Sünde von Labrynna ================================================================================ Kapitel 23: Melanie ------------------- Verzweifelt stand ich vor meinem Kleiderschrank und riss wahllos Kleidungsstücke heraus. Dabei murmelte ich immer wieder Satzfragmente wie „Zu kalt.“, „Hässlich.“, „Sieht doof aus.“ oder „Zu langweilig.“. Inzwischen lag fast die Hälfte meiner Klamotten in einem wirren Haufen zu meinen Füßen. Ein paar der Kleidungsstücke schienen mich vorwurfsvoll anzusehen, weil ich sie so herzlos verschmähte. Ich warf einen kurzen Blick auf die Uhr auf meinem Nachtschränkchen und stieß einen quengeligen Laut aus. In zirka einer Viertelstunde wollte Finchen bereits hier sein und mich abholen, damit wir gemeinsam auf die Weihnachtsparty unserer Schule gehen konnten. Jedes Jahr veranstaltete der jeweilige Abschlussjahrgang diese Party kurz vor den Ferien, um Geld für ihren Abiball, ihre T-Shirts und dergleichen zu sammeln. Wieder musterte ich den armseligen Rest Kleider, der noch im Schrank hing. Wieso hatte ich eigentlich nie etwas zum Anziehen, ganz egal, wie viele Klamotten ich mir kaufte? Sehnsüchtig warf ich durch meine geöffnete Tür einen Blick auf das Zimmer gegenüber. Wie gerne wäre ich jetzt rüber gegangen und hätte Greg gebeten, mir bei der Auswahl meines Outfits zu helfen. Obwohl er ein Mann war, hatte er aus irgendeiner kosmischen Ungerechtigkeit heraus das bessere Mode- und Stilempfinden, was man seiner eigenen Kleiderwahl allerdings nur selten ansah. Doch Greg war leider immer noch nicht wieder hier. Anfangs hatte ich noch versucht, daran zu glauben, dass er sich wieder beruhigen und nach Hause zurückkommen würde. Sogar seine Anmeldung an einem mehrere Hundert Kilometer entfernten Internat hatte ich nicht für voll nehmen wollen. Ich hatte mir immer wieder eingeredet, dass er einfach nur unsere Eltern einschüchtern wollte, damit sie sich bei ihm entschuldigten. Nur ungern sah ich ein, dass es sein voller Ernst gewesen war. Auch diese Weihnachten würde er nicht heim kommen – genauso wenig wie an meinem Geburtstag... Plötzlich bemerkte ich, dass ich schon wieder weinte. Ich war immer noch bitter enttäuscht und egal, wie viel Zeit verging, Gregs Abwesenheit tat noch genauso weh wie am Anfang. Fast schien es, als würde ich ihn mit jedem Tag mehr vermissen. Ich holte tief Luft, versuchte, den Tränenfluss zu stoppen, und rief mir wieder ins Gedächtnis, dass es gar keinen Grund gab, zu weinen. Greg mochte nicht mehr zu Hause wohnen, aber deswegen hatte ich ihn noch lange nicht ganz verloren. Mit einem Lächeln auf den Lippen ging ich zu meinem Schreibtisch und strich liebevoll über das eindrucksvolle Bündel Briefe. Greg hatte mir beinah wöchentlich geschrieben, damit ich mich nicht so alleine fühlte. Dabei hatte er selbst in den ersten Briefen unglaublich einsam gewirkt. Er hatte mir immer erzählt, was er alles unternommen und erlebt hatte, aber nie hatte er auch nur ein Wort über einen Freund verloren. Es hatte so ausgesehen, als ob er tatsächlich immer nur mit sich allein gewesen war. Doch seit etwa Mitte Oktober erwähnte er immer wieder ein Mädchen namens Vroni, zu dem er offenbar eine ziemlich enge Freundschaft aufgebaut hatte. Ich fragte mich insgeheim, ob Greg sich in diese Vroni verliebt hatte, auch wenn seine Wortwahl in den Briefen nicht danach klang. Dieses Mädchen schien viel mehr die Lücke zu füllen, die Chris hinterlassen hatte. Ich freute mich sehr für meinen Bruder, doch gleichzeitig war ich schrecklich eifersüchtig. Seit er mit dieser Vroni befreundet war, kamen die Briefe weniger regelmäßig und seltener. Ich fragte mich, ob Greg mich irgendwann ganz vergessen würde. Plötzlich klingelte es an der Haustür und ich zuckte heftig zusammen. Josephine war schon da und ich wusste immer noch nicht, was ich anziehen sollte! Ich hörte, wie Mama zur Tür ging, Finchen begrüßte und ihr sagte, ich sei noch in meinem Zimmer. Schnell rannte ich zurück zu meinem Kleiderschrank und durchwühlte geradezu panisch meine restlichen Klamotten. Ein leises Lachen im Türrahmen ließ mich herumfahren. „Warum wundert es mich nicht, dass du noch nicht fertig bist?“ Finchen stand grinsend in der Tür und sah mit ihrem kurzen Winterrock aus dunkelblau gefärbter Wolle und dem knallroten, tief dekolletierten Pullover so hinreißend aus, dass ich direkt neidisch wurde. Ihre Augen hatte sie so geschickt geschminkt, dass ihr funkelndes Blau noch viel größer wirkte als es das sonst schon tat. Resigniert warf ich meine letzten Kleidungsstücke auf den Haufen zu meinen Füßen und schaute mit beinah weinerlicher Miene zu meiner besten Freundin herüber. „Ich hab einfach nichts zum Anziehen!“ Finchen lachte leise in sich hinein und kam langsam auf mich zu, wobei die Absätze ihrer Wildlederstiefelletten auf dem Teppichboden dumpf pochten. „Das behauptest du ja jedes Mal.“ Sie ging in die Hocke und begann meinen Kleiderhaufen zu durchwühlen. Ich setzte mich aufs Bett und schaute ihr missmutig dabei zu. „Sag mal, ist dir nicht kalt?“ Finchen sah mich irritiert an, bis sie bemerkte, dass ich ihre Beine fixierte. „Nein, nein.“ Sie zog an dem dünnen, transparenten Stoff, der ihre langen Stelzen bedeckte. „Ich trag drei Strumpfhosen. Das ist genauso warm wie ’ne Jeans.“ Ein wenig zweifelnd zog ich die Augenbraunen in die Höhe, ließ mich dann aber stumm auf den Rücken fallen. Irgendwie hatte ich plötzlich gar keine Lust mehr auf die Party. Neben Finchen würde ich doch sowieso wieder nur wie eine graue Maus wirken. Doch nach einigen Minuten triumphierte diese: „Hier, ich hab etwas gefunden.“ Ein wenig mürrisch richtete ich mich wieder auf und begutachtete die Kleidungsstücke, die sie in der Hand hielt. Plötzlich brach ich in lautes Lachen aus. „Das ist ein Witz, oder?“ Finchen sah mich aus großen Augen fragend an. „Wieso?“ „Das da,“ ich deutete auf den schwarzen Stofffetzen in ihrer Hand, „trag ich normalerweise nur im Garten, wenn es richtig heiß ist.“ Meine beste Freundin presste ihre rot geschminkten Lippen aufeinander. „Schlimm genug. Du hast so tolle Beine – sie zu verstecken, ist echt eine Sünde.“ Ich sah sie zweifelnd an, doch sie schnitt mir mit einer Handbewegung das Wort ab, bevor ich überhaupt etwas hatte sagen können. „Jetzt zieh’s einfach an. Hinterher kannst du immer noch meckern. Hast du hautfarbene Strumpfhosen?“ Ich nickte. „Dann zieh davon ein paar an.“ Wenig später stand ich vor meinem Ganzkörperspiegel und staunte nicht schlecht. In den kurzen, schwarzen Hotpants wirkten meine Beine so viel länger als sonst und der enganliegende dunkelgrüne Pullover mit U-Boot-Ausschnitt betonte meine schlanke Taille. Finchen stand grinsend hinter mir und steckte mir mein langes Haar hoch, während ich mich vollkommen überwältigt betrachtete. So wirkte ich plötzlich gar nicht mehr wie eine Vierzehnjährige. Ich fragte mich, was Greg gesagt hätte, hätte er mich so gesehen. Vermutlich hätte er einen Anfall bekommen und fürchterlich getobt. Er machte sich seit jeher zu viele Sorgen um mich. Finchen blickte sich fragend im Zimmer um. „Wo hast du deine Schminksachen?“ „Ich besitze gar keine.“ Meine beste Freundin seufzte und betrachtete mit einem seltsamen Ausdruck mein Gesicht. „Bei deiner glatten Haut brauchst du das vermutlich auch nicht. Du Glückliche.“ Mit einem Anflug von Amüsement dachte ich daran, dass ich noch vor wenigen Augenblicken diejenige gewesen war, die Finchen beneidet hatte. Das Leben war manchmal schon komisch. „Okay, ich guck mal im Bad, ob wir deiner Mutter ein bisschen Mascara mopsen können, und du suchst dir derweil passende Schuhe.“ Mit diesen Worten schlüpfte Finchen durch die Tür und ließ mich allein zurück. Auf einmal war meine Vorfreude auf die Party wieder da und ich riss schnell die dritte Tür meines Kleiderschranks auf. Dort standen ziemlich wild durcheinander gewürfelt meine Turnschuhe, Ballerinas und Wanderschuhe. Ganz hinten in der Ecke fand ich endlich die hochhackigen, schwarzen Halbschuhe, die ich vor ein paar Monaten bei der Konfirmation einer Cousine hatte tragen müssen. Ich erinnerte mich gut daran, wie sehr ich sie damals gehasst hatte, aber nun war ich froh, dass ich sie besaß – sie waren meine einzigen Schuhe mit Absatz. Kurz darauf kam Finchen wieder zurück und wedelte grinsend mit einem kleinen, bauchig aussehenden, schwarzen Stab. Sie befahl mir, mich hinzusetzen und begann dann, meine Wimpern zu tuschen. Als ich anschließend einen Blick in den Spiegel warf, war ich begeistert. Meine Augen schienen zu strahlen und zu funkeln wie geschliffenes Glas. Jetzt konnte die Party kommen! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)