Der letzte Schnee von Calafinwe (Vernon Roche vs. Sigismund Dijkstra) ================================================================================ Kapitel 4: ----------- Najden saß seit dem halben Vormittag im Gestrüpp. Sie waren noch vor Sonnenaufgang von Roche in die Wildnis geschickt worden, um Spuren von Eichhörnchenaktivität zu finden. Der Hauptmann schien den richtigen Riecher gehabt zu haben, denn es hatte nicht lange gedauert, da waren sie auf eine Fährte gestoßen. Kleine, aber tiefe Fußabdrücke, die noch relativ frisch aussahen. Entweder ein schwer beladenes Kind, oder ein Zwerg, der eine Rüstung trug. Die Spuren der Elfen, die den Zwerg begleiteten, waren kaum zu erahnen. Najden und seine beiden Komplizen waren sich einig gewesen, dass es sich hier draußen, am Ende der Welt, nicht um ein Kind handeln konnte. Das wäre einfach viel zu absurd gewesen. Sie hatten ihn losgeschickt, einen der anderen Trupps zu informieren, und gemeinsam hatten sie sich einen Plan überlegt, wie sie vorgehen wollten. Sie waren insgesamt neun Leute, bis auf Najden alle mit jahrelanger Kampferfahrung. Zudem wussten sie, wie man mit den Socia’tael Banden, die es heutzutage noch gab, fertig wurde. Die Eichhörnchen formierten sich nicht mehr in den so genannten Kommandos, wie sie es früher, während des Nilfgaard-Krieges, gerne getan hatten. Heutzutage waren die Banden nicht größer als zehn Leute. Warum sie sich ausgerechnet hier draußen aufhielten, fernab jeder Zivilisation, war Najden ein Rätsel. Sie lagen auf der Lauer im Unterholz und hatten das Lager der Eichhörnchen etwa zwanzig Meter vor sich. Dort stand eine ausladende Eiche, von dem sie ausgingen, dass mindestens zwei Elfen darauf saßen und Ausschau hielten.  Der junge Mann mit den hellbraunen Locken verwünschte die Scoia’tael nicht zum ersten Mal an diesem Tag. Von ihrer Position aus hatten sie keine Möglichkeit, das Lager zu stürmen. Die Eichhörnchen würden sie erspäht haben, noch bevor sie die halbe Strecke zurückgelegt hatten. Deshalb hatten sie einen ihrer Leute zurückgeschickt, um den Hauptmann über die verzwickte Situation aufzuklären. Najden hoffte, dass er bald mit einer Anweisung von Roche, oder noch besser, Verstärkung, zurückkommen würde. Neben ihm raschelte es. „Psst. Die Elfen können kilometerweit hören“, hauchte er. „Sei nicht albern“, meinte Victor Aubry, der neben ihn gekrochen war. „Irgendwas Neues?“ „Victor, was machst du hier?“ „Na was wohl. Roche hat uns geschickt, um euch aus der Scheiße zu holen.“ Der Blondschopf betrachtete den Eichenbaum interessiert. „Also was jetzt?“ „Komm mit, nicht hier.“ Sie krochen rückwärts, so gut es ihnen möglich war. Trotzdem gelang es Najden nicht, dabei besonders leise zu sein. „Jetzt wissen sie auf jeden Fall, dass wir hier sind“, flüsterte Victor, als sie sich einige Meter entfernt hatten. „Sei still“, fauchte Najden. Der junge Aubry führte ihn zu dem Trupp Freischärler, der sich mittlerweile verdreifacht zu haben schien. „Gleich so viele?“ „Ja. Für die Art der Ausführung benötigen wir so viele, junger Najden.“ Vor ihm stand ein Herr mittleren Alters, glattrasiert und mit kurzer, dunkler Stoppelfrisur, von der sich Najden nicht sicher war, ob sie die beginnende Glatze verdecken oder preisgeben sollte. Erst beim zweiten Mal Hinsehen bemerkte er, dass es Roche war, der seine Temerische Uniform abgelegt hatte, und dafür nun ein schmuckloses braunes Wams, schwarze Hosen und schwarze Stiefel trug. Auch den schwarzen Chaperon, den er sonst immer trug, hatte er für diese Mission abgelegt. „Hauptmann!“ „Sshhht, nicht so laut!“ Wenigstens Ves und Hortensio erkannte er sofort. Najden gesellte sich zu ihnen, um der Missionsbesprechung zu lauschen. Roche hockte sich mit einem Zweig hin und fing an, etwas auf den Waldboden zu skizzieren. „Das hier ist das Lager der Eichhörnchen. Eine Eiche, das heißt, dass mindestens einer ihrer Elfen drauf sitzt und die Umgebung im Auge behält.“ Najden nickte für sich. „Unser Vorteil besteht darin“, fuhr Roche fort. „Dass wir ihnen zahlenmäßig weit überlegen sind. Najden, hat sich daran etwas die vergangene Stunde geändert?“ Der junge Mann schüttelte den Kopf. „Gut. Wir werden sie von drei Seiten einkesseln. Ihr Späher auf dem Baum, zweifellos ein Bogenschütze, ist unsere größte Sorge. Deshalb ist es wichtig, dass keiner verfrüht vorstürmt. Wir müssen ihnen die Fluchtwege abschneiden, bevor sie uns zu Gesicht bekommen.“ Die Freischärler sahen aufmerksam auf die Skizze auf dem Waldboden. „Hier, hier und hier. Athur, kannst du noch wie eine Eule rufen?“ „Ja, Sir.“ „Gut, das wird das Zeichen zum Angriff sein. Sieghard, du schaltest den Bogenschützen auf dem Baum aus. Ein Pfeil in die Schulter sollte genügen.“ „Aye, Sir! Ich kann ihn auch gleich umbringen, Sir!“ „Nein!“, widersprach Roche. „Damit wir uns alle klar verstehen, keiner der Scoia’tael wird getötet. Auch nicht ernsthaft verletzt, sodass er an seinen Verblutungen stirbt.“ „Ist die Kampftruppe deshalb so groß, Sir?“, fragte Najden schüchtern. „Ja. Wir wollen lediglich Informationen von den Eichhörnchen haben. Einen Menschen allein würden sie gnadenlos umbringen. Sind wir gleich viele, würden sie uns einen harten Kampf bereiten, den vielleicht nicht alle von uns überleben würden. Sind wir jedoch dreimal so viele ...“ „Sir“, wandte Ves ein. „Was ist, wenn sich weitere Eichhörnchen in den Wäldern versteckt halten? Wenn sie sie mit einem Horn rufen, werden diese schnell antworten.“ „So weit werden wir es nicht kommen lassen. Wichtig ist, dass wir sie in Schach halten und ihnen schnell klar machen, dass wir ihnen nichts Böses wollen.“ Hortensio räusperte sich. „Ist was?“, fragte der Hauptmann. „Nein, nichts.“ „Ves, du führst deine Truppe an diese Stelle.“ Roche deutete auf einen Punkt auf der improvisierten Karte. „Achtet darauf, dass sie euch durch die Findlinge nicht durch die Lappen gehen. Da ihr den weitesten Weg habt, um den Baum herum, wird Athur das Zeichen zum Angriff geben.“ Die Blondine nickte. „Hortensio, du führst Sieghard und die anderen dort hin. Von dort aus sollte er einen guten Blick auf die Eiche haben und den Bogenschützen problemlos kampfunfähig machen können. Achtet darauf, ob sich da noch ein zweiter Späher im Baum befindet. Die Eiche ist zwar an der Krone abgebrochen, hat aber sie trägt immer noch genügend Laub, in dem sich ein Elf gut verstecken kann.“ „Wo werden wir sein, Sir?“, fragte Victor. „Wir werden uns zunächst hier und hier verstecken, und sie dann auf der Lichtung in ein Gefecht verwickeln, sollten sie sich dorthin zur Flucht wenden.“ Roche blickte in die Runde. Viele sahen ernsthaft auf die Skizze am Boden, um sich ihre Position oder den Verlauf der Mission einzuprägen. „Ist jedem klar, was er zu tun hat?“ Niemand sagte etwas. „Denkt dran. Keines der Eichhörnchen darf absichtlich verletzt werden. Für ein freies Temerien.“ Verhalten erwiderten sie seinen Kampfspruch, um die Scoia’tael nicht unnötig auf sich aufmerksam zu machen. Die Männer teilten sich in drei Gruppen auf, die Roche zuvor eingeteilt hatte. „Najden, du bist bei mir“, meinte Hortensio. Der junge Mann ging zu ihm. „Also mit in der wichtigsten Gruppe, oder wie?“ Sie zogen los. „Pass gut auf, Junge. Wenn die Schlitzohren angreifen, mach dich darauf gefasst, dass sie unfair kämpfen werden.“ „Da sind bestimmt auch Zwerge dabei“, antwortete Najden und stieg über einen kleinen Felsen hinweg. „Ich red‘ aber speziell von den Elfen. Die haben noch nie ehrbar gekämpft.“ Najden sah ihn schief von der Seite her an. „Seit wann ist Zweikampf denn bitte fair? Es geht doch immer darum, den Gegner auszuschalten. Wie man das bewerkstelligt, ist doch im Endeffekt egal.“ „Nur dass der eine Elf dir das Schwert in den Rücken rammt, während der andere dich ablenkt.“ „Das machen gewöhnliche Banditen aber auch.“ „Dann hast du ihre Kampfweise ja verstanden.“ Inzwischen schlichen sie vorwärts. Die Stelle, die Roche für sie auf seiner Karten markiert hatte, war nicht so dicht mit Büschen bewachsen, sodass sie umso vorsichtiger sein mussten, nicht entdeckt zu werden. Sie verteilten sich, so gut es ging, in dem lichten Unterholz und ließen Sieghard, ihrem Schützen, den Vortritt. „Bereit?“, flüsterte Hortensio. Er nickte. Der Armbrustschütze, der sich ausnahmsweise mit einem Schwert bewaffnet hatte, gab den restlichen Männern in seinem Trupp ein Zeichen, sich bereit zu halten. Athurs Trupp würde weit außen herum gehen müssen, um unentdeckt bei den Findlingen anzukommen. „Sir?“ „Was ist denn, Najden?“, flüsterte Hortensio. „Was machen wir eigentlich mit den Informationen von den Eichhörnchen?“ „Frag mich was Leichteres.“ „Du weißt es nicht?“ „Nur so ungefähr. Leider haben wir noch immer kein freies Temerien, obwohl Radovid uns nicht mehr im Weg steht. Wir müssen also weiter daran arbeiten.“ „Aber der Hauptmann hat einen Plan, oder?“ „Natürlich. Fängst du jetzt etwa auch noch das Zweifeln an, oder wie?“ „Sshht“, meinte ein anderer aus Hortensios Trupp. Die beiden hielten den Mund. Morgens hatten Sonnenstrahlen einen schönen Tag versprochen, doch mittlerweile zogen dicke Regenwolken aus Westen heran. Najden hoffte, dass es innerhalb der nächsten paar Stunden nicht zu Regnen begann. Er wollte die Mission hinter sich bringen und wieder zurück im Lager sein, bevor es nass wurde. Nicht, dass sie in ihrem derzeitigen Unterschlupf so viel geschützter vor Regen oder Wind gewesen wären. Am Tag zuvor waren sie in dieser Wildnis angekommen, die im Osten von einer Hügelkette begrenzt wurde. Najden hatte gehört, dass es sich dabei um die Dimmehügel handelte. Warum der Hauptmann ausgerechnet hierher gezogen war, hatte Hortensio ihm auch nicht beantworten können. Oder wollen. Er hoffte nur, dass sie sich nicht allzu lange hier aufhalten würden. Eine Höhle, in der man sich bei schlechtem Wetter verkriechen konnte, war ihm lieber als Schlafen unter den Sternen. Etwas pfiff durch die Baumwipfel. „Es geht los“, wisperte Hortensio aufgeregt. „Sieghard!“ Der Bogenschütze fluchte. „Verdammt, sie haben es bemerkt.“ Schnell spannte er seinen Bogen und ließ den ersten Pfeil von der Sehne sausen. Der Anführer ihres kleinen Trupps packte sein Schwert fester. „Verteilt euch, nicht alle auf einem Haufen.“ Najden, der sich ebenfalls mit einem Bogen bewaffnet hatte, legte den ersten Pfeil auf. „Scheiße, die versuchen, durchzubrechen.“ Er schoss grob in die Richtung der Eichhörnchen. Sein Pfeil ging einige Meter vor den Füßen eines Zwergs in den Boden und ließ diesen die Richtung ändern. „Das war nicht schlecht, Junge“, lobte Hortensio. „Sieghard, hast du ihren Späher getroffen?“ „Ja, aber erst beim zweiten Mal.“ „Egal. Vergewissere dich, dass sie keinen zweiten im Baum sitzen haben.“ Der Armbrustschütze ging mit den restlichen Männern seines Teams zum Angriff über, während Sieghard und Najden weiterhin Pfeile vor die Füße der Scoia’tael schossen. Auf der Lichtung waren Roche und seine Leute schon mit einigen der Eichhörnchen in einen Kampf verwickelt. „Hort, pass auf!“, rief jemand. „Verflucht noch eins!“ Fast hätte er den Elfen übersehen, der mit einem Schwert auf ihn zustürmte. Nur mit einem Ohr hörte er den Fluch, der den Spitzohren so häufig über die Lippen kam. „Ich geb‘ dir gleich ‚bloede D‘hoine‘, du Wurm!“  Hortensio riss sein Schwert hoch, um den Hieb des Elfen abzuwehren, verzichtete aber darauf, ihm nachzusetzen. Die Abneigung des Armbrustschützen gegen Elfen stand der des Hauptmanns in nichts nach. Es kostete ihn viel Überwindung, seinem Gegner nicht in einem richtigen Kampf gegenüber zu treten. „Was nun?!“, schnauzte der Elf, der sein Zögern bemerkt hatte. „Hast du die Hosen voll?“ „Verdammtes Schlitzohr!“, keifte Hortensio zurück. Etwas weiter entfernt schrie jemand, eine Zwergenstimme. Um die beiden herum wurde ebenfalls gekämpft, wobei die Menschen eher halbherzig bei der Sache waren. Der Elf vor ihm wollte gerade wieder zum Angriff übergehen, als ein Pfeil einen halben Meter vor seinen Füßen in den Boden schlug. Er sprang zurück. „Bloede D’hoine!“, schimpfte er erneut. „An deiner Stelle würde ich mich lieber ergeben, Elf!“, konterte der schwertschwingende Armbrustschütze. „Damit ihr uns einfach so niedermetzeln könnt?“ „Nein. Damit wir reden können.“ „Hah!“ Der Elf sprang über den Pfeil hinweg und schlug erneut nach Hortensio. Diesem gelang es nicht, den Streich zu völlig zu parieren. Die Klinge streifte ihn am Oberschenkel und er schrie leicht. Sein Gegner grinste, doch die Freude währte nur kurz. Von den drei Scoia’tael, die sich in seiner Ecke ihres Lagers befanden, hatte einer seine Waffe verloren, während der andere von drei Gegnern gleichzeitig in Schach gehalten wurde. Najden sprang mit gespanntem Bogen an seine Seite. „An deiner Stelle würde ich das Schwert wegstecken“, meinte der Junge mit piepsiger Stimme. Der Scoia’tael sah ihn an. „An deiner Stelle, Junge, würde ich schweigen, wenn die Erwachsenen reden.“ Trotzdem ließ er sein Schwert in die Scheide sinken, die ihm am Gürtel hing. Najden verzichtete auf eine Antwort, konzentrierte sich darauf, den Bogen gespannt zu halten. „Also, das war ja doch vergleichsweise einfach“, kommentierte Hortensio. Der Alte hatte sein Schwert sinken lassen. „Und nun?“, fragte der Elf. „Wir wollen nur ein paar Informationen.“ „Klar“, höhnte er. „Ihr Pfadfinder.“ „Hortensio, hör auf, mit ihm zu reden. Geh zu Vernon.“ Er packte endgültig sein Schwert weg und sah den Elfen noch einmal streng an. „Benehmt euch! Dann habt ihr in einer Stunde wieder eure Ruhe.“ Er ging davon, ohne sich noch weiter um die Flüche des Scoia’tael in seinem Rücken zu kümmern. Roche fand er unter einem Ast der Eiche, schon mit einer hübschen Elfenfrau im Gespräch. Sie trug einen grünen Kurzmantel, dunkelbraune Hosen und leichte Stiefel. Ihre Haare waren schwarz und schulterlang, ihre Augen eisblau. Sie hatte einen tödlichen Blick. Ein weiterer Elf und ein Zwerg standen neben ihr, hinter den dreien saß der Späher der Eichhörnchen am Boden und starrte schmerzerfüllt zu ihnen hoch. „Ihr solltet seine Wunde versorgen“, hörte er den Hauptmann gerade sagen. „Was geht es dich an, wie wir unsere Verletzten versorgen, D’hoine?“, herrschte die Frau ihn wütend an. Roche ignorierte es. Letztendlich war es tatsächlich nicht seine Angelegenheit. „Also? Was wollt ihr? Sicher nicht nur nach dem Weg fragen“, herrschte die Elfenfrau. „Nein. Wir wollen nur Informationen. Das würde ich lieber unter vier Augen besprechen.“ Die Elfin grinste. „Ich hab‘ keine Geheimnisse vor meinen Leuten. Ihr vor euren offenbar schon, Meister Offizier.“ Der Hauptmann zog eine Augenbraue nach oben. „Und wir sind auch nicht dumm, falls ihr das geglaubt habt. So eine große Truppe wie die eure, kampferfahren noch dazu. Es ist klar, dass ihr keine Händler seid. Vor allem nicht hier draußen. Deserteure?“ „Nein. Aber das hat euch nicht zu interessieren. Wir wollen nur Informationen, dann seid ihr uns wieder los. Also?“ Die Schwarzhaarige musterte ihn noch einen Moment, nickte dann dem Zwerg zu und bedeutete Roche, ihr um den Baumstamm zu folgen. Er folgte ihr in respektvollem Abstand. Hinter dem Baum lagen ein paar dicke Decken ausgerollt, in deren Mitte ein kleines Lagerfeuer brannte. Die Elfin setzte sich auf einen morschen Ast, der zweifellos von der Eiche stammte. Herausfordern sah sie zu ihm hoch. „Ihr wollt Informationen?“ „So ist es.“ „Könnt ihr auch für sie bezahlen?“ Roche zog ein kleines Ledersäckchen hervor und schüttelte es, sodass der Inhalt klimperte. „Und?“ Er legte den Kopf schief und sah sie prüfend an. „Euch ist die Wilde Jagd ein Begriff?“ Das herablassende Lächeln, das sie die ganze Zeit im Gesicht getragen hatte, verschwand. „Soll das ein Witz sein?“, fragte sie. „Nein.“ „Und was genau wollt ihr da wissen?“ „Ich brauche einen Kontakt zu ihnen.“ Der Unterkiefer der Elfin klappte langsam nach unten. „Du. Als Mensch?“ „Ja, ich.“ Sie sah ihn immer noch entgeistert an. „Du weißt, dass sie dich umbringen, sobald sie dich auf der Straße sehen?“ „Ja.“ „Und trotzdem willst du sie rufen? Warum?“ „Ich will nur wissen, wie man sie kontaktieren kann. Ihr seid Elfen, ihr müsst einen Weg kennen.“ „Nein!“, erwiderte sie rasch. „Glaubst du, wir hätten sie nicht schon längst in diese Welt gerufen, wenn wir einen Weg kennen würden?“ Sie sah ihn abfällig an. „So gern ich in diesem Fall auch würde, wir Aen Seidhe haben keine Möglichkeit, die Aen Elle in ihrer Welt zu kontaktieren. Vielleicht wissen die Elfen aus den Blauen Bergen einen Weg ...“ Roche sah sie abschätzig ab. Er schüttelte das Ledersäckchen noch einmal. „Gut, die werden sich über die Edelsteine freuen.“ Er wandte sich zum Gehen. „Nein, warte!“ Die schöne Elfenfrau war aufgesprungen und einen Schritt auf ihn zugegangen. Er drehte sich wieder um. „Wir wissen tatsächlich keinen Weg, die Elfen der Wilden Jagd zu erreichen. Aber es gibt da möglicherweise jemanden ...“ „Die Elfen in den Blauen Bergen. Das sagtest du schon.“ „Die meine ich nicht. Jemanden, der unter Umständen schneller zu erreichen ist.“ Der Hauptmann sah sie skeptisch an. „Der da wäre?“ „Sucht in eurer Bibliothek nach ihm. Seinen Namen kenne ich nicht, aber wenn ihr nach ihm sucht, wird er euch finden.“ „Das ist nicht gerade hilfreich. Hast du wirklich keinen Namen?“ „Nein. Ich weiß nur, mit was er früher von Haus zu Haus gezogen ist und die Leute verhext hat ...“   * * *   Dijkstra gähnte herzhaft. Es war um die Mittagszeit, er hatte eine anstrengende Reise hinter sich und wartete an einem großen Holztisch in der geräumigen Küche darauf, etwas zu Essen vorgesetzt zu bekommen. Er dachte über den vergangenen Abend und seinen Besuch beim Hierarchen von Novigrad nach. Der alles andere als planmäßig verlaufen war. Hemmelfart war weit unberechenbarer, als er angenommen hatte. Eigentlich hatte der ehemalige Spion beabsichtigt gehabt, mit dem Geistlichen darüber zu beraten, wie man der Temerischen Gefahr am besten beikommen könne. Nicht, dass eine Solche überhaupt bestanden hätte. Jedenfalls nicht für den Hierarchen. Doch Dijkstra wollte ihn beschäftigt wissen, so dass er ihm nicht in die Quere kam, wenn er nach und nach die Macht im Redanischen Königreich an sich riss. Er starrte auf Heiners Rücken, der sich über einen Kessel gebeugt hatte und hin und wieder darin umrührte. Dijkstra knurrte der Magen. Happen hatte ihm am morgen nur ein leichtes Frühstück gemacht, wie immer. Entsprechend hatte sich der Appetit des Spions auf halbem Wege nach Oxenfurt wieder bemerkbar gemacht und fing nun an zu rebellieren, angesichts des köstlichen Dufts, der sich in der Küche ausbreitete. Heiner schien den knurrenden Magen ebenfalls bemerkt zu haben. „Ist gleich fertig“, meinte er. „Nur noch ein paar Kräuter.“ Der Mann mittleren Alters und mit der stattlichen Halbglatze drehte sich mit dem Kochlöffel in der Hand zum Tisch um, an dem Dijkstra saß, und griff nach der geschnittenen Petersilie. Das Grünzeug wanderte in den Kochtopf und Heiner rührte noch mal um. „So, ich hoffe, ihr habt Hunger.“ Er griff nach einem der tiefen Holzteller und befüllte ihn bis zum Rand. Dijkstra lief das Wasser im Munde zusammen. Er griff nach dem Löffel. „Ist das jetzt Suppe oder Eintopf?“ Der Koch sah beschämt drein. „Sollte eigentlich Eintopf werden, ist aber etwas zu flüssig geraten. Ich hoffe, es schmeckt trotzdem ...“ Dijkstra nahm einen Löffel voll, pustete mehrmals und schob ihn sich dann in die Futterluke. Er verbrannte sich trotzdem die Zunge. „Löckö!“, kommentierte er und nahm schnell den nächsten Löffel. Heiner sah ihm abwartend und mit ängstlicher Mine zu. „Ich wusste gar nicht, dass du so gut kochen kannst“, stellte der Spion nach dem dritten Löffel fest.  Er tunkte ihn wieder ein. Der Koch ließ den angehaltenen Atem entweichen. „Man lernt so dies und das, wenn man einige Zeit auf der Straße lebt“, erzählte er. „Wollt ihr Brot? Ist leider von gestern.“ Dijkstra nickte und aß weiter. Heiner schnitt ihm drei dicke Scheiben Brot ab und legte sie ihm vor die Nase. „Sir?“ Der Spion sah von seinem Mahl auf. „Braucht Ihr mich noch?“ „Nein“, antwortete Dijkstra, nachdem er hinunter geschluckt hatte. „Aber lass den Kessel da!“ Heiner ging hinaus und Dijkstra konnte wieder seinen Gedanken nachhängen. Er hatte es für sinnvoller gehalten, seinen Aufenthaltsort zu wechseln. Nicht, weil er damit rechnete, dass Roche ihn heimsuchen würden. Nein, vielmehr fiel es ihm von Oxenfurt aus leichter, die Adelsfamilien Redaniens auf seine Seite zu ziehen, als von Novigrad aus. Die große freie Stadt war viel zu abgeschieden. Womöglich müsste er sich auch schon bald auf den Weg nach Dreiberg machen. Jedoch nicht, solange die Schwarzen jenseits des Pontar standen. Dijkstra hatte seine Suppenschüssel bereits zur Hälfte geleert und er schätzte, dass er auf jeden Fall noch einmal die gleiche Menge würde verdrücken können. Sogar müssen, schon allein aus Notwehr gegen die Diät, auf die Happen ihn gesetzt hatte. Er fragte sich, ob Heiner noch andere Gerichte so lecker zubereiten konnte wie diesen Suppeneintopf. Draußen auf dem Gang vor der Küche rummelte es. Jemand raunte, aber Dijkstra verstand es nicht. Er beschloss, sich keine Gedanken darum zu machen und weiter zu essen. Jäh wurde die Tür zur Küche aufgestoßen. „Sir. Bitte verzeiht!“, entschuldigte sich Yamurlak. Er kam in den Raum gestampft und zog einen jungen Burschen mit blonden, kinnlangen Haaren mit sich, der einen gierigen Blick auf den Inhalt des Suppentellers warf und sich losreisen wollte. „Nicht mal beim Essen hat man seine Ruhe“, murmelte Dijkstra, sah die beiden an und aß einfach weiter. „Sir! Das hatte er bei sich.“ Yamurlak warf etwas auf den Küchentisch. Der Blondschopf verschränkte die Arme, soweit es ihm möglich war, und sah an einen undefinierten Punkt über Dijkstras Kopf. Letzterer griff sich den Gegenstand. Und verschluckte sich fast an dem Stück Kartoffel im Mund. Er ließ den Löffel in den Teller sinken, ignorierte das Stofftaschentuch und wischte sich mit der wulstigen Rechten über den Mund. „Yamur!“ „Sir!“ Der Angesprochene stand kerzengerade. „Die kann man heutzutage auf jedem Markt kaufen, selbst die fahrenden Händler haben sie bei sich.“ „Sir! Aber nur sehr wenige gehen, damit in der Tasche, bei der Redanischen Armee als Späher anheuern, Sir!“ Dijkstra verschluckte sich fast erneut und sah sich dann das Bürschchen aufmerksamer an. Er sah ziemlich unwillig aus. Der Spion griff nach dem Temerischen Siegel, einer kleinen, üblicherweise aus Holz geschnitzten Brosche in royalblau mit den drei weißen Lilien darauf. Dieses Exemplar war schon ziemlich abgenutzt, die Farbe zur Hälfte abgeblättert und eine Ecke sogar abgebrochen. Dijkstra hielt es in die Höhe. „Also? Woher hast du das?“, fragte er den jungen Mann. „Bei einem fahrenden Händler gekauft“, erwiderte er lapidar. „Na warte, Bürschchen!“, bellte Yamurlak. „Yamur! Bestraft den jungen Mann doch nicht ob seiner Schlagfertigkeit!“, mahnte Dijkstra. Der Gescholtene ließ seine Hand wieder sinken, während sich sein Gefangener von ihm losriss. „Wie ist dein Name?“ Der Blondschopf erwiderte seinen Blick erst nicht, sondern sah stattdessen noch mal auf den Teller, bevor er die Augen wieder abwandte. „Gut, ich versteh schon. Du hast Hunger!“ Endlich sahen ihn die beiden blauen Augen an. „Yamur. Sei so gut, sperr ihn in einer Kammer ein. Wenn der Hunger unerträglich wird, wird er schon von selber reden. Und dann sei so gut und komm wieder zurück.“ „Aber Sir!“ „Keine Widerrede! Ich will beim Essen nicht gestört werden, das weißt du!“ Yamurlak nickte verdrießlich, packte den Burschen wieder am Oberarm und zog ihn mit sich. Als sie draußen waren und Dijkstra seinen Mann fluchen hörte, seufzte er. Er hatte damit gerechnet, dass der Bursche reden würde. Er wandte sich wieder seinem Mahl zu, das mittlerweile nur noch lauwarm war. Schnell hatte der Spion den Teller leer gelöffelt und fing dann an, mit Brotstücken noch den letzten Rest herauszufischen. Sein Mann kam zurück. „Sir!“ „Nimm dir doch Suppe, Yamur. Du siehst ganz ausgehungert aus. Und dann machst du meinen Teller auch noch voll und setzt dich!“ „Sir!“ Yamurlak tat, wie ihm geheißen und bald schmatzten sie beide um die Wette. „Du kannst mir nicht jeden Obdachlosen bringen, nur weil er irgendwas bei sich hat, das verdächtig aussieht“, murmelte Dijkstra zwischen zwei Löffeln. „Aber Sir! Mit dem Jungen stimmt was nicht, das hab ich im Urin!“ „Verschon‘ mich! Na ja, du kannst ihn meinetwegen weichklopfen. Stell dich mit was zu Essen vor seine Kammer und iss es vor seinen Augen auf. Dann wird er schon reden. Und dir all seine Streiche aus Kindheitstagen erzählen ...“ „Aber Sir! Das ist kein einfacher junger Mann! Bei den Soldaten hat er geprahlt, früher bei einer Temerische Sondereinheit gedient zu haben.“ Dijkstra bekam einen Hustenanfall. „Verflucht, und das sagst du mir jetzt erst?“ „Ihr habt mich ja nicht zu Wort kommen lassen!“, konterte Yamurlak und schob sich einen Löffel mit einem Stück Karotte, Petersilie und etwas Fleisch in den Mund. „Verdammt! Yamur, hol den Jungen wieder her!“ Der Angesprochene sah Dijkstra einen Augenblick lang beleidigt an, ließ seinen Esslöffel in den Teller fallen und stand auf, um den Befehl auszuführen. Fünf Minuten später zerrte er den Burschen wieder in die Küche. „Da hin!“, befahl der Spion. Yamurlak schob den Jungen zu einem Stuhl. „Setz dich hin und benimm dich!“, raunte er ihn an. „Und jetzt gib ihm einen Teller Eintopf, er ist ja schon ganz verhungert!“ Dijkstra ignorierte den gekränkten Blick, den Yamur ihm zuwarf. Er ließ den jungen Mann nicht aus den Augen. Dieser sah verwirrt zwischen ihm und Yamurlak hin und her. „Iss!“, forderte der Spion ihn auf. „Und erzähl!“ Der Bursche nahm den Löffel entgegen und sah immer noch verständnislos zu Dijkstra. Letzterer hatte offenbar beschlossen, eine Pause einzulegen. Stattdessen inspizierte er seinen unerwarteten Gast neugierig. „Also, noch mal von vorne“, meinte er. „Wie heißt du?“ Der Blondschopf schien ihm nicht so recht zu trauen. Stattdessen nahm er einen ersten Bissen und verbrannte sich, wie Dijkstra zuvor, die Zunge. „Hweiß...!“, stammelte er. Yamurlak ignorierte sie vollkommen und konzentrierte sich auf sein Mittagessen. „Also?“, hakte Dijkstra nach, nachdem er seinem Gast gewährt hatte, noch zwei weitere Löffel zu essen. „Ich heiffe Leif Aubry“, bekam er zur Antwort. „Also schön ... Leif. Yamur hier ist der Ansicht, dass du Mitglied einer Temerischen Spezialeinheit bist ... oder warst. Willst du mir nicht deine Version der Geschichte erzählen? Zum Beispiel, warum du bei der Redanischen Armee anheuerst?“ „Ich wüsste nicht, was Euch das anginge“, konterte Leif mit vollem Mund. Der Teller Suppe schien ihn mutig zu machen. „Bengel!“, erwiderte Dijkstra. „Du hast hier eine Wahl, verstehst du? Je nachdem, wie deine Geschichte lautet, kann ich dir einen Posten bei der Redanischen Armee verschaffen.“ Leif schaufelte weiter den etwas zu flüssig geratenen Eintopf in sich hinein. Es war lange her, dass er das letzte Mal so etwas leckeres gegessen hatte. „Und das könnt Ihr weil? Mit Verlaub, Ihr kennt meinen Namen, aber Ihr habt euch selbst noch nicht vorgestellt ...“ „Du meine Güte, du hast ja vollkommen Recht!“, pflichtete Dijkstra ihm bei. „Yamur, warum hast du mich nicht darauf hingewiesen? Happen würde jetzt fürchterlich mit mir schimpfen.“ „Weil ...“ „Ich bin Sigi Reuven.“ Yamurlak senkte seine Nase tief in seinen Suppenteller, während der Blondschopf Dijkstra interessiert ansah. „Also, wo waren wir? Du willst der Redanischen Armee beitreten, wie ich höre?“ Leif nickte nach kurzem Zögern. „Gut gut. Trotz allem wirst du nachvollziehen können, dass sich das Militär deiner Geschichte vergewissern muss. Vor allem dann, wenn du mit den Insignien eines ... okkupierten Königreichs auf offener Straße herum läufst. Hätte es dir denn nicht gereicht, einfach nur der Armee beizutreten?“ „Sir?“, erwiderte der junge Mann. „Ich bin niemand, den man von der Pike auf ausbilden muss. Bei meinem bisherigen ... Trupp, hatte ich die Aufgaben eines Spähers, die ich stets zur Zufriedenheit erfüllt habe, und ...“ „Nur dass du das nicht nachweisen kannst, mein Junge“, fiel im Dijkstra ins Wort. „Das macht es schwierig, verstehst du? Also, noch mal von vorne. Bei welcher Truppe warst du zuvor?“ „Sir? Bitte entschuldigt, ich will nicht unhöflich sein. Vielen Dank für das Essen. Aber ich habe keinen Grund, Euch zu trauen. Außer Eurem Namen weiß ich nichts von Euch. Ihr gebt vor, mir eine Position in der Redanischen Armee verschaffen zu können. Jedoch tragt Ihr weder die Redanischen Farben, noch seht Ihr mir überhaupt wie ein Soldat oder Offizier aus. Und wir befinden uns hier auch nicht in einer offiziellen Amtsstube der Armee. Ihr werdet mein Misstrauen sicher nachvollziehen können, nachdem mich Euer Mann so rüde hierher geschafft hat, ohne mich höflich zu bitten.“ „Na warte, Bürschchen!“ Yamurlak hatte seinen Löffel in eine Ecke geworfen und war aufgesprungen, sodass sein Schemel nach hinten kippte. „So redest du nicht mit ...!“ „Yamur!“ „Mann ey, das is‘ mir zu blöd!“, kommentierte der Gescholtene. „Ich wart‘ draußen.“ Er trat auf dem Gang hinaus. „Bitte entschuldige seine aufbrausende Art“, meinte Dijkstra. „Yamurlak kann ab und zu etwas ambitioniert sein in der Ausführung seiner Pflichten. Er meint es nicht persönlich ...“ Leif nickte leicht zum Zeichen, dass er die Entschuldigung annahm, und der Spion fuhr fort: „Also, Leif. Ich will ehrlich zu dir sein. Ähnlich wie du, hatte ich früher eine wichtige Position inne im Redanischen Verwaltungsapparat, bevor mich gewisse Umstände dazu zwangen, mir einen neuen Erwerb zu suchen.“ Dijkstra hatte seinen zweiten Teller voll Eintopf mittlerweile komplett geleert, sich auf seinem Stuhl zurückgelehnt und die Finger auf dem großen Bauch verschränkt. Das bandagierte Bein hatte er von dem Schemel genommen, der unter dem Tisch stand. In letzter Zeit pochte es häufiger, immer dann wenn sich schlechtes Wetter anbahnte. Müde sah er den jungen Mann an, der noch immer aß und ihn mittlerweile seinerseits neugierig musterte. „In den vergangenen Wochen hat sich die Situation im Königreich neu entwickelt, weshalb ich eine baldige Rückkehr in meine bisherige Position anstrebe.“ „Und der König billigt das?“, fragte der Blondschopf. „Dem König liegt mein Ansinnen vor“, log Dijkstra. „Ich habe zuvor unter seinem Vater, König Wisimir, gedient. Daher kennt er mich. Ich bin mir sicher, dass er gegen meine Rückkehr in meine bisherige Position nichts einzuwenden hat. Ich werde dann ein mächtiger Mann sein, verstehst du?“ Leif nickte. Sein Gegenüber konnte ja nicht ahnen, dass er wusste, dass Radovid schon seit zwei Tagen nicht mehr am Leben war. „Aber nun zu dir. Die Temerischen Lilien werden schon seit langer Zeit nicht mehr öffentlich zur Schau gestellt, soweit ich weiß. Hast du dein Siegel tatsächlich von einem fahrenden Händler gekauft?“ Der Blondschopf schüttelte den Kopf. „Ich hab es von meinem Vater geerbt, Sir“, schwindelte er. „Er ist damals im Krieg gegen Nilfgaard eingezogen worden und hat dies mitgebracht.“ Dijkstras rechtes Ohrläppchen fing zu Jucken an. Fahrig griff er mit seinen Wurstfingern danach. „Nach seiner Rückkehr habe ich mich selbst gemeldet, Sir.“ „Wie alt bist du jetzt?“ „Dreiundzwanzig, Sir.“ Der Spion musterte seinen Gesprächspartner, seufzte dann aber. Wie Anfang zwanzig sah er tatsächlich aus, aber nicht viel älter. Eigentlich schon fast zu alt, um sich bei der Armee mustern zu lassen. „Warum hat man dich nicht eingezogen?“ „Sir, wir sind nur einfache Bauern. Jemand musste sich doch um meine Mutter und den Hof kümmern, und um meine Schwestern.“ Dijkstra winkte mit der Hand, dass er fortfahren könne. Der Junge log ihn an, seit er angefangen hatte, ihm seine Geschichte zu erzählen. Leif hingegen schien selbstbewusster geworden zu sein. „Bei der Temerischen Armee hat man mich zum Spurenleser und Kundschafter ausgebildet, Sir. Ihr wisst sicherlich, dass, seit ein Hexer König Foltest ermordet hat, ...“ „Ja, schon gut. Ich wusste gar nicht, dass die Temerier Spurenleser ausgebildet haben.“ „Damals wurde diese Einheit gebildet, um den Scoia’tael auf die Schliche zu kommen, Sir.“ Leif hatte sein Mittagessen ebenfalls beendet. „Verständlich. Die Eichhörnchen haben überall im Norden gewütet.“ „Sir ...“ Der Spion sah ihm gutmütig ins Gesicht. „Yamur?!“, rief er. Die Tür ging auf. „Aye?“ „Geh mit Leif am Abend zur Kaserne und sprich mit Boris Kroll. Er ist ein alter Bekannter, der sich unter den gegenwärtigen Umständen bestimmt freuen wird, von mir zu hören. Ich werd‘ nachher einen Brief an ihn aufsetzen, den du ihm geben kannst. Ich bin mir sicher, dass er einen Späher in seiner Truppe gebrauchen kann.“ Yamurlak sah den jungen Mann an, der sich beeilte, von dem Tisch aufzustehen. „Seid ihr sicher?“ Dijkstra nickte ihm mit einem vielsagenden Blick zu. „Wie Ihr meint. Komm schon, Bursche!“ Leif folgte Yamurlak hinaus auf den Gang. ‚Nette Geschichte‘, dachte Sigismund Dijkstra. ‚An einigen Stellen etwas ausbaufähig, aber trotz allem eine nette Geschichte. Nur, dass sie von vorne bis hinten erstunken und erlogen ist.‘   * * *   „Roche, ich sag dir, die hat dir einen Bären aufgebunden“, meinte Ves, die ihre Nasenspitze tief in einen schon etwas gealterten Folianten steckte. Er erwiderte nichts. In Gedanken hatte er diese Möglichkeit auch schon durchgespielt. Sollte die Elfenfrau ihm tatsächlich ein Märchen erzählt haben, so hat es sich für sie wenigstens nicht gelohnt. Roche dachte an die zehn Kronen, die er in das Ledersäckchen gepackt hatte, und die ihm einen Fluch von der hübschen Schwarzhaarigen eingebracht hatten. Es war jetzt schon die zweite Nacht, die sie in der Bibliothek der Oxenfurter Universität eingebrochen waren. Schon zum zweiten Mal hatten sie mit einem Boot zur Universtitätsinsel übergesetzt, waren über die Mauer geklettert und hatten das Schloss in die Lehrräume der Akademie geknackt. Beim zweiten Mal war die schiere Masse an Büchern, Schriftrollen und sonstigen Lehrmaterialien, die hier und da herumstanden, noch genauso eindrucksvoll gewesen, wie beim ersten Mal. „Die Möglichkeit besteht durchaus“, antwortete er. „Nun, für ihre Täuschung habe ich nicht besonders teuer bezahlt, sollte sie denn eine gewesen sein.“ „Na, du machst mir ja Freude.“ Roche hatte sich einige wirklich alt aussehenden Schriftrollen geschnappt und diese überflogen. Sein und Ves‘ Problem war, dass sie keine Gelehrten waren. Viele der Schriften und Bücher, in einer anderen Sprache geschrieben, zum Teil elfischen Ursprungs, ganz vereinzelt auch zwergisch, waren für sie komplett unzugänglich. Es hatte viele Jahrzehnte gedauert, bis sich die Allgemeinsprache als Lehr- und Unterrichtssprache an der Universität durchgesetzt hatte. So war es jedem Bewohner der Nördlichen Königreiche möglich, an der Akademie zu Oxenfurt zu studieren. Sofern er das nötige Kleingeld besaß. „Ich hab noch nie von einem fahrenden Händler gehört, der hauptsächlich Spiegel verkauft.“ „Vielleicht war es ja auch nur eine Umschreibung?“, vermutete Roche. „Ves, sei so gut und konzentrier dich wieder auf die Bücher. Es lenkt mich ab, wenn du allenthalben etwas sagst.“ „Schon gut ...“ Sie klappte ihr Buch lautstark wieder zu, was ihm zu einem Seufzen nötigte. Die nächste Schriftrolle, die er sich vornahm, war sogar noch länger als jene zuvor. Er war sich unsicher, ob er sich darüber freuen sollte oder nicht, dass sie in Serrikanischer Sprache verfasst war. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, wie die Universität an diese oder vergleichbare Schriften gekommen war. Händler aus den fernsten, südlichen und östlichen Gebieten fanden ihren Weg nur sehr selten in den aus ihrer Sicht ungehobelten Norden. Roche konnte sich nicht vorstellen, dass es so viel Austausch zwischen den hiesigen Gelehrten und jenen im Süden gab. Wahrscheinlicher erschien ihm, dass solche Schriften den Weg hierher über Magier nahmen. „Das nächste Märchenbuch ...“, murmelte Ves an ihrem Tisch. Der Hauptmann griff zu seinem Wasserschlauch und nahm einen Schluck, nachdem er die Serrikanische Schriftrolle wieder zusammengerollt und weggelegt hatte. Es musste jetzt um Mitternacht sein, sie hätten noch ein paar Stunden Zeit, die Bibliothek zu durchforsten. Noch ein paar Stunden, die sie nicht einschlafen durften. Roche beschloss, allenfalls nur noch eine dritte Nacht mit der Suche nach diesem Spiegelverkäufer zu verschwenden. Insgeheim gab er seinem blonden Feldwebel recht. Es war wie die berüchtigte Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Sie hatten nur einen Hinweis, nicht mal einen richtigen Namen. Und die Gewissheit, dass es sich bei ihrer gesuchten Person mindestens um einen Magier handeln musste. Um einen sehr mächtigen Magier noch dazu, wenn er die Fähigkeit besaß, Nachrichten in eine andere Welt zu schicken. Ves hatte wie immer an dem gezweifelt, was er ihr nach dem Scharmützel mit den Eichhörnchen erzählt hatte. Sie hatten beide versucht, sich daran zu erinnern, was sie auf Kaer Morhen über das Reisen zwischen den Welten erfahren hatten und waren zu dem Schluss gekommen, dass es sich nicht um sehr viel handelte. Den Aen Elle war es wohl unter Umständen möglich, in geringer Zahl in ihre Welt zu kommen. Jedoch, für einen geplanten Großangriff fehlte ihnen die Macht. Dies war der Grund, warum sie hinter Ciri her waren, wie Geralt erklärt hatte. Weil die junge Dame das ältere Blut in sich trug. Der Hauptmann hatte sich in der Nacht davor darauf fixiert, Informationen über dieses sagenumwobene Elfengeschlecht zu sammeln. Wenn Ciri zwischen den Welten springen konnte, war es gut möglich, dass es noch andere, wenn gleich bei weitem schwächere Abkömmlinge des älteren Blutes gab. Nur vereinzelt hatte er Namen zutage fördern können, häufig Herrscher oder andere Angehörige königlicher Familien und er hatte nicht schlecht gestaunt. Doch auch hier war es, als fische er in einem trüben Teich. Viele männliche Monarchen hatten Bankerte, Bastarde, die sie vor ihren königlichen Ehefrauen versteckten. Doch über die gab es so gut wie nie Aufzeichnungen, also auch keine Information darüber, ob einer von ihnen möglicherweise mit Spiegeln handelte. Roche seufzte matt. Er rollte die letzte Schriftrolle seines Bündels wieder zusammen und legte sie auf den Tisch vor sich. Danach stützte er seine Ellenbogen auf dem Holz ab und legte den Kopf in die Hände. Herumsitzen und lesen war anstrengender, als er gedacht hatte. Vor allem mit nur den zwei Kerzen, die sie sich getraut haben, in der Bibliothek anzuzünden. Immerhin hatten die Gelehrten hier für eine Ordnung gesorgt, wie Roche sie nicht für möglich gehalten hätte. Alle Schriften waren nach Thema sortiert, danach nach dem jeweiligen Autor. Sie hatten sich in der Nacht zuvor ratlos umgeblickt, das System bei einem Rundgang aber schnell entschlüsselt. Nicht, dass die Namen der Autoren für sie in irgendeiner Weise hilfreich gewesen wären. Aber wenigstens mussten sie nicht zwischen Folianten über die menschliche Anatomie und Schriftrollen über Dichtkunst und Prosa nach ihrem Spiegelverkäufer suchen. Zumindest hoffte der Hauptmann das. Ves war immer noch dabei, weitere Sagen und Legenden zu durchforsten. Diese Sektion erschien ihnen, nach den zahlreichen Berichten über das Marktgewerbe, Warenregister und sonstigen, dem Handel zuzuordnenden Schriften, als die Vielversprechendeste. Die Blondine legte ein kleines Büchlein weg und sah zu ihm hin. „Hast du schon mal davon gehört, dass einer durch die Lande zieht und nur Spiegel verkauft?“, fragte sie. „Nein. Ich habe selten Händler gesehen, die sich nur auf ein Produkt spezialisieren. Spiegel erscheinen mir da schon ziemlich unrealistisch.“ Roche rieb sich die Augen. „Wem er die wohl verkauft hat?“, sinnierte er. „Sicher den Bauersfrauen, die hinter den Rücken ihrer Männer die letzten Reserven zusammenkratzen, um selbst ein wenig der Eitelkeit frönen zu können.“ „Na na!“ Die Blondine grinste vor sich hin und griff nach dem nächsten Buch. „Wenn ich mit dem hier durch bin, brauch‘ ich eine Pause. Pack schon mal den Proviant aus.“ Der Hauptmann tat, wie ihm geheißen und packte aus seinem Sack einen halben Laib Brot und eine große Käseecke aus. „Wenn ich daran denke, dass die anderen die letzte Nacht unter freiem Himmel in strömenden Regen verbringen mussten, wird mir gleich warm ums Herz“, säuselte er. „Na ja, in dem neuen Bau haben sie ja jetzt genug Zeit, sich zu trocknen“, meinte Ves, und blätterte in ihrem Buch. „Ah, das ist interessant. Roche, schau dir das mal an.“ „Hm?“ Er wollte gerade aufstehen und zu ihr gehen, als er einen Luftzug spürte. „Still“, hauchte er. Die Kerzen erloschen. Die Blondine hatte sich nicht gerührt auf ihrem Platz. Sie lauschten angestrengt in die Finsternis, konnten aber nicht hören, ob sich Schritte näherten. „Was war das?“, flüsterte Ves zurück, nachdem sie eine halbe Ewigkeit gewartet hatten, ohne dass sich was tat. Es war geradezu finster. Nicht einmal Mondlicht schien durch die hohen Fenster des Bibliotheksgebäudes, vom Schein der Fackeln in der Stadt ganz zu schweigen. „Scheinbar doch nur ein Luftzug. Komm, hilf mir, die Kerzen wieder anzuzünden.“ Er hörte, wie Ves das Buch weglegte und sich zu ihm umdrehte. Halbwegs erkennen konnte er ihre Bewegung nur an ihrem Kopf. „Was ist das?!“, kreischte sie erschrocken, als sie zu ihm sah. Er fuhr ruckartig herum. Finsterste Schwärze tat sich vor ihm auf, aber das war nachts in großen, unbeleuchteten Räumen nicht selten der Fall. Roche blickte auf das, was Ves erschreckt hatte. Er war sich nicht sicher, dass er verstand, was sie meinte. „Ves, da ist nichts.“ „Doch! Beweg dich nicht!“ Der Hauptmann sah noch einmal genauer hin. Er war immer noch der Meinung, dass Ves sich nur erschrocken hatte. Doch etwas schien sich seinem Gemüt zu bemächtigen, eine dunkle Wolke, die sich wie ein Schleier über seinen Geist legte. Hing es tatsächlich mit der Dunkelheit zusammen, die sich vor ihm auftat? Er streckte die rechte Hand aus. „Nicht!“, piepste Ves angsterfüllt. Zunächst tat sich rein gar nichts. Keine dunkle Vorahnung, kein Odem des Todes, der sich seiner bemächtigte. Doch etwas sagte ihm, dass es keine so gute Idee war, seine Hand noch länger in diese Finsternis zu halten. Jemand kreischte herzerweichend hinter ihm. Roche zuckte zurück. „Ves, warte!“ Die Blondine hatte auf dem Absatz kehrtgemacht und die Flucht angetreten. Der Hauptmann hörte, wie sie in der Dunkelheit gegen ein Möbel rannte. Er setzte ihr nach. „Ves, bleib stehen!“ Sie schien ihn überhaupt nicht zu hören. Wie ein Wirbelwind flitzte der Blondschopf um eines der Regale herum, dessen Schriften sie zuvor noch so interessiert hatten, und wandte sich dann zu der schweren Holztür. „Bleib stehen, Ves! Das ist ein Befehl!“, rief Roche ihr nach. Es half nichts. Sie schien wie von Sinnen zu sein, zu Tode erschreckt durch das, was da hinten gelauert hatte. Roche hatte es am Ende selbst gespürt. Irgendetwas hauste in dieser Dunkelheit, die so urplötzlich auf den Plan getreten war. Ves hatte die schwere Tür erreicht und wollte sie gerade aufziehen. „Warte, wir sollten den Weg nehmen, den wir gekommen sind!“, schnaufte der Hauptmann, half ihr aber trotzdem, die Tür zu erreichen. Er war sich nicht sicher, ob sie ihn gehört hatte. Ves schien in einen Wahn verfallen zu sein. Trotzdem wandte sie sich auf dem Gang hinter der Tür nach rechts, wo es ein tiefer liegendes Fenster gab, durch welches sie mit Hilfe einer Leiter eingestiegen sind. Roche packte die Blondine am rechten Oberarm. Erst da schien sie wieder zu sich zu kommen. „Ich muss hier raus“, heulte sie. „Ich krieg keine Luft mehr ...“ Ernst sah er sie an, was in der Dunkelheit aber nicht auffiel. „Los, ich helf dir.“ Sie liefen zu dem Fenster und schoben es wieder auf. Ves kletterte vorsichtig auf den Sims hinauf und griff nach der Leiter, die in den Innenhof führte. Schnell hatte sie sich nach unten gehangelt und war auf dem Boden zum liegen gekommen. „Ves!“, schrie Roche und kletterte ihr eilig nach. „Ves, steh auf!“ Sie schnaufte angestrengt. „Ist ... alles in ... Ordnung“, japste sie. „Muss nur ... Luft holen ...“ Der Hauptmann setzte sich neben sie und musterte sie. „Was war da drin los?“, fragte er, nachdem sie wieder zu Atem gekommen war. „Weiß nicht. Roche, da war irgendwas Bösartiges.“ „In der Bibliothek? Ich hatte gedacht, dass vielleicht irgendein Nachtwächter den Raum betreten hat.“ „Das dachte ich zunächst auch, aber die Finsternis da in der Ecke ... Direkt hinter deinem Rücken ... Sie ... Sie hat ...“ Der Hauptmann riss die Augen auf, als Ves zu Weinen begann. Erschüttert zog er sie in eine sitzende Position und drückte sie zum Trost an sich. Es war das erste Mal, dass er sie nervlich so aufgelöst sah. „Sshht.“ „Sie heulte einfach weiter.“ „Ves, wir sollten hier nicht bleiben“, meinte er einen Augenblick später fahrig. „Warum?“, schluchzte sie. „Ich bin mir nicht so ganz sicher. Sieh dich um. Fällt dir was auf?“ Die Blondine trocknete ihre Tränen am Ärmel und sah sich um. „Hm. Wie lange waren wir in der Bibliothek?“ „Ich weiß nicht, aber es dämmert schon. Wir sollten verschwinden, ehe die ersten Professoren hier auftauchen.“ Sie nickte und ließ sich von ihm aufhelfen. Roche griff nach der Leiter, um sie in den Schuppen zu räumen, aus der sie sie entwendet hatten. Danach machten sie sich daran, wie am Morgen zuvor mit einem Seil über die Mauer zu klettern, die das Universitätsgelände umgab, und mit selbem Seil auf der anderen Seite wieder hinunter zu klettern. Ves schien sich wieder soweit beruhigt zu haben, dass sie die Hilfe des Hauptmanns nicht mehr benötigte. Sie zog sich hoch, schwang die Beine über den kleinen Giebel und kletterte sich mit den Füßen abstützend auf der anderen Seite wieder hinunter, während Roche auf dem Giebel sitzen blieb und wartete. „Huch!“ Neben der Stelle, auf der Ves‘ Füße wieder den Boden berührten, lehnte ein fast kahler Mann mit verschränkten Armen an der Wand und betrachtete sie süffisant lächelnd. „Kann man behilflich sein?“, fragte er mit seinem Bariton. „Nein ...“, stammelte die Blondine. Sie hörte nicht auf, ihn anzustarren. Er trug eine abgewetzte, braune Jacke mit drei schmalen, blauen Streifen an den Oberärmeln und den Handgelenken, darüber einen dunkelbraunen Ledergugel, der kurz vor dem Auseinanderfallen war. Eine blaue Hose und schwarze Stiefel mit Gamaschen, von denen der rechte vorne ein Loch an der Sohle hatte, komplettierten das Bild. Was sie jedoch am meisten in seinen Bann zog, war sein Blick. „Landstreicher!“, kommentierte Ves. „Na na, nicht so frech, junge Dame!“ Roche hatte nur noch zwei Meter vor sich und das kurze Gespräch zwischen seinem Feldwebel und dem Fremden nur zur Hälfte mitbekommen. „Aber schau ihn dir doch an“, raunte sie ihm zu, als er neben ihr zu Stehen kam. Der Hauptmann sah sich den Fremden an, der sich von der Mauer abstieß und die Musterung mit seinem schelmischen Lächeln über sich ergehen ließ. Roche verschränkte die Arme. „Ich werd‘ euch nicht verpfeifen.“ „Das will ich euch auch geraten haben. Ves, komm, wir gehen.“ Roche wandte sich um, ohne den Mann weiter zu beachten. Nach drei Schritten hörte er hinter sich zwei dumpfe Schläge, ignorierte es aber. Der Hauptmann ging die Mauer entlang Richtung Südseite der Insel, wo Sieghard in einem Ruderboot auf sie wartete. „Wir starten morgen noch einmal einen Versuch. Wenn wir dann nichts finden, brech‘ ich die Mission ab“, sagte er. Ves antwortete nicht. Er stieg durch zwei Felsen hindurch und bog um die Ecke. Das Boot war da, wie sie es zurückgelassen hatten. Sieghard saß an die Mauer gelehnt und schien ein Nickerchen zu halten. „Was sagt man dazu. Schläft einfach während dem Dienst ein.“ Der Hauptmann ging zu dem Faulpelz hin und stupste ihn an der Schulter an. „Wach auf, Sieghard!“ Der Mann schien zu Stein erstarrt zu sein. Roche stieß ihn noch mal an, etwas stärker dieses Mal, doch Sieghard rührte sich keinen Zentimeter weit. Roche sah ihn sich genauer an. Er hatte die Augen geschlossen, die Arme lässig verschränkt und saß im Schneidersitz auf dem Boden. Der Kopf war ihm auf die Brust gefallen. Dem Hauptmann wurde mulmig zumute. „Sieghard? Ves, schau ihn dir mal an!“ Doch die Blondine reagierte nicht. „Ves?“, fragte Roche, im Aufstehen begriffen. Erst als er sich umdrehte, bemerkte er, dass sie nicht bei ihm war. „Ves?!“, rief er. Keine Antwort. Ein Blick zurück auf Sieghard. Unveränderte Sitzposition. Roche schaute in die Richtung, aus der er gekommen war, dann auf die andere Seite. Sein Feldwebel war nirgends zu sehen. Auch der Fremde, der ihnen vor der Mauer aufgelauert zu haben schien, war nicht zu sehen. Ob er sich Ves‘ bemächtigt hatte? Roche fuhr auf dem Absatz herum und ging zurück, hindurch zwischen den beiden Felsen, einige Meter weiter. Dort stand sie, wie festgewachsen, gerade so, als wollte sie eben losgehen. Ihre rechte Hand war halb erhoben, als wollte sie sich an die Wange fassen. Oder an die kurzen blonden Haare, die ihr wirr vom Kopf standen, wie um sie zu bändigen. Doch noch mehr beunruhigte ihn der Fremde, der sich wieder an die Universitätsmauer gelehnt hatte und seine Rückkehr mit einem überheblichen Schmunzeln zu erwarten schien. Roche blieb in drei Meter Entfernung zu ihm und dem Feldwebel stehen. „Wer seid ihr?“, fragte er. „Oh, ich dachte, das wäre offensichtlich“, erwiderte der Fremde, stieß sich ab und ließ die Finger knacken. Der Hauptmann bekam ein flaues Gefühl im Magen, das ihm wage bekannt vor kam. „Ihr ...!“ „Bravo! Du bist offensichtlich einer von den Blitzmerkern!“ „Wer seid ihr?!“, fuhr Roche ihn an. „Und was habt ihr mit Ves gemacht? Und mit Sieghard?“ „So viele Fragen auf einmal. Welche soll ich nun zuerst beantworten?“ Sein Gegenüber machte sich offenbar über ihn lustig. Der Hauptmann fackelte nicht lange, sondern zog sein Schwert aus der Scheide. „Ich muss doch sehr bitten!“, erwiderte der Fremde, sprang leichtfüßig einen Meter zurück. „Ich habe weder ihr, noch dem anderen etwas angetan, was die Zeit nicht heilen könnte. Wobei ich gestehe, dass sie mich schon sehr reizt.“ „Na warte!“ Roche hatte die Entfernung zwischen sich und Ves schnell überwunden. Der Unbekannte wich einige Meter von ihr zurück. „Kein Grund, gleich wütend zu werden.“ „Wer seid ihr?!“ Theatralisch legte der die Fingerspitzen in einer Raute aneinander. „Man nennt mich Gaunter O’Dimm.“ Der Hauptmann hob sein Schwert, was O’Dimm noch einen halben Meter zurückweichen ließ. „Was habt ihr mit ihnen angestellt?!“, fragte er. „Sagen wir, ich habe sie eingefroren ...“ „Dann taut sie wieder auf!“, herrschte Roche ihn an. „Nicht so schnell! Zuerst reden wir.“ „Ich wüsste nicht, was wir miteinander zu bereden hätten!“, konterte der Hauptmann und machte einen Satz nach vorne. Er schlug nach dem Fremden, traf aber nicht. Dabei war es nicht so, dass er ihm ausgewichen wäre. Vielmehr war die Klinge glatt durch ihn hindurch gegangen, ohne ihn zu treffen. Oder hatte er die Distanz zwischen sich und ihm falsch bemessen? Roche sah O’Dimm ungläubig an, während dieser wieder dieses dezente, aber höchst unangenehme Lächeln im Gesicht hatte. Roche bekam eine Gänsehaut. „Können wir nun reden?“, fragte er. „Ich schwöre auch feierlicht, sie und den anderen danach wieder freizulassen.“ Der Hauptmann starrte immer noch. „Wer seid ihr?“ „Der, den ihr gesucht habt“, bekam er als Antwort. „Hört auf, Spielchen zu spielen.“ „Aber ich spiele nicht! Packt euer Schwert weg, bevor ihr euch damit verletzt. Oder die hübsche Ves hier!“ Widerwillig tat Roche, wie ihm geheißen, und ließ die Klinge in die Scheide sausen. „In dieser Gegend nennt man mich Gaunter O’Dimm“, faselte der Fremdling und verbeugte sich ehrerbietig, was eher höhnisch daher kam. „Andernorts kennt man mich als den Spiegelmeister...“ Der Hauptmann riss die Augen auf, während sein Gegenüber ihn schelmisch ansah. „Wie ich hörte, seid ihr auf der Suche nach mir...“ „Ihr wart das in der Bibliothek!“, knurrte er. „Natürlich! Ich wollte wissen, aus welchem Holz ihr geschnitzt seid.“ O’Dimm warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Blondine. „Lass sie aus dem Spiel!“ „Oh, aber haben wir da etwa einen wunden Punkt getroffen?“ Roche sah ihn wütend an. „Vielleicht solltet ihr mir lieber erzählen, wie ich euch behilflich sein kann. Bevor wir Wurzeln schlagen ...“ Der Hauptmann schwieg. „Es sei denn, ihr habt es euch anders überlegt.“ Er schüttelte den Kopf und seufzte. „Ich halb wohl keine Wahl“, murmelte Roche zu sich. Der Spiegelmeister schien es zu überhören. „Laut unseren Informationen seid ihr in der Lage, Nachrichten in andere Welten zu schicken, und ...“ „Oh, interessant!“, unterbrach O’Dimm ihn. „Was man sich heutzutage alles über mich erzählt, ist manchmal wirklich faszinierend.“ Der Hauptmann legte den Kopf schief. „Seid ihr es?“ „Und wenn es so wäre?“ „Ich stell hier die Fragen!“ „Na na! Ich muss doch sehr bitten. Ich bin kein Hund, der handelt, sobald sein Herr befiehlt! Ich verlange Bezahlung!“ Wie auf ein Stichwort holte Roche ein Ledersäckchen hervor, das doppelt so groß war wie jenes, welches er der Elfenfrau gegeben hatte. „Nicht solche Bezahlung!“ Der Hauptmann sah ihn verwirrt an. „Keine Kronen?“, fragte er. „Nein.“ „Und Edelsteine?“ „Bei Melitele! Nein! Ich mache mir nichts aus solchem Tand.“ Roche musterte ihn einmal von Scheitel bis Fußsohle. ‚Ja, das ist offensichtlich‘, dachte er. „Meine Dienste bezahlt man auf ganz andere Art und Weise.“ Der gierige Blick, den O’Dimm auf Ves warf, sprach Bände. „Schlagt sie euch sofort wieder aus dem Kopf!“, schimpfte Roche. „Oh ja! Ein wunder Punkt! Aber vielleicht sollten wir zunächst über euren Auftrag sprechen. Wen genau wollt ihr kontaktieren?“ „Die Wilde Jagd“, antwortete der Hauptmann, ohne zu Zögern. Die Augen des Spiegelmeisters blitzten. „Das ist in der Tat originell“, meinte er. „Warum gerade die?“ „Das schert euch nicht! Vermögt ihr es, oder nicht?“ „Das schert euch nicht ...“ „Ich warne euch! Treibt es nicht zu weit!“ „Sonst was?“ Es war das erste Mal, dass O’Dimm ihn ernst ansah. „Die Wilde Jagd zu kontaktieren, ist auch für mich gefahrvoll. Daher werdet ihr nicht umhinkommen, mir mehr zu erzählen.“ Roche seufzte. „Sie sollen etwas für mich erledigen.“ „Und kann dieses ‚etwas‘ auch näher spezifiziert werden?“ „Ein Attentat, wenn ihr so wollt ...“ „Oh, ein Mordkomplott. Aber ja!“ Die Laune des Spiegelmeisters hellte sich umgehend wieder auf. „Ihr solltet mich euch auf andere Art helfen lassen!“, erwiderte er. Der Hauptmann musterte ihn einige Augenblicke, ehe er darauf einging. „Irgendetwas sagt mir, dass das keine so gute Idee ist.“ „Aber überlegt es euch doch! Ich kann diesen Auftrag genauso gut ausführen, wie die Wilde Jagd!“, erklärte O’Dimm eifrig. „Sollten ihr lieber die Elfen wollen, so müsstet ihr nicht nur mich, sondern auch sie bezahlen! Wenn sie überhaupt geneigt sind, euch ihr Ohr zu schenken, anstatt euch gleich nieder zu machen. Ihr könnt sozusagen sparen und kommt noch mit heiler Haut davon, wenn ihr versteht, was ich meine.“ Roche verstand nur zugut, sträubte sich aber trotzdem. Seinem Gegenüber entging sein Zögern nicht. „Überlegt euch doch die Gefahr, die die Elfen der Wilden Jagd für diese Welt bedeuten. Beauftragt ihr jedoch mich ...“ „Ihr macht euch scheinbar gerne die Hände schmutzig?“, fragte der Hauptmann. „Ich gestehe. Hin und wieder ja.“ Roche seufzte und sah zu Ves, die noch immer wie eine Statue da stand. Sie war wunderschön anzusehen, wie er nicht zum ersten Mal bemerkte. Ihm gingen die Zweifel durch den Kopf, die die junge Blondine bezüglich seines Plans vorgebracht hatte, die Wilde Jagd zu kontaktieren. Was sie wohl zu dem Angebot des Vagabunden zu sagen hätte? Sicher auch nichts Positives, wüsste sie den Preis, den er anscheinend anstrebte. Trotzdem hätte er sie gerne gefragt. „Gibt es nichts anderes, was euch als Bezahlung gereichen würde?“ „Nur das, was euch am wertvollsten ist, Meister Freischärler.“ Roche sah O’Dimm in die Augen. „Gebt mir einen Tag und eine Nacht, um darüber nachzudenken.“ „Einverstanden.“ „Wie kann ich euch eine Nachricht zukommen lassen?“ Sein Gegenüber schnippte mit dem Finger. „Aaahhhh!“ Der Hauptmann verkrampfte seine linke Hand, auf dem ein Brandfleck erschienen war. „Berührt es, und ich finde euch.“ Roche kam nicht mehr dazu, etwas zu erwidern. O’Dimm klatschte zweimal in die Hände und war verschwunden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)