich so lange daran gearbeitet, bedrohlich auszusehen. Wenn hier tatsächlich ein Einbrecher aufgelauert hätte … ich will gar nicht daran denken. Das Fell der Katze glänzt pechschwarz, die Kulleraugen leuchten bernsteinfarben. Schwarze Katze von links, Unglück bringt’s … Warum muss so was immer mir passieren?! Ich will die Katze verscheuchen, aber sie findet unseren Fußabstreicher ziemlich komfortabel und weigert sich, ihr neues Plätzchen zu verlassen. Seufzend begebe ich mich in die Hocke und streichele ihren Kopf. »Du hast wohl nicht vor, so schnell von hier zu verschwinden.« Die Katze schnurrt. Ich seufze. So, da ich die Katze erfolglos vertrieben habe, plündere ich den Kühlschrank und gebe ihr ein Stück Lachs. Irgendwie komisch. Katzen mögen Fische, aber kein Wasser. Wie sind sie vor ihrer Rolle als Haustier überhaupt an welchen rangekommen? Kann mir egal sein, die Katze will nicht abhauen. Ein Halsband hat sie auch nicht. Vielleicht einen Chip? Ich beschließe, sie morgen Nachmittag gleich zum Tierarzt zur Untersuchung zu bringen. Bestimmt wird sie schon von ihrem Besitzer vermisst. Auf einmal steigt mir ein ungeheurer Geruch in die Nase. Was stinkt hier so? Böse schaue ich die Katze an. »Du hast doch nicht etwa … !?« Zu spät. Das Mistvieh hat eine schöne gelbe Pfütze auf unserem Fußboden hinterlassen (ich bin so glücklich, dass wir uns in der Küche befinden und nicht im Wohnzimmer, wo Teppich ausgelegt ist). Prompt packe ich das Pfützen-Vieh am Hals und werfe es in die Badewanne. Die Katze wehrt sich. »Du hast mir den Gestank ins Haus gebracht, ich habe ein Recht darauf, ihn nicht ertragen zu müssen!«, motze ich das Tier an. Ein beleidigtes Maunzen. »Sonst gibt es keinen Lachs mehr, vertrau mir mein Freundchen!« Die Katze schweigt. Na also. Ich schrubbe sie gründlich durch, als sich auf einmal das Badewasser verfärbt. Plötzlich ist es genauso rabenschwarz wie die Katze selbst. Ich erschaudere. Ja, ich mag Horror. In Büchern und so. Aber bitte nicht im realen Leben! Da bemerke ich, dass sich nicht nur das Wasser verfärbt hat. Die Katze ist jetzt weiß. Was für ein Spiel wird hier gespielt?! Ich schrubbe weiter am Rücken der Katze rum, und tatsächlich, die schwarze Katze ist in Wirklichkeit eine weiße Katze! »Bist du etwa in einen Schornstein gefallen, oder was?« Als ich sie endlich aus der Wanne heraushole, maunzt sie nur zufrieden. »Manuela, du weißt ich habe nicht gerne ein Tier im Haus. Halt, Moment! Wo kommt das überhaupt her? «, wendet meine Mama ein, als sie von der Arbeit nach Hause kommt und bedeutet mir, die Katze rauszuschmeißen. Ich zucke mit den Schultern. Alles schon versucht, die geht nicht so schnell wie sie gekommen ist. Mama seufzt. »Gut, ich fahre morgen früh mit ihr zum Tierarzt. Bestimmt hat sie einen Chip, dann können wir ihren Besitzer ausfindig machen.« Rumms! Irgendwie gefällt mir das mal gar nicht. Die Katze ist zwar ziemlich nervig, aber nachdem ich mich um das Vieh gekümmert habe, habe ich doch theoretisch gesehen schon Besitzansprüche darauf, oder? »Ich möchte mitkommen! Bitte warte, bis ich wieder von der Schule zurück bin!«, werfe ich ein. »Manuela, darf ich dich daran erinnern, dass du Hausarrest hast?« »Bitte, Mama!« Trauriger Hundeblick (hab ich von Tobi abgeguckt). Mama gibt nach. Ahoi Tierarzt! (oder so ähnlich). Juhuu! Meine Katze (äh ich meine, Kater, hat der Tierarzt gesagt) hat wie es scheint keinen weiteren Besitzer außer mir, aber wir sollen trotzdem noch die Tierheime abklappern und dazu befragen, ob sie einen gewissen Ausreißer vermissen. Mama hat gesagt, wenn ich meinen Notenschnitt weiter hoch bekomme, dann darf ich ihn behalten. Wir haben einen schönen Schulmorgen und ich schiebe meinem brandneuen Katerchen die Wasserschale hin. Gestern Abend nach dem Tierarzt habe ich noch versucht, ihm das In-den-Garten-Pullern beizubringen und muss sagen: Mein Kater ist ein echtes Genie. Er weiß sogar, wie man eine Toilette benutzt (hat mich auch gewundert, er braucht nicht mal ein Katzenklo!). Da sieht man wieder mal, wie schlau Tiere doch sind. Ich frage mich nur, wieso er das Ganze beim ersten Mal nicht gleich demonstriert hat. Seltsames Tier. Mama schaut mich prüfend an. »Was?«, frage ich. »Du weißt schon, dass du das Tier wieder zurückgeben musst, wenn sein Besitzer auftaucht.« »Und wenn schon.« Darüber will ich nun wirklich nicht reden. Geschweige denn daran denken. MEINS. Schluss. Ende. Fertig. Aus. »Und überhaupt, falls der Kater länger vorhat, sich hier breit zu machen, braucht er doch einen Namen. Du kannst ihn doch nicht immer ‚Das Vieh’ nennen.« »Stimmt.« Daran habe ich ja noch gar nicht gedacht. Mmh … ein Name. Janiel! Keine Ahnung, wie der es jetzt in meinen Kopf geschafft hat, aber es ist der Erste, der mir eingefallen ist. Und wie ich meinen Kater so betrachte, fällt mir auf, dass sein weißlich goldenes Fell der Haarfarbe von Janiel ähnelt. Meine Mutter starrt mich erwartungsvoll an. »Er heißt Janiel«, beschließe ich einfach. Meine Mutter starrt mich verdattert an. Ich gehe einfach zur Schule. Als ich wieder heim komme, ist Janiel weg. Mama auch. Mir schwant Böses. Ich suche das Kater-Vieh überall, doch er ist verschwunden. Vielleicht ist das seine Tour. Einen auf bemitleidenswert machen und das dann voll ausnutzen. Schade. Ich hatte ihn irgendwie lieb gewonnen. Da kommt Mama. Mit Janiel. »Ach Manuela, du glaubst nicht, was für ein Stress das ist, mit den Tierheimen. Die wollen einem immer noch mehr Tiere andrehen.« Weiter höre ich ihr nicht wirklich zu, weil ich Janiel knuddeln muss. Er hat so ein weiches, warmes, wuscheliges Fell. Hach. »Aber weißt du, vorhin war er irgendwie seltsam. Wollte ausbüchsen, als eine im Tierheim sagte, sie dachte er wäre eine ihrer Katzen. Dann hat er sich aber wieder beruhigt, als ich wieder gehen wollte.« Mmh. Ich höre nur so halb zu. Bin zu sehr damit beschäftigt, mein neues Haustier zu streicheln. Mama verstaut einige mitgebrachte Einkäufe, brabbelt was von Stress hier und da. Schließlich hält sie mir eine Pralinenschachtel vor die Nase. »Für dich. Von Frau Beinhart.« Weil meine Mutter ein sehr gesprächiger Mensch ist, macht sie sich schnell bei den alten Leuten beliebt und sackt massenweise Geschenke in Form von Schokolade und Weinflaschen ein. Dass ich allerdings davon profitiere, kommt eher nicht vor. »Danke … wieso das denn?« Immerhin kenne ich die Frau überhaupt nicht. »Sie hat mich gefragt, ob ich Kinder habe, und ich sagte ihr: ‚Ja, eine Tochter‘, und dann meinte sie, ich solle ihr doch damit eine Freude bereiten. Sie hat auch eine Enkelin in deinem Alter.« Mein Gott, gibt es nette Menschen. Wieso kann Nadine nicht so sein. »Sag ihr vielen lieben Dank von mir!« »Jaja.« Mama verzieht sich ins Badezimmer. Und ich mich in meins. Mein Zimmer ist ganze fünfzehn Quadratmeter groß, ausgestattet mit Ikea-Kinder-Möbeln, einem Bücherregal und einem antiken PC, den bereits mein Vater besessen hatte. Obwohl ich Stephen King und andere Horrorautoren vergöttere, kriegt jeder, der mein Zimmer betritt, zuerst mal einen Knall: Rosa überall. Deshalb bringe ich niemals jemanden mit, der meine Kitsch-Hochburg besuchen könnte. Außerdem ist meine Bettwäsche peinlich. Vielleicht sollte ich mal umdekorieren. Den Kater scheint meine Wandfarbe nicht zu stören. Er flauscht sich zwischen die Fleece-Kissen auf meinem Ikea-Bett, um das ich noch vom vorherigen Weihnachten eine Lichterkette gewickelt habe. Ich pflanze mich dazu. »Na gefällt’s dir hier?« Maunzen. Ich glaube, ja. »Weißt du was, Kater.« Ich flappe um nach hinten. Liege neben dem schnurrenden Etwas. »Vielleicht habe ich ja doch nicht immer Pech. Vielleicht verändert sich ja jetzt mein Leben.« Gott hat einen Plan. Das ist sicher. Diese Worte gehen mir plötzlich wieder durch den Kopf. Wenn Gott einen Plan hat, dann will ich ihn nicht hören. Dann kann mich dieser Plan mal. Tropf, tropf. Der Kater kuschelt sich an mich. Ich presse ihn näher zu mir. Solange dieser Gott allmächtig ist, werde ich ihm nie verzeihen. Dann schlafe ich, Janiel im Arm, ein. Am nächsten Morgen wache ich auf, weil mich Haare im Gesicht kitzeln. Schlaftrunken taste ich nach Janiels weichem Fell, doch da sind nur Haare über Haare. Und Haut. Hä? Ich schrecke zurück, falle vom Bett, stoße mir den Kopf und starre fassungslos auf das, was auf der Matratze zwischen den pink-weißen Kissen liegt. Das ist nicht Janiel. Oder doch. Der andere Janiel liegt in meinem Bett, eingekuschelt unter der Decke. Wie ist der hier rein gekommen? Und wo ist meine Katze? Ähm, sorry: mein Kater?! Jedenfalls schläft da ein Junge in meinem Bett. Gerade noch neben mir. Ich glaube, ich habe einen Kollaps. Nervenzusammenbruch. Halluzinationen. Fata Morgana. Ja, so was wird es sein. Ich beobachte das absurde Szenario eine Weile, komme zu dem Schluss, dass ich pervers bin und noch träume. Also kneife ich mich. Aua. Kann man im Traum Schmerz verspüren? Ich glaube nicht. Immerhin hab ich schon geträumt, dass ich gestorben bin, und das hat auch nicht wehgetan. Das ist schlecht. Hoffentlich schneit Mama jetzt nicht hier rein. Ich entscheide mich dazu, den Jungen, der anscheinend Janiel, mein Lebensretter ist, aufzuwecken und rauszuschmeißen. Die Polizei will ich nicht rufen. Wie gesagt, er hat mir das Leben gerettet. Da wacht er schon von alleine auf. Schaut mich an. Verblüfft. Ist das jetzt auch ein Schock für ihn? »Hi!« Mehr ist mir dazu nicht eingefallen. Immer noch verdattert schaut er an sich runter. Das tue ich auch. Er ist nackt. Schnell hebe ich mir die Hände vors Gesicht, hole tief Luft und will schreien. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)