Sünde von Labrynna ================================================================================ Kapitel 32: Gregor ------------------ Dicke Schneeflocken tanzten durch die dunkle Abendluft und wurden von dem böigen Wind gegen mein Buntglasfenster gedrückt, wo sie sich wie eine Puderzuckerschicht auf den leicht vorstehenden Metallstreben zwischen den Glasstückchen absetzten. Ich saß auf der breiten Fensterbank und betrachtete Vroni, die auf meinem Bett lümmelte. Nur mit Mühe konnte ich einen traurigen Seufzer unterdrücken. Zwar verbrachten wir immer noch den Großteil unserer Freizeit miteinander, doch unser Verhältnis hatte sich sehr verändert und die Atmosphäre war jedes Mal gedrückt und melancholisch. Vroni war stets extrem schweigsam und ich schmollte vor mich hin, weil sie mir Manuel auf den Hals gehetzt hatte – egal ob sie ihn bewusst geschickt oder nur in Kauf genommen hatte, dass er los stürmen und mich zusammenschlagen würde. Auch jetzt saß sie mit hängenden Schultern auf meiner dicken Daunendecke und starrte mit leerem Blick ins Nichts. Wieso war sie eigentlich noch hier? Mit säuerlich schmeckenden Gewissensbissen fiel mir der Grund wieder ein, weshalb Vroni bisher nicht nach Hause gefahren war: Sie hatte gar keine Familie mehr, mit der sie Weihnachten hätte feiern können. Zwar hatte sie Pflegeeltern, die rein rechtlich ihr Vormund waren, doch Vroni fühlte sich ihnen nicht nah genug, um Familienfeste mit ihnen zu verbringen. Die einzige Familie, die sie noch hatte, war ihr Bruder. Sofort spürte ich wie sich der Dolch des schlechten Gewissens noch tiefer in mein Herz bohrte. Wie konnte ich sauer auf sie sein, weil sie mit Manuel über unseren Kuss gesprochen hatte? Er war die letzte Stütze, der letzte Fels, der ihr geblieben war. Wieder betrachtete ich ihr verletzlich wirkendes Gesicht. Obwohl sie immer so tough, unnahbar und selbstständig tat, war sie in Wirklichkeit tief im Inneren ein junger, verwundbarer Mensch, der sich nach Liebe und Geborgenheit sehnte – genau wie ich. Ich legte den Kopf schief und folgte mit den Augen den feinen Schwüngen ihrer vollen, blassen Lippen. Seit meinem Kuss hatte ich oft an sie gedacht, wenn sie nicht bei mir gewesen war und inzwischen tauchte sie fast so häufig in meinen Träumen auf wie Mel. Wütend ballte ich die Fäuste auf meinen Oberschenkeln. Ich hätte mir in den Hintern beißen können, dass ich unsere Beziehung ruiniert hatte, bevor sie wirklich angefangen hatte. Warum war ich immer so vorschnell und unüberlegt? Eine stumme Träne stahl sich aus Vronis Augenwinkeln und mir zog sich das Herz zusammen. Sie war so einsam, dass es beinah greifbar war, doch ich hatte das Gefühl, als ob ich hinter einer dicken Glasscheibe stand. Ich konnte rufen und dagegen schlagen, doch ich konnte einfach nicht zu Vroni gelangen. Schweigend betrachtete ich ihr leeres, trauriges Gesicht. Es juckte mir in den Fingern, doch ich konnte mich nicht dazu durchringen, zu ihr herüber zu gehen und sie tröstend in den Arm zu nehmen. Das irrationale, aber dennoch schmerzlich reale Gefühl der Enttäuschung saß einfach zu tief. Damit mir ihr Kummer nicht das Herz zerriss, wandte ich den Blick ab und schaute wieder aus dem Fenster. Durch das bunte Glas erschien die Welt draußen wie ein Puzzle aus verschiedenfarbigen Flächen. Unter normalen Umständen hätte ich mich an dem interessanten Farbspiel erfreuen können, doch nun sah ich es nicht einmal wirklich. Ich nahm nicht einmal mehr die Kälte wahr, die das dünne Glas abstrahlte. Stattdessen spürte ich Vronis Gegenwart so deutlich, als hätte sie elektrische Funken versprüht. Nach nur wenigen Herzschlägen drehte ich mich seufzend wieder um und betrachtete Vroni, die noch immer wie ein Häufchen Elend auf meinem Bett kauerte. „Jetzt gib dir endlich einen Ruck und geh zu ihr. Sie braucht dich. Siehst du das nicht?“, wisperte eine Stimme hinter meiner Stirn und plötzlich löste sich irgendetwas in mir. Die Glaswand explodierte und fiel in einem unsichtbaren Schauer funkelnder Splitter vor mir zu Boden. Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, stieß ich mich von der Fensterbank ab und durchquerte mit wenigen langen Schritten den kleinen Raum. Vor meinem Bett blieb ich stehen und atmete tief durch, während Vroni mich überrascht aus leicht geröteten Augen ansah. Langsam, fast zögerlich streckte ich meinen Arm aus, um ihr zärtlich über die Wange zu streichen. Nur am Rande registrierte ich, dass meine Hand dabei heftig zitterte. Der Großteil meiner Aufmerksamkeit war auf Vronis überrascht wirkendes Gesicht gerichtet, das sich plötzlich zu einer wütenden Miene verzog. „Geh weg. Guck einfach wieder aus dem Fenster oder mach sonst was, aber lass mich in Ruhe.“ Ihre Stimme klang unsicher und dünn. Zaghaft lächelte ich ihr zu und berührte leicht die weiche Haut ihrer Wange. Dort, wo ihre Tränen herab gerollt waren, verlief eine dünne, nasse Spur. Mit einem ärgerlichen Funkeln in den Augen schob Vroni meine Finger zur Seite. „Ich hab gesagt, du sollst weg gehen.“ Trotz ihrer Proteste ließ ich mich neben ihr aufs Bett sinken und griff stumm nach ihrer Hand. „Sag mal, bist du taub?!“ Sie versuchte, sich mir zu entziehen, doch ich verschränkte unsere Finger miteinander und sah ihr tief in die Augen. Man konnte förmlich zusehen, wie ihr Widerstand bröckelte und schließlich ganz zusammen fiel. Plötzlich schmiss sie sich gegen mich und schlang mir einen ihrer schlanken Arme um den Nacken. „Ich... ich vermisse sie so sehr!“, schluchzte sie mir atemlos ins Ohr, während die Tränen in Strömen flossen. Mit einem Stich im Herzen dachte ich daran, dass ich selbst zum ersten Mal an Weihnachten nicht bei meiner Familie war. Doch die Wehmut, die mich in diesem Moment überkam, war bei Weitem nicht so übermächtig wie ich befürchtet hatte. Stattdessen fühlte ich ein leises Glücksgefühl, als mir bewusst wurde, wie heftig Vroni sich gegen mich presste. Bei jedem ihrer Atemzüge fühlte ich die weichen Rundungen ihrer Brüste, die sich gegen meinen Oberkörper hoben. Beruhigend strich ich ihr über den Rücken und zog sie auf meinen Schoß, wo sie sich wie ein Kind von mir wiegen ließ und den Kopf auf mein Schlüsselbein legte. Wann immer sie ausatmete, strich kalte Luft kitzelnd über meinen Hals. Ich lehnte meine Wange gegen Vronis Stirn und legte die Arme schützend um ihren schlanken Körper. „Ich weiß.“ Vroni seufzte geräuschvoll und spielte gedankenverloren mit einer dünnen Strähne meines Nackenhaares. „Ich fühl mich so alleine, so einsam.“, gab sie mit noch immer vibrierender Stimme zu. „Aber du bist doch gar nicht allein.“ Meine Versicherung malte ihr trotz ihrer Trauer ein kleines Lächeln aufs Gesicht. „Nein?“ Bedächtig schüttelte ich den Kopf. „Nein. Ich bin für dich da, immer.“ Der warme Ton meiner Stimme überraschte mich selbst. Meine Worte enthielten mehr Zuneigung und Liebe als ich gedacht hätte. Anscheinend bedeutete Vroni mir inzwischen mehr als ich mir selber bisher eingestanden hatte. Auf einmal stieß sie ein tonloses, unamüsiertes Lachen aus. „Wer hätte gedacht, dass du mir mal mehr Bruder sein würdest als mein eigen Fleisch und Blut?“ Irritiert riss ich die Augen auf und versuchte, ihr ins Gesicht zu sehen, während mein Geist fieberhaft über diesen Gedanken nachgrübelte. Hatten wir tatsächlich ein geschwisterliches Verhältnis zueinander? Wollte ich sie einfach nur deswegen vor den Schattenseiten des Lebens schützen, weil ich für sie empfand, was ich eigentlich für Mel hätte empfinden sollen? Nein, definitiv nicht. Ich konnte und wollte nicht abstreiten, dass ich sie attraktiv und sexy fand oder mich schon mehr als einmal gefragt hatte, wie es wohl sein würde mit ihr zu schlafen. Meine Gefühle für Vroni waren zwar weniger stark, weniger verzehrend und im Vergleich zu der Liebe, die ich für Mel fühlte, unreif wie ein Setzling, doch ich war mir sicher, dass sie genau wie eine junge Pflanze noch wachsen und gedeihen konnten. Mit der Zeit könnte Vroni vielleicht Mel auf den Platz verdrängen, an den sie eigentlich gehörte, und selbst an ihre Stelle treten. Das war jedenfalls die große Hoffnung, die sich in den letzten Tagen in mein Herz und mein Bewusstsein geschlichen hatte. „Du hast ein seltsames Bild von Geschwisterliebe, wenn du mich für deinen Bruder hältst.“, murmelte ich mit einem vermutlich unangebrachten Grinsen. Ich konnte mich einfach nicht gegen die Komik wehren, dass ausgerechnet ich Tipps zu dem richtigen Verhältnis von Geschwistern gab. Vroni rückte ein Stück von mir ab und betrachtete mich nachdenklich. „Wie meinst du das?“ Für einige Sekunden sah ich ihr einfach nur tief in die Augen, doch da sie diese nonverbale Antwort anscheinend nicht verstehen wollte, befeuchtete ich mir zögerlich die spröden Lippen mit der Zungenspitze. „Du hattest Recht. Ich hab dich letztens geküsst, weil ich durcheinander war. Aber ich bereue es nicht, immer noch nicht.“ Während ich sprach, wurden Vronis baumrindenfarbigen Augen groß und sie starrte mich ungläubig an. „D-Du meinst...“, stammelte sie und ihre Unterlippe begann leicht zu zittern. Lächelnd streichelte ich ihr über die Wange und zeichnete mit dem Daumen die Konturen ihres Mundes nach. „Ja, das meine ich. Du bist der vermutlich wichtigste Mensch in meinem momentanen Leben und meine Gefühle für dich sind alles andere als geschwisterlich.“ Vroni strich mir zärtlich durch die Haare, während sie mich mit einem undefinierbaren, fast zweifelnden Blick musterte. Mit wild schlagendem Herzen fragte ich mich, ob sie gerade ihre Gefühle für mich erforschte und überlegte, wie sie mir schonend beibrachte, dass sie nichts weiter sein wollte als meine beste Freundin. Doch dann beugte sie sich plötzlich vor und legte ihre Lippen zaghaft auf meine. Sofort schlang ich meine Arme um sie und zog sie so nah an mich wie ich konnte. Sie schmeckte noch immer zart nach dem süßlichwürzigen Glühwein, den sie nach dem Abendessen getrunken hatte, doch das störte mich nicht. Ein wenig schüchtern öffnete ich mit meiner Zunge ihren Mund und genoss das wohligwarme, kribbelnde Ziehen, das durch meinen Körper pulsierte. Mit einem Mal konnte ich meine Freunde verstehen, die ich früher immer ein wenig dafür verachtet hatte, dass sie ständig an ihren Freundinnen hatten herum fummeln und mit ihnen hatten knutschen müssen. Ich kannte nichts, das ein ähnliches Gefühl in mir ausgelöst hätte, wie Vronis Zunge, die sich zaghaft in meinem Mund bewegte – mit einer Ausnahme... Während wir uns immer sicherer und leidenschaftlicher küssten, blitzte plötzlich Mels Gesicht hinter meinen geschlossenen Lidern auf. In meiner Phantasie funkelte sie mich giftig aus vorwurfsvollen Augen an, bevor sich ihre Züge zu einem verletzen, leidenden Ausdruck verzogen. Eine eisige Hand griff nach meinem Herzen und ich hatte auf einmal eine leise flüsternde Stimme im Ohr, die mir einzureden versuchte, ich würde Mel betrügen. Doch statt erschrocken von Vroni zurück zu weichen, zog ich sie noch näher an mich und stürzte mich mit so viel neu entfachter Leidenschaft in unseren Kuss, dass sie überrascht aufkeuchte. Mit all meiner Willenskraft konzentrierte ich mich auf das Mädchen in meinen Armen und versuchte, den Gedanken an meine Schwester zu verdrängen. Ganz, ganz langsam verblasste Mels Bild vor meinem geistigen Auge und ein tiefes Gefühl von Glück und Triumph machte sich in mir breit. Wenn ich es dieses Mal geschafft hatte, den Gedanken an Mel zu verdrängen, dann würde ich es wieder und wieder schaffen – so lange, bis sich ihre Bilder nicht mehr aufdrängen würden. Vroni löste sich sanft von mir und lehnte ihre Stirn gegen meine. Ihr Atem ging schnell und flach, doch sie lächelte strahlend. Für einige Minuten spielte sie mit meinen Nackenhaaren und schien mit den Gedanken weit, weit weg zu sein. Dann küsste sie mich liebevoll auf die Stirn und flüsterte ein schüchternes: „Ich liebe dich.“ Überrascht über dieses Geständnis hielt ich die Luft an. Ich hatte damit gerechnet, dass sie mir sagen würde, dass sie mich lieb hatte, doch dass sie gleich diese Worte wählte, haute mich ein wenig um. Mit zitternden Fingern strich ich ihr eine Strähne aus der Stirn. „Du bist mein Wegweiser.“, murmelte ich nach einiger Zeit, wobei meine Stimme vor lauter aufgewühlter Emotionen ganz rau klang. Ein breites Grinsen schlich sich auf Vronis Lippen. „Dein Wegweiser?“ Ich nickte stumm und blieb ihr eine Erklärung schuldig, obwohl es mir nicht einmal besonders schwer gefallen wäre, in Worte zu fassen was ich damit gemeint hatte. Vroni war die Konstante, an der ich mich orientieren wollte, der Fels, an dem ich mich festhalten konnte, das Seil, das mich während meines Ringens gegen meine Gefühle für Mel sicherte. Sie war mein Weg und das Ziel. Sie war der Grund, weshalb ich endlich wieder die Hoffnung auf ein normales Leben hatte. Ihretwegen hatte das Kämpfen endlich wieder einen Sinn. Dankbar küsste ich sie erneut auf ihre überraschend samtigen Lippen, was sie irritiert die Augenbraunen in die Höhe ziehen ließ. „Du wirst mir nicht erklären wie du das gemeint hast, oder?“ Ich grinste breit und schüttelte leicht den Kopf. „Nein.“ Vroni seufzte gespielt theatralisch und lächelte mich schief an. Dann blitzte plötzlich etwas in ihren Augen auf und sie gab mir einen kurzen Kuss. „Frohe Weihnachten, Großer.“ Augenblicklich musste ich grinsen. „Wenn du mein Geschenk bist, kann dieses Weihnachten ja nur gut werden.“ Lachend zerzauste sie mir das Haar. „Charmeur...“ Während ich das Leuchten in ihren Augen bewunderte, bemerkte ich das intensive Funkeln in meinen eigenen, die sich genau wie meine geröteten Wangen in dem glänzenden Braun von Vronis Retina spiegelten. Auch wenn ich die Sehnsucht nach Mel noch immer wie ein heißes, gezacktes Messer in meinem Herzen fühlte, spürte ich, dass ich auf einem guten Weg war. Eines Tages würde Vroni mich restlos glücklich machen. Daran wollte ich einfach glauben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)