Stolen Dreams Ⅺ von Yukito ================================================================================ 1. Kapitel ---------- Das Letzte, an das sich Constantin erinnern konnte, war ein Meer aus Flammen. Funken flogen durch die Luft, beißender Qualm stieg in seine Nase und es war so heiß, dass er die Augen zusammenkneifen musste. Schweiß tropfte von seiner Stirn und vermischte sich mit der Asche, die an seiner Haut haftete. Er hörte Stimmen, die in der Nähe, aber trotzdem nicht verständlich waren. Zögernd öffnete er seine Augen – und dann sah er sie. Sascha und Zhaba befanden sich einige Meter vor ihm und waren einander zugewandt, als würden sie miteinander interagieren und Constantin als ihren Zuschauer aus der ersten Reihe haben wollen. Sascha stand aufrecht und blickte wie ein König auf Zhaba nieder, der am Boden lag und genau wie die Umgebung lichterloh brannte. Er streckte seine gierige Hand nach Sascha aus und kriegte dessen linken Oberschenkel zu fassen, aber Sascha wich nicht zurück und schrie auch nicht. Seine bernsteinfarbenen Augen, in denen sich das Feuer widerspiegelte, sahen auf die brennende Kröte herab, die sich vor Schmerzen wand und wie am Spieß kreischte. Die Flammen ließen ihr Fleisch von den Knochen fließen wie heißes Wachs von einer brennenden Kerze floss. Constantin hatte nicht die leiseste Ahnung, ob diese Szene der Realität entsprach oder sie bloß eine Halluzination war, aber eigentlich interessierte ihn das auch gar nicht, denn alles, was für ihn jetzt zählte, war, dass er es überstanden hatte. Zhaba befand sich an einem Ort, wo er Constantin nicht erreichen konnte, und Constantin selbst lag in einem Krankenhaus... oder zumindest in einem Gebäude, das einem Krankenhaus ähnelte. Hier fehlten nämlich ein paar Sachen; unter anderem der typische Geruch von Desinfektionsmittel und die Geräusche der anderen Patienten. Es war so still, dass es fast schon beängstigend wirkte. Was jedoch eindeutig dafürsprach, dass Constantin in einem Krankenhaus war, waren das typische Bett, in dem er lag, der helle Linoleumboden und vor allem die Nadel in Constantins Arm, an der ein dünner Schlauch samt Infusion steckte. Der Junge sah durch das Fenster und erblickte den strahlend blauen Himmel. Zum ersten Mal, seitdem er Zhaba kennengelernt hatte, verspürte er so etwas wie Hoffnung und betete zu Gott und seiner verstorbenen Familie, dass diese Hoffnung länger als fünf Minuten andauern würde. Schritte näherten sich und kurz daraufhin betrat eine Frau den Raum. Sie war Ende dreißig oder Anfang vierzig, hatte braune Haare und hielt eine Kaffeetasse in ihrer Hand. „Oh... du bist wach.“ „K-können Sie--?“ Constantin brach ab und räusperte sich. Er klang wie ein sterbendes Wiesel. „Können Sie mir sagen, was mit Sascha passiert ist?“ Die Frau nippte mit beunruhigtem Blick an ihrem Kaffee. „Diesen Namen solltest du hier nicht erwähnen.“ „Tut mir leid, ich wollte nicht...“ „Schon gut, ich habe damit kein Problem, aber Andrej ist wirklich nicht gut auf das Thema zu sprechen.“ „Wer ist Andrej?“ Die Brünette sah aus, als müsste sie Constantin gestehen, dass er an einer unheilbaren und tödlichen Krankheit litt. „Jemand, der... oh, wenn man vom Teufel spricht.“ Ein Mann betrat das Zimmer. Mit seinem großen und muskulösen Körper wirkte er wie ein Türsteher und der mürrische Ausdruck auf seinem Gesicht ließ ihn noch bedrohlicher wirken. Das i-Tüpfelchen jedoch waren seine Augen. Constantin hatte noch nie jemanden mit einer so hellen Iris gesehen. „Ellen, renn nicht vor mir weg“, sagte er zu der Frau. Seine Stimme klang deprimiert und besorgt. „Hast du nicht wenigstens eine Vermutung, wann er aufwachen wird?“ „Wie ich bereits sagte: Nein, ich weiß es nicht. Und ich verstehe auch nicht, warum du--“ Ellen gab einen spitzen Schrei von sich, als Andrej nach einem Wasserglas griff, das auf dem kleinen Tisch neben der Tür stand, und es nach Ellen warf. Das Glas verfehlte sie nur knapp und zersplitterte an der Wand hinter ihr. „Mehr als sechs Jahre Studium und du weißt nicht, warum jemand nicht ansprechbar ist?!“ Obwohl die Wut dieses Mannes nicht Constantin galt, bekam es der Junge mit der Angst zu tun. Er zitterte wie Espenlaub und hätte sich am liebsten unter dem Bett versteckt, aber sein Körper gehorchte ihm nicht. „Okay, Andrej, das reicht jetzt.“ Eine dritte Person betrat den Raum. Es war ein hellblonder Mann, der Andrej nicht gerade unähnlich sah, aber ein paar Jährchen jünger sein musste. „Komm, lass Ellen in Ruhe. Davon wird Sascha auch nicht schneller aufwachen.“ Würde der Blick, den der Fremde für diese Worte erhielt, Constantin gelten, wäre der Kleine sicherlich vor Angst in Ohnmacht gefallen. Neugierig aber auch zurückhaltend betrachtete er die beiden Männer, die eindeutig miteinander verwandt waren. Sogar ihre Augen besaßen die gleiche eisblaue Farbe. Andrej schlug die Hand des Hellblonden, der ihn zu beruhigen versuchte, empört weg und sah zu Constantin, dessen Herz erschrocken einen Schlag aussetzte. „Lasst mich alleine. Ich will mit dem Jungen reden.“ Ellen und der Mann, dessen Name noch nicht genannt worden war, warfen sich gegenseitig zweifelnde Blicke zu und verließen dann zu Constantins Entsetzen das Zimmer. „Lass deine Wut nicht an ihm aus. Er hat nichts falsch gemacht“, war alles, was der Hellblonde noch sagte, bevor er die Tür hinter sich zumachte. Andrej zog einen der Stühle von dem Tisch weg und platzierte ihn neben das Bett. Jetzt, wo Constantin ihn aus der Nähe sehen konnte, erkannte er, dass der Dunkelhaarige in den letzten Tagen wenig Schlaf bekommen haben musste. Dunkle Augenringe prangten wie Blutergüsse auf seiner blassen Haut und-- „Sag mir, was dieses kranke Schwein mit Alex gemacht hat“, befahl Andrej. „Auch wenn es unschön ist, sag es mir.“ „A-alex?“ Die Ohrfeige, die Constantin daraufhin bekam, besaß so viel Kraft, dass sie ihn fast aus dem Bett riss. Er schrie entsetzt auf und sah ängstlich zu Andrej, in dessen geisterhaft hellen Augen sich nicht nur Wut widerspiegelte, sondern auch Verzweiflung und ein wenig Angst. „Sascha!“, rief der Ältere ungeduldig. „Etwa dein Alter und deine Größe, hellbraune Haare, goldene Augen! Was ist mit ihm passiert?“ „I-ich weiß es nicht. Er... er wurde von uns getrennt. Ver-vermutlich missbraucht und geschlagen. Er--“ Plötzlich hielt Constantin inne und ließ die Hände, die er sich schützend vor das Gesicht hielt, langsam sinken. „Ich... kann mich an etwas erinnern. Sascha war nicht bei mir, aber... ich habe ihn gehört. Er hat geschrien.“ Andrej vergrub das Gesicht in seinen Händen und erweckte den Eindruck, jeden Moment in Tränen auszubrechen. „Ich glaube, es war ein Name“, fuhr Constantin gedankenverloren fort. „Er begann mit A. A... An... Andr--“ Er realisierte es. „Es war Ihr Name.“ Von Andrej kam keine Reaktion. Er saß auf dem Stuhl, versteckte sich hinter seinen Händen und schwieg. Mehrere Minuten vergingen, doch er verhielt sich so still wie eine Eisskulptur. „In welcher Beziehung stehst du zu... ihm?“, fragte er schließlich. „M-mein Vater war Chef einer kleinen Firma, der es... finanziell nicht sonderlich gut ging. Er hatte Schulden und sah keinen anderen Ausweg, als sich und seiner Familie das Leben zu nehmen. Ich habe es als Einziger überlebt... und bin in die Klauen dieses Monsters geraten. Er sagte, er würde mich als Entschädigung für die Schulden meines Vaters nehmen. Das Ganze ist... vier oder fünf Monate her, glaube ich.“ Unter normalen Umständen hätte Constantin jetzt bitterlich zu weinen angefangen, aber seine Wangen blieben trocken. Mittlerweile hatte er sich an den Schmerz gewöhnt. Das, was in den letzten Monaten geschehen war, hatte unzählige seelische Narbe hinterlassen, die sich anfühlten, als hätte der Junge an jeder freien Stelle auf seiner Haut einen Nagel im Fleisch stecken. „Das heißt, du weißt nichts von seinen Plänen und Taten?“, fragte Andrej, woraufhin Constantin langsam den Kopf schüttelte. „Was haben Sie jetzt mit mir vor?“ Andrej antwortete zuerst nicht, sondern erhob sich vom Stuhl und ging zur Tür des Raumes. Er starrte nachdenklich die Wand an und sah anschließend zu dem Jungen, dessen Anwesenheit er vollkommen vergessen zu haben schien. „Gar nichts. Du bist wertlos für mich.“ Eine unsichtbare Hand legte sich um Constantins Hals und drückte so feste zu, dass der Kleine fast ohnmächtig wurde. Er hatte sich während seiner Zeit bei Zhaba oft gewünscht, zu sterben und der Hölle zu entkommen, aber jetzt, wo er diesen Unmensch überstanden hatte, wollte er das natürlich nicht mehr. „B-b-bit-bitte... i-ich--“ „Sieh es als Erlösung an.“ Constantin bekam keine Luft. Er begann zu weinen, hielt sich die Hände vor das Gesicht, spürte das schmerzhafte Pochen der Wange, die Andrej vorhin geschlagen hatte, und wimmerte leise. All die Qualen, die er bei Zhaba ertragen hatte, waren umsonst gewesen! Andrej war im Begriff, das Zimmer zu verlassen, aber jemand kam ihm entgegen. Constantins Schluchzen war so mitleiderregend, dass es nicht unbemerkt blieb. „Was ist passiert?“, wollte der hellblonde Mann wissen. „Und warum weint er?“ „Keine Ahnung. Ist mir auch egal. Geh mir aus dem Weg, Ilja.“ Ilja stemmte seine muskulösen Arme gegen den Türrahmen und sah Andrej wütend an. „Ich kann verstehen, dass es dir schlecht geht, aber das ist kein Grund--“ Gerade noch rechtzeitig konnte er der Faust ausweichen, die direkt auf sein Gesicht zusteuerte. „Einen feuchten Dreck kannst du verstehen!“, zischte Andrej gereizt. „Du hast keine Ahnung, wie hilflos und schrecklich man sich fühlt. Alex ist die wichtigste Person in meinem Leben und es ist meine Schuld, dass dieses“, für das Schimpfwort, das Andrej verwendete, hätte sich Constantin den Mund mit Seife auswaschen müssen, „ihn in seine Finger bekommen hat!“ Ilja hob beschwichtigend seine Hände und wich einen Schritt zurück. „Es ist nicht deine Schuld“, sagte er, aber Andrej ignorierte ihn, stieß ihn grob aus dem Weg und verschwand im Flur. Ilja schaute ihm hinterher und seufzte betrübt, ehe er Constantins Zimmer betrat und den Jungen mitfühlend ansah. „Nimm dir das, was er sagt, nicht zu Herzen. Er macht momentan eine schwierige Zeit durch und ist deswegen... ein wenig reizbar.“ Mit diesen Worten verließ er den Raum und machte die Tür hinter sich zu. Constantin versuchte sich zu beruhigen, aber es gelang ihm einfach nicht. Er hatte so viele Grausamkeiten durchstehen müssen, um hier zu sein, und jetzt, wo es endlich wieder bergauf gehen sollte, planten die Männer, die ihn gerettet hatten, ihn umzubringen und wie Müll zu entsorgen. Wie hatte Andrej ihn genannt? Wertlos. Weil Constantin dank Zhaba so verletzt und ruiniert war, dass man nichts mehr mit ihm anfangen konnte und er selbst als männliche Zwangsprostituierte nichts taugte. Nur jemand, dessen Fantasien sich darum drehten, seinen Partner zu verstümmeln, würde bei Constantins Anblick nicht angewidert das Gesicht verzerren. Nach einer gefühlten Ewigkeit schaffte er es schließlich, mit dem Weinen aufzuhören, aber kaum waren seine Tränen getrocknet, betrat Ellen den Raum. „Iss langsam“, wies sie ihn an und stellte einen Teller mit einem Brötchen und ein paar anderen Sachen auf dem Tisch neben ihm ab. „Ich weiß nicht, wie es um deinen Körper steht, aber du müsstest essen können.“ „Warum wissen Sie das nicht? Ich meine... Sie sind doch Ärztin, oder?“ „Andrej hat gesagt, ich soll meine Zeit nicht mit dir ''verschwenden'' und mich lieber um Sascha kümmern, aber es gibt momentan leider nichts, das ich für den Jungen tun könnte.“ Ellen seufzte und wandte sich von Constantin ab, um den Raum wieder zu verlassen, als plötzlich Andrej direkt vor ihr erschien. Sie holte erschrocken Luft und fasste sich an die Brust. „Andrej! Willst du, dass ich einen Herzinfarkt bekomme?“ „Wenn du mich weiterhin provozierst, wird das deine geringste Sorge sein.“ „Ja, bedroh mich, das macht bestimmt alles gleich viel besser.“ „Ich will, dass du diesen Jungen in Ruhe lässt. Du verschwendest bloß deine Zeit mit ihm.“ „Ich habe ihm nur etwas zu essen gebracht. Das darf ich ja wohl. Der arme Junge ist nur noch Haut und Knochen.“ „Er wird nächste Woche sowieso nicht mehr leben. Ob er bis dahin verhungert, ist--“ Die Tür flog mit so einer Wucht gegen die Wand, dass Constantin erschrocken zusammenzuckte und Ellen das zweite Mal in die Nähe eines Herzinfarktes kam. Ilja stand im Türrahmen und sah alles andere als erfreut aus. „Was zur Hölle ist falsch bei dir?“, fauchte er Andrej an, der sich davon nicht beeindrucken ließ. „Da sitzt ein wehrloses Kind, das genug gelitten hat, und dir fällt nichts Besseres ein, als ihm ins Gesicht zu sagen, dass du ihn umbringen willst?!“ „Dann mach einen besseren Vorschlag.“ Ilja erwiderte nichts, sondern starrte sein Gegenüber empört und angewidert an. „Na los, ich warte. Was willst du mit ihm machen? Schau ihn dir an – er sieht wie eine Leiche aus. Völlig wertlos. Niemand hat eine Verwendung für ihn. Selbst unser Erzeuger würde ihn nicht annehmen.“ „Hör auf, über ihn zu reden, als wäre er ein Gegenstand. Er ist ein Mensch.“ „Wenn du bei jeder Person so einen Aufstand machen willst, hast du noch einen langen Weg vor dir, Tiro.“ Sowohl Constantin als auch Ellen hatten ein schlechtes Gefühl bei der Sache. Zu sehen, wie Andrej und Ilja sich angriffslustig anfunkelten, war als würde man beobachten, wie ein Hirsch es zum Schutz seiner Herde mit einem schwarzen Panther aufnahm. Auf dem ersten Blick erweckte das Raubtier den Eindruck, die besseren Karten zu haben, aber die spitzen Enden des in der Sonne glänzenden Geweihes wirkten auch nicht gerade ungefährlich. „Du hast meine Frage nicht beantwortet“, knurrte Andrej gereizt. „Nenn mir einen einzigen Grund, warum ich den verdammten Jungen verschonen sollte.“ „Überlass ihn doch einfach mir“, wich Ilja aus und hob den Kopf leicht. „Müsste doch kein Problem für dich sein, wenn er angeblich so wertlos ist.“ „Wenn du dir unbedingt noch mehr Verantwortung aufhalsen willst, bitte, nur zu.“ Andrej sah aus, als wäre er nur noch eine Haaresbreite davon entfernt, Ilja an die Kehle zu springen. „Tu, was du nicht lassen kannst.“ Er strafte ihn mit einem letzten herausfordernden Blick, ehe er sich von ihm abwandte und im Flur verschwand. Ellen folgte ihm unauffällig. Constantin wusste nicht, ob er sich freuen sollte. Einerseits war er seinem nahen Ende anscheinend fürs Erste entkommen, aber andererseits war er nun auf einen fremden Mann angewiesen, der aussah, als könnte er ihn mit Leichtigkeit zusammenschlagen. Es blieb also nur zu hoffen, dass Ilja anders als Zhaba war. 2. Kapitel ---------- Dass Constantin von ''wertlose Leiche'' zu ''wertlose Leiche, die Andrej in Ruhe lassen soll'' aufgestiegen war, hatte Ellen als Anlass genommen, den Jungen nicht nur in ihrem Haus wohnen zu lassen, sondern ihn auch zu behandeln. Er mochte zwar nicht so entstellt wie Sascha sein, aber sein Zustand war trotzdem miserabel. Anämie, Unterernährung und zahlreiche Blutergüsse waren erst der Anfang – als Ellen ein Röntgenbild von Constantin machte, fielen ihr mehrere Knochen auf, die aussahen, als wären sie gebrochen worden und fast verheilt. Als sie den Jungen darauf ansprach, begann dieser zu zittern und zu weinen. Das alles war genug, um Ellen zu schockieren, aber was sie wirklich vom Hocker riss, war etwas, das sie durch einen Zufall entdeckte, weil Constantin es nie erwähnt und gut versteckt hatte. Als sie nur wenige Stunden, nachdem Ilja und Andrej gegangen waren, das Zimmer des Jungen betrat, kam dieser gerade aus dem anliegenden Badezimmer... gekrochen. Auf seinen Händen und seinem linken Fuß, um genau zu sein. Constantin tat so, als sei nichts gewesen. Er krabbelte zu seinem Bett, hievte sich auf die Matratze und tat alles in seiner Macht Stehende, seinen rechten Fuß nicht zu belasten. „Hast du etwas dagegen, wenn ich mir das mal näher ansehe?“ Angesprochener nickte und sah Ellen an, als würde er befürchten, dass sie ihn beklaute. „Conny, so wird das nichts. Wenn du mir nicht sagst, was dein Problem ist, kann ich dir auch nicht helfen.“ „Ich habe kein Probl... ähm, ich meine... kein Problem, von dem Sie nichts wissen.“ „Und was ist mit deinem rechten Fuß?“ „Gar nichts.“ „Lass mich alleine“, sagte Constantins Miene, aber seine giftgrünen, verdächtig feuchten Augen sagten: „Bitte hilf mir. Ich habe starke Schmerzen.“ Obwohl Ellen wusste, dass Andrej sie später dafür rügen würde, befasste sie sich mit dem Jungen und versuchte ihn aus seiner Reserve zu locken. Es dauerte fast eine Stunde, aber das, was sie erfuhr, würde ihr sicherlich noch viele Jahre lang Albträume bescheren. Vor dem Tag, an dem Sascha zu Zhaba gekommen war, hatte die Kröte lange Nägel bis zur Hälfte in Constantins rechtem Fuß versenkt und ihn danach zum Laufen gezwungen, damit die Nägel sich vollständig durch seinen Fuß bohrten. „Ich komme mir wie in einem Horrorfilm vor“, murmelte Ellen leise, während sie mit allergrößter Vorsicht Constantins Fuß desinfizierte und verband. „Einen schlechten Horrorfilm. Die Art von Film, bei der das gesamte Budget für möglichst brutale Szenen auf den Kopf gehauen wird. Handlung, anständige Schauspieler, Spannungsaufbau und passende Musik fehlen, aber Hauptsache, alle fünf Sekunden kommt eine Stelle, bei der die Hälfte der Zuschauer in ihre Popcorntüte kotzen muss.“ Constantin hätte sich gerne ein wenig mit ihr unterhalten, aber alles, woran er denken konnte, war, dass Ellen die Stelle seines Körpers anfasste, die ihm in den letzten Tagen unbeschreibliche Qualen bereitet hatte. Er wollte ihr seinen Fuß entziehen, sich vor Schmerz und Panik die Seele aus dem Leib schreien und-- „Hast du sonst noch Wunden, von denen ich nichts weiß?“ „N-nein“, stammelte der Junge beklommen. „Gut. Ich werde jetzt ins Bett gehen. Sollte irgendetwas sein, wende dich einfach an den blonden Kerl, der durch die Flure schleicht. Das ist mein Mann.“ Ellen schenkte Constantin ein Lächeln, das er nicht erwidern konnte. Selbst im Notfall würde er sich nicht an diesen Mann wenden. Er hatte Angst vor Männern. Männer waren groß und kräftig und unheimlich und sie erinnerten ihn an Zhaba. „Ähm... bevor Sie gehen“, murmelte er zaghaft, „können Sie mir ein bisschen über Ilja erzählen? Wie ist er so?“ „Er ist Andrejs Halbbruder, wenn ich mich nicht irre. Sie haben den gleichen Vater und können ihn beide nicht ausstehen. Mir wurde gesagt, dass ich in seiner Nähe nicht gesprächig werden soll... er scheint noch nicht lange zu uns zu gehören. Ansonsten kann ich dir leider nicht viel sagen; ich kenne ihn kaum. Aber auf den ersten Blick wirkt er auf mich wie ein vernünftiger, junger Mann.“ „Okay... danke.“ „Du hast Angst vor ihm, nicht wahr?“ Constantin nickte. „Ich kann dich verstehen, aber an deiner Stelle würde ich ihm eine Chance geben. Ich halte ihn nicht für einen herzlosen Kerl. Falls dich das tröstet: Mir fallen auf Anhieb fünf Männer ein, mit denen du's viel schlimmer erwischt hättest.“ Am nächsten Morgen wachte Constantin gegen Mittag auf. Die ganze Nacht lang hatten ihn verschiedene Albträume geplagt und einmal hatte er sogar geträumt, dass Zhaba unter seinem Bett lauerte, aber das war nicht einmal das Schlimmste. Die Träume endeten, wenn er aufwachte, doch die Angst, dass Ilja dort weitermachen würde, wo die Kröte aufgehört hatte, blieb. Ellen hatte gesagt, dass Ilja ein netter Kerl war, aber Constantin konnte ihr nicht glauben. Es waren immer die scheinbar freundlichen und harmlosen Männer, in denen die Monster steckten. Außen schön, charmant und hilfsbereit, innen brutal und herzlos. Einige Männer von Zhaba, deren Bekanntschaft Constantin gerne aus seinem Gedächtnis streichen würde, waren das beste Beispiel dafür. Der Junge humpelte ins Badezimmer, machte sich frisch und testete neugierig aus, wie weit er seinen rechten Fuß belasten konnte, was sich als Fehler herausstellte. Ein grausamer Schmerz zuckte durch sein ganzes Bein und brachte ihn dazu, einen spitzen Schrei von sich zu geben. Constantin presste die Zähne aufeinander und wimmerte leise. Sich an der Wand abstützend verließ er das Badezimmer und wollte in sein Bett zurückkehren, als es plötzlich an der Tür klopfte und jemand ohne auf eine Antwort zu warten das Zimmer betrat. Es war Ilja. „Ich habe dich schreien hören“, sagte er. „Ist alles okay?“ Constantin nickte eingeschüchtert und musterte Ilja von oben bis unten. Der Kerl war bestimmt nur noch einen knappen Dezimeter davon entfernt, sich den Kopf an dem zwei Meter hohen Türrahmen zu stoßen, und sah aus, als würde er Wert auf ein gepflegtes Erscheinungsbild legen und regelmäßig Sport treiben. Mit seinen muskulösen Oberarmen war er in der Damenwelt sicherlich beliebt, doch Constantin bereitete die deutliche, aber nicht übertriebene Muskelmasse Angst. Mit so viel Kraft konnte man eine Menge Schaden anrichten. „Wie geht es dir?“, fragte Ilja und ließ sich auf einem der beiden Stühle neben dem kleinen Tisch nieder. Constantin gefiel es, dass der Ältere Abstand hielt, aber solange er den Raum nicht verließ, konnte der Junge sich nicht von der Stelle rühren. Er wollte nicht, dass Ilja erkannte, wie verletzt und wehrlos Constantin war. „M-mir geht es gut. Wieso fragen Sie?“ „Weil Andrej möchte, dass du...“, Ilja kratzte sich am Kinn und überlegte, wie er die aggressive Tirade seines Halbbruders in freundlichere Worte fassen konnte, „... möglichst bald entlassen wirst.“ Constantin senkte schweigend den Blick und klammerte sich an die kalte Wand. „Nimm das nicht persönlich“, fügte Ilja hinzu. „Es ist wegen Sascha. Andrej wollte ihn beschützen, aber hat leider durch ein Versehen das genaue Gegenteil bewirkt und... das ist nur eine Vermutung, aber ich denke, dass er jedes Mal, wenn er dich sieht, an seinen Fehler erinnert wird. Und wahrscheinlich will er, dass du dich aus den gleichen Gründen von Sascha fernhältst.“ „W-wie lange darf ich noch hierbleiben?“ „Mach dir darum keine Sorgen. Ich werde mit Andrej reden und dafür sorgen, dass du so viel Zeit bekommst, wie du brauchst.“ „Und... danach?“ „Danach kommst du fürs Erste zu mir. Ich bin zwar kein Arzt, aber ich müsste mich um dich kümmern können. Notfalls bitte ich Ellen um Rat.“ „Und was haben Sie dann mit mir vor?“ Ilja runzelte irritiert die Stirn. „Sorry, ich verstehe die Frage nicht.“ „Ich möchte wissen, was sie mit mir machen wollen“, sagte Constantin ängstlich zitternd. „Ob Sie mich in ein Bordell stecken, meine Organe verkaufen wollen oder... keine Ahnung. Ich kenne mich damit nicht aus.“ Ilja schien sich nicht sicher zu sein, ob Constantin das ernst meinte oder nicht. Er zögerte kurz, ehe er antwortete: „Ich habe nichts dergleichen mit dir vor.“ „Schon okay, Sie müssen mich nicht anlügen. Ich kann eh nicht fliehen.“ „Ich lüge dich nicht an.“ „Tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht vertrauen. Sie wirken nett, aber wahrscheinlich sind Sie in Wirklichkeit ein Kinderschänder, der mich--“ „Constantin“, sagte Ilja in einem harten Ton, woraufhin der Junge zusammenzuckte, als wäre er geschlagen worden. „Ich kann verstehen, dass du misstrauisch bist, aber ich möchte dich nachdrücklich bitten, nicht mit diesen Anschuldigungen um dich zu werfen. Ich bin kein Kinderschänder.“ Constantin rutschte langsam an der Wand herab und kam unsanft auf dem Boden auf, wo er sich zusammenkrümmte und schützend die Hände über den Kopf hielt. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie Zhaba ihm für eine Beleidigung mehrere Knochen gebrochen hatte. Das widerliche Knacken und der darauffolgende Schmerz – es war alles noch präsent. „Tut mir leid“, sagte Ilja reuevoll, als er die Reaktion des Jungen sah. „War ich zu grob?“ Der Kleine antwortete nicht, sondern winselte leise. Sein Körper war mit einer Boxershorts und einem T-Shirt gekleidet und in zahlreiche Verbände und Pflaster gehüllt. Er sah aus, als wäre er zehnmal unter ein Auto geraten. Ilja wollte ihm tröstend über den Kopf streichen, aber er wusste, dass unerwarteter Körperkontakt das Letzte war, das Constantin nun weiterhelfen könnte. „Ich glaube, ich werde jetzt zu Ellen gehen“, sagte er und machte sich zur Tür auf. „Bis gleich, Kleiner.“ Er verließ das Zimmer und ging zu Ellen, die in ihrem Büro saß und gegen eine Unmenge Papierkram ankämpfte, der nicht nur ihren Schreibtisch, sondern auch einige Stellen des Bodens belagerte. „Hast du kurz Zeit?“, fragte er, nachdem er gegen die geöffnete Tür geklopft hatte. „Klar, komm rein.“ Ellen legte seufzend ihre Brille zur Seite und nutzte einen der Stapel als Hocker für ihre Füße. „Es geht um Constantin, nicht wahr?“ „Ja. Wie ist sein Zustand? Denkst du, er kann bald gehen?“ „Falls du das wortwörtlich meinst: Nein, er kann nicht gehen. Sein Fuß wird Wochen oder sogar Monate zum Verheilen brauchen, aber wenigstens hatte ich nicht die Ehre, Knochensplitter aus seinem Fleisch zu ziehen. Er hat also Glück gehabt... wenn man das so sagen kann.“ „Oh Gott.“ „Und davon abgesehen wiegt er zu wenig. Vierzig Kilo bei einer Größe von 166 Zentimetern ist etwas, das dich ins Krankenhaus bringen kann und wahrscheinlich auch wird. Aber mach dir keine Sorgen; Sascha hat ein ähnliches Problem. Ich habe für Andrej einen detaillierten Essensplan erstellt, der Sascha beim gesunden Zunehmen helfen soll, und wenn du möchtest, kannst du gerne eine Kopie davon haben.“ „Danke, das wäre wirklich hilfreich.“ „Ansonsten... Constantin geht es schlecht, aber rein theoretisch könnte er jetzt schon zu dir nach Hause, wenn dafür gesorgt ist, dass er Bettruhe bekommt und jemanden hat, der sich um ihn kümmert.“ „Okay. Dann werde ich ihn diese Woche mitnehmen; ich frage ihn gleich, wann es ihm am liebsten wäre. Danke für deine Hilfe.“ Mit diesen Worten verließ Ilja das Büro und kehrte zu Constantin zurück, der in der Abwesenheit des Älteren ins Bett gekrochen war und sich einigermaßen wieder beruhigt hatte, aber immer noch gelegentlich zitterte. „Hey... ich habe mit Ellen geredet. Sie meint, du wärst fit genug, um entlassen zu werden“, sagte Ilja und lehnte sich gegen den Türrahmen. „He-heißt das... wir werden jetzt schon gehen?“ „Nur wenn du das möchtest.“ „I-ist es auch okay, wenn... wenn ich erst morgen...?“ „Morgen bin ich beschäftigt, aber nicht den ganzen Tag lang. Ich kann dich erst am Abend abholen. Ist das okay?“ Constantin nickte schüchtern, woraufhin Ilja sanft lächelte. „Gut. Dann bis morgen.“ Kaum war Ilja verschwunden, verkroch sich Constantin unter der Decke und dachte fieberhaft darüber nach, wie er seinem Schicksal entkommen könnte. Es war ihm egal, wie nett Ilja zu sein schien, er konnte ihm nicht trauen. Hinter dem charmanten Lächeln lauerte wahrscheinlich ein skrupelloses Monster, das nur darauf wartete, dass es mit dem hilflosen Jungen alleine war. Und dann-- Constantin erschrak fast zu Tode, als er hörte, wie jemand die Tür zu seinem Zimmer öffnete. Zuerst dachte er, dass Ilja zurückgekommen war, aber als er unter der Decke hervorlugte, konnte er Ellen sehen, die ihm seine Mahlzeit brachte und nicht hinterfragte, dass er sich wie ein kleines Kind verhielt, das sich vor den Monstern unter seinem Bett zu verstecken versuchte. Wortlos stellte sie das Tablett auf dem Tisch ab, ehe sie das Zimmer wieder verließ und die Tür hinter sich schloss. Zögernd traute sich Constantin unter der Decke hervor. Was Ellen ihm da gebracht hatte, roch wie Bliny, ein Gericht, das Mom oft zubereitet hatte – früher, als Constantin noch beide Eltern und zwei Geschwister gehabt hatte und das Leben noch in Ordnung und nicht eine Mischung aus Panikattacken und Schmerzen war. Vorsichtig humpelte der Kleine zum Tisch und begann zu essen. Der vertraute Geschmack erinnerte ihn an die Sonntage, an denen er mit seinen Geschwistern lustige Cartoons im Fernsehen geschaut und danach Bliny zum Mittagessen verzehrt hatte. Während Dad sich über die Politik und die Wirtschaft beschwert und Mom gelegentlich genickt hatte, obwohl sie ihm gar nicht zuhörte, waren Constantins jüngere Schwester und noch jüngerer Bruder damit beschäftigt gewesen, über ihre Lieblingssendungen zu reden. Alles war so simpel und friedlich gewesen... und jetzt saß Constantin alleine am Tisch, vier leere, stille Plätze neben ihm. Bereits während des Essens begann er zu weinen. Nachdem er fertig war, legte er sich wieder ins Bett, wo er die nächsten Stunden damit verbrachte, sich die Augen aus dem Kopf zu weinen und an all die Dinge zu denken, die er verloren hatte. Zwischendurch schlief er gelegentlich ein, aber Albträume, die meistens davon handelten, dass Zhaba erschien und Constantin auf brutalste Art und Weise verstümmelte, rissen ihn aus dem Schlaf und bescherten ihm nicht selten eine Panikattacke. Constantin wollte schreien. Vor Angst, aber auch vor Zorn. Er wollte etwas in Zhabas hässliches Gesicht werfen. Mit voller Wucht. Er wollte ihm die gelblichen Zähne ausschlagen und-- „Conny?“ Der Junge zuckte zusammen und kam unter seiner Bettdecke hervor, unter der er die ganze Nacht und auch fast den ganzen Tag verbracht hatte. Seine blasse Haut war von einer dünnen Schicht aus Tränen und Schweiß bedeckt und er zitterte leicht. „Ilja hat mich gerade angerufen“, sagte Ellen und betrachtete den Jungen besorgt. „Er meinte, er wäre in einer halben Stunde hier, um dich abzuholen.“ „A-aber... es ist doch noch gar nicht Abend... oder?“ Ellen schaute dezent irritiert auf ihre Uhr. „Es ist kurz vor neun.“ „Oh... okay, danke. I-ich mach' mich gleich fertig.“ „Nicht so schnell, Kurzer. Wenn du irgendetwas hast, bei dem du meine Hilfe brauchst, solltest du das jetzt sagen. Das könnte fürs Erste deine letzte Gelegenheit sein.“ „D-das ist nett von Ihnen, aber... es geht mir gut. Ich komm' schon klar.“ „Gut, wie du meinst“, erwiderte Ellen, ehe sie in den Flur ging und Constantin sich selbst überließ, der ins Badezimmer humpelte und mit einem feuchten Waschlappen vorsichtig seine Haut reinigte. Nachdem er sich das Gesicht gewaschen und mit den Fingern seine erdbeerblonden Haaren geordnet hatte, kehrte er zum Bett zurück und setzte sich auf die Kante. Seine knochigen Füße baumelten in der Luft; auf dem linken konnte er jede noch so kleine Sehne deutlich sehen, der rechte war in Verbände gehüllt. Unruhig krallte Constantin seine dürren Hände in das weiche Laken. Er starrte betrübt auf den Linoleumboden und dachte über alle potenziellen Straftaten nach, die Ilja an ihm ausüben könnte. Er wusste, dass es weder fair noch logisch war, ihm diese Dinge zu unterstellen, aber... wer garantierte ihm, dass Ilja wirklich harmlos und unschuldig war? Es dauerte nicht lange, bis jener Russe in Ellens Villa erschien und gegen den Türrahmen von Constantins Zimmer klopfte. Der Junge sah ihn nicht an, sondern starrte auf den Boden und hob den Blick erst, als Ilja direkt vor ihm stand und die Arme nach ihm ausstreckte. „N-nicht“, murmelte er ängstlich und wandte den Oberkörper nach rechts ab. „Ellen hat mir erzählt, dass du nicht laufen kannst“, erklärte Ilja geduldig. „Ist es okay, wenn ich dich trage?“ Constantin zögerte. Das mit Abstand Letzte, das er jetzt wollte, war seinen Körper gegen den von Ilja zu pressen, aber er hatte keine andere Wahl. Außerdem würde der Ältere seinen Willen früher oder später sowieso durchsetzen, weshalb es eigentlich egal war, ob Constantin sich wehrte oder nicht. „S-seien Sie vorsichtig“, stammelte er nervös, woraufhin sich zwei große Hände um seinen Brustkorb legten und ihn hochhoben. Er wurde sachte gegen Iljas Oberkörper gedrückt und ein Unterarm legte sich unter sein Gesäß, um ihn zu stützen. „So in Ordnung?“ Constantin nickte zaghaft. Sein ganzer Körper zitterte vor Angst und Unwohlsein. Beklommen krallte er sich in Iljas helle Jacke und spürte, wie der Hellblonde ihn nach draußen trug, wo es nicht nur dunkel, sondern auch kalt war. Eisig kalt sogar. Noch eisiger als Iljas eisblaue Augen. 3. Kapitel ---------- Constantin hatte aus irgendeinem Grund angenommen, dass Ilja ein hohes Tier in seiner Familie und deswegen sehr mächtig und stinkreich war, aber sein Auto war keine protzige Karre, die viele Männer in ihren wildesten Träumen fuhren, sondern ein gewöhnlicher Wagen, der mit seiner silbernen Farbe kaum auffiel. Innen roch es ein wenig nach weiblichem Parfüm; wahrscheinlich stammte es von der gleichen Frau, die auch ein langes Haar hier hinterlassen hatte. Es haftete an der rechten Seite des Beifahrersitzes, auf dem Constantin vorsichtig abgesetzt wurde. Während Ilja ebenfalls in das Auto stieg, schnallte der Junge sich an und starrte stumm auf seine Hände, die er auf seinem Schoß abgelegt hatte. Sein ganzer Körper zitterte vor Kälte und Angst. In seinen Gedanken spielte er bereits das Szenario durch, dass Ilja ihn zu einem perversen Sack bringen, einen dicken Geldbündel erhalten, wegfahren und danach nie wieder auftauchen würde. „Soll ich die Heizung anmachen?“ Obwohl Ilja in einem normalen Ton gesprochen hatte, zuckte Constantin zusammen, als wäre er angeschrien worden. „M-mir egal“, wisperte er ängstlich und krallte nervös die Hände ineinander. Ilja drehte die Heizung auf die zweithöchste Stufe und beschloss, den Kleinen in Ruhe zu lassen, bei dem seine Absichten, die eigentlich guter Natur waren, nur für unnötigen Stress sorgten. Constantin versuchte mit aller Kraft sein Zittern zu unterdrücken und starrte gedankenverloren aus dem Fenster. Supermärkte, verschiedene Läden und Häuser rauschten an ihm vorbei. Eines der Gebäude war besonders groß und schien eine Universität zu sein, aber Constantin war viel zu sehr mit seiner Angst beschäftigt, um darüber nachzudenken. Er beobachtete stumm, wie Ilja durch ein Viertel fuhr, in dem anscheinend ärmliche Verhältnisse herrschten, und dachte darüber nach, wie weit es wohl noch zu seiner Villa war, als der Ältere plötzlich auf einen großen Parkplatz abbog und neben einem dunkelgrauen Auto parkte, das einen Besuch beim TÜV dringend nötig hatte. Sein Lack war mit zahlreichen Kratzern übersät und der linke Seitenspiegel fehlte. „W-was machen wir hier?“ „Siehst du das Hochhaus dort?“, erwiderte Ilja und deutete auf einen großen Betonklotz auf der anderen Straßenseite. „Da wohne ich... noch. Das wird sich demnächst ändern.“ Er stieg aus, umrundete das Auto und öffnete die Tür des Beifahrers, woraufhin sofort die eisige Luft ins Innere des Fahrzeuges strömte. Constantin konnte ein Erschauern nicht unterdrücken. Ilja zog seine beige Jacke aus und legte sie um den Jungen, ehe er ihn vorsichtig hochhob, das Auto abschloss und sich auf den Weg nach Hause machte. Der Kleine ergriff zögernd die Kapuze und zog sie sich so tief ins Gesicht, dass sie ihn vollständig verschluckte. Das verlieh ihm das Gefühl von Sicherheit; wenn er andere Menschen nicht sehen konnte, konnten sie ihn auch nicht sehen. Mit einem abgemagerten und in Verbände gewickelten Jungen auf dem Arm, der so leicht war, dass er den Eindruck erweckte, eine lebensgroße Puppe zu sein, betrat Ilja das Hochhaus und stieg in den Fahrstuhl. Er verließ ihn auf der neunten Etage und steuerte auf sein Apartment zu, das hinter der zweiten Tür der rechten Seite lag. Seine Hand glitt in seine Hosentasche, um nach dem Schlüssel zu angeln, als plötzlich ein lauter Knall ertönte und die Wände wackelten. Ilja ließ vor Schreck den Schlüssel fallen. Wie sich herausstellte, kam der unerwartete Laut von Iljas Nachbarin, eine alte, verrückte Frau, die rechts neben ihm wohnte, also hinter der ersten Tür auf der rechten Seite. Sie trug einen dunklen Morgenmantel, zwei alberne Häschenpantoffeln und eine Kette voller dicker Klunker um den Hals. Mehrere Lockenwickler hingen mehr schlecht als recht in ihren grauen Haaren und auf ihrem Gesicht lag eine Miene, die nur so vor Hass und Abscheu strotzte. „Junger Mann, schön dich zu sehen“, zischte sie mit zusammengekniffenen Augen und ignorierte, dass ihre Tür, die sie gerade eben mit voller Wucht aufgerissen und gegen die Wand geknallt hatte, immer noch leicht zitterte. „Ich habe ein ernstes Wörtchen mit dir zu reden.“ „Ich weiß“, erwiderte Ilja, obwohl er keine Ahnung hatte, was er diesmal schon wieder falsch gemacht hatte. „Aber kann das bitte bis morgen warten? Ich--“ „Nein, kann es nicht! Wie oft muss ich dir noch sagen, dass Blechdosen nicht in den Biomüll gehören?“ „Und wie oft muss ich Ihnen noch sagen, dass diese Blechdosen nicht von mir kommen?“, imitierte er sie leicht gereizt. „Ich kaufe keine und selbst wenn--“ „Ihr Studenten seid doch alle gleich“, keifte die Frau und fuchtelte wütend mit ihrem faltigen Zeigefinger in der Luft herum. Sie redete darüber, wie sehr sie Studenten verabscheute, und benutzte Wörter, die man wahrscheinlich zum letzten Mal verwendet hatte, als Russland noch ein Zarentum gewesen war, aber Ilja hörte ihr gar nicht zu. Seine Aufmerksamkeit galt voll und ganz dem kleinen Häufchen Elend, das sich bei dem Knall fast zu Tode erschrocken hatte und nun wie Espenlaub zitterte. Ilja legte schützend eine Hand auf den knochigen Rücken und sah genervt zu seiner Nachbarin, die es irgendwie geschafft hatte, innerhalb einer halben Minute vollkommen vom Thema abzukommen. „... und deswegen sollte man Postboten niemals Trinkgeld geben!“ Wortlos ließ sich Ilja auf die Knie nieder, um seinen Schlüssel aufzusammeln, ehe er die Tür aufschloss und fluchtartig in seiner Wohnung verschwand. Dass er einen immer noch zitternden Jungen mit sich herumtrug, schien die Nachbarin komischerweise nicht gestört zu haben. „Du hattest soeben die Ehre, meine wundervolle Nachbarin kennenzulernen“, sagte er und setzte Constantin auf dem Sofa ab, auf dem einige Decken und Kissen lagen. „Sie beschwert sich über alles und jeden und es gibt nichts, das sie zufriedenstellen könnte. Am besten ignorierst du sie einfach.“ Humor schien bei Constantin nicht zu funktionieren. Der Kleine presste ängstlich die Beine zusammen und hielt sich krampfhaft die Kapuze über das Gesicht, als befürchtete er, dass Ilja sie ihm gewaltsam vom Kopf reißen wollen würde. „Hey... sie ist weg.“ Er versuchte, Constantins Hände behutsam von dem Saum zu lösen, aber das führte nur dazu, dass der Junge ein klägliches Wimmern von sich gab. „Diese Jacke trage ich bei jedem Wetter. Möchtest du vielleicht etwas haben, an dem nicht der halbe Winter hängt?“ „...“ „Warte kurz hier.“ Mit diesen Worten wandte er sich von dem Jungen ab und ging ins Schlafzimmer. Kaum war er hinter dem Türrahmen verschwunden, lugte Constantin unter der Kapuze hervor und sah sich um. Er hockte in einem kleinen Wohnzimmer, in dem ein Sofa, ein alter Sessel, aus dem hinten eine Feder herausragte, und einige Kartons standen. Letztere waren ordentlich an die Wand geräumt worden, damit sie in dem winzigen Raum nicht im Weg stan-- Ilja kehrte zurück. Constantin presste sich reflexartig die Kapuze auf das Gesicht und das so feste, dass er kaum atmen konnte. Die Kapuze roch nach Ilja und nach Regen. „Hier.“ Etwas Weiches berührte Constantins Handrücken. Während er mit der rechten Hand immer noch sein Gesicht verdeckte, griff er mit der linken vorsichtig nach dem Gegenstand, der ein weißer, nach Waschmittel riechender Pullover war. „Ich hoffe, dir macht es nichts aus, auf dem Sofa zu schlafen. Ich lebe eigentlich alleine und bin auf einen Gast nicht vorbereitet.“ Constantin erwiderte nichts, sondern ließ zögernd die beige Kapuze los und klammerte sich stattdessen an den Pullover. „Ich nehme dir die Jacke jetzt weg, okay?“ Erneut gab er keine Antwort. Ilja zog die Jacke vorsichtig von dem zierlichen Körper und hing sie an den Kleiderhaken neben der Eingangstür. „Ich werde jetzt ins Bett gehen. Mach es dir ruhig gemütlich. Das Badezimmer ist dort, falls du es brauchst. Gute Nacht.“ Er verließ den Raum, machte das Licht aus und ließ die Tür zum Schlafzimmer einen dünnen Spalt breit offen, damit ein schmaler Lichtstrahl ins Wohnzimmer schien. Constantin sah ihm beklommen hinterher und wartete einige Minuten, ehe er sich langsam ein wenig entspannte und den Pullover nicht mehr in sein Gesicht, sondern gegen seine Brust presste. Erst als Ilja im Schlafzimmer zur Ruhe gekommen war und das letzte Licht ausgeschaltet hatte, fühlte Constantin sich sicher. Er zog den Pullover an, hüllte sich in zwei Decken, nutzte eine dritte, um sie wie ein Zelt über die Rückenlehne des Sofas und ein paar Kissen zu spannen und baute sich eine kleine Höhle, um wenigstens so tun zu können, als wäre er vor Ilja in Sicherheit. Bis jetzt schien der Ältere nett zu sein, aber Constantin konnte dem Frieden nicht trauen. Der nächste Morgen begann damit, dass in einem der benachbarten Apartments ein Streit zwischen einer Frau und einem Mann ausbrach, die vermutlich ein Ehepaar waren. Wütende Schreie halten durch die ganze Etage und rissen jeden, er nicht auf beiden Ohren taub war, aus dem Schlaf, inklusive Constantin, der es überhaupt nicht mochte, Erwachsene schreien zu hören. Aggressiv klingende Stimmen waren für ihn wie ein Warnschuss oder ein Versprechen, dass er die nächsten Stunden in unbeschreiblichen Schmerzen verbringen würde. Der Kleine krabbelte unter sein Zelt, presste sich beide Hände auf die Ohren und hoffte, dass die beiden Streithähne sich woanders die Lungen wund schreien würden, aber es schien mit jeder Minute schlimmer zu werden. Ängstlich zitternd griff er nach einem Kissen und drückte es gegen seine Brust, während ihm stumme Tränen aus den giftgrünen Augen flossen. Er konnte es sehen – gleich würde die Tür auffliegen und die Kröte den Raum betreten. In ihrer Hand hielt sie eine schwer aussehende Metallstande, die sie bedrohlich durch die Luft schwang, ehe sie sie mit beiden Händen umfasste, weit ausholte, sie auf den Jungen niedersausen ließ und-- „Constantin?“ Eine blasse Hand schob die Decke zur Seite, aus welcher der Kleine sich ein Zelt gebaut hatte, und gab den Blick auf ein kleines Häufchen Elend frei, das sich wie ein Embryo zusammenkrümmte und mit tränennassen Augen auf einen unsichtbaren Punkt an der Wand hinter Ilja starrte. Der Ältere drehte sich um und hielt nach etwas Ungewöhnlichem Ausschau, aber das einzige Nennenswerte war das immer noch andauernde Geschrei seiner Nachbarn. „Du magst es nicht, wenn Leute schreien, hm?“ Er ging in die Hocke, umfasste vorsichtig Constantins linke Hand und rieb noch vorsichtiger mit dem Daumen über den Handrücken, auf dem man jede Sehne und jede Ader deutlich sehen konnte. „Ich kenne die beiden Spinner. Sie sind vollkommen harmlos, auch wenn sie sich ständig streiten.“ Von Constantin kam keine Reaktion. Sein zierliches Händchen fühlte sich kalt und knochig an. „Ich rede mal mit ihnen, okay?“ Gerade als Ilja sich erheben und dem Jungen seine Hand entziehen wollte, griff dieser plötzlich zu und schlang seine dürren Fingerchen um den Zeige- und Mittelfinger des Hellblonden, der innehielt und nicht so recht wusste, was er nun tun sollte. Einerseits wollte er hierbleiben und gemeinsam mit Constantin darauf warten, dass die zwei Schreihälse endlich zur Ruhe kamen, aber andererseits hätte er auch gerne bei ihrer Wohnung vorbeigeschaut und ihnen die Meinung gegeigt. Klar, sie konnten nicht wissen, dass sich hier ein traumatisierter Junge aufhielt, aber es gab auch so keinen Grund, alle Bewohner am Schlafen zu hindern. „Sie scheinen sich beruhigt zu haben“, sagte Ilja, als das Ehepaar endlich aufhörte. „Ich gehe jetzt kurz raus und komme in einer halben Stunde wieder, okay? Selbst wenn die beiden wieder anfangen – sie haben keinen Schlüssel zu dieser Wohnung und wollen auch nichts von dir. Versuch, sie zu ignorieren.“ Er stand auf, nahm sich seine Jacke und verließ nach einem besorgten Blick Richtung Constantin, der sich immer noch nicht vom Fleck gerührt hatte, die Wohnung. Das Schloss rastete hinter ihm ein, woraufhin Stille herrschte. Das Einzige, was noch zu hören war, war Constantins wild schlagendes Herz. Der Kleine richtete sich schüchtern auf und krabbelte ins Badezimmer, wo er sich das Gesicht wusch und sein erdbeerblondes Haar mit den Fingern zu durchkämmen versuchte. Er würde gerne duschen oder baden gehen, aber es wäre ungünstig, wenn seine Wunden und Verbände mit Wasser in Berührung kämen. Und Constantin würde lieber sterben, als Ilja um Hilfe zu bitten. Missmutig starrte er sein Spiegelbild an. Früher war er ein attraktiver Junge mit blasser Haut und leicht gewellten Haaren gewesen, wegen deren hübscher Farbe ihn viele Schüler beneidet hatten, aber jetzt stand an seiner Stelle nur noch diese verstümmelte und entstellte Leiche mit ihrer gräulichen, von unzähligen Narben übersäte Haut und diesem Vogelnest, das einen dreckigen Rotton angenommen hatte. Constantin sah einfach nur furchtbar aus und so fühlte er sich auch. 4. Kapitel ---------- Als Ilja zurückkehrte, fiel ihm sofort auf, dass Constantin nicht mehr auf der Couch im Wohnzimmer saß. Er stellte die Brötchentüte, den Orangensaft und die anderen Lebensmittel, die er eingekauft hatte, auf dem Tisch in der Küche ab, ehe er sich Schuhe und Jacke auszog und nach Constantin suchte, was dank der geringen Größe seiner Zweizimmerwohnung nicht lange dauerte. „Alles okay, Kleiner?“ Der Junge antwortete nicht. Er lag neben einem Haufen getragener Wäsche im Badezimmer und drehte Ilja den Rücken zu. Sein ganzer Körper war in den weißen Pullover gehüllt; nur unten schaute ein Paar sehniger Füßchen heraus. Ilja besaß die unschöne Vermutung, dass der Kleine zusammengebrochen war und sich möglicherweise verletzt hatte, aber als er ihn vorsichtig an der Schulter rüttelte, hob Constantin den Kopf und sah betrübt auf den gefliesten Boden. Ihm schien es gut zu geh-- also... nicht schlechter als sonst zu gehen. „Alles in Ordnung?“, fragte Ilja besorgt und wischte dem Jüngeren vorsichtig die Tränen von der Wange. „Ist irgendetwas passiert?“ Von Constantin kam immer noch keine Antwort. Auch als Ilja ihn fragte, ob es okay wäre, wenn er ihn zurück ins Wohnzimmer tragen würde, reagierte er nicht, weshalb der Größere ihn schließlich hochhob und zur Couch brachte, auf der er ihn behutsam absetzte. „Ich werde jetzt das Frühstück vorbereiten und dich dann holen, einverstanden?“ Constantin nickte zögernd, woraufhin Ilja sich von ihm abwandte, in der Küche mit Geschirr klirrte und wenige Minuten später wiederkam, um den Jungen an den gedeckten Tisch zu tragen. Der Kleine ließ seinen Blick über das Essen schweifen, ehe er nach unten zu seinen knochigen Händen sah. Ihm war es ein Rätsel, wie Ilja bei dem Anblick dieses entstellten Körpers noch nicht seinen Appetit verloren hatte. „K-kann ich Sie mal etwas fragen?“ „Jederzeit. Und sag ruhig Du zu mir, das ist einfacher.“ Constantin knetete unruhig seine Hände. Obwohl Ilja nur so vor Freundlichkeit strotzte, hatte er trotzdem die Befürchtung, gleich eine Ohrfeige zu bekommen, vom Stuhl geschubst und getreten zu werden. „Warum hilfst du mir? Ich... es gibt nichts, was ich dir als Gegenleistung geben könnte.“ „Weil es ziemlich unmenschlich wäre, dir nicht zu helfen. Ich kann doch nicht tatenlos zusehen, wie Andrej darüber redet, dich umzubringen.“ Bei der Erwähnung von Iljas Halbbruder musste Constantin sofort an Sascha denken. Wie hatte er ihn bloß vergessen können? „Weißt du, wie es Sascha geht?“ „Ich habe gehört, dass er gestern zu sich gekommen ist. Andrej tut so, als wäre das nichts Besonderes, aber man merkt, dass das nur eine Fassade ist. Er hätte wahrscheinlich heulen können vor Freude.“ „Glaubst du, Sascha geht es bei Andrej gut? Ich meine...“ „Gerüchten zufolge ist er eine ganz andere Person, wenn er mit Sascha alleine ist. Ich weiß es ehrlich gesagt nicht; wir kennen uns erst seit 'nem Monat, glaube ich.“ Constantin, der währenddessen versucht hatte, den Orangensaft zu öffnen, und kläglich daran scheiterte, weil ihm die nötige Kraft fehlte, hielt inne und sah verdutzt zu Ilja. „Aber... ihr seid doch verwandt, oder nicht?“ Ilja schmunzelte, als müsste er an eine lustige Erinnerung denken, nahm Constantin die Saft aus der Hand, öffnete ihn und schüttete ihn für den Jungen in ein Glas. „Vor etwa einem Monat war ich noch ein ganz normaler Student. Außer dass ich meinen Vater damals noch nicht kannte und meine Mutter todkrank im Krankenhaus lag, gab es nichts Außergewöhnliches über mich zu berichten.“ Constantin nahm sich ein Schokobrötchen und hörte gespannt zu. „Eines Tages stand dann ein fremder Mann vor meiner Tür. Er sah aus wie ich, nur ein Vierteljahrhundert älter, und er wollte mir weismachen, dass er mein Vater sei. Natürlich habe ich ihm nicht geglaubt. Ich dachte, dem Kerl wäre einfach nur langweilig und er hätte sich zum Spaß ein Paar Kontaktlinsen und eine Packung Haarfärbemittel gekauft, um sich als mein Vater auszugeben. Also habe ich ihn gebeten, zu gehen, aber er wollte nicht auf mich hören. Keine Minute später stand er in meinem Wohnzimmer und hat sich über meine Wohnung beschwert. Ich war echt so kurz davor, die Polizei zu rufen, als er mir plötzlich Dinge erzählte, von denen eigentlich niemand etwas wissen konnte, nicht einmal meine engsten Freunde.“ Ilja seufzte und nippte an seinem Kaffee. „Er hat mir einen dicken Batzen Geld geschenkt, obwohl ich mehrmals gesagt habe, dass ich das nicht will, und ist dann wieder gegangen, mit der Warnung, dass er zurückkommen würde. Komischerweise war das der gleiche Tag, an dem ich erfahren habe, dass der Zustand meiner Mutter sich drastisch verschlechtert hatte.“ „Denkst du, er hatte etwas damit zu tun?“ „Nein. Er hat ihren Tod nicht beschleunigt, aber auf ihn gewartet, damit er den Zeitpunkt erwischte, an dem ich am einfachsten zu manipulieren war. Bei seinem nächsten Besuch brachte er nicht nur noch mehr Geld, sondern auch Andrej mit. Was die beiden von mir verlangten, weiß ich nicht mehr; ich habe damals bloß meine Ruhe gewollt, weil es mir nach Moms Tod echt dreckig ging.“ Constantin sah, dass Ilja mühevoll die verdächtige Feuchte aus seinen geisterhaft blauen Augen blinzelte, und beschloss, nicht näher auf das Thema einzugehen. Das, was er gerade über den Älteren erfahren hatte, erklärte auch, warum er in dieser spärlichen Wohnung lebte. „Ich hoffe, Sascha geht es bald besser“, murmelte Constantin und senkte schüchtern den Blick. „Ähm... ich weiß, dass das eine komische Bitte ist, aber... kannst du mir Deutsch beibringen?“ „Würde ich gerne machen, aber ich kenne kein einziges Wort dieser Sprache. Englisch ist für mich schon schlimm genug.“ Die restliche Zeit ihres Frühstücks verbrachten die beiden schweigend. Als Ilja das Geschirr abräumte, hätte Constantin ihm gerne geholfen, um sich als nützlich zu erweisen, aber er konnte wegen seinem Fuß nicht einmal aufrecht stehen, weshalb ihm nichts anderes übrig blieb, als sich nervös in die Lehne des Stuhles zu krallen und zu warten. Nachdem Ilja fertig war, hob er Constantin hoch und trug ihn zurück ins Wohnzimmer, wo er ihn nicht auf dem Sofa absetzte, sondern nachdenklich zur Tür sah, die ins Bad führte. „Hm? Was ist los?“, fragte der Junge unruhig, der sich wie ein hilfloses Kleinkind vorkam. „Ich habe heute den ganzen Tag Zeit. Was hältst du davon, wenn wir dich baden und ein bisschen auf Vordermann bringen?“ „I-ich... ich weiß nicht. Was ist m-mit meinen Verbänden?“ „Die machen wir ab und danach bekommst du neue, okay? Die alten haben sich doch eh schon gelöst.“ Constantin versteckte sein Gesicht, indem er seine Stirn gegen Iljas Schulter lehnte, und begann zu zittern. Er konnte nicht erkennen, ob der Ältere sich wirklich um ihn kümmern wollte oder ob er bloß nach einer Gelegenheit suchte, den Jungen nackt zu sehen. Und wer weiß; vielleicht wird er bei dem Anblick meines entblößten Körpers seine Fassade fallen lassen, sich auf mich stürzen und-- „Hey.“ Eine warme Hand legte sich auf Constantins Schulter. „Wenn du das nicht möchtest, musst du es nur sagen. Ich werde dich nicht zwingen.“ „Bitte lass mich runter.“ Ilja tat, worum der Kleine gebeten hatte, und setzte ihn vorsichtig auf dem Sofa ab. Er wollte gerade fragen, ob er sich wenigstens um seine Haare kümmern durfte, als jemand gegen seine Tür klopfte. „Wer ist das?“, fragte Constantin schüchtern. „Die Frau von gestern?“ „Keine Ahnung. Ich erwarte eigentlich niemanden“, antwortete Ilja und wandte sich von dem Jungen ab, der hastig von der Couch kletterte und sich hinter ihr versteckte. Sein Gespür sagte ihm, dass dort im Flur nichts Gutes lauerte. Ilja öffnete die Tür und gab die Sicht auf eine junge Frau frei, die ungefähr in seinem Alter und einen halben Kopf kleiner als er war. Sie besaß dunkle Haare, helle Augen und eine auffällige Brandnarbe an der linken Seite ihres Halses. „Hi“, sagte sie. „Kann ich reinkommen?“ „Nein, Mara. Ich habe keine Zeit für dich.“ Mit diesen Worten wollte Ilja, dessen Gesichtsausdruck Constantin nicht sehen konnte, weil der Ältere ihm den Rücken zudrehte, die Tür wieder zumachen, aber Mara hielt ihn davon ab und betrat die Wohnung. „Ich vermisse dich“, sagte sie und näherte sich ihm. „Ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe. Bitte gib mir noch eine Chance.“ „Für wie dämlich hältst du mich eigentlich?“, fauchte Ilja, dessen Unzufriedenheit deutlich aus seiner Stimme herauszuhören war. „Du verlässt mich für dieses Arschloch und jetzt, wo ich auf einmal Geld habe, bin ich wieder interessant, oder was?“ „Ich habe dich nicht für ihn verlassen!“ „Du hast ohne Grund mit mir Schluss gemacht und warst am nächsten Tag mit ihm zusammen. Klar hast du mich für ihn verlassen.“ „Ich-- okay, ich gebe es zu, ich habe einen Fehler gemacht! Ich bin doch auch nur ein Mensch!“ Constantin presste sich auf den kalten Boden und hielt sich die Ohren zu. „Es reicht, Mara. Geh und lass mich alleine. Ich habe mit dir nichts mehr zu--“ „Ist es wegen meiner Narbe?!“, schrie sie ihn an und brach in Tränen aus. Ihr Parfüm war das gleiche, das Constantin gestern Abend in Iljas Auto wahrgenommen hatte. „Nein“, erwiderte Ilja ruhig, während Mara hysterisch zu heulen begann. „Es ist, weil du mich nur ausnutzen willst. Spar dir die Krokodilstränen und geh endlich.“ „Du blöder Wichser!“ Sie versuchte ihm eine Ohrfeige zu verpassen, aber er wich geschickt aus. „Was ist dein scheiß Problem?! Wenn du mich nicht willst, dann geh doch zu deiner Mutter, dieser blöden--!“ „Ein falsches Wort über meine Mutter und ich bring dich um!“ Jetzt war auch Ilja aggressiv. Constantin fühlte sich, als würde man ihm damit drohen, ihn aus einem Flugzeug zu werfen, das sich meilenweit über den Wolken befand. „Armseliges Muttersöhnchen!“ „Ich bitte dich.“ Er sprach wieder in Zimmerlautstärke, aber seine Stimme klang so gereizt und wütend, dass sie Constantin zum Zittern brachte. „Ich wohne alleine, mache alles selbst und hatte vor Kurzem noch drei Teilzeitjobs, trotz meines Studiums. Klingt das für dich unselbstständig? Wenn du mich schon beleidigst, dann nimm wenigstens etwas Passendes.“ Sie funkelte ihn voller Hass an und schnaubte wie ein Nilpferd, ehe sie ihn erneut anzugreifen versuchte. Constantin konnte das nicht mehr mit ansehen. Er krabbelte so schnell und unauffällig, wie ihm seine schmerzenden Beine es erlaubten, in die Küche und versteckte sich hinter der Tür. Im Wohnzimmer war zu hören, wie Haut auf Haut klatschte, Mara mehrere Schimpfwörter rief und die Haustür plötzlich so feste zuknallte, dass die Wände wackelten. „LASS MICH REIN!“, kreischte Mara, die anscheinend von Ilja aus dessen Wohnung geworfen worden war. „Geh, bevor ich die Polizei rufe, und such dir Hilfe.“ Mara schlug einige Male mit den Fäusten gegen die Tür, ehe sie aufgab und sich verzog. Ilja seufzte genervt und rieb sich über die Kontur seines Unterkiefers. Irgendwann in dem Gefecht hatte Mara ihn an der linken Gesichtshälfte erwischt. Es tat nicht sonderlich weh, aber der Gedanke, dass er diese schreiende und um sich schlagende Furie mal geliebt hatte, stimmte ihn nachdenklich. Und mit ihrem Geschrei hatte sie sicherlich für den nächsten Angstzustand bei Constantin gesor-- „Constantin? Wo bist du?“ Der Junge saß nicht mehr auf der Couch und antwortete auch nicht. Ilja stellte seine ganze Wohnung auf den Kopf und schaute sogar im Inneren der Waschmaschine nach – er wusste selbst, dass das absurd war, aber von der Größe her würde es passen – doch der Kleine war wie vom Erdboden verschluckt und reagierte auch nicht auf Ilja, der sich langsam, aber sicher wirklich Sorgen machte. „Okay, Constantin, der Titel des Meisters im Verstecken gehört dir. Kannst du jetzt bitte rauskommen?“ Wie erwartet bekam er keine Antwort. Nachdenklich raufte er sich das hellblonde Haar. Irgendwo musste der Junge doch sein... Ilja war so verzweifelt, dass er selbst an den Orten suchte, an denen sich der Junge gar nicht aufhalten konnte. Nachdem er die Schubladen in der Küche und sogar den Kühlschrank kontrolliert hatte und sich dabei wie jemand mit einem Dachschaden vorgekommen war, warf er einen Blick unter die Spüle, wo er den Kleinen schließlich fand. „Da bist du ja. Und ich dachte schon, du wärst aus dem Fenster geklettert.“ Constantin reagierte nicht. Er hatte sich zwischen verschiedenen Behältern mit Putzmittel, einigen unbenutzten Küchenschwämmen und wiederverwendbaren Einkaufstüten zusammengekauert und versteckte das Gesicht hinter den viel zu weiten Ärmeln des Pullovers. Ilja war es ein Rätsel, wie der Kleine es geschafft hatte, sich in die schmale Theke zu quetschen. „Die reizende Dame von gerade eben war meine Ex-Freundin Mara. Sie ist jetzt weg und ich glaube nicht, dass sie so schnell wiederkommen wird. Was hältst du davon, wenn wir uns nicht mehr den Kopf über sie zerbrechen und stattdessen etwas anderes machen?“ Als Ilja erkannte, dass er mit Worten nicht weiterkam, versuchte er Constantin zu erreichen, indem er seine Hand ergriff, doch der Junge wich ängstlich zitternd zurück und presste sich gegen die Rohre der Spüle. „Ach Kleiner... Weißt du, wie viele Menschen in diesem Gebäude wohnen? Wenn jedes laute Geräusch eine Panikattacke bei dir auslöst, wirst du es hier nicht leicht haben.“ Er seufzte ratlos. „Ich überprüfe jetzt meine Emails und schaue, ob einer der Makler mir geantwortet hat. Sag Bescheid, falls du irgendetwas brauchst.“ Mit diesen Worten stand er auf und verließ die Küche. Zurück blieb ein 16-Jähriger, der nervös an dem Fingernagel seines Daumen knabberte und sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht wischte. Ilja hatte recht. Constantin musste gegen seine Angst ankämpfen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)