Mord-Semester von Futuhiro (Magister Magicae 3) ================================================================================ Kapitel 8: Verstrickt --------------------- „Ich bin Victor. ... Victor Akomowarov.“ „Von dir hab ich noch nie gehört“, meinte Vladislav, stand auf und kam in Ruhe näher. Die Leiche seiner Lagerhalterin störte ihn überhaupt nicht. Nur eine ersetzbare, verräterische Schlampe, die für den Geheimdienst spitzelte. Weg mit ihr! „Ich bin Jäger, ich sorge hier für den Nachschub“, antwortete Victor und deutete auf die Käfige, in denen eine ganze Ladung Ovinniks eingesperrt waren. „Seit wann?“ „Ein halbes Jahr, vielleicht länger. Ich war erst Schleuser, bevor Nadeschda mich auf die Jagd geschickt hat.“ „Aha. Dann ist es also dein Verdienst, daß das Lager D im letzten Quartal soviel Umsatz gemacht hat, wie im ganzen letzten Jahr zusammen.“ „Wie gesagt“, lächelte Victor. „Ich bin ein Mann der Tat.“ „Ich sollte dir vielleicht was Größeres anvertrauen ... Victor.“ „Du ehrst mich“, erwiderte der Gestaltwandler kühl, als hielte er das für einen Witz, und machte sich weiter an den Kisten zu schaffen. Mehr, um seine Emotionen nicht zu verraten, und nicht so sehr weil er den Boss nicht ernst genommen hätte. Etwas fahriger als gewollt holte er das nächste Werwolfsfell aus der Kiste und breitete es mit Schwung aus, damit er die Qualität prüfen konnte. „Ich meine das ernst. Wenn du derjenige bist, der hier für den ganzen Nachschub sorgt, dann hast du echt was drauf. Und du zögerst nicht, zu tun, was getan werden muss, wie ich sehe!“ Alter Schwede, das war genau das, was er die ganze Zeit gewollt hatte. Zugang zum Chef, zum Kern der Organisation selbst. Er musste sich bewusst ermahnen, jetzt nicht zu euphorisch zu reagieren und sich nicht zu verraten. „Ich wäre nicht abgeneigt. Aber lass uns nochmal in Ruhe drüber reden, ja? Da kommen Iwan und Petr.“ Er deutete zur Tür, wo gerade der Motor eines LKW´s zu hören war. „Die Sklaven müssen noch für den Abtransport vorbereitet werden. Mit einem Bann belegt werden, und so. Wird wohl jetzt an mir hängen bleiben, nun wo Nadeschda gekündigt wurde.“ Der Boss nickte mit einem hinterlistigen Schmunzeln, das Victor nicht recht deuten konnte, und rieb sich das Kinn. „Wir sprechen uns wieder.“ Die Tür ging auf und Iwan und Petr kamen grüßend herein. „Hey-Ho! Wie weit seid ihr? Heiliger ...! Was ist passiert?“, keuchte der Hellseher, als er Nadeschda sah, deren Blut sich langsam auf dem Boden ausbreitete. „Kümmer dich um die Leiche. Und dann wickel den Transport ab. Du fährst heute mit nach Polen“, legte Vladislav an Victor gewandt fest. „Sicher.“ Der Boss wandte sich ab und spazierte gelassen davon. Victor beherrschte sich gerade noch lange genug, bis Vladislav zur Tür hinaus war, dann griff er sich laut stöhnend an den Kopf. „dermo!“, fluchte er ungehalten. „Scheiße! Scheiße! Scheiße!“ Nachdem Victor aus Polen zurück war, verbrachte er noch zwei weitere Tage in der Holzhütte Lager D. Er redete sich ein, daß er das Lager ohne Nadeschda am Laufen halten musste und sich möglichst schnell in alles einarbeiten musste. Er kannte weder die Buchhaltung, noch kannte er Nadeschdas Kontakte. Er hatte keine Ahnung, an wen sie die Sklaven überhaupt verkaufte und wie sie mit den Käufern Kontakt aufnahm. Er wusste nicht, wie sie an die Weißrussische Armee heran kam, und auch nicht, für welche Art von Genius man wieviel Geld verlangen musste. Nur eins hatte er sich bereits vorgenommen, er würde die Preise ein wenig hochschrauben. Der Boss war zufrieden mit den hohen Umsätzen von Lager D? Dann sollte er hohe Umsätze bekommen! Er sollte allen Grund haben, sich nochmal mit Victor zu befassen. Victor konnte die Arbeit im Lager D nicht verkümmern lassen, weil sie ihn anwiderte. Er musste im Gegenteil dafür sorgen, daß sie beträchtlich gedieh. Anders würde er nie aufsteigen. Aber abgesehen davon kam es ihm auch ganz gelegen, zwei Tage nach Polen zu verschwinden, um möglichst weit von der Polizei weg zu kommen. Erst nach Tagen traute er sich das erste Mal wieder in seine Wohnung, paranoid darauf bedacht, keinem Gesetzeshüter vor den Bug zu laufen. Wie erwartet war die Wohnung aufgebrochen und mit Polizeisperrband abgesperrt. Er blieb nur lange genug, um ein paar persönliche Gegenstände zu holen, dann türmte Victor wieder. Er würde die Wohnung umgehend aufgeben und sich eine neue suchen, die der Geheimdienst hoffentlich nicht so schnell aufspürte. Er hatte da schon einige Vorkehrungen im Sinn. Und die Verwendung seines neuen Namens Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov war nur einer davon. Keine Ahnung, wie er ausgerechnet auf Akomowarov gekommen war. Das war der Name seines Literaturlehrers in der Grundschule gewesen und Victor hatte ihn nichtmal sonderlich leiden können. Aber ein besserer Name war ihm im Eifer des Gefechts nicht eingefallen. Doch da er sich dem Boss Vladislav nun einmal so vorgestellt hatte, musste er auch dabei bleiben. Sein nächster Weg führte Victor in die Universität, wo er den Dekan aufsuchte. Der einzige Mann, der ihm jetzt vielleicht noch sagen konnte, was wirklich Phase war. Ohne zu klopfen platzte er ins Durchgangszimmer der überraschten Sekretärin hinein, ein Taschenmesser in der Hand. Sie starrte ihn entgeistert an, brachte aber kein Wort heraus, als er auf sie zumarschierte. Victor blieb vor ihrem Schreibtisch stehen. „Ist der Dekan da?“ Sie nickte mit offenem Mund. „Gut!“ Er ließ die Klinge seines Messers herausschnappen und präsentierte diese. „Nur zur Sicherheit“, schmunzelte er, griff nach der Leitung ihres Schreibtischtelefons und kappte das Kabel mit einem Ruck. Dann ließ er die Klinge wieder hinein schnappen, steckte das Messer weg und streckte ihr die Hand hin. „Dürfte ich wohl vorübergehend mal um Ihr Handy bitten? Sie kriegen´s wieder.“ Verblüfft nahm sie ihr offen auf dem Schreibtisch herumliegendes Privathandy und reichte es ihm. Victor ging weiter. Geile Sache, dachte er dabei zufrieden. Solche Auftritte sollte er öfter hinlegen. Das war richtig maffia-würdig. Aber da er nunmal leider davon ausgehen musste, daß er inzwischen schwer gesucht war, konnte er es sich nicht leisten, daß die Sekretärin die Polizei rief, während er mit dem Leiter der Uni sprach. Als seine Sekretärin war sie bestimmt in vieles eingeweiht. Auch darin, daß einer ihrer ehemaligen Studenten polizeilich gesucht wurde. Auch ins Büro des Dekans platzte Victor ohne jede Ankündigung oder gar Aufforderung hinein. Der Dekan und ein Professor, mit dem dieser gerade irgendwas besprach, schreckten beide vom Tisch hoch. „Nikolai!“, keuchte der Leiter. „Auf ein Wort, Magister“, gab Victor kühl zurück. Er wusste, daß der Mann selbst einen Magister-Titel hatte und sprach ihn lieber damit an, auch wenn das rangniedriger war als der Titel 'Dekan'. „Ja ... äh ... natürlich ... Professor, wenn Sie mich kurz entschuldigen könnten!? Warten Sie doch bitte eine Sekunde draußen. Ich bin sofort wieder verfügbar“, bat er überrumpelt seinen nicht minder verdutzten Gast hinaus und sprang auch selbst auf. Der Professor nickte nur verwirrt und trollte sich. Victor beobachtete reglos die Tür, bis sie wieder zu war. „Nikolai, bist du denn von allen guten Geistern verlassen, hier her zu kommen?“ „Bin ich das?“, gab Victor schnippisch zurück. „Falls du es noch nicht bemerkt hast, die Polizei sucht überall nach dir! Es gibt einen Haftbefehl für dich!“ „Ist mir nicht entgangen. Und ich wüsste gern, warum.“ „Warum!?“, echote der Mann, als hätte er sich verhört. „Meine Kontaktperson ist weg. Sie sind mein letzter Mittelsmann zum Geheimdienst. Sie kennen diesen Gontscharow persönlich“, stellte Victor böse klar. „Wenn Sie mir das nicht sagen können, dann keiner. Also will ich jetzt meine Antwort von Ihnen haben! Warum sucht die Polizei mich? Ich arbeite für den Geheimdienst. Jagen die neuerdings ihre eigenen Leute?“ Der Dekan setzte sich langsam wieder. „Die Geheimpolizei deckt dich nicht mehr, Junge. Du bist raus aus dem Spiel.“ Victor nickte bedächtig und nahm auf dem Stuhl Platz, auf dem zuvor der Professor gesessen hatte. Selbstsicher legte er den rechten Fuß auf dem linken Oberschenkel ab, so daß sein Schienbein eine Barriere baute. „Was werfen die mir vor?“ Der ältere Mann im Anzug fuchtelte kurz hilflos mit den Armen, als er versuchte, ein Schulterzucken zu vermeiden, das nicht der Wahrheit entsprochen hätte. „Alles. Sklavenhandel. Waffenhandel.“ „Natürlich. Ist ja nicht so, als hätte ich eine Wahl. Was hätte ich denn tun sollen? Desertieren? Was die mit mir machen, wenn die mich für einen Deserteur, oder noch schlimmer für einen Verräter, halten, ist nichts für fantasiebegabte Leute!“ „Es war sogar von Mord die Rede, Nikolai! Hast du geglaubt, der Geheimdienst würde sowas decken?“ „Hat der Geheimdienst etwa geglaubt, ich würde als völlig unbescholtenes Lämmchen, als weißes Blättchen Papier, das sich nichts zu Schulden kommen lässt, Zugang zu den höchsten Kreisen der Motus kriegen?“, zischte Victor hysterisch. „Hat der Geheimdienst etwa geglaubt, ich dürfte nur stillschweigend zusehen, ohne mir die Finger schmutzig zu machen!? Und würde dafür Belobigungen kriegen und vom Boss der Motus mit Einblick in alle Pläne belohnt werden!?“ Kurz Ruhe. Ein betreter Blick des Dekans. „Glaubt der Geheimdienst, ich kann da einfach jederzeit wieder aufhören, wenn ich keine Lust mehr drauf habe?“ Der Dekan seufzte nur und wandte den Blick ab. „Fragen Sie das Ihren Herrn Gontscharow, wenn Sie ihn das nächste Mal sehen! Und sagen Sie ihm, er ist der nächste auf der Liste der Motus! Dafür sorge ich persönlich!“ „Nikolai Grigorijewitsch, du solltest jetzt besser gehen. Und ich hab dich nicht gesehen.“ „Möchte ich Ihnen auch geraten haben ...“, maulte Victor und beherrschte sich gerade noch, ihn nicht bezüglich seines neuen Namens 'Victor' zu korrigieren. Besser, der Geheimdienst erfuhr noch nichts von der Verwandlung von Nikolai in Victor Akomowarov. Das kriegten die auch so noch früh genug mit. „Pass auf dich auf, hörst du?“ „Ach, lecken Sie mich doch am Arsch!“, fluchte der junge Gestaltwandler, fuhr von seinem Stuhl hoch und schneite davon. Er riss die Tür auf und ließ sie lautstark wieder ins Schloss krachen, nachdem er sie passiert hatte. Er fühlte sich zutiefst gekränkt, daß der Geheimdienst ihn in so eine Löwengrube geworfen hatte und ihn dort dann sich selbst überließ. Die würden ihm also nicht mehr helfen. Ein neuer Plan musste her. Wieder gingen ein paar Monate ins Land, in denen nichts geschah, was wert wäre, zu erzählen. Victor hielt das Lager D am Laufen, fing gefährliche Genii, die er in Käfige steckte und nach Polen schickte, und wurde immer besser in seinem Job. Das Lager warf auch ohne Nadeschda Unsummen ab. Iwan hatte ihm geholfen, die nötigen Kontakte herzustellen. Und Victor trauerte Nadeschda nicht im Mindesten nach. Sie erschossen zu haben, bedauerte er nicht halb so sehr wie die anderen Opfer, die sich inzwischen auf seinem Konto ansammelten. Der Ghul von damals war nicht sein letzter Auftrag gewesen. Während er das Lager D unter sich hatte, kamen auch hin und wieder, und dann immer häufiger, weitere Mordaufträge rein. Für Genii, die zu stark oder zu gefährlich waren, um sie mit einem Bannzauber gefügig zu machen und als Sklaven zu verkaufen. Auch darin wurde Victor langsam besser. Es fiel im zunehmend leichter, mit solchen Aufträgen umzugehen und sein Gewissen im Zaum zu halten. Immerhin waren das alles Viecher, die bestialisch Menschen anfielen und umbrachten. Er redete sich ein, daß die Welt ohne diese Monster nicht ärmer dran sei. - Allein vom obersten Boss der Motus hörte er die ganze Zeit überhaupt nichts mehr. Anfangs hatte Victor gedacht, Vladislav würde ihn nur erstmal eine Weile im Auge behalten, bis er ihn besser einschätzen konnte. Aber nachdem er das Lager D ein geschlagenes Dreivierteljahr ohne Nadeschda geleitet hatte, gab er die Hoffnung auf, jemals in der Motus aufzusteigen oder wenigstens mehr über ihre Strukturen in Erfahrung zu bringen, und nahm sein Schicksal einfach hin. Dann kam eines Tages ein Auftrag, zwei Nachtmahre zu exekutieren und dem Boss einen Talisman zu bringen, der sich im Besitz der beiden befand. Und zwar nur dem Boss. Unverzüglich und persönlich, hieß es in dem Auftrag. Er klingelte. Es war gerademal zwei Tage später. Um Aufträge kümmerte er sich immer sofort, die schob er nicht auf die lange Bank. Er wartete aber vergeblich, daß ihm jemand die Tür öffnete. „Na schön, Freunde. Ihr wollt spielen? Könnt ihr haben.“ Er zog die Pistole und ballerte das Schloss aus der Fassung. Das splitternde Holz machte mehr Lärm als das schallgedämpfte Projektil. Dann trat Victor in die Wohnung ein und sah sich um. Sie schien verlassen zu sein, keiner da. Aber er wusste es besser. Die waren hier irgendwo, definitiv. In den naheliegendsten Verstecken wie dem Kleiderschrank und dem Spülschrank wurde er nicht fündig. Er hatte sogar schon Kinder in Schubladen gestopft gefunden, aber diese Idee half ihm hier ebenfalls nicht. Ihm fielen beim Herumlaufen auch keine hohl klingenden Stellen im Boden auf. Dann blieb sein Blick am Bett kleben. Mit einem verstehenden Schnaufen sackte er das leichte Metallgestell an und kippte das Bett mit einem kraftvollen Schwung um. Und da fand er sein erstes Opfer. Der alte Mann hatte sich mit Halteriemen an die Unterseite der Matratze gehangen, damit man ihn nicht sah, selbst wenn man unter das Bett schaute. Diese offenbar eigens dafür angebrachte Vorrichtung sagte Victor, daß die Genii schon häufiger von Jägern gesucht worden waren. Tja, Pech, diesmal war der Jäger Victor, und der hatte ihn gefunden. Der Mann nahm seine albtraumhafte Nachtmahr-Gestalt mit dunkelbrauner Haut, langen Klauen und fürcherlicher Grimasse an und kreischte drohend auf, in der Hoffnung, Victor damit Angst zu machen und vielleicht in die Flucht zu schlagen. Kommentarlos hob der die Pistole und brachte den Mann mit einem gezielten Schuss um. Game over. Danach suchte er weiter. Hier musste auch irgendwo die Frau dazu noch sein. Sie war, das wusste Victor, eine Gestaltwandlerin. In seinem Studium hatte Victor die verschiedensten Gestaltwandler kennen gelernt. Manche konnten sich in Gegenstände verwandeln, andere in Lebewesen, wieder andere in Flammen oder eine Wasserpfütze. Wer weiß, welche Form sie wohl gerade hatte, um sich zu tarnen. Um ihr und sich selber die Suche nicht unnötig zu erschweren, holte er ein Sprühfläschchen aus seiner Jacke, wie es normalerweise für Parfüm genutzt wurde. Nur war dieses hier mit Viscum-Lösung gefüllt. Eine nette Substanz, die magisch veränderte Objekte durch Farbänderung kenntlich machte. Er begann wahllos in allen Räumen damit herumzusprühen, bis ihm endlich im Bad ein Handtuch angezeigt wurde. Es lag einfach nur zusammengefaltet auf dem Klodeckel, als wäre es für seine nächste Benutzung bereitgelegt worden. In sowas konnte sich diese Frau verwandeln? Bemerkenswert. Nichts desto trotz packte Victor das Handtuch und schüttelte es grob aus. Da wurde es wieder zu einer Nachtmahr-Frau, die linkisch stolpernd auf dem Boden zu sitzen kam und ihn erschrocken anstarrte. Erschrocken, daß er sie gefunden hatte. Victor hob mit emotionslosem Gesicht die Pistole und schoss sie ab. Nachtmahre waren kreuzgefährlich, mit denen würde er sich nicht auf langes Gefackel einlassen. Er hatte nur die Chance, sie schnell zu töten, bevor sie ihn töteten. Es klopfte an der Tür seines Büros. „Herein!“, rief Vladislav und sah von seinem Schreibtisch hoch. An sich erwartete er gerade niemanden. Aber sein Gesicht erhellte sich erfreut, als er seinen unangemeldeten Besucher erkannte. „Victor, lange nicht gesehen! prochodi. Komm rein.“ „Hallo. Ich hätte nicht gedacht, daß du offizielle Büroräume in einem Geschäftsgebäude hast. Führst du eine Scheinfirma?“, wollte Victor wissen und sah sich um. Es war eben ein typisches Büro mit Schreibtisch, Computer, Bücherregalen und Stühlen für Gäste. In der Ecke saß ein Mann und las ein Buch. „Mein Genius Intimus“, klärte der Boss ihn auf seinen fragenden Blick hin auf. Victor nickte nur verstehend. Und war klug genug, nicht nachzuhaken, wo der wohl gewesen war, als Vladislav sich damals im Lager D hatte blicken lassen, um Nadeschda wegen ihrer Geheimdienst-Verbindung zur Rede zu stellen. Normalerweise trennten sich Schutzgeist und Schützling ja nicht. Bestimmt war der irgendwo in der Nähe gewesen und hatte die Umgebung gesichert. „Ich hab deinen Auftrag ausgeführt. Hier ist der Talisman, den ich dir bringen sollte“, wechselte Victor das Thema. Vladislav nahm den silbernen Anhänger, den er hingelegt bekam, wieder von der Tischplatte und sah ihn sich eingehend an. „Danke, setz dich.“ Victor, der eigentlich geplant hatte, sofort wieder zu verschwinden, zog kurz ein fragendes Gesicht, sagte aber nichts. Wortlos kam er der Aufforderung nach. „Deine wievielten Opfer waren das inzwischen?“, wollte der Boss in geradezu sentimentalem Tonfall wissen und spielte mit dem Anhänger. Victor musste tatsächlich kurz überlegen. „Inclusive Nadeschda? Mein ... achtes und neuntes, glaube ich. Ich höre langsam auf, sie mitzuzählen.“ „Ganz schön viele, findest du nicht? Da muss man ein dickes Fell haben. Ist sicher nicht gut für die Nachtruhe ... Wie bist du zur Motus gekommen? Ich meine, warum machst du das alles? Macht dir das Spaß?“ „Wird das ´ne Philosophen-Runde?“, gab der Gestaltwandler etwas höhnisch zurück. „Nein. Aber du entwickelst dich zu meinem wichtigsten Mann. Du bist verdammt gut. Dir ist noch nie ein Opfer entkommen. Du führst alle Aufträge zu meiner Zufriedenheit aus, pünktlich, zuverlässig und ohne dumme Fragen zu stellen. Ich erwäge, dich zu meinem offiziellen Stellvertreter zu machen. Da sollte ich doch zumindest wissen, was dich motiviert, nicht?“ „Was ist denn deine Motivation?“ Vladislavs Blick schweifte nachdenklich ab, während er nach passenden Worten für diese unerwartete Frage suchte. „Ich ... Ich hatte mal einen Sohn. Er war erst 14, als er von einer Rotkappe erschlagen wurde. Und keiner hat irgendwas deswegen unternommen. 'Das liegt in der Natur einer Rotkappe', haben sie gesagt. 'Pech gehabt.' Der Mörder wurde nie gesucht, geschweige denn gefasst und bestraft. Also hab ich angefangen, selber etwas zu unternehmen.“ „Verstehe. So spektakulär ist meine Geschichte nicht“, schmunzelte Victor und faltete bequem die Hände im Schoß, da er merkte, daß sich das hier wirklich nur zu einer harmlosen, zwanglosen Unterhaltung entwickelte. „Ich denke, daß es da draußen Viecher gibt, die es nicht geben sollte. Es hat schon seinen Grund, warum die Menschen die Dunkelheit fürchten. Nadeschda hat mir eine Knarre in die Hand gegeben und mir gesagt, daß ich das ändern soll, wenn ich will. ... Ende der Geschichte. Mehr gibt es über mich nicht zu erzählen.“ „Überzeugung also.“ „Genau.“ „Was glaubst du, wieviele Leute ich schon auf dem Gewissen habe?“ „Tja ... Wenn du Ehre im Leib hast, dann mehr Leute als jeder andere“, fand Victor. Der Boss lächelte leicht. „Einen, Victor. Genau einen.“ „Den Kerl, der dein Kind erschlagen hat?“ „Ja. Den Kerl, der mein Kind erschlagen hat. ... Ich sitze hier an meinem Schreibtisch, mit einem Haufen Fäden in der Hand, wie ein Marionetten-Spieler, und schiebe meine Leute in der halben Welt hin und her. Ich gebe ihnen Namen, und sie erledigen für mich den Rest. Ich hab noch nie jemanden eigenhändig umgebracht, abgesehen von dem Mann, der meinen Sohn erschlagen hat.“ „Wenn du deine Jäger ganz explizit losschickst, dann gehen die Opfer ja in gewisser Weise auch auf dein Konto. Dann hast du doch mehr Leute auf dem Gewissen als jeder andere.“ Vladislav nickte sentimental und hing noch einen Moment seinen Erinnerungen nach. Dann kam er spürbar wieder in die Realität zurück. „Ich hab eine wichtige Aufgabe für dich. Du musst nach London und meinen Finanz-Chef treffen. Er ist der wichtigste Mann nach dir und mir. Und du wirst für mich Verträge mit ihm aushandeln.“ „Gut“, stimmte Victor einverstanden zu und gab sich Mühe, nicht allzu begierig zu klingen. Natürlich war er darauf erpicht, die höchsten Tiere der Motus kennen zu lernen. Aber das sollte der Boss ja nicht so unübersehbar mitbekommen. „Ich hoffe, der spricht Russisch. Mein Englisch taugt eher zum smalltalk. Daran sollte ich mal arbeiten.“ „Er spricht Russisch, keine Sorge“, lächelte Vladislav. „Ich erklär dir, worum es geht ...“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)