Sünde von Labrynna ================================================================================ Kapitel 33: Veronica -------------------- Wie eine Skulptur mit harten, in sich gekehrten Zügen und glänzendem, goldenem Haar saß Greg auf der Fensterbank und starrte durch die Buntglasscheibe hinab auf den weißgepuderten, zugeschneiten Park. Noch immer konnte ich kaum fassen, dass er nach dem nächtlichen Besuch meines Bruders vor ein paar Tagen trotzdem noch etwas mit mir zu tun haben wollte. Er wirkte zwar kälter und distanzierter, doch wenigstens stieß er mich nicht offen zurück. Allerdings hatte ich auch nicht versucht, mich ihm körperlich zu nähern... Manuel hatte nach dieser Nacht ein paar Mal einen Anlauf unternommen, mit mir zu reden, doch ich hatte jeden Gesprächsansatz sofort im Keim erstickt. Ich hatte einfach keine Lust, mir seine Rechtfertigungen für diesen Vertrauensbruch anzuhören. Es mochte ja sein, dass er gedacht hatte, in meinem Interesse zu handeln, aber in diesem Maß in meine Privatsphäre einzudringen, ging einfach zu weit. Das Gegenteil von gut war eben nicht schlecht, sondern gut gemeint. Doch auch wenn ich dank meiner Wut stark genug war, meinen Bruder immer wieder auflaufen zu lassen, um ihm eine Lektion zu erteilen, schützte sie mich nicht vor dem drückenden Gefühl der Einsamkeit. Manuel war meine einzige Familie und Greg mein einziger, wirklich guter Freund – ein Freund, der mich momentan zwar in seiner Nähe duldete, mich jedoch kaum eines Blickes würdigte und kein Wort mit mir sprach. Wieder mal betrachte ich seine unbewegte, statuenhafte Gestalt. Irgendwie wirkte er mit diesem melancholischen Schatten in den katzengrünen Augen und dem weit in die Ferne gerichteten Blick noch mehr wie ein Kunstwerk als sonst. Eine Skulptur eines tieftraurigen griechischen Gottes, so schön und perfekt, dass jedem Betrachter schwer ums Herz wurde. Obwohl ich mir selbst einsam und verlassen vorkam, konnte ich den eisigen Hauch von Gregs Schmerz, der ihn wie eine Parfumwolke umwehte, deutlich spüren. Fröstelnd legte ich mir die Arme um den Oberkörper und starrte auf den dicken, blutroten Teppich, der in vermutlich jedem Raum des Internats ausgelegt worden war. So hatte ich mir den heiligen Abend wirklich nicht vorgestellt. Noch vor ein paar Tagen hatte ich mir ausgemalt, dass ich zusammen mit Greg lachen und die Geschenke auspacken würde, die er von seiner Familie bekommen hatte. Doch nun standen die bunt verpackten Geschenke unangerührt auf seinem Schreibtisch und schienen traurig ihre glänzenden Stoffschleifen hängen zu lassen. Was für ein tolles Weihnachtsfest... Als meine Eltern noch gelebt hatten, hatten wir diese drei besonderen Tage immer ausgiebig zelebriert. Es hatte Unmengen an Keksen und aufwändige Festtagsmenüs gegeben, für die meine Mutter immer stundenlang in der Küche gestanden hatte. Meistens hatte ich ihr dabei helfen müssen, doch ich hatte das immer gern getan. An Weihnachten war sogar Möhren schrappen, Salat putzen oder Kartoffeln schälen etwas Besonderes gewesen. Noch vor wenigen Jahren war jedes Weihnachtsfest für mich voller Wärme und Liebe gewesen. Umso härter traf mich nun die eisige Atmosphäre, die wie dicke Nebelschwaden durchs Zimmer waberte. Ohne dass ich es bemerkt hatte, hatten sich mehrere stumme Tränen aus meinen Augenwinkeln gestohlen, die nun über meine Wange liefen und eine kühle Spur Salzwasser auf der Haut hinterließen. Gerne hätte ich die Hand gehoben und sie weg gewischt – vor allem weil Greg mich plötzlich mit einem sonderbaren Ausdruck im Gesicht musterte – doch ich fühlte mich zu kraftlos und matt, um meinen Arm auch nur wenige Zentimeter zu bewegen. Also ließ ich die Tränen einfach laufen und versuchte, Greg zu ignorieren. Doch plötzlich rutschte er mit einer einzigen eleganten Bewegung von der Fensterbank und kam auf mich zu. Während er mit zweifelnder, unsicherer Miene auf mich herab sah, begann mein Herz heftig zu hämmern. Was sollte das jetzt werden? Sah ich weinend so jämmerlich aus, dass er plötzlich vergessen hatte, dass er sich von mir fern halten wollte? Als er den Arm nach mir ausstreckte, zitterte seine Hand, so als ob er sich vor dem Kontakt mit meiner Haut fürchtete oder gar ekelte. „Geh weg. Guck einfach wieder aus dem Fenster oder mach sonst was, aber lass mich in Ruhe.“, knurrte ich ihn an und versuchte, möglichst genervt auszusehen. Ich wollte sein Mitleid nicht! Doch anstatt mich verletzt anzusehen und sich abzuwenden, leuchteten seine Augen immer heller auf und ein zaghaftes, fast schüchternes Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. Ganz, ganz leicht strich er mit dem Finger über meine Wange – fast so zart wie ein Schmetterlingsflügel, der ein Blütenblatt streift. Obwohl er mich kaum berührte, spürte ich wie kleine, elektrische Impulse wellenartig durch meinen Körper schossen. Bevor ich noch ganz rot vor Verlegenheit werden konnte, schob ich seine Hand grob zur Seite und fauchte ihn an: „Ich hab gesagt, du sollst weg gehen.“ Für einen kurzen Moment sah es so aus, als würde er sich endlich wieder abwenden, doch dann setzte er sich zu meinem Erstaunen dicht neben mich aufs Bett und nahm meine Hand in seine. „Sag mal, bist du taub?!“ Meine Stimme klang schrill und irgendwie panisch. Wenn er nicht bald aufstehen und gehen würde, würde ich ihm noch um den Hals fallen... Liebevoll schlossen sich seine langen, warmen Finger über meiner ausgekühlten Haut und sein erstaunlich offener, intensiver Blick brannte sich tief durch mich hindurch. Ich hatte das Gefühl, dass er mit diesen Augen förmlich in mich hinein fassen und meine traurige Seele streicheln konnte. Plötzlich gaben all die Schutzwälle und Mauern, die ich nach dem Tod meiner Eltern errichtet hatte, um mich stark und unabhängig zu machen, gleichzeitig nach und fielen zu einem losen, gebröckelten Haufen zusammen. Ohne darüber nachzudenken, schlang ich Greg meine Arme um den Hals und begann heftig zu weinen – wegen meiner Eltern, der ganzen Situation und meiner Angst, Greg zu verlieren. „Ich... ich vermisse sie so sehr!“ Mein Atem ging unkontrolliert und vibrierte so stark, dass ich meine eigenen Worte kaum verstand. Ich nahm an, dass Greg dieses Geständnis auf meine Eltern beziehen würde, und berichtigte ihn nicht, auch wenn ich ihn und Manuel ebenfalls damit gemeint hatte. Mir fehlte der Greg, den ich zu Anfang kennen gelernt hatte, der zwar verschlossen, aber einfühlsam war. Und mir fehlte mein mich ewig beschützender Bruder und seine übervorsichtige Art, auch wenn er mich regelmäßig auf die Palme trieb. Vorsichtig zog Greg mich auf seinen Schoß und wippte beruhigend mit dem Oberkörper auf und ab, so als wäre ich ein Säugling. Während ich schluchzend in seinen Armen lag, war ich mir unterbewusst der Komik des Augenblicks bewusst: noch vor wenigen Tagen war es andersrum gewesen, da hatte ich einen am Boden zerstörten Gregor getröstet. Gedankenverloren wickelte ich eine Strähne von seinem weichen, seidigen Haar um meinen Finger und wartete darauf, dass sich meine Atmung wieder regulierte. Plötzlich war mir mein Gefühlsausbruch seltsam peinlich und ich hatte das dringende Bedürfnis, mich irgendwie zu erklären. „Ich fühl mich so alleine, so einsam.“, gab ich zu, auch wenn ich mir dabei wund und verletzlich vorkam. Gregs Augen leuchteten noch immer mit ungebrochener Intensität, was ihnen einen fast fiebrigen Glanz verlieh. War er gerade dabei seinen Verstand zu verlieren? Er lächelte breit, wodurch eine kleine Wunde auf seiner Unterlippe so weit gedehnt wurde, dass sie wieder aufzureißen drohte. „Aber du bist doch gar nicht allein.“, versicherte er mit feierlichem Unterton in der Stimme. Unwillkürlich musste ich grinsen. Greg hatte diese charmante Art, jeder Situation mit so viel Ernst zu begegnen, dass man sie für wichtiger halten musste als sie eigentlich war. Im Grunde konnte es ihm doch schließlich ganz egal sein, ob ich mich einsam fühlte – auch wenn er anscheinend beschlossen hatte, mir doch wieder etwas Aufmerksamkeit zu schenken. „Nein?“, fragte ich mit einer Stimme, der man meine Verbitterung nur schwach anhören konnte. Greg schüttelte den Kopf, wobei das Deckenlicht wunderschöne, metallisch glänzende Reflexionen auf sein goldblondes Haar zauberte. „Nein. Ich bin für dich da, immer.“ Sein Ton klang trotz der letzten Anzeichen des Stimmenbruchs gesetzt und ruhig, so als würde er einen rituellen Schwur aufsagen, um bei einer Geheimorganisation aufgenommen zu werden. Mein Herz schlug schmerzhaft in meiner Brust und zog sich zu einem kleinen, verschrumpelten Etwas zusammen. Zu gerne hätte ich geglaubt, dass dieses begeisterte Funkeln in seinen Augen wirklich mir galt und dass er sich für mich als Frau, nicht nur als Mensch interessierte. Doch mir war klar, dass Greg in einer vollkommen anderen Liga spielte als ich. Der Grund dafür war allerdings nicht sein umwerfendes Äußeres, das wirkte als hätte sein Schöpfer sich über alle anderen Wesen lustig machen und mit seiner Fähigkeit, eine perfekte Kreatur erschaffen zu können, angeben wollen. Ich wusste, dass ich ebenfalls nicht hässlich war. Irgendetwas an Greg strahlte eine naturgegebene Überlegenheit aus, die nur wenige Menschen hatten und die deswegen nur noch anziehender auf seine Umgebung wirkte. Er wäre eigentlich der geborene Revolutionär gewesen. Wer einmal in diese goldgefleckten, grünen Augen gesehen hatte, musste ihm einfach verfallen. Aus irgendeinem Grund musste ich plötzlich an seine Schwester denken. Hatte sie diese Eigenschaft ebenfalls? Ich versuchte, mir ihr Gesicht vorzustellen, doch es gelang mir nicht. Greg hatte mir nie ein Bild von ihr gezeigt. Es schien fast, als besäße er gar keins. Ob Melanie ihm ein wenig ähnlich sah? Heiße Eifersucht verhängt mir den Blick, doch es war nicht nur der Neid auf die vermeintliche Schönheit des Mädchens, sondern vor allem auf die Liebe, die Greg für es empfand. Mit einem bitteren Geschmack im Mund fragte ich mich, ob Greg in mir womöglich nur einen Ersatz für seine Schwester suchte. „Wer hätte gedacht, dass du mir mal mehr Bruder sein würdest als mein eigen Fleisch und Blut?“, brummte ich bissig. Ich konnte nur hoffen, dass Greg, der überrascht die Augen aufriss, den verbitterten Unterton auf Manuel bezog. Für einen langen Moment betrachtete er mich mit einem zweifelnden Blick, bevor ein Grinsen über sein Gesicht ging. „Du hast ein seltsames Bild von Geschwisterliebe, wenn du mich für deinen Bruder hältst.“ Irgendetwas an der Art wie er die Lippen verzog war merkwürdig, so als ob er sich über einen Witz amüsierte, den nur er selbst verstand, doch anstatt danach zu fragen, hakte ich nach: „Wie meinst du das?“ Der Blick den er mir daraufhin schenkte war so eindringlich, dass ich am liebsten meine Hände vors Gesicht geschlagen hätte, um diesen aufmerksamen, forschenden Augen zu entkommen. Bestimmt stand jedes auch noch so kleine Geheimnis, das ich in meinem Innersten bewahrte, für ihn wie mit Neonfarbe in mein Gesicht geschrieben. Doch anstatt mich abzuwenden, hielt ich den Atem an und wartete ab, was noch passieren würde. Im Grunde hatte ich doch eh nichts mehr zu verlieren und außerdem war ich schon immer neugieriger gewesen als es gut für mich war. „Du hattest recht. Ich hab dich letztens geküsst, weil ich durcheinander war. Aber ich bereue es nicht, immer noch nicht.“, erklärte Greg, wobei seine Stimme ganz rau war und sogar einmal wegzubrechen drohte. Auf seinen Wangen breiteten sich nervöse, zartrosa Flecken aus und sein Blick zuckte kurz hin und her, so als könnte er mir plötzlich nicht mehr in die Augen sehen. „D-Du meinst...“ Hölle auch! Am liebsten hätte ich mich dafür geohrfeigt, dass ich in diesem Moment stottern musste. Spätestens jetzt hätte auch ein Vollidiot kapiert, dass Greg für mich mehr war als mein bester Freund. Nun gab es kein Zurück und kein Leugnen mehr. Jetzt prangte diese Wunde gut sichtbar und mit Leuchtreklame markiert auf meiner Brust und ich wartete ängstlich darauf, dass Greg einen Dolch hinein rammte. Stattdessen strich er mir jedoch zärtlich über Wange und Lippen, wobei seine Augen einen warmen, liebevollen Glanz annahmen, was sie wie geschmolzene, mit Goldsplittern durchsetzte Edelsteine wirken ließ. „Ja, das meine ich. Du bist der vermutlich wichtigste Mensch in meinem momentanen Leben und meine Gefühle für dich sind alles andere als geschwisterlich.“ Mein Herz schlug so heftig und schnell, dass ich kaum etwas anderes hörte als das laute Rauschen meines eigenen Blutes. Für einen Moment konnte ich Greg einfach nur anstarren, während mein Hirn hilflos versuchte, das Unverständliche zu verarbeiten. Wollte er damit etwa sagen, dass er sich verliebt hatte – in mich?! Auf einmal wurde alles um mich herum unscharf. Farben und Flächen flossen bis zur Unkenntlichkeit ineinander, Konturen lösten sich auf und selbst die Luft schien plötzlich auf eine unwirkliche, schemenhafte Art und Weise sichtbar zu sein. Das Einzige, was aus diesem flirrenden Wirrwarr scharf hervor stach, waren Gregs Lippen, die mit einem Mal so verlockend wirkten als wären sie der Heilige Gral. Vollkommen ohne mein Zutun bewegte mein Körper sich darauf zu, bis ich zum zweiten Mal in meinem Leben auf die samtige Weichheit von Gregs Mund traf. Ich hatte damit gerechnet, dass er mich überrascht und angewidert zurückstoßen würde, doch stattdessen zog er mich noch dichter an sich und erwiderte diesen Kuss sogar. Er küsste mich... Mein Herz hämmerte inzwischen so schnell, dass ich sicher war, ich müsste bald in Ohnmacht fallen. Doch alles, was ich fühlte, war eine unbeschreibliche Leichtigkeit und ein wohliges Gefühl von Glück, vermischt mit einem aufgeregten Kribbeln in Magen und Unterleib, das noch intensiver wurde, als Greg zaghaft die Lippen öffnete und sich seine Zunge langsam und unsicher in meinen Mund vortastete. Unwillkürlich fragte ich mich, ob er mich womöglich doch von seinem Schoß gestoßen hatte, sodass ich gegen sein Bücherregal geknallt war und mir eine tödliche Kopfverletzung zugezogen hatte. Dieser Kuss, dieses Gefühl konnte einfach nicht echt sein. Entweder träumte ich extrem real oder das hier war der Himmel. Erst als mir die Luft ausging, ich mich von Greg lösen musste und sein gerötetes Gesicht mit den erregt funkelnden Augen sah, sickerte ganz langsam in mein Bewusstsein, dass dies weder das Jenseits, noch ein Traum war, sondern das Paradies auf Erden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)