Polaroid von aois_koibito ================================================================================ Kapitel 5: KAPITEL FÜNF ----------------------- KAPITEL FÜNF Los Angeles, 2017 Warme Sonnenstrahlen streichelten meinen nassen Rücken, während sich die letzten Wassertropfen von meinen Locken lösten und still in den weichen Sand eintauchten. Meine Kapuzenjacke hing, schwer von dem eingesogenen Seewasser, provisorisch zum Trocknen an einem Ast. Das Wandern und Schwimmen hatte mich so hungrig gemacht, dass ich schon beinahe gierig in das selbstgemachte Sandwich von Mrs. Carter biss. Sally und Kyle waren noch im See und versuchten sich gegenseitig nasszuspritzen. Ihr Gelächter wurde, wie die sanften Wellen des Sees, ans Ufer geschwemmt. Ich beobachtete sie schmunzelnd. Beobachten war eventuell nicht die passendste Beschreibung. Starren oder gar Glotzen wären eine zutreffendere und unverschönte Charakterisierung meiner Blicke gewesen. Das war mein verzweifelter Versuch, mich selbst daran zu hindern, andauernd rechts neben mich zu schauen und etwas anderes anzustarren und anzuglotzen. Oder wohl eher jemand anderen ohne zu blinzeln zu begaffen. Auch wenn ich nicht hinsah, war ich mir Jareds Nähe mehr als bewusst. Ich wusste nicht, wie ich es beschreiben sollte. Es fühlte sich wie ein sanftes Vibrieren an, dass mich wie ein leichter Mantel einhüllte und in mir regelmäßig eine Gänsehaut auslöste. Ich verbot es mir selbst in Jareds Richtung zu schauen, da ich meiner Selbstkontrolle nicht mehr vertraute. In Jareds Anwesenheit schien sie sich schier in Luft aufzulösen. Daran musste ich arbeiten. Dringend! Und meine wildgewordenen Hormone, diese heimtückischen Verräter, sorgten dafür, dass vor meinem inneren Auge immer wieder die Szene abgespielt wurde, wie ich mit Jared ans Ufer gegangen war. Sein, durch das Wasser durchsichtiges, Shirt klebte ihm regelrecht am Oberkörper und betonte seine Muskeln. Muskeln welche ich nachzählte und mit Blicken verschlang. Auch erkannte ich unter dem nassen Stoff verborgene Tattoos. Die Künstlerin in mir, hätte am liebsten vor Freude jauchzend den Skizzenblock und Bleistift geschnappt, um die Bauchmuskeln und die breiten Schultern so schnell wie möglich auf Papier festzuhalten. Der, in mir neu erwachte und zu Peinlichkeiten neigende, Teenager musste sich daran hindern, ihn nicht anzusabbern. "Sind die beiden schon lange zusammen?", flüsterte Jared mir plötzlich ins Ohr und ich erschauderte. Mein eigenes auferlegtes Verbot seinen Anblick lieber zu meiden ignorierend, sah ich etwas erschrocken zu ihm auf. Nach seinem schiefen und frechen Grinsen zu urteilen, hatte er mein Schaudern bemerkt. "Mm?", brachte ich wortgewandt von mir, während mein Blick kurz über seine grinsenden Lippen streifte. Dadurch musste ich wieder an den Fast-Kuss denken. Schnell senkte ich den Blick und schluckte ungewollt betont laut; meine unbeholfene Bemühung ihn nicht Hier und Jetzt anzusabbern. "Sally und Kyle!", erklärte er grinsend und nickte in die Richtung meiner Freunde. Ich sah zu den beiden und lächelte sanft. "Ich glaube, dass sie offiziell noch nicht zusammen sind. Jedenfalls hat Sally nichts gesagt. Das ist heute aber auch das erste Mal, dass sie sich außerhalb der Uni treffen!", erklärte ich und zuckte mit den Schultern. "Oh!", kam es nur von Jared und begann weiter sein Popcorn zu essen. "Willst du auch?", fragte er mich grinsend und ich lachte leise. "Ich glaube du bist der einzige Mensch auf der Welt, der es für eine gute Idee hält, Popcorn als Proviant mit auf eine Wanderung zu nehmen!", stellte ich belustigt fest und naschte etwas von dem süßen Popcorn. "Popcorn kann man überall essen!", zwinkerte er und schob sich eine ganze Handvoll in den Mund, was mich wieder zum Lachen brachte. Noch ehe ich ihm zustimmen konnte, schob sich Shannon zwischen uns. "Wir sollten langsam zurück, bevor es zu dunkel wird. Außerdem haben wir ja noch-", brummte Shannon und hielt, mit einem bedeutungsvollen Blick in meine Richtung, inne. "... einen Termin!", knirschte er mit den Zähnen. Ich traute mich nicht den Blick zu senken, also starrte ich ihn mit großen Augen an. Das Atmen hatte ich vor Anspannung eingestellt. Mir fiel zwar auf, dass er das Wort "Termin" eigenartig betonte, aber ich hätte mich im Leben nicht getraut, nach dessen Bedeutung zu fragen. Jared räusperte sich und drängte Shannon mit seinem Arm wieder zurück. "Du hast Recht!", sagte er zu seinem Bruder, sah mich dabei aber entschuldigend an. Ich lächelte ihn leicht an, um ihm zu verdeutlichen, dass ich ihm nicht böse war und nickte. "Ich hol dann mal Sally und Kyle!", lächelte ich und stand auf. Gatsby, welcher bis eben leise schnarchend in der Sonne gedöst hatte, wurde durch meine Bewegungen wach und sah mich vorwurfsvoll an. Heftig gähnend und sich streckend stand er auf und tapste mir hinterher. Ich spürte Jareds Blick auf meinem Rücken, und einem naiven Impuls folgend, versuchte ich elegant zum Ufer zu gehen. Leider konnten meine Füße diese waghalsige Information nicht verarbeiten und standen sich direkt selbst im Weg. Unbeholfen herumstolpern war das genaue Gegenteil von anmutiger Eleganz. Innerlich fluchend und vor Scham zergehend, stakste ich zum Ufer. "Sally! Kyle! Wir wollen langsam los, bevor es zu dunkel wird!", sagte ich laut und es tat mir schon fast leid die beiden beim gegenseitigen Necken zu unterbrechen. Sally sah mich außer Atem an und nickte, während er nach Kyles Hand griff und zusammen mit Ihm zum Ufer watete. "Ist es schon so spät? Hab ich gar nicht mitbekommen!", grinste Sally und wrang sich neben mir seine blauen Haare aus. "Und wie läuft es?", flüsterte er leise und ich zuckte errötend mit den Schultern. "Sein Bruder mag mich nicht!", wich ich aus und fuhr mit meinem nackten Fuß durch den weichen Sand. "Ach der taut noch auf.", winkte Sally ab und Kyle nickte zustimmend. Und wieder überkam mich dieses eigenartige Gefühl, dass die beiden mehr wussten als ich. Ich hob eine Augenbraue und mustere Sally abwartend. Doch dieser achtete nicht auf meinen fragenden Blick, da etwas hinter mir, seine Aufmerksamkeit weckte. "Prince Charming beobachtet dich!", grinste er breit, und ich konnte ein leises Kichern in seiner Stimme hören. Kaum hatte ich die Worte verarbeitet, versteifte sich mein ganzer Körper. "Wie guckt er denn?", fragte ich gerade so laut genug, dass Sally mich hören konnte. Ich selbst wagte es nicht hinter mich zu schauen, und wieder in den Bann seiner klaren, blauen Augen zu tauchen. Schließlich war mein größtes Ziel heute, keinen weiteren Peinlichkeiten zu unterliegen. Und dafür brauche ich meine ganze Konzentration; eine Konzentration, die durch Jareds blaue Augen schnell abgelenkt wurde. "Er sieht dich auf eine Art an, mit der man gerne angesehen wird. Weißt du wie ich das meine?", flüstere Sally und warf kurz Kyle einen verliebten Blick zu. Ich runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. "Woher soll ich wissen was du meinst?!", murmelte ich etwas verärgert. Schließlich wurde ich noch nie von einem Mann angesehen. Also nicht auf 'eine Art, mit der man gerne angesehen wird'. Ich kannte viele Blicke. Mitleidige Blicke von Freunden und Verwandten nach dem Unfall. Abschätzende und hasserfüllte Blicke von meiner Schwester. Lustige Blicke von Sally. Genervte Blicke von Amy. Sanfte Blicke von Ben. Und nicht zu vergessen die herzerwärmenden Blicke meines Vaters. Doch an seine Blicke durfte ich nicht denken. Nicht jetzt. Damit tat ich mir keinen Gefallen. Also schloss ich die Erinnerungen an diese Blicke schnell wieder weg; vergrub sie ganz tief in mir. "Naja... er sieht dich an, als ob du die einzige Person hier wärst.", erklärte er. "Das klingt zwar kitschig, aber es stimmt!", bestätigte Kyle und trocknete sich mit seinem Shirt, welches er vor dem Schwimmen ausgezogen hatte, grob ab. "Und das ist was Gutes?", fragte ich unnötiger Weise, und ich spürte wie meine Wangen vor Wärme pulsierten. "Sogar was sehr Gutes!", lächelte Sally und zwickte mir in die Seite. Ich lachte auf und schob seine Hand weg. Zusammen gingen wir zurück zu den Anderen, welche bereits eifrig am Packen waren. Bei diesem Anblick wurde mir das Herz schwer. Ich konnte es nicht erklären. Der Tag neigte sich dem Ende und es war nur noch eine Frage der Zeit bis ich mich von Jared verabschieden musste. Und obwohl ich die aufkeimende Gewissheit hatte, dass es nicht das letzte Mal war, dass Jared und ich uns sehen würden, war ich auf eine eigenartige Weise traurig, dass unser gemeinsamer Tag bald vorbei war. Ich stopfte alle meine Sachen zurück in meinen Rucksack, einschließlich meines leider immer noch feuchten Kapuzenpullis. Meine Polaroidkamera hing ich mir um den Hals und sofort wurde mein schwermütiges Herz leichter. Ich ließ mich in den Sand plumpsen und zog meine Turnschuhe an, als ein Schatten auf mich fiel und Jared sich neben mich hockte. "Hier!", raunte er auf Gänsehaut erregende Weise und reichte mir einen Pullover. Statt eine Frage zu formulieren, oder gar nach dem Pullover zu greifen, sah ich ihn verwirrt an. "Wenn wir wieder im Wald sind, wird es um einiges Kälter sein, als heute Mittag. Ich will nicht, dass du frierst!", lächelte er und hielt mir den Pullover jetzt direkt vors Gesicht. Ich wusste, dass dieses liebenswerte Angebot seiner Höflichkeit zuzuschreiben war, aber meinem Herzen war das egal. Es schlug so laut und heftig, dass mir kurz der Atem stockte und mein Bauch sich auf herrliche Weise zusammenzog. "Danke!", wisperte ich und nahm den Pullover. Jared zwinkerte mich an. In seinen Augen spiegelte sich das frühe Dämmerungslicht. Seinen Augen schienen zu leuchten. Sie leuchteten. Und das nur für mich. Ich spürte wie seine Augen über mein Gesicht strichen; schon beinahe streichelten. Überall wo er mich ansah, begann meine Haut angenehm zu kribbeln. Angefangen bei meiner Stirn, über meinen Nasenrücken bis zu meinen Lippen, welche mit einem sanften Beben reagierten. Er sah mich an wie etwas Kostbares; gar etwas Zerbrechliches. Doch in seiner Nähe war ich nicht zerbrechlich. Auch wenn ich sonst nichts in seiner Nähe wusste, war ich mir dieses Gefühls sicher. Er reichte mir seine Hand und ich ergriff sie sofort. Er zog mich auf meine Füße. Ich nahm meine Polaroidkamera wieder ab und zog mir Jareds Pullover an. Ich musste mich zusammenreißen, nicht zu enthusiastisch an dem weichen Stoff zu riechen. Der Pullover roch nach Jared. Es war das Schönste was ich je gerochen hatte. Ich spürte wie sich meine Nackenhärchen aufgeregt aufstellten und ein gänsehautartiges Schaudern über meinen Rücken zog. "Steht dir!", grinste er und ich lächelte verlegen. Ich schulterte meinen Rucksack, hing mir meine Polaroidkamera wieder um den Hals und nahm Gatsbys Leine in die Hand. Ohne ein weiteres Wort zu verschwenden, griff Jared nach meiner freien Hand und verflocht seine Finger mit den meinen. Es fühlte sich wie ein Versprechen an. Auf dem Rückweg schwiegen wir, weil wir wussten, dass jedes weitere Wort zwischen uns nicht für die Ohren Anderer bestimmt war. Und so schwiegen wir in angenehmer Harmonie und genossen die Anwesenheit des Anderen. Die Sonne war bereits untergangen, lediglich ihre letzten Strahlen erleuchteten den Himmel in einem warmen Orange und leuchtenden Rosa. Und dennoch erschien es mir viel zu früh, als meine Füße nicht mehr auf den erdigen Waldboden, sondern auf den grauen Asphalt des Parkplatzes traten. Ich wusste, dass es albern war. Albern und kindisch und infantil. Aber ich wollte Jared nicht verabschieden. Ich wollte weiter bei ihm bleiben. Ich wollte weiter Zeit mit ihm verbringen. Ich wollte ihn besser kennenlernen. Ich wollte seine Hand nicht loslassen. "Da wären wir!", raunte Jared mit rauer Stimme und ich nickte, während ich scheu in sein Gesicht sah. "Irgendwie kam mir der Rückweg schneller als der Hinweg vor!", gestand ich und sah auf meine Füße. "Mir auch!", flüstere er und aus dem Augenwinkel sah ich, wie er nach einer meiner Locken griff. Neugierig sah ich wieder zu ihm auf. Er lächelte mich sanft an und strich meine verirrte Strähne mit einer mir unbekannten Zärtlichkeit hinters Ohr. "Ist es okay, wenn ich dich morgen anrufe?", fragte er und ich sah kurz ein kleines Fünkchen Unsicherheit in seinen Augen aufblitzen. "Natürlich!", sagte ich mit viel zu lauter Stimme und nickte viel zu eifrig. Meine Unbeholfenheit ließ Jared leise auflachen, und auch ich musste schmunzeln. "Gut! Dann können wir einen Tag ausmachen, wo wir ungestörter sind!", grinste er und deutete mit einem Blick zu seinen Freunden, die so taten, als ob sie uns nicht zuhören oder anstarren würde. "Klingt gut!", kicherte ich schon fast, und sah zu Sally und Kyle, welche ertappt zusammenzuckend so taten als würden sie sich unterhalten. Allein das brachte mich wieder zum Lachen. "Jetzt weiß ich, wie sich Goldfische im Glas fühlen müssen!", grinste ich und Jared nickte zustimmend. Doch von einem Augenblick auf den Anderen, verschwand sein Lächeln auf den Lippen und er sah mich ernst an, als seine Hände vorsichtig meine Schultern packten. "Was-", wollte ich fragen, doch Jared unterbrach mich sofort. "Ist nur eine Sicherheitsmaßnahme, damit du nicht wieder im Stehen stolperst, oder irgendwas anderes Undenkbares passiert!", grinste er mit leuchtenden Augen, was meine Knie wieder weich werden ließ. Ein Glück, dass er mich festhielt. Gatsby winselte leise und stupste mit der Schnauze gegen mein Bein, doch ich war gerade nicht in der Lage auf ihn zu achten. Noch ehe ich fragen konnte, warum Jared solche Sicherheitsmaßnahmen traf, beugte er sich vor und ich schnappte bebend nach Luft. Seine Lippen strichen kurz über meinen Mundwinkel und legten sich dann auf meine Wange. Ich schauderte und drückte mich leicht gegen ihn. Meine Haut unter seinen Lippen prickelte und ich seufzte leise; verzaubert; verzerrend; verloren. Ein leises, nur für mich gedachtes, Raunen ging durch Jareds Körper und flutete meine Haut mit elektrisierenden Fünkchen. Ich biss mir auf die Unterlippe und strich mit der Nase über seinen Bart. Nach einigen und viel zu wenigen Augenblicken löste Jared sich langsam von mir. Ich sah ihm direkt in die Augen. Jetzt wirkten sie dunkel und schwer. Ich sah mein Spiegelbild in ihnen und es war beinahe so, als ob seine Augen mich verschlingen würden. Und in diesem Moment wäre ich liebend gerne von ihnen verschlungen worden. "Dann hören wir uns morgen!", lächelte er schief und ich nickte etwas steif, weil mein Gehirn noch benommen war. "Bis morgen!", hauchte ich und erwiderte sein Lächeln. Ohne mich weiter zu rühren, sah ich ihm zu, wie er sich abwandte und ins Auto stieg. Ich wandte meinen Blick nicht von ihm ab. Als er den Motor startete, sah er noch einmal zu mir herüber und ich lächelte übers ganze Gesicht. Und dann fuhr er weg. Gatsby bellte aufgebracht. Aber ich hörte das Bellen nicht. Es prallte dumpf an mir ab, weil ich Jared immer noch vor mir sah, wie er meine Wange küsste. Ich spürte immer noch seine Lippen auf meinen roten Wangen. Ich roch immer noch seinen verführerischen Duft. Und ich hörte sein Versprechen in meinen Ohren widerhallen. "W-O-W! Dich hat es echt schwer erwischt!", staunte Sally, der plötzlich neben mir stand und Gatsby streichelte. Ich sah ihn blinzelnd an. "Es hat dich ziemlich schwer erwischt!", wiederholte er grinsend und mein Hirn wurde langsam klarer. "Erwischt?", fragte ich und leinte Gatsby ab, damit er auf den Rücksitz springen konnte. Sally rollte belustigt mit den Augen. "Du bist total verliebt!", lachte er und nahm mir den Rucksack ab, um ihn schwungvoll in den Kofferraum zu schmeißen. "Verliebt...!", sagte ich leise und strich über meine Wange, welche immer noch warm von Jareds Kuss war. Ja. Verliebt. Hoffnungslos, unwiderruflich und unabänderlich verliebt. Ich nickte und Sally grinste nur noch breiter. "War doch gut, dass deine gute Fee dich gedrängt hat, heute hierherzukommen!", flötete er und piekte mir seinen Ellenbogen in die Seite. Ich lachte, ging aber nicht auf seine freundschaftliche Provokation ein. Damit er sich in Ruhe und mit der erwarteten Angemessenheit von Kyle verabschieden konnte, stieg ich ins Auto und ließ mich auf den Beifahrersitz fallen. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich immer noch Jareds Pullover trug. Ich grinste und roch an dem weichen Stoff. Ein Kichern drang ungewollte aus mir heraus und Gatsby streckte den Kopf zwischen die beiden Sitze, um mich neugierig und schwanzwedelnd anzusehen. Ich kraulte ihm das Ohr, während ich ihm versicherte, dass das heute der schönste Tag seit Langem gewesen war. Ich hörte wie ein Motor gestartet wurde. Kyle musste losgefahren sein. Kurz darauf ließ sich Sally hinters Steuer fallen. Er seufzte. "Anscheinend hat es meine gute Fee auch erwischte!", lächelte ich sanft und Sally lachte leise. "Mein Bibbidi Bobbidi Boo ist halt so stark, dass es für vier Leute ausreicht!", gab er mit stolzer Brust von sich und ich lachte laut. "Danke, dass du mich überredet hast!", sagte ich dann leise, als er den Schlüssel ins Zündschloss steckte. Sally hielt in seiner Bewegung inne und sah mich an. "Dafür sind Freunde da. Außerdem will ich, dass du glücklich bist. Und ich glaube mit ihm wirst du das irgendwann sein!", gab er leise von sich und tätschelte mein Knie. Mein Herz quoll über vor lauter Rührung und Gefühlsseligkeit. Weil ich nicht wusste, wie ich das in Worte fassen sollte, griff ich nach seiner Hand und drückte sie. Sally verstand mich und nickte lächelnd. "So! Genug mit der ganzen Ernsthaftigkeit. Lass und nach Hause. Ich sterbe vor Hunger!", grinste er und fuhr los. Ich sah aus dem Fenster, obwohl dort nur das Schwarz der Nacht zu sehen war. Ich ließ den Tag Revue passieren, und konnte selbst nicht umhin zu bemerken, dass sich meine Lippen, ohne mein Zutun, zu einem strahlenden Lächeln formten. Ich war glücklich. Das war ich schon lange nicht mehr gewesen. Auf dem Weg zur Ranch von Sallys Eltern schrieb ich Ben eine Nachricht. Ich hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen, dass ich mich seit heute Morgen nicht mehr gemeldet hatte. DU 20:32 Hey! :)Sally und ich sind aufm Rückweg. Die Wanderung lief super. Stell dir vor, ich habe sogar Kolibris gesehen. Konnte ein Polaroid davonmachen! :3 BEN OHNE JERRY 20:34 Hey Kleines! :) zum Glück. Hab mir ab und zu schon Sorgen gemacht. ^^' Na das Polaroid werde ich mir morgen sofort ansehen! Sag Sally, dass er dich nicht fahren braucht. Ich hol dich ab! DU 20:35 Cool! Freu mich schon! ;D BEN OHNE JERRY 20:33 Ich mich auch! :-) Schlaf nachher schön! Ich grinste das Display meines Handys an. War jetzt nur zu hoffen, dass Amy nicht mehr im Auto saß, wenn er mich abholte. Aber Hauptsache Ben war wieder da. Ich steckte mein Handy wieder in die Hosentasche und Sally drehte die Musik auf. So kamen wir, schief und inbrünstig singend mit einem jaulenden Hund, auf der Ranch an. Sallys Mutter winkte uns von der Veranda aus. Ich stieg aus und wurde sofort vom leckeren Geruch des Abendessens begrüßt. "Uh es gibt Lasagne!", grinste Sally und leckte sich über die Lippen. Ich nickte nur, während mein Magen laut knurrte. Gatsby sprang schwanzwedelnd aus dem Auto und folgte mir in die Küche. Da die für Gatsby hinterhältige und böswillige Katze der Caters gerade draußen durch die Dunkelheit streifte, traute er sich, sich unter dem Essenstisch auf meine Füße zu legen. Natürlich mit der Hoffnung, dass im Laufe des Abendessens ein paar Happen Fleisch den Weg zu ihm finden würden. Müde von einem vollen Magen und den am Tag gelaufenen Kilometern, als auch erschöpft von dem vielen Herzklopfen, gähnte ich bereits, als Sally und ich die Treppe zu seinem Zimmer hochgingen. Sally lachte nur und überließ mir den Vortritt im Bad. Ich entschied mich ein Bad einzulassen, weil meine Beine etwas schmerzten und die Wärme würde meinen beanspruchten Sehnen und Muskeln guttun. Ich ließ mich langsam in das heiße und schaumige Wasser gleiten, während Gatsby sich vor der Wanne lang machte. Ich massierte meine Beine so, wie Aiden es mir gezeigt hatte. Es schmerzte etwas, aber es war auszuhalten. Noch nach all den Jahren fühlte es sich komisch an, die vernarbte Haut zu berühren. Langsam fuhr ich mit der Hand über eine der Narben. Ich sah zwar, dass ich mein Bein berührte, doch ich spürte es nicht; zumindest nicht sonderlich. Es war tote und hässliche Haut, die meine Beine zusammenhielt. Doch ich begrüßte die Taubheit. Anfangs hatten die tiefroten Narben geschmerzt, waren wund gewesen und hatten empfindlich auf Wetterumschwünge reagiert. Heute waren sie blasser, rauer und beinahe taub. Taub war besser als Schmerz. Ich seufzte resigniert und schob meine Beine unter das Wasser, wo sie von einer dicken Schaumdecke verschluckt wurden. Ich wusch mir das Gesicht und strich mit meiner Hand über meinen Hals. Kurz bevor die Schulter begann, spürte ich sie. Meine andere Narbe. Sie war feiner und nur an einer leichte Erhebung in der Haut zu erahnen. Sie war schwieriger zu erkennen und sie kitzelte, wenn ich darüber strich. Ich war ein Mädchen voller Narben. Sichtbare und innerliche. Sally klopfte an die Badezimmertür und Gatsby als auch ich schreckten hoch. "Alles okay?", fragte Sally, seine Stimme hörte sich stumpf durch die Holztür zwischen uns an. "Ja! Natürlich!", sagte ich sofort und war erleichtert aus meinen Gedanken gerissen worden zu sein. "Ich bin gleich fertig!", ergänzte ich und stand auf. Ich griff nach dem Handtuch und trocknete mich ab, ehe ich in meinen Pyjama schlüpfte. Als ich die Tür öffnete, stand Sally noch da und musterte mich. Ich schnitt eine Grimasse und er lachte leise. "Wollen wir gleich noch einen Film gucken?", fragte er und ich nickte. "Klingt gut!", lächelte ich und schlurfte in Sallys Zimmer. Ich ließ mich auf Sallys Bett fallen und Gatsby sprang sofort neben mich und gähnte herzhaft. "Ich auch Kumpel!", gähnte ich und streckte mich auf dem großen Bett aus. Das Bad hatte mich noch müder gemacht. Und so bekam ich gar nicht mehr mit, wie Gatsby sich neben mich kuschelte. Meine Augenlider waren unglaublich schwer und fielen einfach zu, um mich in einen Traum zu tragen. Plötzlich stand ich mit Jared wieder an der Klippe. Er lächelte mich auf diese herzerwärmende Weise an. Und ich lächelte zurück. Ich konnte gar nicht anders. Er nahm meine Hand und ich ließ es zu. "Lass uns springen! Zusammen!", lachte er und ich wollte schon kichernd zustimmen, als mein Blick nach unten fiel. Dort war kein See. Kein glitzerndes Wasser. Dort war nur Stein. Harter, spitzer Stein. Und je länger ich hinsah, umso deutlicher sah ich etwas Weißes. Etwas Weißes mit roten Streifen. Ich zog scharf die Luft ein, als ich unseren Schulterdecker erkannte. Ich stand so dicht an der Klippe, dass sich kleine Steine von der Kante lösten und hinunterfielen. Laut prallten sie auf das kleine Flugzeug meines Vaters. Ich wollte hier weg; musste hier weg. Doch Jareds Hand hielt mich erbarmungslos fest. "Lass uns zusammen springen!", wiederholte er und seinem Blick fehlte jede Freundlichkeit. Seine Augen waren leer und hohl. Wie zwei schwarze Abgründe verzogen sie sein Gesicht in eine unmenschliche Fratze. Ich schnappte erschrocken nach Luft und schlug mit meiner freien Hand so kräftig ich konnte gegen seinen Arm. Doch er löste den Griff nicht. Stattdessen sprang er von der Klippe. Und zog mich mit. Zog mich mit in die Tiefe. Vor Schreck konnte ich noch nicht mal schreien. Ich schloss die Augen und machte mich auf den Aufprall gefasst. Doch statt an einem der spitzen Steine aufgespießt zu werden, kroch beißender Qualm in meine Nase. Krächzend hustend öffnete ich die Augen. Ich fiel nicht mehr. Jared war weg und ich saß in dem kleinen Flugzeug. Schwarzer Rauch brannte in meinen Augen und in meiner Lunge. Ich hustete schwarzen Ruß und meine Kehle schmerzte. Ich bekam keine Luft. Ich wollte die Gurte lösen, doch als ich den Arm bewegte, schrie ich vor Schmerz auf. Ein Teil des Flugzeugs steckte in meiner Schulter. Meine Tränen hinterließen weiße Spuren auf meinem verrußten Gesicht. Ich hörte wie Steine auf das Dach des Flugzeugs prallten. Es bewegte sich leicht, und drohte weiter abzustürzen. Ich schrie erschrocken auf. Schrie nach meinem Vater. Mein Vater. Wo war er? Das Metallteil in meiner Schulter versperrte mir meine Sicht zu seinem Sitz. Ich schrie immer wieder nach ihm. Doch keine Antwort. Das Flugzeug bewegte sich in dem starken Wind und ich keuchte vor Schmerz. Ich musste aus dem Flugzeug raus. Das wusste ich. Und ich wusste auch, was ich tun musste um aus dem Wrack zu kommen. Ich atmete ein paar Mal tief durch, was in meinen Lungen ein ungeahntes Feuer entfachte. Mit einem kräftigen Ruck zog ich an dem Metallteil. Es löste sich und ich schrie auf vor Schmerz. Ich spürte wie warmes Blut meine Schulter herunterlief. Unachtsam warf ich das Metall weg und befreite mich aus den straffen Gurten. Und dann sah ich sie. Meine Beine. Sie steckten zwischen zwei abgebrochenen Propellerflügeln. Ich spürte sie nicht. Der Anblick brachte mich zum Wimmern. Das Flugzeug wurde wieder von einem Stein getroffen und sackte weiter ab. Ich schrie erschrocken auf und erkannte plötzlich, zwischen all dem Schutt und dem stinkendem Qualm, die Hand meines Vaters. Ich weinte beinahe mehr vor Erleichterung, als vor Schmerz. "Dad!", schrie ich und streckte mich zu seiner zuckenden Hand. Es tat unendlich weh, aber ich musste ihn festhalten. Er würde wissen was zu tun war. Ich klammerte mich an seine Hand. Er erwiderte den Griff nicht. Seine Hand zuckte einfach weiter. Und als der Qualm für einen Augenblick dünner wurde, sah ich es. Der Sitz meines Vaters war ab Schulterhöhe abgerissen und ein spitzer Stein hatte sich durch das Flugzeug gebohrt. Erschrocken ließ ich die Hand los und starrte ungläubig auf den kopflosen Sitz. Vergessen waren meine Schmerzen. Vergessen waren meine eingekeilten Beine. Vergessen war das Feuer, das das Flugzeug zu verschlingen drohte. Vergessen war der drohende Absturz des Flugzeugs. Ich konnte einfach nur starren. Ich starrte auf den leblosen und noch leicht zuckenden Körper meines Vaters. Ich konnte meinen Blick nicht lösen und begann unkontrolliert zu zittern. Dann schrie ich. Ich schrie so laut, wie ich noch nie in meinem Leben geschrien hatte. Ich schrie mir die Lunge aus dem Leib. Ich schrie selbst dann noch, als meine Stimmbänder zu reißen drohten und nur noch krächzende Töne hervorbrachten. Ich schrie bis ich stumm war und selbst dann schrie ich noch. Ich schrie. Und schrie. Und schrie. Bis ich selbst zu einem Schrei wurde. Einem Schrei aus Schmerz, Trauer und Tod. Und da wusste ich es. Ich würde hier und jetzt sterben. Und so schrie ich. Und schrie. Und schrie. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)