Raupe im Neonlicht von Noxxyde ================================================================================ Kapitel 42 ---------- Was zuletzt geschah: Stress! Alle wollen nach Berlin und das am besten gleichzeitig. Jonas freut sich auf seine Freunde, aber dass sich nun auch noch Clemens angekündigt hat bringt ungeahnte Komplikationen, nicht nur für Jonas‘ Wochenendplanung, sondern auch seine Beziehung. Dummerweise bleibt weder Zeit, die Wogen durch ein Gespräch noch mittels einer etwas körperlicheren Art der Kommunikation zu glätten und so kann er nur hoffen, die kommenden Tage irgendwie ohne größere Schäden zu überstehen.   Kapitel 42 Gedankenverloren beobachtete Jonas Erik, der nun um dritten Mal ein und denselben Hemdknopf öffnete und schloss, weil ihm irgendetwas daran nicht passte. „Das sin‘ meine besten Freunde. Die werden dich nich‘ fressen.“ Ertappt ließ Erik die Hände sinken, aber der Blick, den er Jonas über den Spiegel zuwarf wirkte nicht im Geringsten ermutigt. „Du hast es gerade selbst gesagt. Das sind deine besten Freunde. Natürlich bin ich da nervös.“ „Jaah, versteh ich ja. Aber ehrlich, du könntest da nackt antanzen und … okay, Maria fänd’s beschissen, aber Maria findet am Anfang alles beschissen. Aber ehrlich, es is‘ absolut unmöglich, dass sie dich nich‘ mögen. Du hast doch sogar schon mit Christine gequatscht, ihr kennt euch also eigentlich sogar schon.“ Jonas schloss Erik in die Arme, fühlte das ruhelose Zucken seiner Muskeln, wie das einer Antilopenherde, die ein Löwenrudel wittert. „Lass uns einfach Spaß haben, ja? Meine Freunde sin‘ hier, Sophia is‘ hier, wir sin‘ hier. Die Voraussetzungen für ‘nen klasse Abend sind quasi perfekt.“ „Du hast ja recht.“ Dennoch seufzte Erik, folgte mit den Fingerspitzen dem Saum seiner Hemdsärmel. Jonas überlegte, ihm zu versichern, sie ruhig hochkrempeln zu können, entschied jedoch gleich darauf, dass das nicht seine Angelegenheit war. Das Letzte, was er wollte, war noch mehr Druck auf Erik auszuüben. „Na komm. Packen wir’s.“ Sophia wartete in der Küche, die Hände im Schoß gefaltet, ihr geflochtenes Haar in der Nachmittagssonne glänzend, doch die Ruhe täuschte offensichtlich. Die Stelle ihrer Lippe, die dem beständigen Druck ihrer Zähne ausgesetzt war, war rot und geschwollen. „Seid ihr sicher, dass ihr mich dabeihaben wollt?“ Erwartungsgemäß erschien die schmale Falte zwischen Eriks Brauen. „Selbstverständlich wollen wir das. Was bringt dich auf den Gedanken, dass das nicht so ist?“ Zur Antwort zuckte Sophia mit den Schultern. „Ich will nur nicht stören. Jonas hat seine Freunde doch schon ewig nicht mehr gesehen. Ist es nicht schräg, wenn da jemand völlig fremdes dabeisitzt?“ Jonas musste nicht auf Eriks auffordernden Blick warten, um zu wissen, dass nun er an der Reihe war, Sophias Sorgen zu zerstreuen. „Nee, da brauchst du dir ja mal echt gar keine Gedanken zu machen. Die kommen alle aus ‘nem winzigen Dorf und sind froh, mal Leute kennenzulernen, mit denen sie nich‘ verwandt sind.“ Das erhoffte Lächeln fiel gequälter aus als ihm lieb war. „Ernsthaft jetzt, wir sind sicher keine geschlossene Gesellschaft. Wär cool, wenn du mitkommst.“ Auf gut Glück ergänzte er: „Meine Schwester denkt übrigens drüber nach nächstes Jahr Psychologie zu studieren. Die freut sich bestimmt, wenn sie jemanden hat, mit dem sie drüber quatschen kann.“ Wenigstens das zeigte Wirkung. Kaum merklich straffte Sophia ihre Schultern. „Dann müsst ihr aber noch zwei Minuten warten, ich muss total dringend pinkeln!“ Sobald sie außer Hörweite war, lehnte sich Erik zu Jonas. „Hm, irgendwie höre ich heute zum ersten Mal von Christines Interesse an Psychologie.“ Jetzt war es an Jonas, mit den Schultern zu zucken. „Nachdem sie inzwischen ungefähr alles mal studieren wollte, is‘ das sicher auch dabei.“   Jonas tat sein Bestes, gegen die aufsteigende Nervosität anzukämpfen. Es genügte, dass seine beiden Begleiter aussahen als ob sie lieber woanders wären, da musste er sich nicht noch anschließen, zumal es keinerlei Grund dafür gab. Naja, fast keinen. Christine und Nick würden Erik zweifellos in ihrem Kreis willkommen heißen, aber Maria war eine andere Geschichte. Bei ihr konnte Jonas nur auf einen letzten Rest Manieren hoffen, der sie von einem Kreuzverhör abhielt. Letztlich musste er sich aber eingestehen, dass das nicht der einzige, vermutlich nicht einmal der Hauptgrund für seine Aufregung war. In wenigen Minuten würden seine besten Freunde Erik kennenlernen. Seinen Partner. Einen Mann. Es war eine Sache gewesen, mit ihnen über seine Homosexualität zu sprechen und schwer genug noch dazu. Zuzugeben, eine gleichgeschlechtliche Beziehung zu führen eine andere und ihnen den Mann an seiner Seite offiziell vorzustellen noch einmal eine dritte. Irgendwie machte es die Sache plötzlich erschreckend greifbar; ihre Beziehung existierte dann nicht länger ausschließlich in seiner kleinen Berliner Parallelwelt, sondern schwappte in die Realität seiner Freunde und Familie. All diese Zweifel verpufften, als er das kleine Grüppchen vor dem Restaurant entdeckte. Einem nach dem anderen fiel er in die Arme, genoss die Wärme und Geborgenheit, das Kitzeln von Marias Locken, Christines knochenbrechenden Enthusiasmus. Nachdem er diesen Teil seiner Heimat ausreichend gewürdigt hatte, drehte er sich um und lenkte die Aufmerksamkeit auf seine Begleiter. „Darf ich euch Sophia vorstellen? Und das“, beherzt schob er seinen Freund ein Stück nach vorne, „is‘ Erik.“ Hände wurden geschüttelt, Christine und Erik ließen sich sogar zu einer Umarmung hinreißen. Letzterer zeigte während der gesamten Prozedur jenes charmante Lächeln, das Herzen zu pulsierenden Klumpen schmolz und perfekt über die darunterliegende Unsicherheit hinwegtäuschte. „Gehen wir rein, bevor sie unseren Tisch weggeben.“ Wohlwissend, wo ihre jeweiligen Stärken und Schwächen lagen, hatte Jonas Erik den Großteil der Organisation überlassen. Pflichtschuldig hatte dieser ein Restaurant ausgesucht, das sowohl vom Hotel als auch ihrer Wohnung aus einfach zu erreichen war und auf seinen Namen einen hübschen Tisch am Fenster reserviert – abgeschieden genug, um sich in Ruhe unterhalten zu können, aber nicht so abseits, dass man Gefahr lief, von den Servicekräften übersehen zu werden. „Ich verhungere gleich“, jammerte Christine. „Gott, hoffentlich haben die hier mehr vegetarische Gerichte zur Auswahl als ‚Salat mit Putenbrust ohne Putenbrust‘ und Desserts.“ „Haben sie“, versprach Erik. „Warst du schon mal hier?“ „So vor zwei Jahren regelmäßig.“ Jonas sah sich um. Das Restaurant war nicht besonders groß und unauffällig eingerichtet. Kantig geschnittene Tische aus dunklem Holz verteilten sich im ganzen Raum, gegenüber der Eingangstür wartete ein kleiner Barbereich, der dazu einlud, das Essen nahtlos in einen Cocktailabend übergehen zu lassen. „Warum waren wir noch nie hier?“, fragte er. „Ah, ich schätze, das hat sich einfach nicht ergeben? Ich kenne das Lokal auch nur, weil sich eine meiner Lerngruppen in der Nähe getroffen hat und wir danach oft hierher weitergezogen sind. Ist das erste Mal, dass ich wieder da bin, seit sich die Gruppe aufgelöst hat.“ „Du hast einen Bachelor in BWL, richtig?“ Dafür, dass Maria regelmäßig über Menschen schimpfte, die ihre Vorurteile pflegten, ohne sie gelegentlich zu hinterfragen, brachte sie Wirtschaftswissenschaftlern eine erschreckend pauschale Verachtung entgegen. „Das stimmt“, erwiderte Erik ruhig. „Und machst das jetzt auch im Master?“ „Mhm.“ „In Teilzeit.“ „Mhm.“ „Während du Vollzeit arbeitest.“ „Mhm.“ „Hast du da überhaupt noch Zeit für was anderes? Eine Beziehung zum Beispiel?“ Hätte Maria nicht am anderen Ende des Tisches gesessen, Jonas hätte sie getreten. So fürchtete er, die ahnungslose Sophia zu treffen, die schüchtern erste Kontakte mit Nick und Christine knüpfte. „Es ist schwierig“, antwortete Erik erstaunlich ehrlich. Sein Blick wanderte zu Jonas, transportierte eine eigenartige Mischung aus Bitterkeit und Hoffnung. „Deshalb werde ich auch ein wenig länger studieren als ursprünglich geplant.“ „Was?“ Jonas‘ Überraschung entlockte Erik ein Lächeln. „Eigentlich wollte ich dir das erst zum neuen Semester erzählen, aber ja, ab September werde ich ein paar Veranstaltungen weniger belegen. Die Entscheidung war überfällig. Im Moment jongliere ich zwischen allen Verpflichtungen und jede einzelne kommt zu kurz. Du kommst zu kurz. Also muss ich das ändern.“ Jonas dachte an Eriks gerade erst zurückliegende Prüfungen. Daran, wie er sich in den zwei Wochen davor – sie waren frisch von ihrem Stuttgart-Trip zurückgekommen – stundenlang im Büro verbarrikadiert hatte und nur herausgekommen war, um Arbeiten zu gehen. Er hatte sich redlich Mühe gegeben, seine mehr als unterirdische Laune nicht an Jonas auszulassen, aber dieser war damals dennoch nur auf Zehenspitzen durch die Wohnung gehuscht. So egoistisch es sein mochte, Jonas war froh über Eriks Entscheidung, ein wenig kürzer zu treten. Unter dem Tisch tastete er nach seiner Hand. Sie war kalt, aber ihre verkrampften Finger entspannten sich rasch unter der Berührung. „Wenn du so viel zu tun hast, ist es sicher praktisch, jetzt jemanden in der Wohnung zu haben, der gerne kocht und halbwegs Ordnung halten kann.“ Mit aller Mühe schluckte Jonas eine scharfe Zurechtweisung herunter. Diese Bemerkung war so sehr an den Haaren herbeigezogen, dass sich das dahinterliegende Motiv klar und deutlich zeigte. Maria versuchte, Erik aus der Reserve zu locken und Zorn würde sie nur bestätigen. Das verlangte nach einer anderen Taktik. Jonas spitze die Lippen, in der besten Imitation eines Schmollmunds, zu der er fähig war „Aber Maria … Zum Ausgleich kauft Erik mir doch sooo viele schöne Sachen! Weißt du, ich dacht, ich könnt auch einfach mein Studium schmeißen und lieber an meinen Hausmannqualitäten arbeiten. Mich um mein Äußeres kümmern, dafür sorgen, dass immer genug kaltes Bier im Kühlschrank is‘, solche Sachen halt.“ Die Falte zwischen Marias Brauen erschien, dieselbe, die auch Erik zeigte, wenn ihn etwas störte. Im Gegensatz zu ihrer, blieb seine Stirn allerdings unbewegt, seine mit Jonas‘ verschlungenen Finger locker. Das aalglatte Lächeln, das unvermittelt auf sein Gesicht trat wollte Jonas allerdings nicht so recht gefallen.   Verschwörerisch beugte sich Erik über den Tisch zu Maria. „Du hast da schon recht“, raunte er in seinem weichen Timbre, das Jonas auch nach Monaten noch Gänsehaut bescherte. Geschmeidiger Samt über hartem Fels. „Es ist umwerfend, den Kleinen als persönliche Haushaltshilfe in der Wohnung zu halten. Am Anfang musste ich ihn natürlich ein wenig erziehen und an seiner Disziplin müssen wir auch noch etwas feilen, aber das Hausmädchenkostüm sieht an ihm einfach so umwerfend aus, das macht alle anderen Defizite beinahe völlig wett.“ „Erik!“ Jonas‘ entgeisterter Aufschrei ging im Gelächter seiner Schwester unter. „Hättest du nich‘ wenigstens bis zum Nachtisch warten können, bevor du sowas verrätst?“ „Entschuldige.“ Erik sah nicht im Geringsten aus als täte es ihm leid. „Ich wollte Marias Fragen nur so ehrlich wie möglich beantworten.“ „Also ich glaube dir die ja Geschichte erst, wenn ich das Kostüm sehe“. Christines Worte wurden immer wieder von ihrem eigenen Kichern unterbrochen. „Vorzugsweise, während Jonas es trägt.“ Dieser brachte seine Scham ausreichend unter Kontrolle, um unbeeindruckt mit der Schulter zu zucken. „Sorry, den Anblick gibt’s bloß im Tausch gegen Kost und Logis.“ Er wandte sich an Erik. „Aber das ‚Kleiner‘ verbitte ich mir. So viel Respekt muss dann doch sein!“ „Obwohl es wahr ist?“ Mit Daumen und Zeigefinger deutete Erik die fünf Zentimeter an, die die beiden voneinander trennten. Sein Lächeln wandelte sich vom berechnenden Zähnefletschen eines Finanzhais zu diesem spitzbübischen Schuljungengrinsen, das Jonas inzwischen so gut kannte. „Gott, ich hoffe wirklich, ihr redet über eure Körpergröße. Andernfalls erfahre ich gerade mehr über meinen Cousin, als ich jemals wissen wollte.“ Sophia verbarg ihr gerötetes Gesicht hinter ihren Händen, aber es war offensichtlich, dass sie sich ausgezeichnet amüsierte. „Ich schließe mich dem Wunsch nach einem Themenwechsel an.“ Für diesen Affront erntete Nick einen Ellenbogenstoß von Christine. „Also ich finde das alles sehr spannend!“ Als hätte er ihrem Gespräch gelauscht, nutzte der schnuckelige Kellner, der sie schon zum Tisch geführt hatte die kurze Pause, um ihre Bestellungen aufzunehmen. Ein Vorhaben, das sich ein wenig zog, weil bisher keiner die Muße gefunden hatte, einen Blick in die Karte zu werfen. „Und?“, erkundigte sich Erik bei Christine, nachdem alle es irgendwie geschafft hatten, ein Gericht zu wählen. „Genug Auswahl?“ „Absolut. Wenn das hier überall so ist, mach ich’s meinem Bruderherz nach und zieh zum Studium auch hierher.“ „Von Australien nach Berlin. Da habe ich mir ja eine echte Weltenbummlerin gesucht.“ Jonas konnte nicht genau abschätzen, wie viel Frust sich hinter Nicks Worten verbarg, aber Christine schien keinen Grund zu sehen, sie übermäßig ernst zu nehmen. „Pff, dich nehme ich dann natürlich mit.“ Nick öffnete den Mund für eine Erwiderung, entschied sich aber auf halbem Weg für ein Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. Fieberhaft suchte Jonas nach einem neuen Thema. Letztendlich kam ihm Maria zuvor. Noch immer war ich Blick unbarmherzig auf Erik gerichtet, der das gelassen erwiderte. „Jonas hat erzählt, du hast eine Drei-Zimmer-Wohnung. Ganz schön groß für einen allein. Schon vorher mal mit jemandem zusammengewohnt?“ An dieser Stelle zögerte Erik und für Jonas war der Punkt erreicht, an dem er einschreiten würde, wenn Maria weiterbohrte. Vermutlich spukte die Wohngruppe, in die Erik nach dem Tod seiner Eltern gezogen war in dessen Kopf herum und das war ganz sicher nichts, das er einer Beichte gleich vor Maria ausbreiten musste. Aber Jonas war zu langsam und Erik antwortete, bevor er ihm zur Seite springen konnte. „Ein paar Monate in einer WG.“ „In Berlin?“ „Nein. Stuttgart.“ „WG. Keine Partnerschaft?“ „Nein.“ „Also hast du noch nie mit einem Partner zusammengelebt?“ „Nein.“ „Hattest du überhaupt schon mal eine feste Beziehung?“ „Ist lange her, aber ja. Wir sind bis heute befreundet.“ Jonas konnte Erik kaum verdenken, dass er die Monate mit seinem ersten Freund – so man diesen denn überhaupt so nennen wollte – unter den Tisch fallen ließ. „Warum ist es auseinandergegangen?“ „Maria“, knurrte Jonas zwischen zusammengebissenen Zähnen. „Das reicht jetzt wirklich. Wir sind hier doch nich‘ bei Gericht. Was denkst du, w–“ Überrascht blickte er zu Erik, als dieser seine Hand drückte. Erste Spuren der Furche zwischen seinen Brauen zeigten sich, aber auf seinen Lippen lag noch immer ein geduldiges Lächeln. „Verschiedene Gründe.“ Zunächst sah er aus, als wollte er noch mehr sagen, trank stattdessen jedoch einen Schluck seines Eistees. Jonas ahnte weshalb. Nach allem, was Erik ihm erzählt hatte, hatte es zwischen ihm und Marco zwar bereits zuvor gekriselt, aber letztlich war es der Umzug nach Berlin gewesen, der ihrer Beziehung den Todesstoß versetzt hatte. Hinsichtlich Christines und Nicks derzeitiger Situation, war es vermutlich nicht die beste Idee, jetzt von einer gescheiterten Fernbeziehung zu erzählen. Mal abgesehen davon, dass das generell nicht unbedingt ein Thema war, über das man gerne mit Menschen sprach, die man eben erst kennengelernt hatte. Glücklicherweise schien auch Maria zu erkennen, dass sie kurz davor stand, eine sehr feine Grenze zu überschreiten. Sie atmete hörbar aus, blieb ab da jedoch still. Ein wenig enttäuscht blickte Jonas in die Runde. So viele tolle Menschen waren an diesem Tisch versammelt und dennoch war die Stimmung gedrückt. Erstickt von unausgesprochenen Konflikten und Ängsten; sei es zwischen Christine und Nick, Erik und Maria oder ihr und ihm selbst. Mittendrin saß Sophia und hatte offensichtlich nicht die geringste Ahnung, wie sie sich verhalten sollte. Dieses Mal war es Erik, der Maria ansprach. „Mir wird gerade klar, dass Jonas mir nie erzählt hat, wie ihr euch überhaupt kennengelernt habt.“ Was nicht ganz stimmte. Entweder, der Mann hatte ein Gedächtnis wie ein Sieb, oder er wollte einfach nur das Thema wechseln. „Schule.“ Das war selbst für Marias Verhältnisse wortkarg. „Eigentlich“, sagte Christine in einem Versuch, die Situation zu retten, „war Maria ja zuerst meine Freundin, bevor mein werter Bruder sie mir weggeschnappt hat.“ „Kann ich nix für, dass ich so viel mehr zu bieten hab.“ Christine streckte ihm die Zunge raus. „Du meinst, dass du mehr Nachhilfebedarf hattest.“ „Okay, ja, das auch“, räumte Jonas ein. „Nee, aber Christine hat schon recht, eigentlich hab ich Maria durch sie kennengelernt. Jedenfalls so ‘n bisschen. Sie war halt ‘n paar Mal bei uns zuhause, während ich auch da war. Wir hatten bis dahin aber nie viel miteinander zu tun. Immerhin war ich schon richtig erwachsen und ihr bloß kleine Kinder.“ „Gott, ja, jetzt erinnere ich mich wieder, wie kacke du als Kind zu mir warst.“ „Teenager“, verbesserte Jonas mit erhobenem Zeigefinger. „Ich war ein voll erwachsener Teenager.“ Christine verdrehte die Augen. „Ja, klar doch.“  „Jedenfalls musste ich ja die achte Klasse wiederholen und jetzt rate, mit wem sie mich zusammengesteckt haben?“ „Ich habe eine Vermutung“, erwiderte Erik und sogar Maria konnte nichts gegen das Lächeln unternehmen, das sich auf ihr Gesicht stahl. „Jonas hat sich einfach neben mich gesetzt“, erzählte sie. „Er hat es nicht einmal für nötig befunden, zu fragen, ob das in Ordnung für mich ist.“ „Du hättest schon was gesagt, wenn’s so gewesen wär.“ „Ich habe etwas gesagt.“ „Japp und das war echt unhöflich.“ „Offenbar nicht unhöflich genug“, motzte Maria, aber der Ton, den sie dabei anschlug klang völlig anders als noch wenige Minuten zuvor. „Naja, am Ende hast sogar du eingesehen, dass wir ‘n ziemlich geiles Team abgeben.“ „Zähneknirschend.“ Maria seufzte. „Was plant ihr jetzt eigentlich für euren Geburtstag?“ „Das frage ich mich allerdings auch.“ Christine warf einen Seitenblick zu Jonas. „Bisher war mein Bruderherz immer viel zu cool, um mit seiner kleinen Schwester zu feiern und kaum springt er mal über seinen Schatten, schweigt er sich über die Details aus.“ „Weil ich noch keine hab“, erwiderte Jonas schlicht. „Dacht, wir könnten was essen gehen und danach in irgend‘nen Club. Sowas halt.“ „Sowas halt?“, fragte Sophia, zur Überraschung aller, laut und entsetzt. „Du bist in Berlin und das Beste, was dir einfällt ist ‚Essen und Club und sowas halt‘?“ Jonas grinste. „Ich lass gern wen anders die Planung übernehmen.“ Erstaunlicherweise war es Nick, der auf dieses Angebot ansprang. „Abgemacht. Du und Christine überlasst einfach alles uns. Ohne Wenn und Aber.“ Nach einem stummen Blickwechsel nickten die Geschwister unisono. „Einverstanden.“ Ab da verlief das Essen in ruhigeren Bahnen. Die Themen wurden lockerer, die Gesichter entspannter und das Gelächter mehrte sich, bis Erik mit einem Blick auf die Uhr aufstand. „Ich fürchte, ich muss mich auf den Weg in die Arbeit machen.“ „Schon?“, fragte Nick enttäuscht. Er und Erik hatten sich – und Jonas konnte nicht fassen, dass das an einem öffentlichen Ort stattgefunden hatte – ausführlich über ihre, angeblich ehemalige, Pokémonkartensammlung unterhalten. „Leider, ja. Aber wir sehen uns ja sicher bald wieder.“ Nacheinander schloss jeder Erik zum Abschied in die Arme, lediglich Maria reichte ihm kühl die Hand. „Bis später“, flüsterte Jonas, wollte seinen Freund so sehr küssen, traute sich im vollen Restaurant jedoch nicht. „Habt noch einen schönen Abend.“ Mit einem letzten Winken in ihre Richtung, verschwand Erik ins Freie.   Gesellige Runden sind wie Dominosteine. Ihre Mitglieder stehen aufrecht, bis der erste kippt. Kurz nachdem Erik gegangen war, verkündete Maria, dass sie zurück ins Hotel wolle, Nick und Christine schlossen sich ihr gähnend an und am Ende standen Jonas und Sophia nicht einmal eine Stunde nach Eriks Abschied in ihrer Wohnung. „Willst du ‘nen Film gucken, oder so?“, bot er an, unsicher, wie er mit seinem Gast umgehen sollte. „Danke, aber ich glaube, ich werde mich auch ein wenig hinlegen. War ein langer Tag.“ „Versteh ich. Dann sehen wir uns wohl morgen. Brauchst du noch was?“ Sophia schüttelte den Kopf, überlegte einen Augenblick und schüttelte ihn dann nochmal. „Ich denke, ich habe alles. Gute Nacht.“ „Nacht.“ Unruhig rutschte Jonas auf der Couch herum. Nichts, was Netflix zu bieten hatte lachte ihn an, die Gedanken in seinem Kopf wirbelten umher, nahmen ihm jede Konzentration. Seufzend stand er wieder auf, schlüpfte in seine Sportklamotten und schrieb eine kurze Nachricht an Sophia auf die Kreidetafel in der Küche, damit sie wusste, wo er steckte. Die Luft war drückend, der fahle Mond versteckte sich hinter in der Dunkelheit kaum auszumachenden Wolkenbergen. Keine idealen Bedingungen, dennoch war Jonas gut eine Stunde unterwegs, bevor er das Gefühl hatte, wieder halbwegs klar denken zu können. Sein Körper klagte, aber sein Geist war erleichtert. Um gleichmäßige Atmung bemüht, schlich er sich an der Bürotür vorbei, hinter der Sophia vermutlich die Anstrengungen des Tages wegschlief, schloss leise die Schlafzimmertür hinter sich und warf einen Blick auf sein Handy.   Clemens, 22:03 Uhr hey!!!!!   Clemens, 22:04 Uhr kumpels und ich gehen jetzt berlin unsicher machen!!!!   Clemens, 22:05 Uhr kommst du mit?????   Clemens, 22:44 Uhr komm schon!!!! is voll geil hier!!!!   Ein zartes Lächeln stahl sich auf Jonas‘ Gesicht. Es tat gut zu wissen, dass Clemens weiterhin Zeit mit ihm verbringen wollte. Es tat gut, keine Angst mehr haben zu müssen, dass er herausfinden könnte, was wirklich in Jonas vorging. Es tat gut, nicht länger fürchten zu müssen, für seine Gefühle verdammt zu werden. Wenn da nur nicht … Die Antwort schon halb getippt, löschte Jonas sie wieder und wählte stattdessen Eriks Nummer. Zu seiner Überraschung, ging dieser schon nach dem zweiten Klingeln ran. „Hey.“ „Hi! Langweilst du dich in der Arbeit?“ „Geht so. Ich habe eher zufällig auf mein Handy gesehen.“ „Klar, red dir das ruhig ein. Eigentlich wissen wir beide, dass du mich vermisst.“ „Das auch. Ist zuhause alles in Ordnung?“ „Japp, alles super. Sophia schläft. Oder is‘ zumindest in ihrem Zimmer verschwunden. Ich bin grad vom Joggen zurück.“ „Dann vermisst du mich wohl noch etwas mehr als ich dich, wenn du mich extra anrufst“, erwiderte Erik und Jonas schwor, ein süffisantes Grinsen herauszuhören. „Ähm, ja, natürlich. Das auch. Aber eigentlich … Also …“ „Ja?“ „Clemens is‘ mit seinen Freunden unterwegs und hat gefragt, ob ich nich‘ auch dazukommen will und, ähm, ich hätte eigentlich schon echt Bock drauf.“ Ein minimales Zögern. Dann: „Was hält dich auf?“ „Is‘ das okay für dich?“, hakte Jonas nach. „Du musst mich doch nicht fragen, ob du mit deinen Freunden weggehen kannst.“ „Ja, das weiß ich auch.“ Ungeduldig lief Jonas im Schlafzimmer auf und ab, bemüht, leise zu sprechen. „Aber, ähm, ich hatte irgendwie das Gefühl, dass du ‘n bissl angespannt bist, wann immer ich Clemens erwähn, deshalb wollt ich das einfach vorab mit dir klären.“ Erik seufzte, im Hintergrund knarzte ein Stuhl und eine Tür schloss sich. „Das ist sehr lieb von dir, aber wirklich nicht nötig. Geh mit und hab einen schönen Abend.“ „Ja, aber wie soll ich bitte einen schönen Abend haben, wenn ich mich dauernd frag, ob das jetzt wirklich okay für dich is‘?“ „Es ist in Ordnung!“ Das Lächeln war lange aus Eriks Stimme verschwunden und auch das bemühte Verständnis flackerte allmählich. „Ich … In Ordnung, ja, ich fühle mich unwohl bei dem Gedanken, dass du etwas mit Clemens unternimmst.“ Da war es. Endlich lagen die Karten auf dem Tisch. „Warum?“ „Weil ich …“, der nächste Teil des Satzes kam so leise und schnell, dass Jonas ihn nicht verstanden hätte, hätte er dessen Inhalt nicht ohnehin schon erahnt, „eifersüchtig bin.“ „Du weißt aber schon, dass Clemens so hetero is‘, wie man irgendwie sein kann, oder? Ich weiß wovon ich red, immerhin hab ich Jahre drauf verschwendet, nach Signalen zu suchen, dass das nich‘ so is‘.“ Jonas wurde klar, dass diese Aussage bei seinem Versuch, Erik zu beruhigen vielleicht ein wenig kontraproduktiv war. „Und selbst diese Phase ist lange vorbei. Sogar, wenn er sich plötzlich umentschieden hätte und mir seine ewige Liebe gestehen würd, würd ich nich‘ drauf eingehen.“ „Das macht für mich aber keinen Unterschied.“ Wieder seufzte Erik. „Das ist nichts Rationales, verstehst du? Du könntest dich neunundneunzig Prozent des Tages in unserer Wohnung einsperren und mein Gehirn würde trotzdem Wege finden, mir die hässlichsten Szenarien vorzuspielen.“ „Oh.“ „Das ist nicht deine Schuld!“, beschwor Erik. „Bitte glaub mir, wenn ich dir das sage. Du hast nichts falsch gemacht, mir nie einen Grund für diese Eifersucht gegeben. Ich neige einfach zu Verlustängsten. Aber das ist mein Problem, nicht deins und ich bin auch derjenige, der lernen muss, damit umzugehen. Nicht du. Also bitte, triff dich mit deinen Freunden und hab ein bisschen Spaß, ja?“ „Sicher?“ „Absolut!“ Jonas biss sich auf die Lippe, das Piercing klickte gegen seine Zähne. „Okay. Ich lass es auch nich‘ zu spät werden.“ „Komm nach Hause, wann immer du möchtest.“ „Nee, das passt schon. Hatte ja auch ‘nen langen Tag, aber so ein oder zwei Bier wären schon nett. Bin aber bestimmt zurück, bevor du nach Hause kommst!“ „Dann sehen wir uns später.“ „Japp! Und Erik … Ich liebe dich.“ „Ich liebe dich auch.“ Das Lächeln war in Eriks Stimme zurückgekehrt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)