Rot wie Herbstlaub von Puppenspieler ================================================================================ Kapitel 1: ----------- „Pika…“ „Und dann hat er gesagt, ich soll mich nicht so anstellen! Ihr klebt doch fast jeden Tag online aneinander, jetzt tu nicht so, als wäre sie plötzlich ein anderer Mensch, nur weil sie vor dir steht.“ Lilly blies die Wangen entrüstet auf, wirbelte zu Fünkchen herum, doch der nächste Protest blieb ihr im Halse stecken. Ihr Pikachu hatte beide Pfötchen vor die Schnauze gedrückt und versuchte offensichtlich, sein Lachen zu ersticken. Unwillkürlich musste Lilly auch lachen. Sie ging in die Hocke und stupste mit der Fingerspitze gegen ein rotes Pikachu-Bäckchen. „Ich weiß. Meine Gladio-Imitation ist furchtbar.“ – „Pika!“, erwiderte Fünkchen, und jetzt lachte es wirklich, machte sich nicht mehr die Mühe, es zu unterdrücken. Die Freude ihres kleinen Partners beruhigte Lilly, ohne dass sie es bewusst merkte – sie stellte nur irgendwann fest, dass ihr Herzschlag sich normalisiert hatte und dass der Blick in den Spiegel ihr keine Panik mehr bereitete.   Vorhin hatte sie sich fast wie damals gefühlt, als sie vor Bill gestanden hatte, um ihn um ein Heilmittel für ihre Mutter zu bitten.   Natürlich hatte sie Angst gehabt. Er war ihre große Hoffnung gewesen, und was, wenn er nicht helfen könnte–? Bis zu dem Moment, an dem Bill ihr lächelnd seine Hilfe zugesagt hatte, war es furchtbar gewesen, Lillys Herz hatte gegen ihren Brustkorb gehämmert, dass es wehtat, und ein dicker Kloß im Hals hatte ihr den Atem geraubt. Danach war alles besser geworden. Wissend, dass ihre Mutter in guten Händen war, und wissend, dass auch unsichtbare Wunden Zeit brauchten, um zu heilen, war Lilly losgezogen. Nach Alabastia. Zu Professor Eich. Um mit klopfendem-aber-nicht-schmerzendem Herzen in seinem Labor zu stehen und einem dicken, aufgeregten Kloß im Hals, während ihr Magen fröhliche Purzelbäume schlug. Ein Pokédex. Ein Pokémon. Ein kleines, hübsches Glumanda, das fröhlich gekiekst hatte, als es sie das erste Mal gesehen hatte, vertrauensvoll die dicken Stummelärmchen nach ihr ausstreckte.   Jetzt fühlte sich die Aufregung in ihrem Inneren wieder mehr an wie die freudige Erwartung, die sie verspürt hatte, als sie Flämmchens Pokéball das erste Mal geöffnet hatte.   „Pika!“   Sie schrak zusammen, als Fünkchen sie aus ihren Gedanken riss. Blinzelnd sah sie im Spiegel zu ihrem kleinen Partner, der aufgeplustert hinter ihr stand, die Ärmchen in die Hüfte gestemmt. „Pika!“ Sie brauchte einen Moment, bis sie begriff, was Fünkchen von ihr wollte. Einen Moment und einen zufälligen Blick auf die Uhr, der ihre Augen riesig vor Schreck werden ließ. „Oh nein, ich komm zu spät! Fünkchen, wieso hast du denn–?“ – „Pika!!!“ Hab ich wohl. Du hast mir nur nicht zugehört, du Träumerin! So schnell sie konnte überprüfte sie, dass sie auch nichts vergessen hatte. Portemonnaie, Pokédex, Pokébälle. Ein letzter Blick in den Spiegel bestätigte, dass ihre Frisur noch saß, die sie in aufwändiger, stundenlanger Arbeit sorgfältig hochgesteckt und mit hübschen Spangen und Haarnadeln verziert hatte, und auch der Kimono, den sie mit der Hilfe ihrer Mutter ausgesucht hatte, saß noch immer, genau wie der aufwändig gebundene Obi, der im Rücken eine hübsche Schleife formte. Das klassische Kirschblütenmuster mochte nicht unbedingt zur Jahreszeit passen, aber die rosa Blüten hatten Lilly und ihrer Mutter gefallen, genauso wie der Stoff, der einen sehr hübschen Farbverlauf von Weiß bis zu einem strahlenden Himmelblau hatte. Es war, als hätte man den Frühlingshimmel zu einem Stoff gesponnen. Weil Fünkchen ihr so sehr damit in den Ohren gelegen hatte, durfte es Lilly außerhalb seines Pokéballs begleiten; es war klein genug, dass es die Festivalbesucher nicht stören dürfte, außerdem hatte Lilly gehört, dass wohl viele Leute ein freilaufendes Pokémon dabeihaben würden – es gehörte einfach dazu. Auch Fünkchen trug einen hübschen Kimono, den es selbst ausgesucht hatte, und an seinem Ohr war ein dazu passender Haarschmuck befestigt. Lilly warf noch einen Blick in den Spiegel. Hinter ihr schnaufte Fünkchen entnervt. Sie blinzelte es entschuldigend an, dann holte sie tief, tief Luft.   „Los geht’s.“       ***       Das jährliche Erntefest in Teak City war weltbekannt. Es fand im Herbst statt, wenn der unzählige Fächerahorn rings um die Stadt herum in grellem Rot erstrahlte, bevor die herbstliche Regenzeit einsetzte und die Herbstsonne die ganze Welt noch in Gold tauchte. Jedes Jahr lockte das Fest unzählige Besucher, nicht nur aus ganz Johto, sondern aus der ganzen Welt. Die Herbergen in Teak City waren teilweise schon Monate vorher für diesen Zeitraum ausgebucht, und zum Fest selbst waren die großen Straßen so vollgepfropft mit Menschen und ihren Pokémon, dass man nichts mehr sah als bunte, traditionelle Kleidung und hübschen Haarschmuck.   Das erste Mal davon gehört hatte Lilly, als sie durch Kanto gereist war, um Pokémon zu fangen und Arenen herauszufordern. Es war Jahre her. Damals hatte sie eine hübsche, junge Trainerin aus Johto getroffen, die ihr davon erzählt hatte. Für einen kurzen Zeitraum waren sie Weggefährten gewesen, bevor sie sich wieder voneinander verabschiedet hatten. Lillys Ziel war Prismania City gewesen, während ihre kurzzeitige Kameradin weiter in den Süden der Region wollte. Damals hatte Lilly schon beschlossen, dass sie das Fest mit eigenen Augen sehen wollte. Sie war nur einfach nie dazu gekommen bisher. Und dann hatte Moon erzählt, dass sie im Sommer nach Johto reisen würde, weil das als nächstes auf ihrer Liste an Regionen stand, die sie besuchen wollte, um die dortige Pokémonliga herauszufordern.   Es war die perfekte Gelegenheit und Lilly hatte sie sofort beim Schopf gepackt und sich mit ihr verabredet.   Sie war schon seit einigen Tagen in der Stadt, und sie hatte die Vorbereitungsarbeiten des Festivals gesehen. Wie die Holzbuden auf den Straßen aufgestellt wurden. Wie die große Bühne auf dem Marktplatz gezimmert wurde. Im Tanztheater gab es Einführungskurse in die klassischen Tänze, die beim Fest getanzt werden würden. Lilly hatte an einem der Kurse teilgenommen, aber zu ihrem Leidwesen feststellen müssen, dass ihr das Tanzen in den eng gewickelten Kimonos überhaupt nicht lag, und was an den ausgebildeten Tänzerinnen und sogar vielen der Neueinsteiger wunderschön fließend und elegant aussah, war bei Lilly ein ungelenkes Herumhopsen, weil sie viel zu sehr darauf bedacht war, nicht über ihre eigenen Füße zu stolpern. Spaß gemacht hatte es trotzdem und sie freute sich darauf, irgendwann im Laufe des Tages zur Bühne zu schlendern und zuzusehen, wie die Tänzer, Musiker oder Trommler, wer auch immer gerade auf der Bühne stand, ihr Handwerk präsentierten. Noch am vorigen Abend hatte sie eine letzte Runde durch die Straßen gedreht, hatte sich umgesehen und die noch leblosen Buden in ihrer Vielzahl bestaunt, hatte sich die Bühne angesehen und sich vorgestellt, wie sie aussehen würde, wenn unzählige Menschen sich um sie versammelten und die Tänze, die sie im Theater schon gesehen hatte, hier aufgeführt wurden. Sie war einmal die Hauptstraße entlanggelaufen, die breit genug war, um trotz der Buden links und rechts Raum für eine Parade zu lassen, die am Nachmittag losziehen und mit dem Sonnenuntergang enden würde. Hier und da hatte sie Dekorationen gesehen, doch es war nur wenig gewesen. An einigen Häusern hingen aufwändig dekorierte Papierlampions und andere Dinge, die in den schönsten Herbstfarben erstrahlten. An einigen der Buden hing schon ein bisschen Zierde, und zwischen einigen Häusern waren die Straße entlang lange Schnüre gespannt, an denen über den Köpfen der Menschen ebenfalls Papierlaternen und andere Papierdekorationen hingen, die sacht im Herbstwind schaukelten.   Sie hatte unterschätzt, wie sehr die letzte Nacht und der frühe Morgen des Festivals die Stadt noch verändern würden.   Inzwischen war die Dekoration überall. Jede kleine Holzbude war reich dekoriert, es waren Werbetafeln aufgestellt worden, die die angebotenen Waren anpriesen. Überall hingen Papierlaternen und -Lampions. Über den Straßen. Zwischen den Buden, wo sie nicht direkt aneinanderkuschelten. Alles war bunt und farbenfroh geschmückt worden. Gestern war schon mehr auf den Straßen losgewesen als es üblicherweise wohl normal war. Heute war es noch viel schlimmer: Überall waren nur noch Menschen. Menschen in bunten Kimonos, begleitet von Pokémon, die größtenteils auch in kunterbunte Kleider gehüllt waren. Aus der Ferne schon hörte Lilly die Trommeln, deren steter Rhythmus gerade vom Marktplatz heranwehte. Es war wunderschön. Es war so atemberaubend, dass ihr das Herz bis zum Halse schlug, während sie ihre ersten, zögerlichen Schritte zwischen die Feiernden machte. Sie war spät dran, entsprechend hielt sie sich kaum damit auf, die bunten Büdchen zu betrachten, sondern eilte direkt zu dem Treffpunkt, den sie mit Moon ausgemacht hatte – die alte Turmruine im Westen der Stadt. Es dürfte auch hier nicht unbedingt menschenleer sein, aber das Festival selbst sollte die meisten Schaulustigen anziehen und damit von der makabren Sehenswürdigkeit ablenken.   Die Rechnung ging auf. Die Menschenmasse war überschaubar, als Lilly mit eiligen kleinen Trippelschritten heraneilte. Die Turmruine ragte vor ihr in die Höhe. Sie war geschmückt worden, passend zum Fest; es sah seltsam deplatziert aus, die bunten Laternen und Papierdekore an der teilweise immer noch rußschwarzen Fassade zu sehen, die im Bereich des ersten Stockwerkes abbrach. Lilly wurde langsamer, als sie den Eingangsbereich der Ruine erreichte, sah sich um. Sie entdeckte Moon zwischen den Schaulustigen nicht, doch wenn sie ganz ehrlich war, war sie sich gar nicht sicher, dass sie ihre Freundin ohne weiteres erkennen würde. Sie war sicher auch in einen Kimono und aufwändigen Haarschmuck gekleidet. „Hilf mir suchen“, bat sie an Fünkchen gewandt. Sie lächelte. „Du weißt noch, oder? Sie hat Miku dabei. Es sieht ein bisschen aus wie du, das findest du sicherlich.“ Fünkchen pikapite bestätigend und reckte sich auf ihrer Schulter, so hoch es konnte, während es sich umsah, ein kleines Pfötchen über den Augen, um sich gegen die Sonne zu schützen.   Sie fand Moon noch immer nicht. Sie entdeckte auch das Mimigma des Mädchens nirgendwo, so oft sie auch die Pokémon absuchte, die die fremden Menschen mit sich führten. Es waren so viele unterschiedliche! Und genug, die Lilly im Leben noch nicht selbst gesehen hatte. Da schwebte ein Flauschling neben einem kleinen Mädchen mit blonden Locken. Das rosa Pokémon war mit einem knallbunten Obi umwickelt. Eine junge Frau und ein junger Mann, die offensichtlich gemeinsam hier waren, hatten ein Plusle und ein Minun bei sich, die im Partnerlook gekleidet waren. Sie sahen so liebenswert zusammen aus, dass Lilly ihnen einen Augenblick länger hinterher sah, als nötig gewesen wäre, ehe sie sich mit einem verträumten Lächeln abwandte. So hübsch! Träumte nicht jedes Mädchen von Partnerlook mit seinem Partner? Aber sie durfte sich jetzt nicht ablenken lassen! Sie hatte etwas Wichtigeres zu tun als zu träumen. Reiß dich zusammen, Lilly! Sie schüttelte entschlossen den Kopf und wandte den Blick wieder auf die bunte Menge an Menschen vor der Turmruine. Keine Moon. Immer noch nicht. Plötzlich erklang hinter ihr ein Lachen. Lilly stockte, ihr Magen hüpfte aufgeregt. Sie erkannte die Stimme, hörte sie sie doch fast täglich beim Telefonieren. Ehe sie sich umdrehen konnte, hatten sich zwei Arme um ihre Taille geschlungen und drückten sie an einen fremden Mädchenkörper. Moon lachte noch einmal auf, und sie klang auf eine vertraute Art selbstzufrieden dabei.   „Überraschung! Hier bin ich!“       ***       „Jedenfalls. Ich bin ein bisschen früher angekommen, als ich geplant hatte, also dachte ich – hey, bis Lilly kommt, steh ich mir sonst nur die Beine in den Bauch, da kann ich mir auch die Turmruine ansehen! Es ist wirklich beeindruckend! Dass man überhaupt noch rein darf… Na ja. Die brüchigen Bereiche sind alle abgeriegelt, so gefährlich ist es also nicht. Und stell dir vor: Im Keller haben sich einige wilde Pokémon eingenistet!“ Lilly lächelte still, während sie Moons Geschichte lauschte. Seit sie ein paar kurze Begrüßungsfloskeln ausgetauscht hatten, war ihre Freundin jetzt dabei, sorgsam Bericht zu erstatten, was sie seit ihrem letzten Telefonat erlebt hatte – es war viel, so wie jedes Mal. Lilly verstand nicht, wie Moon das schaffte, aber ihr Leben schien immer doppelt so aufregend zu sein wie Lillys eigenes. Ihr Blick wanderte gedankenverloren von Moons strahlendem Gesicht weiter, während sie erzählte, welche Pokémon sie unten in der Ruine entdeckt hatte. Sie hatte das schwarze Haar größtenteils unfrisiert behalten. Eine riesige Haarspange mit typischem Zierrat war über ihrem linken Ohr befestigt, die kräftigen Rot- und Orangetöne des Haarschmucks erinnerten Lilly an die typische Mütze, die das Mädchen sonst fast immer trug. Ihr Kimono war in passenden Farben gehalten – ein orangeroter Untergrund mit einem wunderschönen, herbstlichen Laubmuster und entspannenden Schnörkeln, die dem ganzen Motiv eine seltsame Ruhe verliehen. Es war unheimlich hübsch, genau wie das kleine Mimigma, das an Moons Seite war. Miku trug, genau wie Fünkchen, einen Kimono und bunten Schmuck am Ohr. Zufällig ähnelte die Kleidung des Pokémons dem, was Fünkchen sich ausgesucht hatte – Miku wirkte glücklich damit. Die beiden Pokémon führten inzwischen ihr ganz eigenes Gespräch, auf das Lilly gern einen Blick warf, aber sie nicht unterbrechen wollte. „Zu schade, dass ich keine Spuren von den legendären Raubkatzen gefunden habe…“   Lilly merkte auf, hob die Augenbrauen. Sie hatte natürlich von den legendären Raubkatzen gehört, die die Johto-Region durchstreifen sollten, und sich nur den allerallerwenigsten Trainern überhaupt zeigten. Mit legendären Pokémon, hatte sie gelernt, war es eigentlich überall gleich. Die großen, mystischen Kreaturen waren so selten, dass sie oftmals nur noch für Legenden gehalten wurden, doch sie wurden tief verehrt und die Menschen glaubten ohne Ausnahme an ihre Macht. Es erinnerte Lilly immer wieder an Alola und seine Schutzpatrone. „Weshalb hättest du dort Spuren finden wollen?“ Moon sah sie an, legte den Kopf schief. Dann weiteten sich ihre Augen. „Oh! Hast du noch nie davon gehört, wie die Raubkatzen entstanden sind?“ Lilly schüttelte den Kopf. So sehr sie sich für Pokémon und ihre Geschichten interessierten, sie kannte lange noch nicht alle. „Da hast du was verpasst. Dann kennst du also auch die Hintergründe der Turmruine nicht. Okay! Das ändern wir!“ Moon grinste. Sie hob zum Sprechen an, hielt dann aber plötzlich inne, grinsend. Lilly sah sie verwirrt an.   „Wenn wir etwas zu essen haben. Ich sterbe vor Hunger! Ob Tali sich wohl immer so fühlt?“   Sie lachten beide.   Bei dem schieren Übermaß an Angebot war es nicht schwer, etwas zu finden, das man essen konnte. Weil sie einfach so niedlich aussahen, hatten die Mädchen sich schnell für Taiyaki entschieden – karpadorförmige Küchlein, die mit Rote-Bohnen-Paste gefüllt waren. Einige Minuten spazierten sie schweigend nebeneinander her, mit ihrem Essen beschäftigt, während sie die Stände links und rechts bewunderten. Lilly entdeckte wunderschöne, gläserne Windspiele, die wie Palimpalim aussahen. Es gab überhaupt so viel zu entdecken! Sie wusste nicht, wo sie zuerst hinsehen sollte. „Also“, begann Moon schließlich. Sie putzte sich gerade noch die Finger an ihrer Serviette ab. Vom Marktplatz wehten leise Klänge herüber, die Lilly aus dem Tanztheater kannte. Eine langsame, mystische Melodie. „Die Raubkatzen. Es heißt, dass bei einem Brand im Bronzeturm – das ist die Turmruine –, der drei Tage wütete, drei namenlose Pokémon umgekommen sein sollen. Sie waren die einzigen Opfer des Brandes, und niemand konnte sich erklären, woher die Pokémon kamen, oder warum sie da waren. Niemand hatte solche Pokémon je gesehen. Zum großen Erstaunen der Menschen, die gerade dabei waren, die Überreste des Turms zu sichten, erschien plötzlich Ho-Oh. Ho-Oh kennst du?“ Lilly nickte. Sie wusste zumindest grob, dass Ho-Oh ebenfalls ein legendäres Pokémon war, das hauptsächlich mit der Johto-Region assoziiert wurde. „Es heißt, Ho-Oh habe die drei namenlosen Pokémon zu neuem Leben erweckt. Seitdem existieren Entei, Raikou und Suicune und streifen durch das Land. Manchmal sollen sie zu ihrer Geburtsstätte zurückkehren… tja. Heute nicht.“ Es war eine schöne Geschichte, fand Lilly. Im ersten Impuls natürlich traurig, hatten die Pokémon ihr Leben lassen müssen, doch umso schöner, dass sie zurückkehren durften. Lilly lächelte, sah in die Ferne, wo sie die Turmruine vermutete. Nach einem kurzen Moment wandte sie sich wieder entschlossen an Moon um. „Du wirst ihnen begegnen.“ Moon lachte. „Meinst du?“ – „Ganz sicher. Wenn es jemanden gibt, dem ein legendäres Pokémon freiwillig erscheint, dann bist das du, Moon. Denk an Kapu-Riki!“   Es war so einfach. Lilly verstand inzwischen gar nicht mehr, wieso sie überhaupt nervös gewesen war bei dem Gedanken, Moon zu treffen. Jetzt war es, als wären sie nie auseinander gewesen. Der rege Kontakt und die beinahe täglichen Telefonate halfen, dass Lilly heute noch genauso vertraut mit ihrer Freundin war wie damals, als sie streckenweise gemeinsam durch Alola gereist waren. Sie waren älter geworden. Und gewachsen. Inzwischen überragte Moon sie ein bisschen, ein Anblick, der im allerersten Augenblick fast seltsam gewesen war, Lilly nun aber gar nicht mehr störte. Sie war immer noch Moon. Bewegte sich wie Moon, sprach wie Moon, und hatte immer noch diesen leisen Nachhall vom Kanto-Dialekt, den sie in Alola nie ganz hatte ablegen können. Sie hatte es auch gar nicht gewollt, hatte sie Lilly einmal verraten. Ein Stückchen alter Heimat bei sich zu haben sei doch etwas Schönes, meinte sie. Lilly hatte, diese Worte nie vergessen, schlussendlich auch nicht versucht, ihren eigenen Dialekt abzulegen, als sie losgezogen war. Sie hatten sich natürlich trotz aller Vertrautheit beide verändert. Lilly war mutiger geworden. Moon erwachsener. Nicht mehr ganz so unbedacht darin, mit dem Kopf durch die Wand vorzupreschen, um da Richtige zu tun, sondern hatte Besonnenheit gelernt, nichts zu überstürzen. Hilfe zu suchen, auch wenn die Zeit drängte, wenn die Alternative eine zu große Gefahr war. Es waren Veränderungen, in die sie gemeinsam hineingewachsen waren wie in ein Paar Schuhe, das ihre Mütter absichtlich eine Nummer zu groß gekauft hatten, damit es länger hielt. Veränderungen, die längst vertraut geworden waren, und eigentlich auch nie fremd gewesen waren, weil sie so ein schleichender Prozess gewesen waren. Lilly war immer noch Lilly. Moon war immer noch Moon. Lilly warf einen Blick auf ihre Freundin, die gerade vor Miku auf dem Boden hockte und ihr das kleine Windspiel zeigte, das sie gerade gekauft hatte. Es erinnerte an ein Tentacha. Die Art, wie Moon beim Sprechen gestikulierte, erinnerte Lilly noch an die allerersten Gespräche, die das Mädchen mit ihrem Bauz, Herr Eule, geführt hatte.   Gladio hat Recht gehabt, dachte sie sich schmunzelnd. Aber das werde ich ihm nicht sagen! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)