Sünde von Labrynna ================================================================================ Kapitel 42: Melanie ------------------- Die dreckige Fensterscheibe vibrierte beinah schmerzhaft unter meinem Wangenknochen, während ich mir die Nase an dem dicken Glas platt drückte. Der Verkehr um unseren Reisebus herum floss nur zähflüssig dahin und ich hatte das Gefühl, vor Nervosität fast zu platzen. Heute stand endlich unser Besuch in der englischen Hauptstadt an, bevor wir uns am Abend auf den Rückweg nach Deutschland machen würden. Die ganze vergangene Woche hatte ich mich auf diesen Tag gefreut und nun schien es überhaupt nicht mehr vorwärts zu gehen... Genervt presste ich mich noch näher ans Fenster, in der Hoffnung, wenigstens eines der berühmten, schwarzen Londoner Taxen oder eine knallrote Telefonzelle zu erspähen. „Wenn du so weiter machst, hast du hinterher ’ne Schweinenase.“, zog Finchen mich grinsend auf. Sie räkelte sich lasziv auf dem Platz neben mir und flirtete halbherzig mit dem armen Teufel, der das Pech gehabt hatte, Referendar in unserer Klasse zu werden. Der bemitleidenswerte, junge Mann hatte sichtlich Schwierigkeiten, Finchen zu ignorieren. Langsam ließ ich mich wieder gegen die Rückenlehne sinken und zog eine Schmolllippe. „Na und?“, patzte ich meine beste Freundin an. „Ich will wenigstens ein bisschen von London sehen, bevor wir wieder weg müssen.“ Finchen rollte übertrieben mit den Augen und seufzte. „Jetzt reg dich mal wieder ab. Wir sind doch fast da und haben noch immer fast volle fünf Stunden Aufenthalt – länger wäre eh sinnlos. Nach spätestens drei Stunden jammerst du doch sowieso, dass dir die Füße wehtun.“ Ich streckte ihr die Zunge heraus und wandte mich wieder dem Fenster zu. Natürlich hatte Finchen recht: Wir hatten mehr als genug Zeit in London, doch ich war trotzdem unnatürlich hibbelig. Vielleicht lag das aber auch einfach an der Vorfreude, dass es bald wieder zurück nach Hause ging. Möglicherweise war Greg ja während meiner Klassenfahrt wieder zurück nach Hause gekommen? Resigniert seufzend ließ ich die Schultern hängen. Nein, mein Bruder war bestimmt nicht heimgekehrt. Langsam gab ich die Hoffnung auf, dass er es je tun würde. Aber dafür würde ich bald meinen Freund wieder in die Arme nehmen können. Mit einem verklärten Lächeln drehte ich an dem klobigen Silberring, den Jo mir vor meiner Abreise überreicht hatte, damit ich neben einem von ihm getragenen T-Shirt auch noch etwas von ihm dabei hatte, dass ich tagsüber tragen konnte. Der Ring bestand aus einem einfachen Streifen Sterlingssilber, das zu den Rändern hin immer dunkler wurde und hatte schon einige tiefe Kratzer und leichtere Schrammen abbekommen. Normalerweise trug Jo ihn auf seinem linken Zeigefinger. Ich hatte ihn mir auf den rechten Daumen gesteckt, musste aber trotzdem permanent aufpassen, damit ich den Ring nicht verlor. Endlich bogen wir auf einen großen Parkplatz ein und unser Bus kam mit ächzenden Bremsen zum Stehen. Sofort riss ich meinen Rucksack, der bislang unter meinem Sitz gelegen hatte, hervor und zog in Windeseile meine knallrote Regenjacke an. Finchen kicherte neben mir und schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. Als wir wenig später wie eine Horde eifriger Ameisen auf den schlecht asphaltierten Platz strömten, brach zu meiner Überraschung die Sonne aus der grauen Wolkenmasse hervor und der Nieselregen wurde deutlich schwächer, bis er nur noch ein feiner Nebel aus winzigen Wassertröpfchen war. Herr Kaiser, unser Englischlehrer, erläuterte mit knappen Sätzen das Tagesprogramm und bläute uns den Namen der nächstgelegenen U-Bahnstation ein, damit wir auch alle nach der frei zur Verfügung stehenden Zeit am Nachmittag wieder hierher zurück finden würden. Dann nickte er uns zu und wir machten uns endlich auf den Weg Richtung Big Ben. Viele Sehenswürdigkeiten, unzählige Kilometer und einen Aufenthalt an einem „Fish’n’Chips“-Stand später fanden Finchen und ich uns auf dem Piccadilly Circus wieder. „Irgendwie hatte ich mir einen Liebesgott hübscher vorgestellt.“ Finchen legte den Kopf schief und betrachtete nachdenklich die Statue des Eros-Brunnen, der 1892 zu Ehren von Lord Shaftesbury mitten auf der Straßenkreuzung errichtet worden war. Ich stellte mich neben sie und nahm ebenfalls den metallenen, geflügelten Mann auf der Spitze des Wahrzeichens in Augenschein. „Soweit ich weiß, soll das da auch gar nicht Eros beziehungsweise Amor sein, sondern der Engel der Barmherzigkeit. Die Engländer nennen ihn nur wegen des Bogens in seiner Hand Eros.“ Unbeeindruckt zuckte Josephine mit den Achseln. „Trotzdem. Auch Engel hab ich mir hübscher vorgestellt.“ Gerade als ich protestieren wollte, dass ich die Statue schön fand, packte Finchen mich mit einem aufgeregten Funkeln am Unterarm. „Sieh mal, da hinten ist ein Straßenmarkt. Lass uns da mal drüber gehen, ja? Bitte!“ Sie sah mich flehend an und ich war mir sicher, wäre sie ein Hund gewesen, sie hätte sich einschleimend mit der Rute gewedelt. Seufzend dachte ich an meine schmerzenden Füße, nickte dann aber zustimmend. Finchen hätte anders ja doch keine Ruhe gegeben. Jubelnd reckte sie ihre Faust gen Himmel, umfasste mein Handgelenk und zog mich bestimmt hinter sich her. Hatte ich anfangs nur Finchen zu Liebe zugestimmt, über den Markt zu schlendern, so fand ich schnell auch selbst Gefallen an den vielen winzigen Ständen, an denen teilweise wirklich außergewöhnliche Kleinigkeiten verkauft wurden – und das auch noch zu ziemlich günstigen Preisen. Grinsend vervollständigte ich meine Souvenir- und Mitbringselliste, als ich auf einen Stand stieß, an dem neben groben Lederketten, Armbändern mit bedrohlich hervorstehenden Nieten und mit Ketten behängte Gürtel auch unterschiedliche Tücher feilgeboten wurden. An einem Gestell aus dünnen Metallstreben hingen mehrere Schals und Halstücher, wo sie in dem böigen Wind hin und her schaukelten und flatterten wie kleine Flaggen. Ganz besonders ein grünschwarz gemustertes Tuch erregte meine Aufmerksamkeit. Die kleinen, verschiedenfarbigen Rauten des Musters wechselten sich wie bei einem Palästinatuch üblich beständig ab und an den Stoffecken hingen feine, fransige Trödeln herab. Doch anders als normale Pali-Tücher war dieses nicht aus normaler, dünner Baumwolle gewebt, sondern aus einem kuscheligweichen Material, das sich wie Kaschmir auf der Haut anfühlte. Ohne zu zögern zog ich das großflächige Halstuch von dem Gestell und zeigte es dem Standbesitzer, um zu bezahlen. Als ich wieder auf die Straße trat, tauchte Finchen wie aus dem Nichts wieder neben mir auf. „Na, was hast du denn da gekauft?“ Wortlos reichte ich ihr die leise raschelnde Plastiktüte und beobachtete erfreut, wie sich Finchens Lippen zu einem breiten Lächeln verzogen. „Das ist aber hübsch. Für wen ist das?“ Mit neugierig glänzenden Augen reichte sie mir meinen Einkauf zurück und ich drückte das Tuch unbewusst an meine Brust. „Für Greg. Irgendwie ist es wie für ihn gemacht. Findest du nicht?“ Finchen nickte und machte ein nachdenkliches Gesicht. Während wir uns langsam auf den Weg zurück zum Busparkplatz machten, sprach keine von uns ein Wort. Erst als wir nebeneinander in einem leicht heruntergekommenen U-Bahn-Wagon saßen, dessen Sitze mit Filzstiftgekritzel und alten Kaugummis übersät waren, murmelte Finchen: „Ich frag mich, was er jetzt wohl macht...“ Irritiert zog ich die Augenbraunen in die Höhe. „Wer?“ „Na, dein Bruder.“ Sofort bohrte sich ein riesiger Eiszapfen durch mein Innerstes. Wie lange war es jetzt her, dass ich Greg das letzte Mal gesehen hatte? Mit schmerzhaft pochendem Herzen wurde mir bewusst, dass es inzwischen fast ein Jahr her war. Schnell versuchte ich, die dumpf pulsierende Trauer beiseite zu schieben und mich daran zu erinnern, was Greg in seinen letzten Briefen so alles geschrieben hatte. „Er hat vor kurzem seinen Führerschein bestanden. Und er ist jetzt seit Weihnachten mit einer Veronica zusammen. So wie er sie beschreibt, scheint sie ein recht nettes Mädchen zu sein. Ich hoffe, dass ich sie bald mal kennen lerne.“ Pah, als würde ich das selbst glauben! Greg hatte bisher in keinem einzigen seiner Briefe auch nur mit einer Silbe erwähnt, dass er in absehbarer Zeit nach Hause kommen wolle oder dass er sich wünschen würde, dass ich ihn besuchte. Finchen warf mir einen kurzen Seitenblick zu und zog die Stirn kraus. Hatte meine Stimme sich so verbittert angehört, wie es sich angefühlt hatte? Wieder schwiegen wir eine ganze Weile, bis Finchen beinah flüsternd fragte: „Ob er sich irgendwie verändert hat?“ „Du meinst optisch?“ „Nicht nur, eher ganz generell.“ „Hmm...“ Grübelnd fummelte ich an einem kleinen Hautfetzen an meinem Daumen. Hatte Greg sich verändert? In seinen Briefen hatte er bisher eigentlich immer normal geklungen. Oder? Ich dachte so angestrengt nach, dass ich das Gefühl hatte, mein Schädel müsste zerspringen. Seit einiger Zeit hatte ich den Eindruck, dass Greg glücklicher und zuversichtlicher war, aber vermutlich lag das nur an dem neuentdeckten Liebesglück. Ob er sich wirklich nachhaltig verändert hatte, konnte ich allein an Hand der Briefe nicht sagen. Verärgert zog ich die Augenbraunen zusammen, weil ich plötzlich das Gefühl hatte, meinen Bruder überhaupt nicht mehr zu kennen. Das war doch zum Mäuse melken! Den ganzen restlichen Weg zurück zum Bus hüllte ich mich in eine dermaßen düstre Wolke aus schlechter Laune, dass selbst Finchen sich nicht traute, mich noch einmal anzusprechen. Genervt ließ ich mich auf meinen Platz fallen und starrte stumm aus dem Fenster, bis eine bleierne Müdigkeit nach mir griff und mich in pechschwarze, traumlose Dunkelheit zog. Als ich wieder wach wurde, parkte der Bus bereits vor unserer Schule und meine Mitschüler stolperten aufgeregt auf dem engen Gang durcheinander, so als winke dem Ersten, der es nach draußen schaffte, ein ganz besonderer Preis. Verschlafen rieb ich mir über die Augen und begegnete Finchens amüsiertem Blick. Meine beste Freundin war bereits dabei, ihre Jacke überzustreifen, und grinste mich breit an. „Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr wach. Die letzten fünf Kilometer hab ich dich immer wieder geschüttelt, aber du hast einfach weiter gepennt.“ Sofort schoss mir das Blut in die Wangen. „Oh...“ Lachend zuckte Finchen mit den Achseln. „Ach, vielleicht hattest du’s nötig. Aber jetzt raus mit dir. Du wirst erwartet – deine Eltern hab ich schon gesehen.“ Dabei zwinkerte sie mir vielsagend zu, auch wenn sie sich ein leichtes Augenrollen nicht verkneifen konnte. Das konnte doch eigentlich nur bedeuten, dass... Mit rekordverdächtiger Geschwindigkeit suchte ich schnell meine sieben Sachen zusammen und reihte mich in die schubsende und drängelnde Schlange im Gang ein, die unaufhaltsam in Richtung Tür strebte, durch die feuchtkalte Nachtluft drang. Draußen funkelten die Sterne so hell, dass sie trotz der grellen Parkplatzbeleuchtung zu sehen waren, doch das nahm ich nur am Rande wahr. Stattdessen ließ ich meinen Blick fieberhaft über die vereinzelten Menschengruppen schweifen, die sich entlang der Haltestelle verteilt hatten. In einiger Entfernung, direkt neben dem Fahrradschuppen entdeckte ich Papa, der einen Arm um Mamas Hüften gelegt hatte und genauso suchend aussah wie ich. Doch bis auf die Begleitung meiner Mutter war er ganz allein. Enttäuscht seufzend ließ ich die Schultern hängen und wollte mich gerade auf den Weg zu meinen Eltern machen, als mich plötzlich jemand an der Schulter berührte. Erschrocken wirbelte ich herum und blickte in grün leuchtende Augen, die mich liebevoll musterten. Der Besitzer dieses leicht rot geränderten Augenpaars lächelte mich erwartungsvoll an. Seine Haare lagen wild durcheinander und seine ein wenig zerknitterte Gesichtshaut hatte einen leichten Graustich. Insgesamt wirkte er als wäre er todmüde und gerade erst aus dem Bett gefallen, doch das nahm ich kaum wahr. Alles, was zählte, war, dass er hierher gekommen war, obwohl es mitten in der Nacht war. „Ich hab nur schon deinen Koffer geholt, deswegen musstest du ein wenig warten.“ Die Worte klangen warm und sanft und mir wurde erst in diesem Moment bewusst, wie sehr ich diese Stimme tatsächlich vermisst hatte. Mit einem freudigen Jauchzer warf ich mich in Jos Arme und sog seinen Duft so tief ein wie ich nur konnte. Jo strich mir zärtlich über den Rücken und winkte zu meinen Eltern herüber, die uns entdeckt hatten und langsam näher kamen. Mit Freudentränen in den Augen rieb ich meine Wange leicht über Jos Brust und lauschte seinem etwas zu schnellen Herzschlag. Offenbar freute er sich ebenso wie ich, dass wir endlich wieder zusammen waren. Inzwischen hatten meine Eltern uns erreicht und Papa zerzauste mir grinsend das Haar, während Mama mir mit einem glücklichen Lächeln einen Kuss auf die Wange hauchte. Jetzt war ich endlich wieder zu Hause, bei Jo – nichts hätte mich in diesem Moment glücklicher machen können. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)