Skrupelliebe von Zaizen ================================================================================ Kapitel 1: Der demolierte Frieden des Vermieters ------------------------------------------------ Die ersten Sonnenstrahlen des Tages fielen durch ein makellos geputztes Fenster auf eine staubfreie Fensterbank. Dort freuten sich die Topfpflanzen über den anbrechenden Tag, indem sie als Dank für den schönen Platz ein bisschen frische Luft ihrem Besitzer zurückgaben. Letzterer lag flach auf dem Rücken ausgestreckt und noch in tiefen Schlaf gehüllt im Bett. Sein tiefer Atem, ließ den mächtigen Brustkorb auf- und abgleiten. Die sonnengebräunten Hände waren locker über dem Bauch gefaltet, während seine langen Beine parallel zueinander auf dem gerade so ausreichenden Bett lagen. Ein lautes Schellen an der Haustür ließ diese Ruhe schlagartig implodieren. Der eben noch schlafende Pflanzenbesitzer schoss wie ein Pfeil in eine senkrechte Position, während sein Blutdruck ebenfalls in Rekordzeit auf ungesunde Höhen kletterte. Vollkommen desorientiert, strampelte er sich von seiner Bettdecke frei und setzte die Füße auf dem kalten Dielenboden ab, der unter dem plötzlichen Gewicht knarzend protestierte. Wieder malträtierte der kleine Messingklöppel die dazugehörige Glocke, als die elektronische Klingel erneut gedrückt wurde. Dieses Mal hielt das Schellen penetrant lange an, so dass Kuroganes Ohren auch nach ihrem Verstummen das Klingeln phantomhaft wahrnahmen. Sich endlich aus der warmen Umarmung des Bettes erhebend, griff er nach dem ordentlich auf einem Stuhl zusammengefalteten Morgenmantel und warf ihn sich energisch im Gehen über. Dann stapfte er wutentbrannt durch die Wohnung zu seiner Haustür. Der Hirnakrobat, der auf die bescheuerte Idee gekommen war, ihn zu dieser gottverlassenen Uhrzeit aus dem Bett zu werfen, hatte entweder einen verdammt triftigen Grund oder war kurz davor elendig den Löffel abzugeben. „Ich komme ja schon, verdammt!“,brüllte er einem erneuten Klingelansturm entgegen und fluchte wie ein Hafenarbeiter im Sturm. Mittlerweile hatte er seine Müdigkeit abschütteln können, so dass sein Puls ungehindert auf 180 steigen konnte, ehe er auch nur die Tür einen Spalt breit geöffnet hatte. Mit mehr Schwung, als es die arme Tür verdient hatte, riss er die letzte Barriere zwischen sich und dem Störenfried nieder. Sein erster Gedanke, als er einen Blick auf den Übeltäter erhaschte, war, dass dieser weder am verbluten war, noch in Panik zu sein schien. Entweder war dies der gelassenste Hilfesuchende der Weltgeschichte oder der Kerl besaß wirklich die Dreistigkeit, ihn um kurz vor sechs wegen nichts aus dem Bett zu klingeln. „Was?“,blaffte er den jungen Mann an, der mit einem leichten Lächeln auf den Lippen vor seiner Tür stand und ohne es zu wissen, mit seinem Leben spielte. Er schien nicht viel älter zu sein als Kurogane. Das blonde Haar fiel ihm in wirren Strähnen ins Gesicht, während die hageren Ärmchen eine Reisetasche geschultert hatten. Der große Schlacks klimperte verwirrt mit den unnatürlich blauen Augen, ehe er sein Lächeln um einige Watt erhellte. Enthusiastisch streckte er Kurogane eine dürre Hand entgegen. „Hallo, ich würde hier gerne einziehen“,war das Erste und vorerst Einzige, was der lebensmüde Schmale da von sich gab. Kurogane musste all seine Willenskraft zusammennehmen, damit ihm nicht die Kinnlade hinunterfiel. Es dauerte einige Sekunden, ehe er sich wieder soweit gefangen hatte, dass er dem Anderen nicht einfach die Nase vor der Tür zuschlug und sich fragte, ob das gestrige Bier irgendwie schlecht gewesen war. Als all seine Hirnzellen sich von dem Schock erholt hatten, konnte er endlich einen klaren Gedanken fassen und diesen auch in Worten artikulieren:“Du willst was?“ Normalerweise wurde Kurogane an solchen Stellen wütend. Sehr wütend. Doch die gottlose Stunde und die dreiste Bitte hielten ihn aktuell davon ab, einfach den Hahn aufzudrehen und seinen Emotionen wie sonst freien Lauf zu lassen. Vielmehr übernahm hier die rationale Seite seines Denkens und klärte die Sachlage auf, während er im Hintergrund genug gute Gründe für einen Wutausbruch sammelte. „Einziehen“,erwiderte der Fremde in einer Tonlage, mit denen er vermutlich auch kleine Kinder ansprach. Das war neben der Ruhestörung schon Punkt Nummer zwei auf Kuroganes mentalem Ragekonto. Noch immer streckte sein Gegenüber ihm die ungesund bleiche Hand entgegen, als ob er entweder auf einen Mietvertrag per Handschlag hoffte oder einfach penetrant soziale Etiketten einhalten wollte. „Einziehen“,wiederholte Kurogane ungläubig und zog eine Augenbraue so weit hoch, dass sie drohte unter seinem Haaransatz zu verschwinden. Kurz kramte er in seinem Gedächtnis, ob er irgendwann einmal in geistiger Umnachtung einen Besichtigungstermin um diese Uhrzeit vereinbart hatte. Er war sich aber ziemlich sicher, dass in seinem Kalender, auf dem er jeden Termin und jede Altpapierabholung genaustens notierte, kein derartiges Meeting finden würde. Also gab das Wutpunkt Nummer vier. Noch ein Punkt und der Hampelmann war fällig. „Ja, einziehen. Das sagte ich doch bereits.“ Kuroganes Blut fing an zu kochen und die ersten roten Flecken tummelten sich auf seinem Gesicht wie aufkommendes Fieber. Als der Blonde noch immer keine zufriedenstellende Antwort erhielt - Kuroganes drohendes Schnaufen und die Röte im Gesicht schien er gekonnt zu ignorieren - seufzte er ergebend und kramte in seiner Jackentasche herum. Zumindest glaubte Kurogane es war eine Jacke in irgendeinem früheren Leben mal gewesen. Der Lumpen, der da über den knochigen Schultern des anderen hing, war dermaßen mit Löchern und Ruß besäht, dass von dem ursprünglichen Stoff nicht viel übrig geblieben war. Geschweige den von der Farbe, die einst wohl ein dunkelblau geglichen hatte, aber jetzt eher an Schimmel oder Moor entsann. Gerade als es Kurogane zu bunt wurde und er mit dem fünften und letzten Punkt auf der Zornskala endlich gepflegt an die Decke gehen wollte, zog der ranzig aussehende Fremde ein Bündel Geldscheine aus seinem Lumpen. „Sie haben doch eine Wohnung über Ihnen zu vermieten, oder? Zumindest sagt das die Annonce in der Zeitung und das Schild, welches draußen an der Tür hängt. Hören Sie, ich weiß ich komme überraschend und es gibt bestimmt viele andere Interessenten, aber ich brauche dringend eine Bleibe und wäre bereit Ihnen etwas mehr zu zahlen, als die eigentliche Miete beträgt. Ich bin auch sehr leise und so gut wie nie da.“ Die Dicke des Bündels und die Zahlen, die Kurogane auf den ersten Blick erkennen konnte, ließ ihn seine Wut vorerst vergessen. Erneut starrte er den Kleineren ungläubig an. Dann setzte wieder das rationale Denken ein. Es stimmte, er hatte wirklich eine Wohnung über der seinen zu vermieten. Das gute Stück war nicht besonders groß und die letzte Grundsanierung war auch schon einige Jahre her, dafür lag sie etwas außerhalb des städtischen Getümmels und hatte alle Annehmlichkeiten, die man sich so wünschen konnte. Zumindest, wenn es nach Kurogane ging. Die grausame Wahrheit war allerdings, dass er nicht viele Interessenten für die Wohnung begeistern konnte. Durch die schlechte Anbindung an den Nahverkehr, die etwas in die Jahre gekommene Einrichtung und die hohe Miete, die er verlangen musste, um nicht ganz pleite zu gehen, hatte sich bis jetzt noch niemand gefunden, der in ihr wohnen wollte. Für eine Kleinfamilie war der Platz zu gering und viele Pärchen suchten sich lieber eine schickere Wohnung in einer etwas belebteren Gegend. Damit blieben nur noch Studenten und Alleinlebende übrig. Beide Gruppen konnten sich allein die Miete oft nicht leisten oder fanden für den Preis eine bessere Alternative. Und Wohngemeinschaften kamen für Kurogane überhaupt nicht in Frage. Alles in dem Hausbesitzer schrie danach, den blonden Verrückten abzuweisen, doch wenn er ehrlich zu sich war, brauchte er das Geld dringend, so ungern er es sich eingestand. Obwohl er sparsam lebte, war nie genug Geld für einige längst fälligen Reparaturen da und dieser Typ wollte ihm sogar etwas mehr zahlen, als er verlangte. Ergebend ergriff Kurogane endlich die Hand des anderen und seufzte schwer. „Also gut, ich kann Sie Ihnen ja wenigstens zeigen, Herr...?“ Der Händedruck des anderen war ungewöhnlich fest für eine so zierliche Person. „Flourite. Fye de Flourite“,flötete der Störenfried, der endlich bekommen hatte, was er wollte. Kurogane betete, dass der Typ ihn nicht schon auf auf dem Treppenabsatz in den Wahnsinn treiben würde. Sollte der Kerl hier wirklich einziehen, würde er ihm schleunigst die hier geltenden Regeln in Form der Hausordnung erklären und zusehen, dass sich ihre Wege so wenig wie möglich kreuzten. Keine gemeinsamen Grillpartys, keine Waschsamstage und erst recht kein nachbarschaftliches Geplauder im Hausflur. „Also gut, Herr Flourite, dann lassen Sie uns mal beginnen.“ Nur im Morgenmantel bekleidet und mit Schlaf in den Augen, stapfte Kurogane unbewussten Schrittes voran in eine Bekanntschaft, die er später noch bitter bereuen würde. Kapitel 2: Niedlicher Garten, falsche Waschbären ------------------------------------------------ Als Kurogane die Tür im Obergeschoss des Hauses aufschloss, protestiere die Holztür knarzend, ehe sie dem müden Vermieter und seinem potentiellen neuen Nachbarn Einlass gewährte. Kurogane und Fye traten in einen länglichen, L-förmigen Flur, der links abbog. Ähnlich wie in Kuroganes Wohnung bestand der Boden aus dunklen Dielenbrettern, während die Wände cremeweiß gestrichen waren. „Die Wohnung besitzt drei Zimmer, sowie eine Küche, eine Abstellkammer und ein kleines Bad. Einen Balkon gibt es nicht“,leitete Kurogane seine Besichtigungstour ein, während er sich nach links wandte, um am kürzeren Stück des Flures zu beginnen. Von hier aus gingen jeweils eine Tür nach links und zwei nach rechts ab, während das Flurende in einem Fenster mündete. Das penibel geputzte Fensterglas gab den Blick auf die Straße frei, die noch vollkommen verlassen dalag. Was keine Überraschung, um diese gottverlassene Uhrzeit war, wie Kurogane mürrisch zur Kenntnis nahm. „Der erste Raum rechts ist die Abstellkammer und hier geht es zum Schlafzimmer“,fuhr Kurogane fort und öffnete die Tür zu seiner linken. Er trat beiseite, sodass Fye als erstes eintreten konnte, um den Raum zu inspizieren. Dieser kam der Einladung prompt nach und sah sich im Raum um, ehe er an die beiden Fenster trat, die ebenfalls zur Straßenseite ausgerichtet waren. Nachdem er die Hände auf einem der Fensterbänke abstützte, um die eher unspektakuläre Straße in Augenschein zu nehmen, stutzte der Blonde. „Hier ist alles ziemlich sauber. Beinahe makellos. Sind die letzten Mieter erst vor kurzem ausgezogen?“,fragte er und wandte sich wieder Kurogane zu, der noch immer im Türrahmen stand. „Nein, aber ich lege sehr viel Wert auf Ordnung und Sauberkeit. Es ist schon fast vier Monate her, dass jemand in dieser Wohnung gelebt hat“,antwortete der Schwarzhaarige und hoffte, dass der andere nicht weiter nachfragen würde. Weder der vorherige Bewohner, noch der Fakt, dass die Wohnung so lange schon leer stand, gingen den Kerl etwas an. Dieser schien die indirekte Botschaft verstanden zu haben und war wenigstens so geistesgegenwärtig nicht weiter nachzubohren. Nachdem Kurogane sich sicher war, dass der blonde sich genug umgesehen hatte, drehte er sich um und öffnete die gegenüberliegende Tür, die den Blick auf ein kleines Bad freigab. Anhand der braunen Fliesen, von denen jede zweite ein Blumenmuster aufwies, war das Alter der Wohnung unübersehbar. Auch die Kloschüssel, das Waschbecken und die Badewanne, passten farblich zu den braunen Kacheln und engten den Raum von allen Seiten ein. „Das erinnert mich irgendwie an meine Großmutter“,kommentierte Fye das in der Zeit stehengebliebene Bad und traf damit den Nagel auf den Kopf. „Es... könnte eine Sanierung gebrauchen. Ich versichere Ihnen aber, dass alles in gutem Zustand ist. Keine Wasserflecken, kein Schimmel, nicht einmal Kalk“,rettete Kurogane halbherzig das Oma-Bad und scheuchte Fye schnell wieder raus, ehe er noch irgendeine Bemerkung zu dem geblümten Sichtschutz an dem kleinen, länglichen Fenster, über dem Klo machen konnte. Diese setzte nur abermals sein widerlich breites Grinsen auf und schlenderte den Flur zurück. Dann bog er nach rechts ab und wartete brav am anderen Ende des Gangs auf seinen Führer. Hier gab es drei Türen. Eine davon zweigte nach rechts in einen leeren Raum ab, den Kurogane als Arbeitszimmer bezeichnete. Der Raum war ähnlich wie das Schlafzimmer aufgebaut, besaß jedoch Fenster zur Südseite hin, sodass sie auf den kleinen Garten hinunter blicken konnten, den Kurogane ebenso liebevoll pflegte wie den Rest des Hauses. Neben einem etwas in die Jahre gekommenem Gartenschuppen hatte der Hausbesitzer ein kleines Kräuter und Gemüsebeet angelegt, in dem er noch diese Woche das erste Saatgut aussähen wollte. „Was ein niedlicher Garten“,flötete der Blonde. Noch immer hatte er dieses breite Grinsen im Gesicht, welches für Kurogane aussah, als wäre er eine Zahnwerbungauf zwei Beinen. „Der ist nicht niedlich, sondern nützlich“,brummte er als Antwort und legte verdrossen die Stirn in Falten. Niedlich, also wirklich. Kleine Hunde oder Katzen waren niedlich, aber doch kein Garten. Vor allem nicht sein Garten. Das ganze Konzept von 'niedlich' sprach gegen Kuroganes pragmatischen Lebensstil und war eine Beleidigung für die harte Arbeit, die in diesem Beet steckte. Als hätte Fye die Gedanken seines Gegenübers lesen können, kicherte er leicht und zuckte wortlos mit den Schultern, was Kurogane mit einem genervten Blick quittierte. „Weiter“,brummte er und wandte sich von seinem Nicht-Niedlichen-Garten ab und betrat die gegenüberliegende Küche. Ähnlich wie im Badezimmer versprühte auch dieses Zimmer einen leichten Hauch von längst vergangenen Jahrzehnten. Die Küchenmöbel waren alle mit Holz ausgekleidet. Auch der Herd, der Kühlschrank und die Spülmaschine sind daran angepasst worden. Der Boden sowie der untere Teil der Wand waren mit Kacheln verseht, die eine einfache Reinigung ermöglichen sollten. An den Fenstern, die zur Nord- und Ostseite hinausgingen, hingen Spitzenvorhänge. „Die Küche hat vielleicht nicht die modernsten Ausstattungen, dafür funktioniert sie einwandfrei. Der Herd hat Ceranfelder und der Kühlschrank ein Eisfach. Waschmaschine und Trockner befinden sich unten im Keller und werden gemeinsam genutzt“,erklärte Kurogane seinem Garten-Kritiker. Dieser schien aber gar nicht richtig zuzuhören und sah sich im Raum um, ohne irgendetwas genauer unter die Lupe zu nehmen. „Falls Sie eine eigene Küche mitbringen, kann ich-“ „Fye“,unterbrach ihn der Blonde mitten im Satz und fing wieder an sein Lächeln zu intensivieren. Langsam fragte Kurogane sich, ob der Kerl nur zwei Gesichtsausdrücke hatte, neutral und lächelnd. „Hä?“,verbalisierte er sein Unverständnis auf die Unterbrechung und starrte den anderen fragend an. „Sag doch bitte Fye zu mir, Kurolein“,präzisierte Fye seinen vorherigen Einschub und streckte Kurogane erneut diese penetrante Hand hin. Kurogane starrte Fye an, als hätte er ihm gerade eröffnet, dass sie morgen gemeinsam in einer Ballettaufführung die Hauptrollen spielen würden. Für einen Moment zweifelte er an seinem äußerst ausgeprägten Gehör, ehe er jedoch zu dem Entschluss kam, dass der Typ ihn gerade ungefragt mit einem Kosenamen geduzt hatte. Kuroganes Blutdruck fing wieder an zu steigen. „Für SIE immer noch HERR Suwa“,presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, wobei er beide Anreden übertrieben betonte, sodass der Fatzke vor ihm ganz genau wusste, woran er war. Den schien der drohende Wutanfall aber kalt zu lassen. Vielmehr besaß er auch noch die Frechheit, ihm verspielt zu zuzwinkern und sein Lächeln in die Breite zu ziehen. Kurogane hatte in diesem Moment nicht übel Lust, ihm eben jenes Grinsen mit physischen Mitteln aus dem Gesicht zu wischen. „Ach komm schon, wir sind doch bald Nachbarn“,quengelte Fye beinahe und ignorierte erneut Kuroganes deutlichen Wink mit dem Zaunpfahl. „Abwarten. Noch ist hier nichts unterschrieben. Und wenn du Bohnenstange so weitermachst, dann wird das hier auch nichts mehr“,knurrte er gereizt. „Siehst du? Duzen ist doch gar nicht so schwer“,konterte Fye nur gelassen und ging gar nicht weiter auf die Drohung ein. Da sein Vermieter damit beschäftigt war, diverse Mordgelüste im Zaum zu halten und nur ein abfälliges Schnauben parat hatte, ging Fye an ihm vorbei in den Flur zurück und öffnete die letzte Tür der Wohnung. Das Wohnzimmer war mit Abstand der größte Raum von allen. Durch die großen Fensterfronten, die nach Osten und Süden hin zeigten, fiel bereits die Morgensonne, welche alles in einen goldgelben Schein tauchte. Der Raum selbst wies ähnlich wie der Flur eine leichte L-Form auf und bot fiel Platz für Sitzmöbel, Tische und Regale. Fye seufzte zufrieden und erkundete wie in jedem Raum zuerst die Aussicht. Als er an die Fenster und somit ins direkte Sonnenlicht trat, schienen die hellblonden Haare beinahe zu leuchten. Die schmächtige Statur des Etiketten-Trampeltiers warf einen schmalen Schatten in den Raum und für einen Moment sah es für Kurogane so aus, als wäre irgendein Photo eines Hochglanzmagazins Realität geworden. Dieser pittoreske Anblick ließ ihn seine Wut für einen Moment vergessen. Schweigend stand er im Türrahmen und nahm diese surreale Szenerie so lange in sich auf, bis der nervige Teil des Gesamtbildes sich umdrehte und das Wort an ihn richtete. „Zwar kann ich unseren Nachbarn von hieraus ungewollt beim Duschen zusehen, ansonsten ist der Ausblick aber echt traumhaft“,kommentierte er seine Seherfahrung und drehte sich einmal um sich selbst, um auch den Rest des Raumes einer flüchtigen Musterung zu unterziehen. Was die Aussicht betraf, so musste Kurogane ihm recht geben. Mal abgesehen von dem recht nah stehenden Nachbarhaus und dem Blick auf das Badezimmer dessen, konnte man von hier aus über die Gärten beider Häuser hinweg, auf eine weite Felderlandschaft blicken. Das war eine der Annehmlichkeiten, wenn man am Arsch der Stadt wohnte. „Ich nehme die Wohnung“,sagte Fye und riss Kurogane aus seinen Gedanken. Erneut stutzte Angesprochener und unterdrückte den Drang, Fye den Vogel zu zeigen. „Moment mal-“,schaltete er sich ein, wurde aber direkt unsanft von einer Hand zum Schweigen gebracht. „Ich weiß, ich weiß, das kommt alles sehr spontan, aber ich bin eben ein spontaner Typ und diese Wohnung ist genau das, was ich gesucht habe. Also, wie wär's, wenn ich jetzt zum Becker gehe und uns einen wunderbaren Kuchen besorge und in der Zeit bereitest du den Mietvertrag vor. Dann feiern wir und ich ziehe heute noch ein.“ Kurogane konnte gar nicht so schnell an so vielen verschiedenen Stellen protestieren, wie Fye seine Pläne herunterrasselte. „Moment mal“,begann er seinen Satz erneut, dieses Mal mit Nachdruck. Ernst baute er sich vor seinem neuen, selbst auserkorenen Mieter auf und verschränkte die Arme. „Erstens: Ich bestimme hier wer wann, wie und wo einzieht. Zweitens: Ich mag keine süßen Sachen. Erst recht keinen Kuchen. Drittens: Sie können die Wohnung haben. Aber nicht jetzt und nicht heute. Der frühste Termin für die Vertragsunterschreibung ist übermorgen. Sobald dieser unterschrieben ist, können Sie von mir aus direkt einziehen“,klärte Kurogane den blonden Spring-Ins-Feld auf. Dieser war gar nicht erbaut über die negative Antwort. „Aber-“,fing er an, doch Kurogane kannte kein Erbarmen. Jetzt war Schluss. „Kein 'Aber'. Es gibt heute keinen Mietvertrag, keinen Kuchen und erst recht keinen Einzug. Kommen Sie übermorgen wieder. Und jetzt würde ich gerne wieder mit meinem eigentlichen Tag fortfahren. Ich bringe Sie noch zur Tür“. Mit diesen Worten drehte er sich um und stapfte zur Tür, sodass Fye gar nichts anderes übrig blieb, als seinem neuen Vermieter zu folgen und von ihm unsanft aber höflich vor die Tür gesetzt zu werden. - Für Kurogane fühlte es sich wie der finale Countdown zum selbst herbeigeführten Verderben an. Nachdem er den blonden Störenfried rausgeschmissen hatte, fragte er sich in regelmäßigen Abständen immer wieder, was ihn da eigentlich geritten hatte. Die logische Antwort wäre 'Geld' gewesen, aber wenn er wirklich ehrlich zu sich war, dann war das nicht die ganze Wahrheit. Der Typ bedeutete Ärger in einem Ausmaß, dass Kurogane noch nicht zu begreifen wusste und dennoch konnte er den kleinen Funken der Erleichterung nicht abschütteln. Obwohl irgendetwas nicht ganz koscher mit dem Burschen war, so versprach seine Anwesenheit mindestens zwei Dinge – finanzielle Sicherheit und Abwechslung im tristen Alltag. Der Schwarzhaarige würde es sich niemals eingestehen, aber sein Großvater hatte recht gehabt, als er Kurogane davor warnte, sich in einer Schleife aus immer wiederkehrenden Ereignissen und Einsamkeit zu verlieren. Seit seinem Tod hatte sich vieles davon bestätigt. Kurogane war ein noch verkappter Einzelgänger geworden, als er es ohnehin schon war. Vielleicht war der Sprung ins kalte Wasser also keine rein destruktive Entscheidung gewesen. Vielleicht würde er aber auch in zwei Monaten bereits nach einem neuen Mieter suchen, weil der alte ganz plötzlich das Zeitliche segnete. Während Kurogane über seiner Entscheidung brütete und die Stunden zählte, bis er sein Schicksal mit Ankunft seines neuen Mieters besiegelte, versuchte er mit eiserner Entschlossenheit seinem eigentlichen Tageswerk nachzugehen. Dies bestand unter Anderem darin, in der oberen Wohnung alle Geräte und Möbel noch einmal zu überprüfen. Kurogane drehte jedes Staubkorn mit Adleraugen um, tauschte hier und da ein Kabel oder eine Batterie aus und überprüfte alle Schlösser. Eigentlich hatte er sich heute um den Garten kümmern wollen. Das Unkraut war schon wieder an unzähligen Stellen gesprossen und gehörte vernichtet, während sein Apfelbaum irgendeinen Parasitenbefall vorzuweisen hatte und umgehend mit Pestiziden besprüht werden musste. Dank Fye und seiner Spontanität ging der Tag allerdings vorbei, ohne dass der Apfelbaum gerettet oder das Unkraut gejätet wurde. Dafür war Kurogane sich jetzt hundertprozentig sicher, dass der Blonde in der gesamten Wohnung nicht ein bisschen zu meckern hatte. Und wenn ihn der Anblick seines Nicht-Niedlichen-Gartens störte, dann sollte er gefälligst die Vorhänge zuziehen. Als der Vermieter und selbsternannte Hausmeister endlich wieder in seinem Sessel vor dem Fernseher Platz nahm und genüsslich in sein Wurstbrot biss, war er zumindest für den Moment mit sich selbst im Reinen. Dann meinte er ein Rascheln von draußen gehört zu haben und die Ruhe machte der Argwohn platz. Wenn das schon wieder diese verdammte Waschbärenfamilie war, die letztes Jahr versucht hatte, sich mehrmals über seine Mülltonnen her zu machen, dann waren die Mistviecher jetzt endgültig dran. Während Kurogane noch überlegte, wie schnell der Tierschutz bei einem Waschbären-Mord vor der Tür stehen würde, eilte er bereits zur Haustür. Dieses Mal nicht im Morgenmantel, sondern mit Jeans und Flanellhemd bekleidet. Mit zusammengekniffenen Augen streckte er den Kopf aus der Tür und sah nach links und rechts, entdeckte aber keinen der pelzigen Diebe. Leise, wie ein Jäger auf Beutefang, schlich er zu seinen Mülltonnen herüber, die er mittlerweile mit Vorhängeschlössern sicherte. Das hatte zum einen den Vorteil, dass Waschbären sie nicht öffnen und die alte Schrulle von nebenan nicht ihren Müll darin entsorgen konnte. Auf den ersten Blick sah alles in Ordnung aus und so blieb Kurogane nichts anderes übrig, als die Tonnen einer genaueren Inspektion zu unterziehen, wobei er auf seinem Handy die Taschenlampen-Funktion einschaltete und die Tonnen akribisch auf Zeichen von Eindringlingen absuchte. Finden tat er aber nichts. Unzufrieden schnaubte Inspektor Kurogane und nuschelte einen leisen Fluch in die Nacht hinaus. Er hätte schwören können, dass er etwas gehört hatte. Vielleicht war es aber auch nur nur irgendeine Katze oder so gewesen. - Kurogane fand die Nacht über kaum Schlaf. Das Wissen, etwas gehört zu haben und den Grund dafür nicht zu kennen nagte an ihm. Er war niemand, der sich vor Einbrechern fürchtete oder den Einsamkeit paranoid machte. Viel mehr hatte Kurogane stets den Drang zu wissen, was auf seinem Grundstück vor sich ging. Das betraf nicht nur Handwerker, Nachbarn und Postboten, sondern auch Unkraut und tierische Besuchter. Er war sich sicher, gestern etwas gehört zu haben und das Gefühl, dass sich irgendwo ein ungebetener Gast aufhielt lies ihn einfach nicht los. Aus diesem Grund ging er den nächsten Morgen direkt auf Spurensuche. Er untersuchte ein zweites Mal die Mülltonnen und die Gegend darum ab. Als er dort nichts fand, ging seine Reise weiter um das Haus herum und in den hinteren Garten. Dort wurde er fündig. Ein einzelner Stängel seiner Basilikumpflanze war abgeknickt und zeugte davon, dass Kuroganes Ohren noch immer wie die einer Fledermaus funktionierten. Leider war er nur Amateur-Detektiv und kein Forensiker. So starrte er nur hasserfüllt auf den platt getretenen Basilikum herunter und konnte nicht schlussfolgern, wer ihm hier durch sein Kräuterbeet gelaufen war. Somit musste er sich damit zufrieden geben, einen letzten prüfenden Blick in den Schuppen zu werfen - der allerdings auch keine Anzeichen eines Bewohners aufwies – und sich wieder ins Haus zu trollen, um seine eigentlichen Aufgaben in Angriff zu nehmen. Der Tag verging, ohne dass Kurogane sich groß Gedanken über seinen Basilikum-Mörder machte. Allerdings beschloss er, sich abends nicht vor den Fernseher, sonder auf die Lauer zu legen, um etwaige Wiederholungstäter dingfest zu machen. So schaltete er nach dem Abendessen das Licht aus, schob seinen Sessel vor eines der Fenster, die hinten zum Garten hinaus führten und wartete. Weder nach einer halben, noch nach einer ganzen Stunde des stumpfen Beobachtens zeigte sich irgendein Tier, dass es auf seinen Basilikum abgesehen hatte. Mit einem ergebenen Seufzer stand Kurogane auf. Vielleicht wurde er doch langsam paranoid oder gar verrückt. Er sollte sich wieder unter Menschen begeben. Vielleicht in einer Bar ein Bier trinken und sein Glück bei einer hübschen Frau versuchen. Während er noch darüber nachdachte, ob das vielleicht nicht zu aufdringlich war, nahm er aus dem Augenwinkel einen kurzen Lichtschein war. Blitzschnell drehte er sich wieder zum Fenster herum und stierte hinaus in die letzten Reste der Dämmerung. Nicht mehr lange und es herrschte wieder pechschwarze Nacht. Da! Da war es wieder. Ein zärtlicher Schein elektronischen Lichts drang aus Kuroganes Schuppen und war so schnell wieder verschwunden, wie er aufgetaucht war. Nichtsdestotrotz war sich Kurogane sicher, dass irgendwas, beziehungsweise irgendwer, in seinem Schuppen herumlungerte. Bewaffnet mit einem Baseballschläger, den er für den Notfall immer in seinem Schlafzimmer aufbewahrte und einer Taschenlampe, schlich sich Kurogane aus dem Haus und zum Schuppen herüber. Der Lichtschein war erstorben und auch sonst drangen keine Geräusche zu ihm herüber. Als er endlich an der Tür des Schuppens angekommen war, fand er diese unverschlossen vor. Das Vorhängeschloss, das er auch hier angebracht hatte, war verschwunden. Kurogane atmete tief durch, packte den Schläger fester mit der rechten Hand und stieß ruckartig die alte Holztür mit der linken auf. Dann knipste er die Taschenlampe an. Der Schein fiel direkt auf eine zusammengesunkene Gestalt mit hellblonden Haaren und tiefblauen Augen. „Du!“ Kapitel 3: Couchsurfing ----------------------- Im Nachhinein fragte Kurogane sich, was ihn eigentlich geritten hatte. Normalerweise hielt er sich für einen Mann mit wunderbar rationalem Denkvermögen, der nur das tat, was von ihm verlangt wurde. Alles darüber hinaus war entweder Eigennutz oder ein Freundschaftsdienst. Zu diesem Zeitpunkt, als Kurogane entgeistert Fye in seinem Gartenschuppen anstarrte, war der Andere weder ein Freund, noch hatte es für Kurogane irgendeinen Nutzen gehabt, dass er seinen zukünftigen Mieter nicht hochkant aus seinem Schuppen und seinem Leben geschmissen hatte. Er erklärte sich diesen Aussetzer seiner kognitiven Fähigkeiten mit der Dreistigkeit des Blonden. Sich einfach in seinen Schuppen zu schleichen und dort unerlaubt zwei Tage zu nächtigen, gewann seiner Ansicht nach den Hauptpreis in Sachen Respektlosigkeit. Die Spitze des Eisbergs war jedoch, dass der Kerl hier eine Straftat beging und sich dann auch noch darüber beklagte, dass sein kleiner Schuppen 'unordentlich' war. Unordentlich. So etwas gab es in Kuroganes Leben nicht. Womöglich füllten die Masse der Geräte das mögliche Schuppenvolumen beinahe aus und eventuell es wirkte dadurch etwas beengt. Allerdings hatte alles seinen angestammten Platz. Der Rasenmäher stand beispielsweise in der rechten Ecke neben den Gießkannen und nicht achtlos beiseite geschoben, um einem blonden Schmarotzer eine Rückenlehne zu bieten. Nachdem er Fye diesen Umstand sehr deutlich und erklärt hattet und noch einige weitere, weniger nette Äußerungen von sich gab, war es im Schuppen still geworden. Während blaue Augen auf eine Reaktion warteten, stierten Rotbraune stumm zurück. Schlussendlich spuckte der zusammengekniffene Mund darunter etwas aus, dass Kurogane im Nachhinein vermutlich selbst für geistige Umnachtung halten würde. „Komm halt mit rein“,brummte er und ignorierte das Jubelgeschrei des Einbrechers. Alles war besser, als diese Gefahr für die Menschheit unbeaufsichtigt in seinem Schuppen zu lassen. Wer wusste schon, auf welche dummen Ideen der Typ als nächstes kommen würde. Zudem sah er so noch jämmerlicher aus als er es eh schon war. Eine heißes Getränk und fließendes Wasser würden dem Kerl gut tun. - Vollkommen zufrieden mit sich und der Welt saß Fye de Flourite in Kuroganes dunklem Ledersessel im Wohnzimmer und nippte an einer Tasse Tee. Diese hatte eben jener Sesselbesitzer unter Fluchen irgendwo hervorgekramt. Danach setzte er sich dem Teeschlürfer missmutig gegenüber. „Ich will nochmal von dir wissen, was du da in meinem Schuppen gemacht hast“,presste Kurogane zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Angesprochener seufzte tief und bugsierte seinen Riecher über die Teetasse. „Wie ich dir jetzt schon zum dritten Mal erkläre, Mister Brummbär, ich habe dort übernachtet.“ Die zusammengebissenen, weißen Kauwerkzeuge rieben hörbar aneinander, als ihr Besitzer den Kiefer anspannte. Gegen diese gerade-heraus-Logik kam selbst er nicht an. Wie konnte ein Mensch sein sonderbares Handeln so offensichtlich verpacken und einem dabei den letzten Nerv rauben? „Warum hast du da übernachtet“,fragte Kurogane Fye und betonte jede Silbe wie bei einem Kleinkind. „Na, weil ich doch morgen hier einziehe und da wir morgen so viel zu tun haben, wollte ich möglichst nah an meinem neuen Zuhause schlafen.“ - „Wir?“ - „Ja aber natürlich. Ich brauch' doch die großen, starken Kuro-Arme, die mir morgen beim Umzug helfen müssen.“ Gedanklich war dies der Zeitpunkt, an dem Kurogane schreiend aufsprang und Blondie an die Kehle ging. In der physischen Realität jedoch bleib der große Mann wo er war und trank verbissen einen großen Schluck Kaffee. Diese Antwort war gelogen. So viel stand fest. Kurogane sah es ganz deutlich in den blauen Augen des anderen. Fye de Flourite - falls das überhaupt sein richtiger Name war - war ein riesengroßer Lügner. Kurogane hätte ihn damit konfrontieren können, hätte ihn rausschmeißen und sich selbst überlassen sollen. Doch irgendwas an eben jenen undurchdringlichen Augen zog ihn an. „Siehst du was, dass dir gefällt?“,neckte Fye ihn und klimperte spielerisch mit den langen Wimpern. Kurogane ließ sich nicht aus der Reserve locken und schnaubte genervt. Niemals würde er zugeben, dass Fye auf seine ganz eigene Weise recht hatte. Es war nicht sein Aussehen, sondern das Geheimnis, das sich dahinter verbarg. Die Neugier, hinter die Lügen und die grinsende Maske zu blicken, hielt Kurogane davon ab, Fye rauszuschmeißen. Das und das Geld natürlich, sagte er sich und meinte es vielleicht auch so. „Warum kannst du eigentlich Schlösser knacken? Ich bin mir sehr sicher, dass dort ein Vorhängeschloss angebracht war“,fragte Kurogane und ging gar nicht erst auf die Stichelei ein. Erneut erntete er ein Schulterzucken. „YouTube“,lautete die simple Antwort, woraufhin der Größere es genervt dabei beließ und das Verhör damit beendete. Zum wiederholten Mal seufzte Kurogane. „Du kannst auf der Couch schlafen. Dann gehe ich zumindest sicher, dass du nicht wieder in meinen Gartenschuppen einbrichst...“,bot er dem anderen an, der daraufhin strahlte wie ein Honigkuchenpferd. „Prima! Jetzt aber husch husch ins Bettchen Kuro-Grummel, morgen wird ein langer Tag“,flötete Fye, trank seinen Tee aus und tänzelte durch den Raum. „Nenn' mich verdammt nochmal nicht so! Oder du fliegst doch noch!“,brüllte der unfreiwillige Gastgeber, erhob sich und stapfte in sein Schlafzimmer, um ein Kissen sowie eine Bettdecke für den ungebetenen Gast zu holen. In einem hatte Fye recht; es würde ein langer, anstrengender Tag werden. Für sie beide. - Kurogane erwachte zu dem Geruch von Eiern und Speck. Vollkommen desorientiert, richtete er sich auf und starrte durch sein Schlafzimmerfenster, hinter dessen Scheiben die Sonne bereits am Himmel stand. Ein Blick auf den altmodischen Wecker auf seinem Nachtisch bestätigte, dass es bereits nach acht Uhr war. Nachdem sein Hirn für einen kurzen Moment nach dem Grund für sein spätes Aufstehen kramen musste, fand es in der hinteren Ecke seines Gedächtnisses die Ereignisse des gestrigen Abends. Somit klärte sich auch der ungewohnte Essensgeruch auf und machte Fye zu seinem Urheber. Noch unschlüssig, was er von diesem Frühstücksüberfall halten sollte, bugsierte er seinen trägen Körper aus dem Bett. Als sein Kreislauf die Arbeit wiederaufgenommen hatte, öffnete er endlich die Schlafzimmertür, um sich seinem ungebetenen Gast und dem Rest dieses vermutlich, grauenvollen Tages zu stellen. Heute würde Fye den Mietvertrag unterschreiben und sich in der Wohnung über ihm einquartieren. Von da an gab es kein Entkommen und erst recht keine Ruhe mehr. „Guten Morgen, du Schlafmütze“,begrüßten ihn ein breiter, zum Grinsen verzogener Mund. Schweigend betrat Kurogane die Küche, beäugte Fyes Kochaktion mit kritischem Blick und ging dann an dem Blonden vorbei zur Kaffeemaschine, die anscheinend noch nicht in Betrieb genommen worden war. Der Schuppen-Einbrecher von gestern Nacht schien zumindest diesen Wink mit dem Zaunpfahl zu verstehen und hielt die Klappe, bis Kurogane eine Tasse Kaffee in der Hand hielt. Mit Argusaugen beäugte Kurogane den in der Pfanne brutzelnden Speck und die stockenden Eier, in die anscheinend Schnittlauch aus seinem Garten gemischt worden war. Bisher waren beide Lebensmittel weder verbrannt, noch ertranken sie in Fett, was dem Blonden zumindest für den Moment einige lebenswichtige Pluspunkte zusicherte. „Essen ist gleich fertig. Du könntest schon mal den Tisch decken“,kommandierte der selbsternannte Chefkoch den Wohnungsbesitzer herum, indem er ihm mit dem Kochlöffel vor seiner Nase herumwedelte. Als Antwort erhielt er nur ein tiefes Grummeln und eine Rückenansicht Kuroganes, welcher der 'Bitte' nachkam. Für einen morgendlichen Wutausbruch war er eindeutig zu hungrig. Während Kurogane schweigend den Tisch deckte, neuen Kaffee aufsetzte und versuchte, Fyes Gesprächsversuche geflissentlich zu ignorieren, arbeitete sein Hirn die letzten Tage auf. Es war gerade mal zwei Tage her, dass dieser blonde Möchtegern-Einbrecher und Miet-Terrorist in sein Leben oder viel eher vor seine Haustür getreten war. Zwei Tage, in denen der blonde Geheimniskrämer bereits eine Straftat begangen, auf seiner Couch übernachtet und unerlaubt Frühstück gemacht hatte. Das war keine gute Prognose für die folgenden Wochen, Monate oder gar Jahre. Allein der Gedanke, Fye könnte sich wirklich und wahrhaftig niederlassen und ihn mit seiner direkt-indirekten Art über Jahre in den Wahnsinn treiben, ließ Kurogane in kalten Schweiß ausbrechen. Doch noch war es nicht zu spät. Noch war genug Zeit den Vertrag zu zerreißen und ihn niemals in diese blassen Hände fallen zu lassen, die jetzt den Griff der heißen Pfanne umklammert hielten. Kurogane fragte sich, warum er diesem Wahnsinn hier nicht schon gestern ein Ende gesetzte hatte. „Ich habe mir übrigens schon die Freiheit herausgenommen, den Mietvertrag zu unterschreiben, den du netterweise vorbereitet hattest. Nur die Bankverbindung habe ich ausgelassen, da ich dich ja bar bezahle“, flötete Fye, während er Ei und Speck auf Kuroganes Teller lud. Irgendwo in Kurogane fiel ein Tor mit der Aufschrift 'Ruhiges Leben' zu und verschloss sich vermutlich für immer. „Warum warst du in meinem Arbeitszimmer?“,wollte Kurogane wissen, obwohl er die Antwort schon längst kannte. Bei der Bargeld-Sache fragte er schon gar nicht mehr nach. „Ich habe die Toilette gesucht und bin durch Zufall da gelandet. Dann dachte ich mir, wir sparen uns Zeit, wenn ich bereits alles in Ruhe durchlese und unterschreibe“,log Fye leichthin. Dass der Lulatsch vermutlich in seinen Sachen herumgeschnüffelt hatte, lag auf der Hand. Da es für diese Behauptung jedoch nur Kuroganes Instinkt und keine stichhaltigen Beweise gab, beließ der Schwarzhaarige es bei 'In Dubio Pro Reo' – sein Übermieter durfte weiterleben. Immerhin war das Essen gut. Denn was danach kam, brachte Kurogane auf die Beine wie das HB-Männchen kurz vor seiner erlösenden Zigarette. Grund dafür war Fyes Offenbarung seiner heutigen Pläne, die Kurogane – wie er bereits befürchtet hatte – involvierten. Allerdings bezogen sie den Größeren in einem derartigen Umfang ein, dass selbst er sich fragte, wann der Gipfel von Fyes Dreistigkeit erreicht war. „Wir tuen was?“,fragte Kurogane zum dritten Mal in Folge, sich noch immer in der leisen Hoffnung wiegend, er habe sich die Male davor gewaltig verhört. „Wir fahren ans andere Ende der Stadt, um mein Sofa abzuholen“, erklärte Fye ihm mit einer Engelsstimme und -geduld. „Warum ist es am anderen Ende der Stadt?“ - „Weil ich es gerade erst geschenkt bekommen habe.“ Für Kurogane passte diese Aussage etwa so gut zu seiner Frage wie ein Schnabeltier zu einer Dinnerparty. Vermutlich sprach sein verwirrter und an Fyes geistigem Zustand zweifelnder Gesichtsausdruck Bände, weswegen der Schmalhans nachsetzte:„Jemand verschenkt auf Ebay-Kleinanzeigen ein kleines Sofa. Ist das nicht großzügig? Und weil diese Person so nett ist, holen wir es natürlich ab.“ Spätestens jetzt fühlte Kurogane sich in einer Filmszene von 'Täglich grüßt das Murmeltier' gefangen: „Wir?“ - „Ja aber natürlich. Ich brauch' doch die großen, legendären Kuro-Arme... und ein Auto.“ Auf die drohende, pulsierende Ader auf Kuroganes Stirn hob Fye nur beschwichtigend die Hände und lächelte großzügig. „Wir können unterwegs natürlich beim Dönerladen halten. Und ich bezahle dir selbstverständlich das Benzin.“ Jegliche Beschimpfungen, die daraufhin aus Kuroganes Mund brachen, gingen in der sich überschlagenden Stimme und der Verfolgungsjagd durch die Wohnung unter. - „Du sagtest, es sein ein kleines Sofa“,sagte Kurogane in möglichst neutralem Tonfall und ohne auch nur einen Gesichtsmuskel zu verziehen. Dabei starrte er unentwegt gerade aus auf das gemeinte Sitzmöbel und ignorierte den grinsenden Vollidioten neben sich. Dieser verschränkte spielerisch die Arme und legte den Kopf schief, als ob er wirklich darüber nachdenken würde, ob seine Vorstellung von 'klein' allgemeingültig war. „Ist es doch auch. Klein, niedlich, in gutem Zustand und uuuuuunglaublich bequem!“,rechtfertigte er sich. Erneut wurde das arme Sofa einer scharfen Musterung Kuroganes unterzogen. „Es passt aber nicht ins Auto. Daher ist es zu groß“,entschied er fachmännisch und wandte sich zum Gehen um. Für ihn war die Sache geklärt. Das Sofa war zu groß, es würde also hier bleiben müssen. Mit oder ohne seinen neuen Besitzer. „Hey! Warte doch mal. Uns fällt bestimmt was ein“,stoppte ihn der Blonde und verstellte ihm mit seiner Steichholzstatur den Weg. Kurogane fing mit jeder Sekunde an zu kochen, die der Strich in der Landschaft nicht zur Seite trat. Sein selbstauferlegter Fluch in Form von Fye de Flourite hatte es schon geschafft, ihn überhaupt an diesen gottverlassenen Ort zu fahren. Allein das war ein Wunder, welches Kurogane noch nicht ganz zu begreifen wusste. Normalerweise war er willensstark wie ein Ziegenbock. Doch irgendwie hatte der Blonde es durch eine Mischung aus Dreistigkeit und Wortgewandtheit geschafft, Kurogane an eine Wand zu drängen, an der er schlussendlich eingeknickt war. Das würde ihm hier nicht passieren. „Das Sofa bleibt hier“,entschied er eisern und verschränkte nun auch die Arme vor der Brust. Allerdings wirkte es bei ihm eher wie die Geste eines bockigen Kindes, als wie die eines logisch denkenden Erwachsenen. Diese Schwäche erkannte Fye sofort und verringerte den Abstand zwischen ihnen. Jetzt konnte er den leichten Duft von Zitronenmelisse wahrnehmen, der von dem anderen Ausging. „Aber ich kann es doch nicht wieder zurückgeben, du hast doch gesehen, wie sehr sie sich gefreut haben, dass es einen neuen, liebenden Besitzer bekommt“, jammerte Fye und deutete einen Schmollmund an. Mit 'sie' meinte er selbstverständlich die Vorbesitzer ihres jetzigen Möbelproblems. Dabei handelte es sich um eine Wohngemeinschaft aus realitätsfernen Hippies, die anscheinend nach mehrmaligen Drohungen ihres Vermieters, eben jenes Sofa aus ihrem Vorgarten verbannen mussten. Folglich war der 'gute Zustand' des Sofas eine ernste Ansichtssache. Kurogane war sich sicher, dass dieses Ding einmal eine glanzvolle Zeit in einem gepflegten Wohnzimmer genossen hatte. Nur war eben jene Zeit etwa zwanzig Jahre, drei Brandlöcher und einige Grasflecken her. Kurogane vermutete, dass die Ausgangsfarbe der Couch einmal weiß gewesen war. „Dann schmeiß es auf den Müll, da gehört es eh hin. Auf jeden Fall kommt es nicht in das Auto und erst recht nicht in die Wohnung“, knurrte Kurogane und blickte Fye drohend an. Langsam hatte er die Grenzen seiner Beherrschung erreicht. Zu allem Übel schien Fye sich jetzt auch noch dazu entschieden zu haben, eine filmreife Szene hinzulegen. Japsend schlug er sich die Hände vor den Mund und starrte Kurogane mit derart entsetztem Blick an, dass dieser sich nicht mehr sicher war, ob es sich hier um ein Sofa oder Fyes Erstgeborenes handelte. „Wie kannst du nur die Gefühle des armen Mokona verletzten?! Siehst du nicht die Geschichten, die es zu erzählen hat? Die Erinnerungen, die in seinem Polster verwoben sind? Dieses Sofa hat mehr Wert als wir jemals aufbringen könnten!“ „Es ist ein namenloses Sofa“,erwiderte Kurogane unbeeindruckt und glaubte, Fye beinahe zum Weinen zu bringen. „Es ist ein Freund!“,rief dieser verzweifelt. Nun war sich Kurogane sicher, dass Fye sämtliche Sicherungen durchgebrannt waren. Sicherheitshalber erweiterte er wieder den Abstand zwischen ihm und dem verrückten Sofa-Liebhaber. Dann schüttelte er ungläubig den Kopf. „Ich brauche Kaffee.“,murmelte er, drehte sich um und ließ Fye, das Sofa und sein Auto stehen. Irgendwo musste es an diesem gottverlassenen Fleckchen voller Hirnakrobaten doch ein anständiges Café oder eine bereits geöffnete Bar geben. Die hinter ihm ertönenden Rufe des Verrückten ignorierte Kurogane gekonnt. Immerhin folgte er ihm nicht. - Im Nachhinein hätte Kurogane schon beim Weggehen Verdacht schöpfen müssen. Allein die Tatsache, dass Fye nachzugeben schien, indem er dem grummeligen Riesen nicht hinterher gerannt war, hätte Kurogane in Alarmbereitschaft setzen müssen. Letzterer Instinkt schien in den vergangenen Tagen jedoch den Geist aufgegeben zu haben, wenn man die Tatsache bedachte, dass dieses ganze Mietverhältnis auf zwielichtigen Informationen und Zahlungen basierte. Warum Fye sich nicht einfach wie jeder normale Mensch irgendwo ein Sofa kaufte und dieses bequem liefern ließ, war nur eine der vielen Fragen, die sich um den blonden Schönling rankten. Stattdessen kämpfte er mit allen Mitteln darum, dieses mottenzerfressene Vorkriegsmöbel in seine neu erworbene – und teuer bezahlte – Wohnung zu verfrachten. Zu eben jenem Gedanken wollte Kurogane Fye befragen, als er mit Kaffee bewaffnet zurück zu seinem Auto marschierte. Dass es dazu aber gar nicht erst kam, lag vor allem an dem Umstand, dass sich der Grund ihrer ganzen Odyssee jetzt nicht mehr im Vorgarten, sondern auf dem Dach seines Autos befand. Bei diesem entsetzlichen Anblick ließ der Besitzer des Personenkraftwagens beinahe seinen lebenswichtigen Kaffee fallen. Die eben noch gemütlichen Schritte beschleunigten ihr Tempo und rasten auf die lange Gestalt zu. Diese hatte ihren dürren, verräterischen Rücken der herannahenden Naturgewalt zugewandt, sodass sie heftig zusammenzuckte, als eine kräftige Bratpfannenhand den Streichholzarm umschloss und zu sich herumriss. Mit geübtem Griff, und ohne den Kaffee zu verschütten, bugsierte Kurogane Fyes Gesicht so nahe an das seine, dass er jede Wimper einzeln zählen konnte. „Was soll der Scheiß?!“, brüllte Kurogane den Blonden an, der sich nach der ersten Schrecksekunde jedoch wieder zu fangen schien. Die Panik verschwand aus den Augen und an ihrer Stelle bildeten sich perfekte Lachfältchen im Gesicht des anderen. „Ich habe unser Problem gelöst“, war die einfache Antwort, die Kurogane nur noch mehr in den Wahnsinn trieb. Er fing an, Fye heftig zu schütteln. Vielleicht würde dann mal eine vernünftige Erklärung aus dessen Mund purzeln. „Du hattest vollkommen recht – mein geliebtes 'Mokona' war viiiiel zu groß für dein kleines Auto. Daher dachte ich mir, dass ihr ein bisschen Fahrtwind nicht schaden würde. Die perfekte Lösung für unser kleines Platzproblem, nicht wahr? Und danach können wir es direkt in meine Wohnung tragen, ohne dass es deine mit seiner Präsenz beglücken muss. Genial, oder?“,erklärte Fye freudig. An diesem Punkt konnte Kurogane zwischen zwei Optionen wählen. Die Erste war ein mächtiger Wutanfall, gefolgt von einer körperlichen Auseinandersetzung, die vermutlich ein Polizeiaufgebot und eine Anzeige mitsichziehen würde. Die zweite Möglichkeit war die der stillen Kapitulation und das Eingeständnis einer Niederlage vor dem blonden Teufel. Nach mehrmaligem Überlegen siegte der rationale Teil seines Verstandes über den wütenden. Niemandem war geholfen, wenn er jetzt seinen neuen Mieter krankenhausreif schlug und wieder von vorn beginnen durfte. (Insbesondere nicht seinem Lebenslauf und Portmonee. Somit entschied Kurogane Suwa sich widerwillig für Option zwei und schwor sich, aus seinen Fehlern zu lernen. Ganz nach dem Credo seines Großvaters lebend, würde er die Niederlage einstecken und es nie wieder soweit kommen lassen. Es würde das letzte Mal sein, dass er sich von seinem Untermieter in eine derartige Bredouille bringen ließ.Wenigstens hatte die blonde Manie daran gedacht, dass Sofa halbwegs auf dem Dach festzuschnallen, dachte Kurogane resigniert, als er einstieg und einfach nur betete, dass dieser Alptraum bald ein Ende haben würde. Er startete den Motor, legte den Gang ein und fuhr langsamer an, als er es in seiner ersten Fahrstunde getan hatte. Für einen kurzen Moment bildete er sich ein, das Sofa auf seinem Dach würde bedrohlich wackeln, doch Fye hatte bereits das Fenster heruntergekurbelt und stabilisierte das Möbelstück mit der rechten Hand. Mit der anderen fummelte er am Radio herum und verstellte munter Kuroganes Musiksender. Mit dreißig Kilometer pro Stunde tuckerten sie durch die kaputten Straßen der Stadt, wobei Kurogane es vermied näher ins Zentrum zu fahren. Lieber nahm er einen größeren Umweg in Kauf, als irgendwo auf eine Streife zu treffen, die ihnen ein saftiges Bußgeld aufdrücken würde. Im Radio dudelte ein nerviger Popsong nach dem nächsten und Fye sang kräftig mit. Man würde meinen, der Schönling hätte eine engelsgleiche Stimme oder würde mit melodischem Summen der Melodie folgen, doch wie so oft trog der Schein. Statt Sirenengesängen bekam Kurogane die volle Ladung schiefer Töne und falsch gesungener Liedpassagen in sein rechtes Ohr gedrückt und wäre beinahe freiwillig gegen einen Baum gefahren. Auf eine geknurrte Bitte hin, dass der Sofa-Freund neben ihm die Klappe halten sollte, sang dieser nur noch lauter und schiefer und gab vor, Kuroganes Gemecker gar nicht zu hören. Nach weiteren zehn Minuten der akustischen Folter nahm Kurogane endlich wieder die Radio-Macht an sich. Während er mit der einen Hand das Lenkrad festhielt, hämmerte er mit der anderen ungeduldig auf den Radioknopf ein. Das arme Funkgerät, das bereits einige Jahre des guten Dienstes auf seinem Rücken trug, kam schwerfällig der Bitte nach und wechselte von Radio-Interview auf klassisches Konzert, bis hin zu einem unbekannteren Sender, der keine Hits rauf und runter dudelte. Zufrieden seufzte der Fahrer und schlug seinem Nebenmann auf die Finger, als dieser sich gegen das Radio-Dekret erheben wollte. Irgendwann entspannte sich der Popsong-Foltermeister jedoch auch und ließ sich von den dahinplätschernden Gitarrenklängen berieseln und Kurogane konnte sich wieder voll und ganz auf die Straße konzentrieren. Mittlerweile war der Asphalt wieder soweit intakt, dass er sich sogar eine Geschwindigkeit von fünfzig Kilometer pro Stunde zutraute. Das Sofa blieb, wo es war. Das nächste Lied, was das Radio von sich gab, war ebenso ruhig wie seine Vorgänger, wurde zu Kuroganes großer Freude aber von einer dunklen, säuselnden Männerstimme begleitet. Eben jene Stimme sang in angenehmen Tonfall von einem lebenden Toten, einem Fehler und einem Urteil. Während Kurogane endlich entspannt mit dem Finger zum Takt auf das Lenkrad schlug, versteifte sich der Körper neben ihm mit jeder Zeile. Zu gerne hätte Kurogane seinen Beifahrer prüfend angeschaut, um festzustellen, was genau diese Reaktion ausgelöst hatte. Da er jedoch ein pflichtbewusster Fahrer war, hielt er seine Augen auf die Straße gerichtet. Die lockere Atmosphäre verschwand und an ihre Stelle trat eine Stille, die nur von dem Lied des singenden und laufenden Toten begleitet wurde. Kurogane wurde mehr als nur unangenehm in seiner Haut und so drückte er auf das Gaspedal, um die letzten drei Straßen bis zu ihrem Haus so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Er war sich nicht sicher, ob Fye etwas gesehen hatte oder ob es an dem Lied lag, dass sich dessen Stimmung so schlagartig verändert hatte. Kurogane konnte noch nicht einmal sagen, ob der Blonde es überhaupt mitbekam, dass er jede Muskelfaser angespannt hatte. Die Unwissenheit nicht mehr aushaltend, drehte Kurogane den Kopf zu Fye herum, um das Gesicht des anderen zu studieren. Was er dort sah, überraschte und schockierte ihn zugleich. Die Augen, die sonst so kontrolliert und undurchlässig waren, wirkten dunkler und bedrohlicher, als er es jemals für möglich gehalten hatte. Der Kiefer war angespannt und stach deutlich unter der bleichen Haut des anderen hervor. Fye blickte Stur geradeaus und schien mit sich und irgendetwas zu kämpfen, was Kurogane nicht benennen konnte. Dann drehten sich der verkrampfte Kiefer und die tiefen Augen zu ihm herum und es kehrte wieder Normalität ein. Fye erkannte die Lücke in seiner Deckung und schloss sie so schnell, dass Kurogane im Nachhinein nicht mehr wusste, ob er sich das alles nur eingebildet hatte. In Sekundenschnelle war die blaue Phototapete wieder an ihrem Platz und das Zahnarztlächeln zog sich in die Breite. „Was ist?“, fragte Fye betont fröhlich und gelassen. Kurogane schüttelte den Kopf, richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße - und legte eine Vollbremsung hin. Mit weit aufgerissenen Augen, einem „Oh, Scheiße!“, auf den Lippen und einem schnellen Fuß auf der Bremse, brachte er das Auto in Sekunden und mit quietschenden Reifen zum Stehen. Gerade rechtzeitig, um der schwarzen Katze, die jetzt mächtig Fersengeld gab, nicht in einen Pfannkuchen zu verwandeln. Auf der einen Seite schien Fortuna gnädig mit Kuroganes Unaufmerksamkeit gewesen zu sein, da niemand hinter ihm gefahren war und somit einen Auffahrunfall verursacht hätte können. Auf der anderen Seite schien sie ihm eine Sekunde später den Mittelfinger zu zeigen, da das angeblich gesicherte Sofa wie einen Kanonenkugel vom Dach schoss. Es hatte gerade noch genug Schwung, um Kurogane nicht auf die Motorhaube zu brettern. Stattdessen setzte es kurz dahinter auf und verlor mit einem ohrenbetäubenden Krachen das rechte Vorder- und Hinterbein. In Schieflage schlitterte es noch wenige Meter über den Asphalt, ehe es wieder zum Stehen kam. Kurogane und Fye starrten mit aufgerissenen Augen das Sofa an, während die Katze schon hinter der nächsten Hausecke verschwunden war. Der Gestank von verbranntem Gummi breitete sich in der Fahrerkabine aus. Im Radio wurde der Klaviercover eines Popsongs gespielt. „Das war knapp. Wir sind echte Glückspilze heute“, stellte Fye vergnügt fest und provozierte einen erneuten Wutanfall seitens Kurogane. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)