Blood and Whine von Daelis (Ist doch alles Käse!) ================================================================================ Epilog: Aus der Ferne --------------------- Letzte Sonnenstrahlen erhellten noch die Wolken am Horizont, während die Nacht über Corvo Bianco hereinbrach. Geralt und ich hatten die letzten Stunden damit zugebracht, uns anzuschweigen, nachdem ich ihm das Versprechen abgerungen hatte, der Herzogin einen falschen Kopf als Beweis für Dettlaffs Tod zu bringen. Trotz meiner Bohrerei hatte der Hexer mir allerdings nicht verraten, wer seiner Meinung nach den Zauber wirken würde, der Theodor in der Zeit zurückschickte, damit er uns die nötigen Informationen bringen konnte, die wir benötigten, um Krul aufzuhalten. Irgendwann hatte ich es dann einfach aufgegeben und hingenommen, dass Geralt sein Bier spannender fand als die Aussicht, meine Fragen zu beantworten. Stattdessen genossen wir beide den Sonnenuntergang und die kleinen Küchlein, die uns Marlene zusammen mit dem Hinweis, wir sollten nicht zu lange hier verweilen, sonst würden wir uns noch verkühlen. Was mich anging, stimmte ich ihr dazu, doch Geralt mit einer Erkältung konnte ich mir nur schwer vorstellen. Dennoch nickte auch der Hexer nur brav ob Marlenes mütterlicher Mahnung. Anfangs hatten sich Dean und Sam noch kreischend über den Vorplatz gebalgt und damit die Angestellten Corvo Biancos kräftig erschreckt, doch irgendwann war den Greifen das zu langweilig geworden und sie hatten ihre Runden über dem Anwesen gedreht. Als sie wiederkamen, trug Dean eine dicke Bisamratte im Schnabel, die er stolz vor meine Füße legte. Geralt entlockte das ein leises Glucksen. „Vielleicht sind die Viecher doch nützlich“, kommentierte der Hexer trocken. Ich warf Geralt einen finsteren Blick zu. „Sie sind entzückend. Auch dann, wenn sie kein Ungeziefer fangen“, bekräftigte ich, ehe ich mir die Ratte besah. Mit den Tieren an sich hatte ich kein Problem, doch halb zerkaut und mit heraushängenden Gedärmen war die riesige Ratte nicht unbedingt besonders appetitlich. Dass ich von dem kleinen Geschenk nicht so richtig angetan war, schienen die Winchesters nicht wirklich zu merken, denn besonders Dean stieß mich mehrmals an, um meine Aufmerksamkeit vollends auf das tote Tier zu lenken. Seufzend strich ich erst den beiden Greifen durchs Gefieder. „Das habt ihr gut gemacht“, lobte ich sie und schickte zugleich ein stummes Stoßgebet zum Himmel, dass sie nicht allzu bald von Bisamratten auf größere beute umsteigen würden. Wenn sie anfingen, Schafe oder Ziegen zu reißen, würde sich bestimmt niemand mehr über ihre Jagderfolge freuen. „Meinst du, wir sehen Regis und Dettlaff nochmal wieder?“, meinte ich nach einer Weile einfach in die Stille hinein. Die einzige Reaktion, die ich Geralt damit entlocken konnte, war ein gutturales Brummen, das alles oder auch nichts bedeuten konnte. Was hatte ich auch anderes von ihm erwartet? Gesprächig war der Hexer nun einmal wirklich nicht. Umso überraschter war ich, als ich doch noch eine Antwort auf meine Frage erhielt, wenngleich von anderer Stelle. „In der Tat.“ Überrascht wandte ich meinen Blick in Richtung des Sprechenden. Regis‘ Züge zierte ein Lächeln. Ich hatte ihn und Dettlaff, der einem Schatten gleich hinter Regis stand, nicht kommen sehen. „Regis! Dettlaff! Ich dachte...“, begann ich verdattert, beendete meinen Satz jedoch nicht. „Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass es verfrüht wäre, überstürzt aufzubrechen“, erklärte Regis mit einem vielsagenden Schmunzeln, das ich nicht so richtig zu deuten wusste. Mein Blick wanderte zu Dettlaff, doch dessen steinerner, fast verbissen anmutender Miene, konnte ich noch weniger entnehmen, was Regis andeuten wollte. „Machts euch bequem. Hole uns noch was zu trinken“, brummte Geralt und erhob sich. „Lass mich dich begleiten, mein Freund. Es gibt da eine Sache, die ich ohnehin noch mit dir besprechen wollte.“ Ob er Geralt auch nochmal nach dem Katakan fragen wollte? Ich hoffte es, sagte aber nichts, als der Vampir dem Weißen Wolf ins Haus folgte. Wortlos nahm Dettlaff neben mir Platz. Eigentlich hatte ich erwartet, dass er einfach schweigen würde, bis Regis und Geralt wiederkamen, doch der Vampir überrascht mich, indem er die Stille durchbrach. „Ich habe versäumt, dir für alles zu danken, was du getan hast“, meinte er und klang dabei, als habe er sich diese Worte schon eine ganze Weile zurechtgelegt, korrigierte sich dann aber und meinte: „Was du für mich getan hast, obgleich ich dir ein Fremder war.“ Ich runzelte die Stirn, nickte dann aber, bevor ich den Kopf schüttelte. „Nicht so fremd“, widersprach ich mit einem schiefen Grinsen. „Aber gern geschehen. Ich würde es jederzeit wieder tun. Es war das Richtige.“ „Das Richtige“, wiederholte Dettlaff leise, fast seufzend, also nickte ich bekräftigend. „Ja. Es ist nicht deine Schuld, was passiert ist. Jeder, der jemals geliebt hat, würde verstehen, wieso du getan hast, was du getan hast. Für unsere Lieben würden wir eben alles tun.“ Im Grunde wiederholte ich mich, aber ich schätzte, es würde noch lange dauern, bis meine Worte Dettlaff wirklich begreiflich würden. Wie sehr die Schuldgefühle an ihm fraßen, hatte man ihm Spiel kaum mitbekommen, sehr wohl aber seinen Zorn auf alle Menschen. Und all das nur wegen Syanna. Alles nur, weil sie ihre Rache über alles gestellt hatte, gleichgültig ob der Gefühle, die sie damit ausnutzte. Auch jetzt noch kochte in mir etwas hoch, wenn ich nur daran dachte, dass diese verdammte Intrigantin jetzt gemütlich in einem kuschelweichen Bett lag und sich den Tag über mit Leckereien hatte verwöhnen lassen, die man ihr im herzoglichen Palast kredenzte, während alle Schuld auf Dettlaff geschoben wurde, als sei der ein wahllos mordendes Ungeheuer. „Ihr Menschen seid wirklich so unterschiedlich, wie es nur geht“, sinnierte Dettlaff, nachdem er mich eine Weile einfach nur angestarrt hatte, als überlege er angestrengt, wie er seine Gedanken in Worte fassen sollte. Ich grinste, ohne zu zögern. „Angesichts des Vergleichs werte ich das als großes Kompliment.“ Dass sein Angelpunkt dabei noch immer Syanna war, war ja nicht schwer zu erraten und mit ihr nicht auf eine Ebene gestellt zu werden, konnte ich nur als etwas Gutes empfinden. Ob mein Einwirken letztlich dazu geführt hatte, dass Dettlaff sich nicht für lange Zeit von allen Menschen abkapselte, sondern ihnen vielleicht doch noch eine Chance gab, würde wohl erst die Zeit zeigen. Zumindest gab es Grund zu hoffen. „Mach dir nicht so viele Gedanken darum, Dettlaff. Genauso wenig wie alle Vampire gleich sind, sind alle Menschen gleich. Und dabei würde ich noch immer unterschreiben, dass die meisten Menschen einfach kacke sind“, bemerkte ich trocken, bevor ich dem Vampir freundschaftlich die Schulter tätschelte. „Es ist nicht immer einfach, aber wenn man dran bleibt, findet man die wenigen, die es wert sind, dass man ihnen vertraut und sich ihnen widmet.“ Dettlaffs Miene verfinsterte sich kurz, dann hellte sie sich auf und er nickte. Genau in diesem Moment kehrten auch Geralt und Regis zurück, bewaffnet mit mehreren Flaschen aus dunklem Glas und einem Tonkrug, über dessen Inhalt ich vielleicht lieber nichts Genaues wissen wollte. Zu meiner Erleichterung drückte Geralt mir wortlos einen Holzbecher in die Hand, aus dem zwar ein süßer Geruch aufstieg, der mich jedoch nicht an Wein erinnerte. „Und worauf trinken wir?“, wandte sich Geralt an unsere illustre Runde, die einen Moment lang beredt schwieg, ehe Regis meine. „Trinken wir auf den Abend eines ruhigen Tages. Auf dass weitere folgen mögen.“ Der Vampir ließ sich von Geralt aus einer der Flaschen einschenken und wartete geduldig, bis auch Dettlaff und der Hexer versorgt waren, ehe er seinen Becher hob. „Auf den Abend“, brummte Geralt einstimmend. Mit einem hölzernen Klicken stießen unsere Becher gegeneinander. Gerade, als ich vorsichtig probieren wollte, was mir der Hexer da gegeben hatte, entglitt mir dieser. Erschrocken schrie ich auf und Sam fiel sofort mit ein. Sein Kreischen übertönte mich sogar noch. Ich hatte mich jedoch nicht wegen des verschütteten Getränks, sondern wegen des Anblicks meiner eigenen Hand, die halbdurchsichtig geworden war. Wann oder wieso, wusste ich nicht einmal, aber ich hätte schwören können, noch eine Sekunde vorher war alles in bester Ordnung gewesen, wenngleich ich auch jetzt nichts Seltsames spürte. Panisch hob ich auch die andere Hand, um sie zu begutachten. Auch durch sie konnte man hindurchsehen, als wäre mein Körper plötzlich aus einer Art milchigem Glas. „Was hat das zu bedeuten?“, verlangte Dettlaff zu wissen, der mich genauso entsetzt ansah, wie ich mich fühlte. Eine Antwort auf seine Frage hatte ich allerdings nicht und so überrascht wie auch Regis und Geralt dreinsahen, ging es ihnen nicht anders. „Der Kristall“, brummte der Hexer schließlich und lenkte damit auch meine Aufmerksamkeit auf das funkelnde Kleinod, das schon seit Beginn meiner seltsamen Reise an meinem Hals baumelte, und jetzt in hellem Licht strahlte. Verwirrt versuchte ich, danach zu greifen, und fasste doch einfach hindurch. „Nicht!“, flehte ich das Schmuckstück an. „Diese Vampire sind meine Freunde. Es gibt keinen Grund, irgendeinen Zauberkrams zu starten!“ Bisher hatte es doch auch nie auf Regis und Dettlaff reagiert! Warum spann das Teil denn nun auf einmal herum? Deans aufgeregtes Kreischen zerriss die Luft und übertönte, was immer der Hexer noch sagte völlig, doch Regis nickte mit ernster Miene, bevor sein Blick mich fixierte. „Gib auf dich acht und hab Dank für alles, was du für uns getan hast“, meinte Regis, der nun fast bedrückt, aber nicht länger beunruhigt wirkte. Sein Blutsbruder hingegen teilte diese Ruhe nicht, sondern versuchte, nach meinem Arm zu greifen. Vergeblich. Mein Blick suchte den des ergrauten Vampirs, dann Geralts und schließlich Dettlaffs. Regis‘ Worte ließen keinen Zweifel daran, was er glaubte, das hier geschah. Ich kehrte heim. Meine Aufgabe hier war erledigt. Der Kristall brächte mich zurück in meine Welt. Meine Gedanken rasten. Aber wer würde dann den Zauber für Theodor wirken? Darauf würde ich wohl nie eine Antwort erhalten, denn ich konnte dabei zusehen, wie meine Arme und überhaupt mein gesamter Körper mit jeder Sekunde durchsichtiger wurden. „Passt auf euch auf! Macht keinen Unfug! Und bitte achtet auch auf die Winchesters!“, bat ich so hastig, dass ich dabei über meine eigenen Worte stolperte, doch meine Freunde schienen auch so verstanden zu haben. Geralt nickte mir zu, stutzte jedoch, als ich fortfuhr. „Heirate Yen! Heirate Yen, hörst du?! Tu es, solange sie dich noch will!“ Entgeistert starrte der Weiße Wolf mich an, doch als er den Mund öffnete, um etwas zu sagen, kam ihm Dettlaff zuvor. „Ich werde nicht vergessen, in welcher Schuld ich stehe und ich werde sie eines Tages begleichen.“ Energisch schüttelte ich den Kopf. Nach meinem Empfinden gab es keine Schuld zwischen uns und ich wollte auch nicht, dass Dettlaff glaubte, mir gegenüber etwas gutmachen zu müssen. Der Vampir ließ sich jedoch nicht beirren oder wenigstens glaubte ich das, denn was er als Nächstes sagte, verstand ich nicht. Er sprach in einer Sprache, die ich noch nie gehört hatte, mich aber entfernt an Russisch erinnerte. Die Silben klangen hart, doch ich konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass ihre Bedeutung voller Wärme war, wenngleich ich kein Wort verstand. Regis‘ Miene zeichnete ein Lächeln, während Geralt ähnlich irritiert dreinsah wie ich. Lange Zeit, uns zu wundern, blieb uns allen jedoch nicht. Meine Hände waren inzwischen unsichtbar geworden und ich hatte das Gefühl, zu schweben, denn den Boden unter meinen Füßen konnte ich nicht länger spüren. „Ich hab euch lieb. Lebt wohl“, wisperte ich erstickt, als mir nun die Tränen in die Augen stiegen. Regis sagte noch etwas, doch ich hörte die Worte schon nicht mehr, da hüllte mich das gleißende Licht des Kristalls ein, riss mich hinfort und tauchte abrupt alles in unendliche Schwärze. Blinzelnd öffnete ich die Augen. Wo ich war, erkannte ich sofort und doch fühlte es sich absolut surreal an. Ich war Zuhause, zurück in der Welt, in die gehörte. Genau genommen in meinem Bett. Ungläubig sah ich mich um und brauchte nur wenige Sekunden, um die Nässe auf meinen Wangen zu bemerken. War alles nur ein Traum gewesen? Hatte ich mir all das nur eingebildet? Prüfend sah ich meine Hände an, als könnten sie mir darauf Antwort geben, doch kein Staubkorn ließ ahnen, dass ich je irgendwo anders als in meinem Bett gewesen war. Keine Spur von irgendwelchen Kratzern oder Blessuren, die ich nach meinen Erinnerungen in den letzten Tagen davongetragen hatte. Wie von selbst glitt meine Hand zu meinem Hals, wo ich den Kristall ertasten wollte. Er war fort. War am Ende wirklich alles nichts weiter als ein Traum gewesen? Es hatte sich so real angefühlt! Auch jetzt, als ich mich aufrichtete, konnte ich das Gefühl nicht abschütteln, etwas unsagbar Wertvolles verloren zu haben. Den Bahnen der bereits getrockneten Tränen folgten neue. All die Zeit hatte ich zurück nach Hause gewollt, doch jetzt wäre ich viel lieber bei meinen Freunden, bei den süßen Winchesters, dem grumpeligen Hexer und den beiden Vampiren, die mir in den vergangenen Tagen so ans Herz gewachsen waren. Wie lange ich einfach mit angezogenen Beinen auf meinem Bett hockte und vor mich hin schluchzte, wusste ich nicht zu sagen, doch als ich schließlich nach meinem Handy griff, das wie stets auf dem Nachttisch lag, erschrak ich bis ins Mark. Ein eisiger Schauer lief mir über den Rücken und hinterließ dort ein unangenehmes Gefühl der Beklemmung. Wenn man dem kleinen Gerät in meiner Hand trauen konnte, war seit meinem Aufeinandertreffen mit dem Greifen nur ein einziger Tag vergangen. Das war absolut unmöglich! Ich war tagelang, nein sogar wochenlang, in der Welt von The Witcher umhergereist, da war ich mir absolut sicher! Am liebsten wäre ich aufgesprungen, um nach irgendwelchen Hinweisen zu suchen, doch zugleich fühlte ich mich wie erstarrt und ahnte längst, dass ich nichts finden würde. Schniefend wischte ich mir mit dem Handrücken über das Gesicht, doch die Tränen wollten einfach nicht versiegen. Verdammt! Wenn alles nur ein Traum gewesen war, wieso ging es mir dann so nahe? Wieso hatte sich alles so absolut real angefühlt? Ich hatte noch den Geruch von Regen in der Nase, konnte noch die Krypta vor meinem inneren Auge sehen, in der Regis und Dettlaff lebten. Aber auch die Gräuel, die ich in den vergangenen Tagen gesehen hatte, standen mir auch jetzt noch lebhaft vor Augen, allen voran die Leichen, die in Beauclairs Rinnstein gelegen hatten, während die Vampirkönigin sich anschickte, die Stadt an sich zu reißen und ihre Macht wiederherzustellen. Das alles konnte doch nicht einfach nur ein Produkt meiner Fantasie gewesen sein! Natürlich träumte ich manchmal sehr realistisch, aber nicht so und vor allem nicht über einen so langen Zeitraum. Ich biss mir auf die Unterlippe und fuhr mir nun mit beiden Händen über die Augen. Wenn ich ehrlich war, wollte ich einfach nicht, dass all meine Erlebnisse nur geträumt waren, weil es auch bedeutet hätte, dass meine Freunde nicht real waren, dass die Gefühle, die mich mit ihnen verbanden, nicht echt waren, und dieser Gedanke erschien mir einfach unerträglich. Mein Alltag hatte mich schneller wieder eingenommen, als ich es für möglich gehalten hatte. Während ich den Sonntag damit verbracht hatte, einfach nur herumzusitzen und mir Videos auf Youtube anzusehen, in denen Spieler Szenen aus dem AddOn Blood and Wine zeigten, war ich am darauffolgenden Montag pflichtgetreu wieder zur Arbeit gegangen, wobei es mir zu meiner eigenen Überraschung nicht schwergefallen war, mich auf die Arbeit zu konzentrieren. Sie war ein hervorragendes Mittel, um ich davon abzuhalten, meinen Gedanken und Erinnerungen nachzuhängen, die mich wiederum dazu gebracht hätten, darüber nachzugrübeln, ob mein Abenteuer nicht doch real gewesen sein könnte, auch wenn es absolut nichts gab, das für diese Theorie sprach, außer vielleicht, dass ich mich nicht erinnerte, wie ich überhaupt nach Hause gekommen war. Sansi hatte ich am Sonntag nicht mehr angesprochen, sondern die Auflösung unseres Streites auf heute verschoben, aber ich war mir absolut sicher, dass ich in dieser Nacht eigentlich nie daheim angekommen war. Uneigentlich sah es aber genau danach aus. Seufzend schnappte ich mir meine Tasche. Die Uhr zeigte schon fast halb sechs und verriet mir damit, dass ich längst Zuhause sein sollte. An einem anderen Tag hätte ich mich vielleicht darüber geärgert, weil meine Überstunden nicht bezahlt oder abgefeiert würden, aber heute war mir das absolut egal. Die Arbeit war eine willkommene Ablenkung gewesen und jetzt, da ich mich auf den Heimweg machte, wanderten meine Gedanken sofort wieder nach Toussaint, als wäre es ein reales Land. Wenn die Zeit dort so viel schneller verging als hier, wie war es dann wohl meinen Freunden in der Zwischenzeit vergangen? Fragten sie sich manchmal, ob ich wirklich wieder in meiner Welt war und wie es mir ging? Vermissten sie mich? Oder war alles, woran ich mich zu erinnern glaubte, doch nur ein Traumfragment, das ich mir auf Grundlage eines Computerspiels zusammengereimt hatte? Realistisch gesehen war vermutlich genau das der Fall. Am besten, ich kochte mir erst einmal eine Kleinigkeit und versumpfte mich dann vielleicht nochmal in Blood and Wine, um mir vor Augen zu führen, wie die Geschichte tatsächlich ablief. Vielleicht erkannte ich dann auch in meinem Herzen, dass meine Erinnerungen mir einen Streich spielten. Mit diesem tristen Gedanken im Sinn schob ich den Schlüssel ins Schloss meiner Wohnung. Achtlos hängte ich Jacke und Tasche an die Garderobe, bevor ich mich gen Küche wandte. Mit einem lauten Maunzen tapste Jui, der laut nach seinem Abendessen verlangte, bereits auf mich zu. Schmunzelnd ging ich in die Hocke, um ihm über den Kopf zu streicheln, den er mir entgegenreckte. „Maaau!“, beschwerte er sich, buckerte aber noch einmal, ehe er sich gen Napf wandte. „Schon klar, schon klar. Du kriegst zuerst“, beschwichtigte ich den Stubentiger. Dieses allabendliche Ritual gab mir Sicherheit, dass alles war, wie immer, so wie es sein sollte. Aber zugleich verhieß es mir auch, dass alles, was ich glaubte, erlebt zu haben, eben doch nur ein Gebilde meiner Fantasie war. Scheiße, schon fast Mitternacht! Wann war das bitte passiert? Die Suchtwirkung von The Witcher III war wirklich nicht zu unterschätzen. Jetzt war ich gute vier Stunden in dem Spiel versumpft und hatte es nicht einmal bemerkt. Höchste Zeit für mich, mich ins Bett zu krümeln, sonst würde ich morgen im Büro richtig durchhängen und dabei wartete dort einiges an Arbeit auf mich, die ich lieber nicht halbherzig erledigen wollte. Ich gähnte und rieb mir über die Augen, deren Blick nach Jui suchte, den ich schließlich auf seinem Kratzbaum fand, wo er sich eingerollt hatte und allem Anschein nach schlief. Müde blinzelte ich den Bildschirm an und entschied, dass die Quest wirklich bis morgen warten könnte. Kurz musste ich das Speichern abwarten, dann beendete ich das Spiel und fuhr meinen Rechner herunter, dann streckte ich mich auf meinem Stuhl, um mein linkes Bein zu wecken, das mir eingeschlafen war und unangenehm kribbelte. Als ich wenige Minuten später aus dem Bad ins Schlafzimmer schlurfte, hatte ich noch nicht geahnt, welche Überraschung mich dort erwarten sollte. Noch im Türrahmen blieb ich stehen. Mein Blick fokussierte einen großen Wandspiegel mit versilbertem Rahmen. Ich kannte diesen Spiegel nicht, hatte nie auch nur einen ähnlichen besessen. Skeptisch durchsuchte ich den Raum mit meinen Blicken, doch konnte sonst nichts Ungewöhnliches feststellen. Die Wohnungstür war abgeschlossen gewesen und außer mir besaß keiner einen Schlüssel. Auch die Fenster waren alle geschlossen, da war ich absolut sicher. Um sie offen zu halten, war es draußen viel zu kalt. Außerdem prüfte ich das jeden Morgen geflissentlich, ehe ich mich auf den Weg zur Arbeit machte. Wie also war dieser Spiegel hierher gekommen? Und wieso sollte mir jemand einen Spiegel hierher stellen? Verwirrt trat ich näher an die glatte Oberfläche heran, die mein eigenes irritiertes Gesicht zeigte. Ohne sagen zu können, wieso, streckte ich die Hand nach dem Rahmen aus, um die feinen ziselierten Ranken mit den Fingerspitzen nachzufahren. Ich hatte keine Ahnung, ob der Rahmen nur antik aussah oder wirklich antik war, aber hübsch fand ich ihn allemal. Meine Fragen, was es mit diesem Spiegel auf sich hatte, erklärten sich damit allerdings nicht. Plötzlich flirrte das Glas vor mir, die Farben verwirbelten und seltsame Wellen fuhren über die Oberfläche. Überrascht war ich einige Schritte zurückgetaumelt, die Augen vor Schreck geweitet. Aber noch bevor ich mich fragen konnte, was hier überhaupt passierte, zeigte mir der Spiegel etwas, das mir schmerzhaft bekannt war. Weite Felder, grüne Wiesen und in der Ferne die erhabene Stadt Beauclair mit ihren hellen Mauern und roten Dächern. Sogar den Fluss konnte ich sehen, den Geralt und ich bei unserer Ankunft in der Stadt überquert hatten und an dessen Ufern eine der Leichen gefunden worden war. Mit klopfendem Herzen trat ich näher, legte die Fingerkuppen an die kalte Oberfläche des Spiegels. Ich wusste nicht, wie er hergekommen war oder wieso, aber ich wusste, was er mir zeigte. Meine Erinnerungen waren wahr. Ich hatte nicht nur geträumt. Alles war real gewesen, alles war echt. Das Bild vor meinen Augen verschwamm, doch nicht weil das Spiegelbild sich verzerrte, sondern weil Tränen meinen Blick trübten. So fern mir meine Freunde nun auch waren, so unerreichbar ihre Welt, so tröstlich war doch der Blick, der mir dieser Spiegel gewährte. Jeden Morgen und jeden Abend warf ich einen Blick in den Spiegel, der stets genau zu wissen schien, wann es Zeit war, um mir Toussaint zu zeigen, und auch wenn ich dabei nie einen Blick auf irgendjemanden erhaschen konnte, wusste ich doch, dass es kein Standbild war, denn manchmal konnte ich Schemen in der Ferne erkennen. Aber auch das wechselnde Wetter gab preis, dass ich einen Blick in eine andere Welt warf, wann immer ich den Spiegel betrachtete. Woher der Spiegel kam, wusste ich zwar selbst jetzt, Wochen später, nicht mit Sicherheit, doch müsste ich raten, war er wohl ein Geschenk von Gaunter O’Dimm, dem Mann, der sich auch Spiegelmeister nannte und der zweifellos eines der mächtigsten Geschöpfe war, das man im Spiel treffen konnte. Seinem Verhalten nach entsprach er vielen Darstellungen des Teufels und ich meinte, mich zu erinnern, er wäre auch als eine Art Dämon eingestuft worden. Dass er als Bezahlung für seine Dienste eine Seele zu fordern neigte, untermalte diese Idee noch. Getroffen hatte ich dieses Wesen jedoch nie und so hatte Gaunter von mir auch nie dergleichen verlangt, was mich wiederum zu der Sorge führte, dass jemand anderes ihm etwas versprochen hatte, damit ich diesen Spiegel bekam. Wer, darüber konnte ich auch wieder nur spekulieren. Dettlaff vielleicht? Regis hielt ich für zu klug, um auf den Spiegelmeister hereinzufallen. Geralt hatte ihn einmal ausgetrickst, aber würde das Risiko kein zweites Mal eingehen. Theodors Leben war bereits an anderer Stelle der zu zahlende Preis. Zärtlich strich ich über die glatte Oberfläche des Spiegels. „Bitte gebt auf euch Acht“, wisperte ich gegen das kalte Glas, ein bitteres Lächeln auf den Lippen. Lieber hätte ich auf diesen Spiegel verzichtet und die Sicherheit, die er mir bedeutete, und dafür nicht die Seele eines Freundes in Gefahr gewusst. Allerdings konnte ich auch nicht leugnen, dass es mir unsagbar viel bedeutete, immer wieder einen Blick auf die Welt erhaschen zu können, die mir zwar auf so viele Weisen fremd gewesen, aber doch auch irgendwie mein Zuhause geworden war. Dass der Spiegel nur mir Toussaint zeigte, hatte ich bald herausgefunden, doch das wunderte mich nicht wirklich. Vielleicht war es sogar besser so. Wie hätte ich irgendwem erzählen können, was mir passiert war, um dann zu sagen, dass ich mir den Spiegel nicht erklären konnte? Obendrein war es mehr als wahrscheinlich, dass man ihn mir weggenommen hätte, um ihn zu untersuchen, während ich mich zahlreichen Befragungen hätte aussetzen müssen. Doch so würden mir wohl nicht einmal meine Freunde glauben, wenn ich ihnen von meinem Abenteuer erzählte, von dem Weißen Wolf, an dessen Seite ich gereist war, von dem klugen Barbierchirurgen-Vampir Regis und seinem Blutsbruder Dettlaff, der in mancher Hinsicht so viel menschlicher war, als es für die meisten Menschen galt. Nein, niemand würde mir auch nur ein Wort dieser wundersamen, unglaublichen Geschichte glauben. Dennoch hat mich das nicht davon abgehalten, sie aufzuschreiben, sie in Worten festzuhalten. Ich erinnere mich. Ich werde mich immer erinnern. An die großen und kleinen Dinge. An Regis‘ nachsichtiges Lächeln, an Dettlaffs immerzu angespannte Haltung, an Geralts Brummen, das oftmals mehr sagte, als tausend Worte. Sicher nicht perfekt, denn meine Erinnerung mag mich in einigen Punkten trügen und wer vermag schon zu sagen, was mir alles entgangen ist, weil ich die Welt eben nur durch die Augen eines ganz normalen Menschen sehe? Was hätte Regis wohl über unsere gemeinsamen Erlebnisse berichtet? Das hätte ich wirklich gern gelesen. So jedoch müssen wir, du und ich, damit vorliebnehmen, was ich zu Papier brachte und hiermit auch an dich, werter Leser, weitergab. Ich gehe nicht davon aus, dass du auch nur ein Wort von dem glaubst, was du hier gelesen hast, doch das macht nichts. Wenn es dich nur ein klein wenig berührt hat, wenn du nur einen kleinen Funken Menschlichkeit, einen Hauch Mitgefühl, gespürt hast, haben wir diese Reise irgendwie doch gemeinsam noch einmal gemacht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)