Stolen Dreams Ⅺ von Yukito ================================================================================ 4. Kapitel ---------- Als Ilja zurückkehrte, fiel ihm sofort auf, dass Constantin nicht mehr auf der Couch im Wohnzimmer saß. Er stellte die Brötchentüte, den Orangensaft und die anderen Lebensmittel, die er eingekauft hatte, auf dem Tisch in der Küche ab, ehe er sich Schuhe und Jacke auszog und nach Constantin suchte, was dank der geringen Größe seiner Zweizimmerwohnung nicht lange dauerte. „Alles okay, Kleiner?“ Der Junge antwortete nicht. Er lag neben einem Haufen getragener Wäsche im Badezimmer und drehte Ilja den Rücken zu. Sein ganzer Körper war in den weißen Pullover gehüllt; nur unten schaute ein Paar sehniger Füßchen heraus. Ilja besaß die unschöne Vermutung, dass der Kleine zusammengebrochen war und sich möglicherweise verletzt hatte, aber als er ihn vorsichtig an der Schulter rüttelte, hob Constantin den Kopf und sah betrübt auf den gefliesten Boden. Ihm schien es gut zu geh-- also... nicht schlechter als sonst zu gehen. „Alles in Ordnung?“, fragte Ilja besorgt und wischte dem Jüngeren vorsichtig die Tränen von der Wange. „Ist irgendetwas passiert?“ Von Constantin kam immer noch keine Antwort. Auch als Ilja ihn fragte, ob es okay wäre, wenn er ihn zurück ins Wohnzimmer tragen würde, reagierte er nicht, weshalb der Größere ihn schließlich hochhob und zur Couch brachte, auf der er ihn behutsam absetzte. „Ich werde jetzt das Frühstück vorbereiten und dich dann holen, einverstanden?“ Constantin nickte zögernd, woraufhin Ilja sich von ihm abwandte, in der Küche mit Geschirr klirrte und wenige Minuten später wiederkam, um den Jungen an den gedeckten Tisch zu tragen. Der Kleine ließ seinen Blick über das Essen schweifen, ehe er nach unten zu seinen knochigen Händen sah. Ihm war es ein Rätsel, wie Ilja bei dem Anblick dieses entstellten Körpers noch nicht seinen Appetit verloren hatte. „K-kann ich Sie mal etwas fragen?“ „Jederzeit. Und sag ruhig Du zu mir, das ist einfacher.“ Constantin knetete unruhig seine Hände. Obwohl Ilja nur so vor Freundlichkeit strotzte, hatte er trotzdem die Befürchtung, gleich eine Ohrfeige zu bekommen, vom Stuhl geschubst und getreten zu werden. „Warum hilfst du mir? Ich... es gibt nichts, was ich dir als Gegenleistung geben könnte.“ „Weil es ziemlich unmenschlich wäre, dir nicht zu helfen. Ich kann doch nicht tatenlos zusehen, wie Andrej darüber redet, dich umzubringen.“ Bei der Erwähnung von Iljas Halbbruder musste Constantin sofort an Sascha denken. Wie hatte er ihn bloß vergessen können? „Weißt du, wie es Sascha geht?“ „Ich habe gehört, dass er gestern zu sich gekommen ist. Andrej tut so, als wäre das nichts Besonderes, aber man merkt, dass das nur eine Fassade ist. Er hätte wahrscheinlich heulen können vor Freude.“ „Glaubst du, Sascha geht es bei Andrej gut? Ich meine...“ „Gerüchten zufolge ist er eine ganz andere Person, wenn er mit Sascha alleine ist. Ich weiß es ehrlich gesagt nicht; wir kennen uns erst seit 'nem Monat, glaube ich.“ Constantin, der währenddessen versucht hatte, den Orangensaft zu öffnen, und kläglich daran scheiterte, weil ihm die nötige Kraft fehlte, hielt inne und sah verdutzt zu Ilja. „Aber... ihr seid doch verwandt, oder nicht?“ Ilja schmunzelte, als müsste er an eine lustige Erinnerung denken, nahm Constantin die Saft aus der Hand, öffnete ihn und schüttete ihn für den Jungen in ein Glas. „Vor etwa einem Monat war ich noch ein ganz normaler Student. Außer dass ich meinen Vater damals noch nicht kannte und meine Mutter todkrank im Krankenhaus lag, gab es nichts Außergewöhnliches über mich zu berichten.“ Constantin nahm sich ein Schokobrötchen und hörte gespannt zu. „Eines Tages stand dann ein fremder Mann vor meiner Tür. Er sah aus wie ich, nur ein Vierteljahrhundert älter, und er wollte mir weismachen, dass er mein Vater sei. Natürlich habe ich ihm nicht geglaubt. Ich dachte, dem Kerl wäre einfach nur langweilig und er hätte sich zum Spaß ein Paar Kontaktlinsen und eine Packung Haarfärbemittel gekauft, um sich als mein Vater auszugeben. Also habe ich ihn gebeten, zu gehen, aber er wollte nicht auf mich hören. Keine Minute später stand er in meinem Wohnzimmer und hat sich über meine Wohnung beschwert. Ich war echt so kurz davor, die Polizei zu rufen, als er mir plötzlich Dinge erzählte, von denen eigentlich niemand etwas wissen konnte, nicht einmal meine engsten Freunde.“ Ilja seufzte und nippte an seinem Kaffee. „Er hat mir einen dicken Batzen Geld geschenkt, obwohl ich mehrmals gesagt habe, dass ich das nicht will, und ist dann wieder gegangen, mit der Warnung, dass er zurückkommen würde. Komischerweise war das der gleiche Tag, an dem ich erfahren habe, dass der Zustand meiner Mutter sich drastisch verschlechtert hatte.“ „Denkst du, er hatte etwas damit zu tun?“ „Nein. Er hat ihren Tod nicht beschleunigt, aber auf ihn gewartet, damit er den Zeitpunkt erwischte, an dem ich am einfachsten zu manipulieren war. Bei seinem nächsten Besuch brachte er nicht nur noch mehr Geld, sondern auch Andrej mit. Was die beiden von mir verlangten, weiß ich nicht mehr; ich habe damals bloß meine Ruhe gewollt, weil es mir nach Moms Tod echt dreckig ging.“ Constantin sah, dass Ilja mühevoll die verdächtige Feuchte aus seinen geisterhaft blauen Augen blinzelte, und beschloss, nicht näher auf das Thema einzugehen. Das, was er gerade über den Älteren erfahren hatte, erklärte auch, warum er in dieser spärlichen Wohnung lebte. „Ich hoffe, Sascha geht es bald besser“, murmelte Constantin und senkte schüchtern den Blick. „Ähm... ich weiß, dass das eine komische Bitte ist, aber... kannst du mir Deutsch beibringen?“ „Würde ich gerne machen, aber ich kenne kein einziges Wort dieser Sprache. Englisch ist für mich schon schlimm genug.“ Die restliche Zeit ihres Frühstücks verbrachten die beiden schweigend. Als Ilja das Geschirr abräumte, hätte Constantin ihm gerne geholfen, um sich als nützlich zu erweisen, aber er konnte wegen seinem Fuß nicht einmal aufrecht stehen, weshalb ihm nichts anderes übrig blieb, als sich nervös in die Lehne des Stuhles zu krallen und zu warten. Nachdem Ilja fertig war, hob er Constantin hoch und trug ihn zurück ins Wohnzimmer, wo er ihn nicht auf dem Sofa absetzte, sondern nachdenklich zur Tür sah, die ins Bad führte. „Hm? Was ist los?“, fragte der Junge unruhig, der sich wie ein hilfloses Kleinkind vorkam. „Ich habe heute den ganzen Tag Zeit. Was hältst du davon, wenn wir dich baden und ein bisschen auf Vordermann bringen?“ „I-ich... ich weiß nicht. Was ist m-mit meinen Verbänden?“ „Die machen wir ab und danach bekommst du neue, okay? Die alten haben sich doch eh schon gelöst.“ Constantin versteckte sein Gesicht, indem er seine Stirn gegen Iljas Schulter lehnte, und begann zu zittern. Er konnte nicht erkennen, ob der Ältere sich wirklich um ihn kümmern wollte oder ob er bloß nach einer Gelegenheit suchte, den Jungen nackt zu sehen. Und wer weiß; vielleicht wird er bei dem Anblick meines entblößten Körpers seine Fassade fallen lassen, sich auf mich stürzen und-- „Hey.“ Eine warme Hand legte sich auf Constantins Schulter. „Wenn du das nicht möchtest, musst du es nur sagen. Ich werde dich nicht zwingen.“ „Bitte lass mich runter.“ Ilja tat, worum der Kleine gebeten hatte, und setzte ihn vorsichtig auf dem Sofa ab. Er wollte gerade fragen, ob er sich wenigstens um seine Haare kümmern durfte, als jemand gegen seine Tür klopfte. „Wer ist das?“, fragte Constantin schüchtern. „Die Frau von gestern?“ „Keine Ahnung. Ich erwarte eigentlich niemanden“, antwortete Ilja und wandte sich von dem Jungen ab, der hastig von der Couch kletterte und sich hinter ihr versteckte. Sein Gespür sagte ihm, dass dort im Flur nichts Gutes lauerte. Ilja öffnete die Tür und gab die Sicht auf eine junge Frau frei, die ungefähr in seinem Alter und einen halben Kopf kleiner als er war. Sie besaß dunkle Haare, helle Augen und eine auffällige Brandnarbe an der linken Seite ihres Halses. „Hi“, sagte sie. „Kann ich reinkommen?“ „Nein, Mara. Ich habe keine Zeit für dich.“ Mit diesen Worten wollte Ilja, dessen Gesichtsausdruck Constantin nicht sehen konnte, weil der Ältere ihm den Rücken zudrehte, die Tür wieder zumachen, aber Mara hielt ihn davon ab und betrat die Wohnung. „Ich vermisse dich“, sagte sie und näherte sich ihm. „Ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe. Bitte gib mir noch eine Chance.“ „Für wie dämlich hältst du mich eigentlich?“, fauchte Ilja, dessen Unzufriedenheit deutlich aus seiner Stimme herauszuhören war. „Du verlässt mich für dieses Arschloch und jetzt, wo ich auf einmal Geld habe, bin ich wieder interessant, oder was?“ „Ich habe dich nicht für ihn verlassen!“ „Du hast ohne Grund mit mir Schluss gemacht und warst am nächsten Tag mit ihm zusammen. Klar hast du mich für ihn verlassen.“ „Ich-- okay, ich gebe es zu, ich habe einen Fehler gemacht! Ich bin doch auch nur ein Mensch!“ Constantin presste sich auf den kalten Boden und hielt sich die Ohren zu. „Es reicht, Mara. Geh und lass mich alleine. Ich habe mit dir nichts mehr zu--“ „Ist es wegen meiner Narbe?!“, schrie sie ihn an und brach in Tränen aus. Ihr Parfüm war das gleiche, das Constantin gestern Abend in Iljas Auto wahrgenommen hatte. „Nein“, erwiderte Ilja ruhig, während Mara hysterisch zu heulen begann. „Es ist, weil du mich nur ausnutzen willst. Spar dir die Krokodilstränen und geh endlich.“ „Du blöder Wichser!“ Sie versuchte ihm eine Ohrfeige zu verpassen, aber er wich geschickt aus. „Was ist dein scheiß Problem?! Wenn du mich nicht willst, dann geh doch zu deiner Mutter, dieser blöden--!“ „Ein falsches Wort über meine Mutter und ich bring dich um!“ Jetzt war auch Ilja aggressiv. Constantin fühlte sich, als würde man ihm damit drohen, ihn aus einem Flugzeug zu werfen, das sich meilenweit über den Wolken befand. „Armseliges Muttersöhnchen!“ „Ich bitte dich.“ Er sprach wieder in Zimmerlautstärke, aber seine Stimme klang so gereizt und wütend, dass sie Constantin zum Zittern brachte. „Ich wohne alleine, mache alles selbst und hatte vor Kurzem noch drei Teilzeitjobs, trotz meines Studiums. Klingt das für dich unselbstständig? Wenn du mich schon beleidigst, dann nimm wenigstens etwas Passendes.“ Sie funkelte ihn voller Hass an und schnaubte wie ein Nilpferd, ehe sie ihn erneut anzugreifen versuchte. Constantin konnte das nicht mehr mit ansehen. Er krabbelte so schnell und unauffällig, wie ihm seine schmerzenden Beine es erlaubten, in die Küche und versteckte sich hinter der Tür. Im Wohnzimmer war zu hören, wie Haut auf Haut klatschte, Mara mehrere Schimpfwörter rief und die Haustür plötzlich so feste zuknallte, dass die Wände wackelten. „LASS MICH REIN!“, kreischte Mara, die anscheinend von Ilja aus dessen Wohnung geworfen worden war. „Geh, bevor ich die Polizei rufe, und such dir Hilfe.“ Mara schlug einige Male mit den Fäusten gegen die Tür, ehe sie aufgab und sich verzog. Ilja seufzte genervt und rieb sich über die Kontur seines Unterkiefers. Irgendwann in dem Gefecht hatte Mara ihn an der linken Gesichtshälfte erwischt. Es tat nicht sonderlich weh, aber der Gedanke, dass er diese schreiende und um sich schlagende Furie mal geliebt hatte, stimmte ihn nachdenklich. Und mit ihrem Geschrei hatte sie sicherlich für den nächsten Angstzustand bei Constantin gesor-- „Constantin? Wo bist du?“ Der Junge saß nicht mehr auf der Couch und antwortete auch nicht. Ilja stellte seine ganze Wohnung auf den Kopf und schaute sogar im Inneren der Waschmaschine nach – er wusste selbst, dass das absurd war, aber von der Größe her würde es passen – doch der Kleine war wie vom Erdboden verschluckt und reagierte auch nicht auf Ilja, der sich langsam, aber sicher wirklich Sorgen machte. „Okay, Constantin, der Titel des Meisters im Verstecken gehört dir. Kannst du jetzt bitte rauskommen?“ Wie erwartet bekam er keine Antwort. Nachdenklich raufte er sich das hellblonde Haar. Irgendwo musste der Junge doch sein... Ilja war so verzweifelt, dass er selbst an den Orten suchte, an denen sich der Junge gar nicht aufhalten konnte. Nachdem er die Schubladen in der Küche und sogar den Kühlschrank kontrolliert hatte und sich dabei wie jemand mit einem Dachschaden vorgekommen war, warf er einen Blick unter die Spüle, wo er den Kleinen schließlich fand. „Da bist du ja. Und ich dachte schon, du wärst aus dem Fenster geklettert.“ Constantin reagierte nicht. Er hatte sich zwischen verschiedenen Behältern mit Putzmittel, einigen unbenutzten Küchenschwämmen und wiederverwendbaren Einkaufstüten zusammengekauert und versteckte das Gesicht hinter den viel zu weiten Ärmeln des Pullovers. Ilja war es ein Rätsel, wie der Kleine es geschafft hatte, sich in die schmale Theke zu quetschen. „Die reizende Dame von gerade eben war meine Ex-Freundin Mara. Sie ist jetzt weg und ich glaube nicht, dass sie so schnell wiederkommen wird. Was hältst du davon, wenn wir uns nicht mehr den Kopf über sie zerbrechen und stattdessen etwas anderes machen?“ Als Ilja erkannte, dass er mit Worten nicht weiterkam, versuchte er Constantin zu erreichen, indem er seine Hand ergriff, doch der Junge wich ängstlich zitternd zurück und presste sich gegen die Rohre der Spüle. „Ach Kleiner... Weißt du, wie viele Menschen in diesem Gebäude wohnen? Wenn jedes laute Geräusch eine Panikattacke bei dir auslöst, wirst du es hier nicht leicht haben.“ Er seufzte ratlos. „Ich überprüfe jetzt meine Emails und schaue, ob einer der Makler mir geantwortet hat. Sag Bescheid, falls du irgendetwas brauchst.“ Mit diesen Worten stand er auf und verließ die Küche. Zurück blieb ein 16-Jähriger, der nervös an dem Fingernagel seines Daumen knabberte und sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht wischte. Ilja hatte recht. Constantin musste gegen seine Angst ankämpfen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)