Sünde von Labrynna ================================================================================ Kapitel 34: Melanie ------------------- Der Christbaum stand wie jedes Jahr in einer Wohnzimmerecke, eingeklemmt zwischen einem als Raumteiler fungierenden Bücherregal und der gläsernen Terrassentür. Irgendjemand – vermutlich Mama – hatte ihn mit unterschiedlich großen, roten Kugeln, einer Lichterkette mit kleinen, weißen Kerzen und goldenem Lametta geschmückt. Auf seiner Spitze prangte ein imposanter Stern aus vergoldetem Metall. Eigentlich sah er aus wie jedes Jahr, doch irgendwie wirkte er dieses Mal matt und farblos auf mich, statt glänzend und glitzernd. Seufzend warf ich einen Blick auf den dunklen Esszimmertisch und das unberührte Geschirr, das noch immer am Kopfende stand. Aus purer Gewohnheit hatte ich am späten Nachmittag für vier statt drei Personen gedeckt. Mit einem tiefen, brennenden Stich im Herzen war mir plötzlich klar geworden, dass Greg weder Teller, noch Gläser, noch Besteck brauchen würde – schließlich kam er nicht nach Hause. Trotzdem hatte ich es nicht übers Herz gebracht, sein Gedeck wieder abzuräumen. Mama hatte zwar beinah ärgerlich die Augenbraunen zusammen gezogen, doch niemand hatte etwas gesagt. Also hatten wir schweigend gegessen, mit einem halben Auge immer auf den leeren Platz schielend, so als würde Greg sich wie durch ein Wunder doch noch dort materialisieren und lautstark nach Essen verlangen. Er hatte Mamas selbstgemachte Kartoffelknödel immer geliebt. Gedankenversunken rieb ich mir über die mit Gänsehaut übersäten Arme. Jetzt, wo das Feuer in unserem Holzofen herab gebrannt war, kühlte sich der große Raum schnell merklich ab und die Kälte drang durch die Maschen meines dünnen Schlafanzuges. Eigentlich hätte ich seit Stunden ins Bett gehört, doch ich konnte einfach nicht schlafen und auch wenn ich das dringende Bedürfnis hatte mit jemandem zu reden, um meine Melancholie zu betäuben, konnte ich mich nicht dazu durchringen, Johannes oder Finchen anzurufen. Schließlich war es mitten in der Nacht. Ich hätte nie gedacht, dass es sich so merkwürdig anfühlen würde, dass Greg an diesen Tagen nicht hier war. Immerhin hatte ich mich schon fast daran gewöhnt, dass er jetzt im Internat lebte. Dennoch hatte ich mich mit aller Kraft an den Gedanken geklammert, dass er heim kommen würde, um Weihnachten und seinen Geburtstag mit uns zu feiern. Dass er es nicht getan hatte, schmerzte so heftig, dass ich das Gefühl hatte, jemand hätte mein Herz mit einer Käsereibe bearbeitet. Selbst das Atmen fühlte sich schwer an, so als steckte meine Brust in einem zu engen Korsett oder Panzer. Und der nächste Tag würde vermutlich nur noch schlimmer werden. Morgen war der erste Weihnachtsfeiertag – Gregs Geburtstag. Früher hatte ich es praktisch gefunden, dass mein Bruder an Weihnachten Geburtstag hatte. So musste ich immer nur einmal im Jahr ein Geschenk für ihn kaufen. Außerdem war es einfach so extrem passend, dass jemand wie Greg mit seinem engelhaften, goldenen Haar und diesem weichen Engelsgesicht an einem solchen Tag geboren war. Heute jedoch fürchtete ich, dass diese Überschneidung der Ereignisse mir das Herz endgültig zerreißen würde. Von einer heftigen Trauerwelle erfasst wandte ich mich endlich von dem Esstisch ab und tappte mit langsamen, schweren Schritten die Treppe wieder hinauf. Seit Greg uns verlassen hatte, hinterließ der Gedanke an ihn immer ein bohrendes Gefühl der Leere, so als hätte er mein Innerstes hervor gepult und mitgenommen. Wie so oft in den vergangenen Monaten fragte ich mich, ob es immer so bliebe oder ob ich mich irgendwann wirklich daran gewöhnen würde, dass ich meinen Bruder nicht mehr um mich hatte. Wieder einmal sah ich sein Gesicht vor mir, diesen intensiven, leidenden, fast wie gebrochen wirkenden Blick, mit dem er mich gemustert hatte, bevor er das letzte Mal durch die Tür unseres Elternhauses gegangen war. Immer, wenn ich an diesen Ausdruck in seinen Augen dachte, überkam mich ein dumpfes, nicht greifbares Gefühl, das ich nicht einzuordnen vermochte. Es war als hätte ich irgendetwas übersehen, als müsste ich etwas wissen, dass mir einfach nicht einfallen wollte. Alles, was ich in diesem Moment mit Bestimmtheit sagen konnte, war, dass ich mich schrecklich allein und verlassen fühlte. Obwohl unsere Eltern sich große Mühe gaben, immer für mich da zu sein und mir die Illusion von Normalität zu geben, spürte ich, dass auch sie sich kaum merklich verändert hatten. Papa schien schrecklich unter Gregs Abwesenheit zu leiden. Er wirkte stets abgespannt und müde, so als drückte ihn ein schweres Gewicht auf den Boden. Ich vermutete, dass er sich Vorwürfe machte, weil er Greg nie von seinen leiblichen Eltern erzählt hatte. Mama hingegen machte auf mich den Eindruck, als trüge sie eine enorme, verzehrende Wut auf Greg mit sich herum. Wann immer in den vergangenen Monaten die Sprache auf meinen Bruder gekommen war, hatte sie die Lippen fest zusammen gepresst und ihre strahlenden, blauen Augen waren zu harten, ausdruckslosen Murmeln geworden. Vermutlich hatte Greg sie durch seine heftige Reaktion tiefer verletzt als sie zugeben wollte. Ich ließ mich kraftlos auf mein Bett plumpsen und rollte mich so auf die Seite, dass meine Decke sich eng um meinen Körper wickelte. Für mich war diese Situation echt schwer. Ich konnte Mama gut verstehen. Ich konnte nachfühlen, dass sie sich enttäuscht und irgendwie auch von Greg im Stich gelassen fühlte – mir ging es nicht anders – doch ich konnte irgendwo auch die rasende Wut und stechende Verbitterung meines Bruders nachfühlen. Auch wenn er wie immer übertrieb, war es nur zu verständlich, dass er sich hintergangen und betrogen fühlte. Wahrscheinlich fragte er sich seit der Entdeckung seiner Adoptionsurkunde unablässig, wessen Blut wirklich durch seine Adern strömte und ob unsere Eltern ihm die Wahrheit verschwiegen hatten, weil sie einfach zu grausam war. Was, wenn er der Sohn eines Vergewaltigers oder eines Massenmörders wäre? Müde schüttelte ich den Kopf. Jetzt ging eindeutig die Phantasie mit mir durch. Viel wahrscheinlicher war, dass unsere Eltern die Adoption nie erwähnt hatten, weil sie befürchtet hatten, dass Greg sich danach von ihnen abwenden würde und sie ihn an seine leiblichen Eltern verlieren könnten, wenn er sie gefunden hätte. Ironischerweise hatte gerade ihr Schweigen dazu geführt, dass er mit ihnen gebrochen hatte. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb Mama seitdem mit Argusaugen über mich wachte. Hätte Papa nicht regulierend auf sie eingewirkt, wäre ich vermutlich dazu verdammt gewesen, mein restliches Leben in meinem Zimmer zu verbringen. Wann immer ich weg wollte, bestand Mama darauf, dass Finchen oder Johannes mich von zu Hause abholte und auch wieder bis vor die Tür brachte. Ich fragte mich, welche Befürchtung wohl durch ihren Kopf geistern mochte. Dass ich mich plötzlich ganz alleine aufmachen würde, um meinen Bruder zu besuchen? Ganz bestimmt nicht, schließlich hatte er in seinen Briefen immer wieder darauf hin gewiesen wie streng die Besucherreglung des Internats war – Minderjährige durften nur in Begleitung eines Erziehungsberechtigten zu Besuch kommen – und wie massiv die Schüler, die sich daran nicht hielten, bestraft würden. Egal wie sehr ich ihn auch vermisste, ich hätte Greg niemals mutwillig in Schwierigkeiten gebracht. Welche Gedanken auch immer durch Mamas Hirn spuken mochten, ich hoffte, dass sie ihre Ängste um mich bald wieder ablegen würde – und zwar bitte bevor sie mich damit zu Tode nervte. Erstaunlicherweise hatte sie Johannes jedoch trotzdem mit offenen Armen empfangen. Irgendwie hatte sie sogar regelrecht erleichtert gewirkt, als ich ihn am Tag nach unserem Kinobesuch als meinen Freund vorgestellt hatte. Hatte sie womöglich befürchtet, ich würde eines Tages mit einem dreißigjährigen, volltätowierten, glatzköpfigen Klischee-Rocker nach Hause kommen? Grinsend musste ich an Jo denken, wie er mich nach dem Kino bis zur Haustür begleitet und schüchtern mit dem Fuß gescharrt hatte, während er offensichtlich überlegt hatte, ob er es wagen konnte mich zu küssen. Schlussendlich war ich diejenige gewesen, die sich einen Ruck gegeben und sich in seine Arme geworfen hatte. Mein erster Kuss war zwar nicht wie in einem Kitschroman oder Hollywoodromanze gewesen, aber sehr, sehr angenehm. Auch wenn ich nicht das plötzliche Gefühl gehabt hatte, in Ohnmacht zu fallen oder dass die Welt um mich herum stehen blieb, war ich nicht enttäuscht. Die Realität war eben einfach kein Produkt aus Amerikas Traumfabrik und funktionierte nun mal anders. Mir reichte es vollkommen, dass ich mich in Jos Armen einfach sicher und geborgen fühlte und ich Herzklopfen bekam, wenn ich an ihn dachte. Ich brauchte keine eingebildeten Schwebezustände oder derartiges. Vermutlich hätte mir so etwas auch nur Angst gemacht. Alles, was für mich zählte, war, dass ich ihn gerne um mich hatte, mich gerne von ihm berühren ließ und bei ihm das Gefühl hatte, dass ich mich fallen lassen konnte, dass er wirklich immer für mich da war. Seufzend setzte ich mich wieder auf und griff nach dem Mobilteil unseres neuen Telefons, das nach meinem Gute-Nacht-Telefonat mit Johannes immer noch auf meinem Nachttisch lag. Die Sehnsucht nach meinem Freund war plötzlich übermächtig. Schnell wählte ich seine Handynummer, die ich inzwischen auswendig kannte. Es dauerte einige Zeit, bis er sich meldete. „Mel? Alles okay?“ Obwohl er total schlaftrunken klang, schlich sich sofort ein alarmierter Unterton in seine Stimme. Ich lächelte glücklich in mich hinein und freute mich, dass ich ihm genug bedeutete, damit er sich Sorgen um mich machte. „Ja, alles in Ordnung. Ich kann nur nicht schlafen.“ Ich hörte ein Rascheln und ein dumpfes Dröhnen, woraufhin Jo unterdrückt fluchte. „Was ist passiert?“, fragte ich und lauschte angestrengt in die leise knackende Leitung. „Nichts weiter. Ich hab mir nur mal wieder beim Aufsetzen den Kopf an der Dachschräge angehauen.“ „Ach so. Na ja, sieh’s positiv: Leichte Schläge auf den Hinterkopf fördern das Denkvermögen.“ „Ich wusste gar nicht, dass du noch so mittelalterlich erzogen wirst.“ Obwohl ich ihn nicht sehen konnte, war ich mir sicher, dass er grinste. Ich konnte es an seiner Stimme hören. Er gähnte laut und fragte dann: „Aber jetzt schieß mal los: Warum kannst du nicht schlafen?“ Ich seufzte und zog in einer schutzsuchenden Geste die Beine an. „Mein Bruder fehlt mir. Und ich hab irgendwie Angst, dass ich ihn nie wieder sehe.“ „Hm... ach, das ist sicher Quatsch. Du wirst schon sehen: Bald ist er wieder bei euch. Vielleicht will er euch ja auch überraschen und kommt unangekündigt. Schließlich hat er morgen Geburtstag, oder?“ „Ja, hat er. Aber ich glaub’ nicht, dass er kommt.“ Ich hörte selbst wie enttäuscht und traurig meine Stimme klang. „Hast du schon versucht, ihn auf seinem Handy zu erreichen? Ich will damit jetzt nicht sagen, dass du lieber ihn statt mich aus dem Bett klingeln solltest, aber vielleicht solltest du ihn anrufen, wenn er dir fehlt.“ Überrascht blinzelte ich in die Dunkelheit. Auf die Idee war ich überhaupt nicht gekommen. Mit rot glühenden Wangen musste ich mir eingestehen, dass ich einfach Jos Stimme hatte hören wollen, um die Einsamkeit zu bekämpfen, die mich überkommen hatte. „Ich wollte einfach lieber dich anrufen.“ Am anderen Ende der Leitung atmete Jo leicht schnaufend aus und ich konnte spüren, dass er breit lächelte. „Das freut mich. Aber ich denke, du solltest Greg trotzdem irgendwann morgen... beziehungsweise heute noch anrufen. Vielleicht fühlt er sich ja genauso allein wie du. Ich meine, ich weiß ja nicht, was vorgefallen ist, aber wenn es ihn so tief erschüttert hat, dass er sich genötigt sah, sein Zuhause zu verlassen, ist er bestimmt auch nicht glücklich. Vielleicht fühlt er sich bei euch nicht mehr erwünscht oder so und kommt deswegen nicht zurück. Zeig ihm doch einfach mal, dass es nicht so ist.“ Mit einem leichten Schaudern musste ich an Mamas harten Blick denken, den sie bei den seltenen Gelegenheiten bekam, bei denen wir über Greg sprachen. Vielleicht fühlt er sich bei euch nicht mehr erwünscht... Womöglich hatte Jo damit mehr Recht als er ahnte. Greg war immer sehr sensibel gewesen. Spürte er, dass Mama wütend auf ihn war? Hatte Mama sich in all der Zeit überhaupt bei ihrem Sohn gemeldet? Fühlte er sich im Stich gelassen – von uns allen? Um mich von diesen düsteren Gedanken abzulenken, fragte ich: „Willst du wissen, was im August passiert ist?“ „Nur wenn es dir nichts ausmacht, darüber zu reden.“ „Nein. Vielleicht ist es ganz gut, wenn ich das endlich mal tue.“ Und dann begann ich zu erzählen, angefangen bei Gregs merkwürdigem Verhalten bis hin zu der schrecklichen letzten Begegnung mit unseren Eltern... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)