Mord-Semester von Futuhiro (Magister Magicae 3) ================================================================================ Kapitel 4: Ernst ---------------- „Bis zur nächsten Vorlesung lest ihr in eurem Lehrbuch bitte das Kapitel über den Einfluss der Mondphasen auf die Gestaltwandlung. Ich werde dieses Wissen voraussetzen und nächstes Mal darauf aufbauen. Wir sehen uns dann nächsten Dienstag. Schönen Tag noch, Studenten!“ „Schönen Tag, Professor!“ Nikolai klappte sein Lehrbuch zu und drehte sich nach hinten um. „Kirill, trainieren wir heute wieder auf dem Sportplatz?“ Kirill zog ein humorloses Gesicht. „Nein!“, legte er fest und begann seine Sachen zu packen. „Wir haben schon seit Wochen nicht mehr trainiert!“ „Mit dir trainiere ich auch nicht mehr!“, betonte der Kollege. „Ich bin nicht lebensmüde!“ „Was meinst du damit?“, wollte Nikolai verdutzt wissen. „Das ist nur Training, Nikolai! Nur Spaß! Aber du kämpfst neuerdings, als ginge es um Leben und Tod! Als wäre es dir ernst! Du prügelst mich mit deinen Angriffszaubern noch krankenhausreif! Das mach ich nicht mehr mit!“ „Aber Kirill ...“ „Du hast dich verändert, Nikolai!“, warf sein Kommilitone ihm vor, dann klemmte er sich sein letztes Buch einfach schnell unter den Arm und schneite fluchtartig davon. Nikolai grummelte leise in sich hinein. Ja, er hatte sich verändert, das konnte er nicht abstreiten. Die Aktionen der Motus machten ihm echt zu schaffen. Solche Sklaventransporte fanden quasi wöchentlich statt und Nikolai hatte im 'Lager D' schon die seltsamsten Genii vorgesetzt bekommen, um sie mit Bann-Marken gefügig zu machen. Inzwischen war er schon richtig gut darin, auch wenn es ihn anwiderte. Diese Woche sollte er das 'Lager B' kennen lernen und von dort aus einen Sklaventransport begleiten, der nicht nach Polen ging. Nikolai wusste noch nicht, wohin stattdessen. Aber es bedeutete, daß er weitere Motus-Häscher und Kuriere kennenlernen würde und nicht mehr direkt unter Nadeschdas Schutz stand. Er musste fortan selber auf sich aufpassen. Und verdammt, darauf wollte er vorbereitet sein. Er musste jemanden finden, mit dem er ernsthaft trainieren konnte. Er wollte sich im Notfall verteidigen können. Die Motus-Typen waren keine Spaßvögel, die machten ernst. Da Kirill sich sträubte, machte Nikolai sich alleine auf den Weg ins Spiegelkabinett. Dieser kleine Saal in der Uni war quasi ein Gymnastikraum und stand den Gestaltwandler-Studenten zur Verfügung, damit sie üben konnten, denn Wohnungen waren oft zu beengt dafür. Gerade wenn man sich in größere Wesen verwandeln wollte, brauchte man Platz. Und nicht jeder hatte so große Spiegel zu Hause, um das Ergebnis zu kontrollieren. Das Spiegelkabinett war recht gefragt. Man musste damit leben, daß man es nur selten für sich alleine hatte. Aber das störte Nikolai nicht. In der Umkleide stopfte er seine Tasche mit den Lehrbüchern in einen Spint. Er musste sich erst umziehen, bevor er losüben konnte, denn er besaß nur einen einzigen Satz Klamotten, der magiedurchwirkt war und die Verwandlung mitmachte. Normale Sachen würden ihm bei der Verwandlung zerreißen. Diese magiedurchwirkte Kleidung war schweineteuer, daher trug er sie nur selten. Er sollte sich mal mehr davon kaufen. Durch seine Aktivitäten bei der Motus war er ja in kürzester Zeit zu mehr Geld gekommen als er jemals zuvor besessen hatte. Nikolai schob den Spintschlüssel in seine Jackentasche, die Jacke nahm er mit, und ging hinüber in den eigentlichen Übungsraum. Dort lag eine große Bratpfanne mitten auf dem Boden des ansonsten leeren Spiegelkabinetts. „Hallo, Soltan.“ Die Bratpfanne verschwand in einem Gewirr aus herumwirbelnden Rauchschleiern und nahm dann die Form eines jungen Mannes an. Soltan war ein Ungar und studierte hier an der Moskauer Universität für Höhere Magie ebenfalls Gestaltwandlung. Sein Talent lag vorrangig in der Verwandlung in Gegenstände. Nikolai hatte sich noch nie getraut, sich in einen leblosen Gegenstand zu verwandeln. Er brauchte für eine Verwandlung sein Bewusstsein und ein klares Denken, und das hatten Gegenstände nicht. Nikolai würde sich nicht in etwas verwandeln, das kein eigenes Bewusstsein hatte, solange er niemanden an seiner Seite hatte, der ihn zur Not von außen wieder zurückverwandeln konnte, falls er das nicht mehr selber hinbekam. Er wollte ja nicht bis in alle Ewigkeit in seiner gegenständlichen Gestalt gefangen bleiben. Soltan winkte albern und grinste ihn breit an. „Hallo!“ „Du solltest dich langsam mal an komplexeren Sachen versuchen, Soltan. Du bist im 4. Semester. Verwandel dich doch mal in ein Schmuckstück mit Verschnörkelungen und Steinen, oder sowas“, schlug er vor, wandte sich dann aber übergangslos ab und kümmerte sich um seinen eigenen Kram, statt weiter auf seinen Mitstudenten zu achten. Er ließ die Jacke am Rand fallen und stellte sich vor die große Spiegelwand. Was er heute plante, hatte er noch nie versucht: Die Verwandlung in einen Menschen. Sicher, er hatte auch als Genius eine menschliche Gestalt. Jeder Genius war in der Lage, neben seiner natürlichen Fabelwesenform eine menschliche Erscheinung anzunehmen. Die, die in der Zivilisation lebten, behielten diese humanoide Form auch 24 Stunden am Tag bei, weil das einfach üblich war, um den Menschen keine Angst zu machen und keine Probleme zu verursachen. Man konnte ja schlecht als Schlangendämon mit den Ausmaßen eines Güterzuges durch die Straßen walzen und Häuser plattmachen, oder als lebende Fackel rumlaufen und alles in Brand stecken. Also liefen die Genii in menschlicher Tarngestalt herum. Und den wenigstens sah man dann noch an, was sie in Wirklichkeit waren. Nur war diese menschliche Gestalt konstant und veränderte sich nicht. Sie sah immer gleich aus. Das Gesicht, die Haarfarbe, die Frisur, der Körperbau waren zwar – wie beim Menschen – individuell, aber unveränderlich. Nikolais menschliche Gestalt war klein und dünn, hatte schwarze Haare und braune Augen, und ein harmloses Milchbubi-Gesicht mit vollen Lippen. Und daran änderte sich auch nichts. Jedenfalls nicht ohne magische, gestaltwandlerische Fähigkeiten. Bislang hatte Nikolai nur die Gestalt von Tieren und Fabelwesen angenommen, was ja auch seinem Talent entsprach. Er konnte sich in alle Tiere oder Kreaturen verwandeln, die er klar vor seinem geistigen Auge hatte. Mit einem einzigen Manko: sie waren immer schwarz. Welche Gestalt er auch annahm, sie mochte anatomisch korrekt sein wie sie wollte, sie hatte immer schwarzes Fell, schwarze Federn, schwarze Schuppen, so wie auch seine menschliche Form schwarze Haare hatte. Er konnte die Farbe nicht ändern, egal was er versuchte. Und versucht hatte er schon einiges! Heute würde er etwas versuchen, was so komplex war, daß er sich noch nie rangetraut hatte. Aber irgendwann war immer das erste Mal. Die Verwandlung in einen anderen Menschen. Er würde versuchen, das Aussehen von jemand anderem anzunehmen. Wenn er noch tiefer in die Kreise dieses Verbrecher-Kartells Motus vordrang, wollte er nicht mehr immer und überall gleich erkannt werden. Er wollte eine Undercover-Identität haben. Um es sich einfacher zu machen, hatte er ein Foto mitgebracht, um das angestrebte Erscheinungsbild vor Augen zu haben. Nikolai sah nochmal auf das Bild von Anatolij, das er aus seiner Jacke gezogen hatte, bevor er diese an den Rand geworfen hatte. Er atmete tief durch und konzentrierte sich. Und in der Tat ... passierte gar nichts. Okay, das war nach hinten losgegangen, dachte er enttäuscht. Er hätte ja damit leben können, wenn das Erscheinungsbild nicht komplett authentisch wurde, aber er hätte nicht gedacht, daß sich gar nichts tat. Er legte das Foto auf den Boden und verwandelte sich testhalber in einen großen, schwarzen Hund, was ihm tadellos gelang. Er konnte sich immer noch problemlos gestaltwandeln, daran lag es also nicht. Er kehrte in seine menschliche Form zurück und versuchte sich abermals an dem Bild von Anatolij. Anhaltend ohne Erfolg. „Na schön, irgendwas mache ich falsch. Ich muss wohl nochmal in die Bibliothek gehen und was nachlesen“, murmelte er halblaut, wobei er das Foto wieder aufhob. Soltan trat an ihn heran und warf von der Seite ebenfalls einen Blick auf das Bild. „Du willst andere Identitäten annehmen?“ „Ich wollte es mal versuchen.“ „Dir ist schon klar, daß das verboten ist, oder?“ „Ich habe nicht vor, damit hausieren zu gehen“, versicherte Nikolai ihm. „Hast du schonmal von jemandem gehört, der es geschafft hat?“ Soltan schüttelte den Kopf. „Nein. Du?“ Nikolai schüttelte ebenfalls stumm den Kopf und sah wieder nachdenklich auf seine Vorlage. Warum ging das nicht? Was war daran anders als die Verwandlung in ein Tier oder Fabelwesen? Er hatte doch bisher jede noch so obskure Form annehmen können. Seiner Fantasie waren da noch nie Grenzen gesetzt gewesen. Also wieso nicht in einen Menschen, wenn er ihn nur deutlich genug vor Augen hatte? „Wenn das einer kann, wird er´s nicht zugeben, weil er sonst weggesperrt wird“, vermutete der ungarische Student. „Vielleicht kann ich mich in nichts verwandeln, was schon existiert, sondern nur in irgendwas, was so ähnlich aussieht. Ich muss mal experimentieren, ob ich mich in ein Tier verwandeln kann, das aufs Haar einem lebenden Vorbild gleicht.“ „Na dann, bitte!“, bot Soltan sich an und nahm für Nikolai seine echte Gestalt an. Er war eigentlich ein Satyr. „Achte auf die kleine Narbe da“ Nikolai kam ganz nah heran und musterte aufmerksam das Gesicht des Mensch-Ziegenbock-Mischlings. Auch die hatten individuelle Gesichtszüge „Was hast du für eine Augenfarbe?“ „Grün.“ „Gut. Ich versuch´s mal.“ Nikolais Blick streifte nochmal abschätzend von oben bis unten über den gesamten Körperbau seines Kommilitonen, dann schloss er die Augen und verwandelte sich. Der Ungar verzog unzufrieden das Gesicht. „So seh ich aber nicht aus.“ Nikolai wandte sich zum Spiegel um. Ja, er war ein astreiner Satyr ohne Fehler und Tadel, aber ein Soltan war er nicht. „Und du hast die Narbe vergessen.“ „Nein, hab ich nicht. Die hätte eigentlich da sein sollen“, überlegte Nikolai, deprimiert von dem Ergebnis. „Ich kann mein Aussehen offenbar nicht individualisieren. Ich kann mich zwar in irgendeinen Faun verwandeln, aber nicht in einen bestimmten.“ „Nenn mich nicht Faun!“, jaulte Soltan entrüstet. Nikolai sah ihn verwundert an. „Sind Satyre und Faune nicht das gleiche?“ „Ich hasse das!“ „Schon gut, beruhig dich“, bat er verständnislos, da sich ihm das Problem an der Bezeichnung nicht erschloss. „Im Übrigen siehst du aus wie so eine Schaufester-Puppe. Deinem Gesicht fehlen wirklich die individuellen Züge, das wirkt wie eine Maske. Anderen Wesen fällt das vielleicht nicht auf, weil sie nicht den Blick dafür haben, aber ein echter Satyr erkennt, daß du keiner bist.“ Nikolai seufzte und begutachtete sich wieder im Spiegel. Solange er mit seiner Tarngestalt bei der Motus als Satyr durchkam, war das ja kein Problem. Aber er würde trotzdem nochmal nachlesen, ob das nicht besser ging. Einen Professor sollte er lieber nicht fragen, sonst würde er Ärger bekommen. Denn Soltan hatte Recht, das Nachahmen fremder Identitäten war verboten. „Na schön, lassen wir das für heute. Danke für deine Hilfe. Ich üb mal noch ein bisschen weiter Gestaltwandeln.“ „Ich auch. Hab noch viel vor. Hast du schon dein Thema für die praktische Prüfung?“ „Ja, Verwandlung nach Stop-Uhr. Ich muss innerhalb einer vorgegebenen Zeit so viele Verwandlungen wie möglich hinkriegen, natürlich fehlerfrei, sonst zählen sie nicht.“ „Gott, da würde ich durchfallen. Ich hoffe, ich bekomme am Ende des Studiums Incognito-Verwandlungen als Prüfung. Also mehrfach die Gestalt wandeln, ohne zwischendrin meine wahre Erscheinung anzunehmen. Das kann ich gut.“ „Du bist erst im 4. Semester, du hast ja noch ne Menge Zeit“, lächelte Nikolai und verwandelte sich von seiner falschen Satyr-Gestalt zurück in seine menschliche. Die kleingeratene, zierliche, mit den schulterlangen Haaren. Guter Stichpunkt, dachte er dabei. Er musste sich endlich darum kümmern, einen Professor zu finden, der seine mündliche Theorieprüfung abnahm. Er hatte jetzt das 6. und damit letzte Semester begonnen. Mit den Abschlussprüfungen würde er seinen Magister Magicae in der Tasche haben. Aber wenn er da Fristen versäumte, hatte er ein Problem. Nikolai setzte zum Landeanflug an und ging vor dem aufgebrochenen Zaun zur Erde. Hier draußen in diesem abgelegenen Industriegebiet war es gar nicht leicht, die richtige Halle zu finden, aber auch wenn sie wie eine leerstehende Ruine aussah, musste er hier richtig sein. Es war die einzige mit einem offenen, nur notdürftig angelehnten Tor und es stand ein LKW dahinter. Da ihn niemand im Auto mitgenommen hatte und auch sonst nichts hier raus in das stillgelegte Gewerbegebiet fuhr, hatte Nikolai sich entschieden, sich in einen Greif zu verwandeln und her zu fliegen, um zu seinem Treffpunkt zu kommen. Als er draußen in der Zufahrt landete, nahm er wieder seine menschliche Gestalt an. Er sah sich aufmerksam in der Gegend um, dann schlüpfte er durch das aufgebrochene Tor im Zaun und marschierte auf die Lagerhalle zu. Das 'Lager B' war offensichtlich sehr viel größer als die kleine Blockhütte draußen im Wald, die er mit Nadeschda betreut hatte. Mal sehen, was ihn hier erwartete. Er wählte die erstbeste Tür, die ihm ins Auge fiel und versuchte sein Glück. Sie ging auch auf. Das Quietschen der Angeln ersetzte eine Alarmanlage. Ein Fluchen und das Klicken eines Pistolenhahns begrüßten Nikolai und ließen ihn erschrocken mitten in der Bewegung innehalten. „Scheiße, Mann, wer bist du!?“, bellte jemand aufgekratzt aus der Dunkelheit. „Ganz ruhig, es ist alles in Ordnung. Ich bin Kolja, ich gehöre zu euch.“ „Achso, der Neue“, gab eine andere Stimme ihren Senf dazu. Langsam gewöhnten sich Nikolais Augen an die Finsternis hier drin und er begann die Schemen der beiden Kerle zu sehen. „Leck mich am Arsch! Hätt sich ja mal ankündigen können, der Penner!“, fluchte der erste und sicherte die Pistole wieder, um sie wegzustecken. Nikolai atmete tief durch. Himmel, da war er ja wo reingeraten. Er versuchte, nicht nervös zu wirken und ermahnte sich zur Selbstsicherheit. „Na, dann mal reinspaziert, was? Willkommen im Lager B“, lachte der zweite und kam näher. Er hatte eine Glatze und eine Statur wie eine Bulldogge. „Ich bin Sergej und das da ist mein Genius Intimus, Fiodor.“ Er deutete auf seinen Kollegen im Bauarbeiter-Blaumann, der sich das ausgeprägte Kinn rieb. Langsam sah Nikolai genug, um die beiden beschreiben zu können. „Du bist mit der Arbeit vertraut?“, wollte der Glatzkopf wissen, der sich als Sergej vorgestellt hatte. Nikolai nickte. „Bann-Kreis ziehen und dann die Gefangenen mit Bann-Zaubern belegen, damit sie nicht mehr aufmucken. Und dann werden sie abtransportiert.“ Sergej wandte sich zu seinem Schutzgeist um. „Der Junge ist mir sympathisch. Der hat die Aufgabenstellung erkannt, würde ich meinen. ... Dann lass uns loslegen, wir haben viel Arbeit vor uns. Ich kann die Verstärkung gut brauchen.“ „Gibt es hier sowas wie Licht?“, hakte Nikolai nach. „Nein, die Halle ist lahmgelegt. Hier gibt´s keinen Strom mehr. Du wirst mit Taschenlampe Vorlieb nehmen müssen. ... sofern du dafür noch eine Hand frei hast“, lachte der Genius Intimus. „Na schön ... Um was geht es heute?“ „Um eine Wagenladung kleiner, giftiger Kobolde. Verdammt flink, diese Scheißerchen. Pass auf, daß dir keiner entwischt. Den fängst du nie wieder ein.“ „Sei ganz unbesorgt“, meinte Nikolai betont lässig, um cooler zu wirken. „Ich hab gute Paralyse-Flüche auf Lager.“ „Wie lange bleiben Sie in Spanien?“ „Eine Woche“, antwortete Nikolai dem Mann am Flughafenschalter und beobachtete, wie dieser ihm im Gegenzug einen Stempel in seinen Reisepass hämmerte. „Wir machen Urlaub“, hörte er am Nachbarschalter Sergej zu dem Kontrolleur sagen, von dem er abgefertigt wurde. Nikolai legte jeweils einen Arm um die beiden Kinder links und rechts, als wären es seine Söhne, und schob sie weiter. Hinter dem Schalter trafen sie sich wieder. Jeder von ihnen hatte zwei der gefangenen Kobolde in menschlicher Tarngestalt durch die Kontrollen geschleust. Nun warteten sie noch auf Fiodor mit den letzten beiden. Er kam etwas zeitverzögert nach, damit es nicht so auffiel. Es wäre schließlich skepsiserregend gewesen, wenn auf einen Schlag drei Männer mit jeweils zwei Kindern auftauchten. Nach Familien im Urlaub sahen sie schließlich nicht aus, wenn sie nicht wenigstens noch eine Frau in der Rolle der Mutter dazu hatten. „Nächstes Mal sollten wir uns als Mitarbeiter eines Kinderhilfevereins ausgeben, die mit ihrer Kindergruppe eine Reise machen. Das wäre glaubwürdiger“, meinte Nikolai kopfschüttelnd, als er neben Sergej stand. Die Motus hatte gute Urkundenfälscher. Wenn die falsche Reisepässe basteln konnten, dann sollten doch wohl Betreuungsvollmachten auch kein Problem darstellen. „Hm. Ich werd´s dem Boss mal vorschlagen“, brummte der Glatzkopf nur. „Hast du Kontakt zum Boss?“ „Nein. Nur zu Unterhändlern.“ Nikolai verzog enttäuscht das Gesicht. Wie sollte er mit solchen Leuten nur an die Führungsebene der Motus rankommen? „Wie lange bleiben wir denn wirklich in Spanien?“, hakte er nach, während er schonmal langsam auf das Gate zusteuerte. Gleich würden sie das Flugzeug besteigen und abheben. Bis nach Spanien kam man schließlich nicht auf dem Landweg. Das hätte zu lange gedauert. Bei der Passkontrolle hatten sie eine Woche angegeben, einfach nur weil man eben irgendwas angeben musste. Ob man das Land wirklich pünktlich wieder verließ, interessierte ja keinen, wenn man nicht vorhatte, auf der Basis von legalen Papieren zu reisen. „Keine Ahnung. Eine Weile. Wir haben eine große Ladung Waffen mitzubringen. Spanien ist unsere Hauptabteilung für Waffengeschäfte. Bis die Lieferung vorbereitet ist und wir damit zurück nach Russland fliegen, bleiben wir dort.“ „Gibt es keinen Zeitplan?“, wollte Nikolai mit eingeschlafenem Gesicht wissen. „Ach was, bei den Spaniern nicht. Die nehmen das alles sehr locker. Und die Zollkontrollen zu umgehen, muss ja auch sorgfältig geplant und vorbereitet werden. Kann gut und gerne mal drei Wochen dauern.“ „Spinnst du? Drei Wochen?“, keuchte Nikolai schockiert. Von der Touren nach Polen mit Nadeschda war er üblicherweise binnen zwei Tagen wieder zurück gewesen. Er dachte, das würde diesmal auch nicht viel anders sein. „Entspann dich mal. Das wird toll. Wir machen einfach Urlaub!“ „Glaubst du, ich hab in Moskau keine Verpflichtungen!?“, entrüstete sich Nikolai. „Da ist Fiodor. Jetzt sind alle Kobolde durch. Wir können weiter.“ Der junge Gestaltwandler fuhr sich verzweifelt mit der Hand durch das Gesicht. „Willkommen in Espaniola, Amigos“, witzelte Sergej herum und sprang aus dem Shuttle-Bus heraus, mit dem sie in Barcelona vom Flughafen abgeholt worden waren. Der hatte sie zu ihrem Ziel gebracht: der spanischen Außenstelle. Die sechs Koboldkinder saßen ebenfalls frei im Bus verteilt. Sie waren nicht in Käfige gesperrt, wie Nikolai es von Nadeschdas Transporten kannte. Die waren wohl nicht so gefährlich, daß man sie einsperren musste. Auf dem Parkplatz erwartete sie bereits ein Spanier im feinen Anzug und schwerem Goldschmuck, dem das Geld förmlich aus jeder Hautpore quoll. „Das ist Ramon Djego, der Cluster-Chef von Spanien“, klärte Sergej ihn auf. „Hat alles unter sich, was die Motus in Spanien so treibt.“ Nikolai merkte auf. Endlich mal ein hohes Tier, wie es aussah. „Der empfängt uns persönlich hier? Wie freundlich.“ „Naja, so groß ist der spanische Cluster nicht. Da kann er sich noch selber um alles kümmern. Er hat wenig Personal, hat nur Lagerhallen voller Waffen zu verwalten.“ „Willkommen, meine Freunde, im schönen Barcelona“, grüßte das wandelnde Schmuckkästchen, zwar mit hörbar spanischem Akzent, aber trotzdem in tadellosem, fehlerfreien Russisch. „Hallo. Ich bin Kolja“, stellte Nikolai sich höflich vor. „Ah, unser neuer Mitstreiter. Du bist mir schon angekündigt worden. Du sollst Talent haben, wie ich höre. Ich bin Ramon Djego, sehr erfreut.“ „Wer behauptet denn, daß ich Talent hätte?“, wollte Nikolai amüsiert wissen. Dann fuhr er fluchend herum, als eines der Koboldkinder plötzlich die Chance nutzte und auf und davon rannte, weil es sich unbeobachtet fühlte. Er zog hektisch die Pistole, legte an, entschied sich aber doch dagegen, sie zu gebrauchen. Stattdessen wollte er losrennen und es wieder einfangen. Doch Sergej hielt ihn an der Schulter zurück und schoss selber. Einhändig und erschreckend präzise. Er traf sein Opfer am Oberschenkel und brachte es zu Fall. Offensichtlich hatte er den Umgang mit der Waffe oft und lange geübt. Dann ging er in aller Ruhe hinterher. „prokljaty!“ [verdammt], fluchte Nikolai und eilte ihm hinterher. „Ich wollte extra nicht schießen.“ „Warum nicht?“, wollte Sergej mit einem gelassenen Lächeln wissen. „Ich dachte, verletzt nützt er uns nichts mehr.“ Sergej schaute auf den Koboldjungen herunter, der sich schreiend auf dem Boden wälzte und sich das Bein hielt. „Du hast Recht“, stimmte er ihm zu und knallte das Kind mit einem Kopfschuss ab. Nikolai blieb vor Fassungslosigkeit die Luft weg. Sein Kollege stiefelte inzwischen ungerührt zu den fünf anderen zurück, als sei nichts gewesen. Die Kobolde drängten sich heulend und eingeschüchtert zusammen, was verständlich war. Der Student rang um Atem und schaute zwischen dem toten Kind und Sergej hin und her, welcher das Gespräch mit dem spanischen Cluster-Chef wieder aufnahm. „Bist du ... Bist du wahnsinnig!?“, schnappte Nikolai hyperventilierend. „Willkommen in der Motus!“, lachte Fiodor. Nikolai hielt sich den Mund zu und starrte auf den toten Jungen. „Kümmer dich um die Leiche!“, trug Fiodor ihm auf und widmete sich ebenfalls wieder seinem eigenen Kram. „Wie ... Was!?“, keuchte Nikolai, noch immer nicht wieder ganz Herr über das Chaos in seinen Gedanken. „Was weiß ich!? Meinetwegen verbrenn sie! Nadeschda sagte, du hättest einen guten Feuerzauber drauf. Kombiniere ihn am besten mit einem starken Bann, um die Spuren zu versiegeln.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)