Sünde von Labrynna ================================================================================ Kapitel 73: Melanie ------------------- Eine leichte Brise wehte über das flache Land und trug den Duft einer in der Nähe wachsenden Hochstammrose zu mir herüber. Die Sonne stand tief im Westen und schickte ihre Strahlen in langen, goldenen Strahlen hinab. Mit tränenverschleiertem Blick starrte ich auf den hohen Stein aus dunklem Marmor und verspürte das vertraute, dumpfe Ziehen in meinem noch immer nicht vollständig verheilten Herzen, während ich den liebevoll gearbeiteten, männlichen Engel betrachtete, den jemand mit geschickten Händen in den harten Stein gemeißelt hatte. Es erschreckte mich jedes Mal wieder aufs Neue, wie groß die Ähnlichkeit zwischen den steinernen Zügen des Seraph und Gregs Gesicht war. Wie von selbst überflog ich die aus kunstvollen Lettern gefertigte Grabinschrift, die ich damals selbst ausgesucht hatte: „Angels only pass by.“ Es war ziemlich irritierend, aber auch lustig gewesen, als Veronica und ich festgestellt hatten, dass wir Beide Greg gedanklich immer mit einem Engel verknüpft hatten. Lächelnd dachte ich an Vroni, die mir während der schweren Zeit trotz der Umstände sehr ans Herz gewachsen war. Irgendwie war es plötzlich als hätte ich statt eines großen Bruders eine ältere Schwester. Es war schön zu sehen, dass sie sich nach anfänglichen Schwierigkeiten inzwischen erholt hatte. Sie schien über Greg hinweg zu sein, auch wenn sie noch immer mit viel Liebe in der Stimme über ihn sprach. Mit einem dicken Klos im Hals betrachtete ich die eingemeißelten Daten und fröstelte. Heute war es auf den Tag genau fünf Jahre her. Ein tiefer, heißer Stich fuhr mir ins Herz, als mir bewusst wurde, dass ich inzwischen einundzwanzig war. Greg hatte seinen einundzwanzigsten Geburtstag nie erlebt. Ich war jetzt tatsächlich älter als er... Es war ein seltsames Gefühl, das ich nicht einmal ansatzweise benennen konnte. Ich atmete tief durch und blinzelte ein paar Tränen weg, die hervorzubrechen drohten. „Hey, Greg.“, flüsterte ich. Irgendwie tat es mir gut, so zu tun als könnte er mich hören, wenn ich hier stand und leise mit ihm redete. Es stimmte eben doch: Gräber sind für die Lebenden, nicht für die Toten. „Ich muss dir etwas erzählen: Ich hab meine ersten Prüfungen bestanden. Es ist sogar eine 1,2 dabei. Ist das nicht super?“ Nach meinem Abitur hatte ich mit einem Medizinstudium angefangen. Paps, wie ich Papa seit Gregs Tod nannte, war stolz wie Oskar und ich ließ ihn in dem Glauben, dass ich in seine Fußstapfen treten wollte. Doch in Wirklichkeit hatte ich das Gefühl gehabt, Greg dadurch näher zu sein, wenn ich den Weg ging, den er hatte gehen wollen. Ansonsten hatte sich abgesehen von der Scheidung meiner Eltern in den letzten fünf Jahren nicht viel geändert. Ich war noch immer mit Johannes zusammen, auch wenn unsere Beziehung einen leichten Knacks abbekommen hatte. Ich hatte ihm nie von meinen Gefühlen für Greg oder gar von meinem Seitensprung erzählt, doch ich war mir ziemlich sicher, dass er etwas ahnte. Trotzdem war er in all der Zeit immer für mich da gewesen und allein dafür liebte ich ihn schon – wenn auch auf eine andere, weniger intensive, aber auch weniger verzehrende Weise als Greg. Josephine war die Einzige, der ich von meiner gemeinsamen Nacht mit Greg erzählt hatte. Sie hatte deswegen lange Zeit heftige Gewissensbisse gehabt, weil sie geglaubt hatte, ihre alberne Wette mit mir hätte erst dazu geführt, dass Greg und ich uns in einander verliebt hatten, aber ich fand das lächerlich. Ich war dankbar dafür, dass wir diese geheimen, viel zu kurzen Stunden miteinander gehabt hatten. Denn auch wenn der Gedanke daran noch immer höllisch schmerzte, war diese Erinnerung die schönste, die ich hatte. Bei Paps war ich mir nicht sicher, ob er womöglich wusste, was zwischen Greg und mir passiert war. Er hatte nie Fragen gestellt, woher ich wusste, dass es für Greg eine so große Rolle gespielt hätte, zu erfahren, dass er nicht mein Bruder gewesen war, und ich hatte nie etwas erzählt. Inzwischen hatte sich auch rausgestellt, dass mein tatsächlicher, richtiger Bruder wirklich kurz nach der Geburt mit Greg vertauscht worden war. Wir wussten sogar, wo er lebte, doch ich hatte kein großes Interesse daran, ihn kennen zu lernen. Greg konnte nicht ersetzt werden, durch niemanden. Mama sah das allerdings ein wenig anders und hatte Kontakt zu ihrem leiblichen Sohn aufgenommen. Auch wenn ich das irgendwo verstehen konnte, nahm ich es ihr ziemlich übel – vor allem, weil ich manchmal das Gefühl hatte, dass sie von mir erwartete, dass ich plötzlich meine geschwisterlichen Gefühle für diesen fremden Mann entdeckte. Für sie schien es nur noch Patrick zu geben, Greg hingegen war für sie ein absolutes Tabuthema. Der Unfallverursacher von damals war nie gefunden worden, doch das spielte für mich keine große Rolle. Seine Verurteilung hätte mir Greg auch nicht wieder zurückgebracht. Mich beschäftigte eine andere Frage außerdem noch immer viel mehr: Hatte er mich noch gehört? Der Gedanke, dass Greg womöglich in dem Glauben gestorben war, dass wir etwas unrechtes getan hatten und ich ihn hasste, brachte mich beinah um den Verstand. Ich atmete tief durch, um dem Schmerz in meinem Inneren Herr zu werden, und legte eine einzelne weiße Lilie auf Gregs Grabstein, wobei ich mit zitternder Stimme flüsterte: „Ich liebe dich. Du fehlst mir jeden Tag.“ Anders konnte man es einfach nicht umschreiben. Obwohl inzwischen fünf Jahre vergangen waren, vermisste ich ihn noch immer bei jedem einzelnen Herzschlag so sehr, dass es körperlich wehtat. In Gedanken rief ich mir Gregs Gesicht vor Augen und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. Ich meiner Vorstellung waren sie ebenmäßig und ohne jede kleinste Wunde. Dann wandte ich mich endlich ab und ging langsam auf Jo zu, der wie immer am Friedhofstor lehnte und geduldig auf mich wartete. Vorsichtig schob ich meine Hand in Jos, der sie zärtlich drückte, bevor wir nebeneinander durchs Tor schritten. Draußen blieb ich ein letztes Mal stehen und warf einen Blick zurück. Die Lilie lag lang über dem Grabstein, so dass sie mit der Blüte ein Stück über die Kante hing. Eine sanfte Abendbrise strich über ihre Blätter, wodurch es ein wenig wirkte als würde die Blume winken. Lächelnd zog ich das Tor ins Schloss. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)