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Kadavertreue

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Kadavertreue

Narukami empfand nicht das leiseste Gefühl der Reue.

Um ehrlich zu sein, fühlte sie überhaupt nichts in dem Moment, als sie Adachis Brief verbrannte und ihr Schicksal als seine Komplizin besiegelte.

Es war die richtige Entscheidung gewesen, ihn zu beschützen – einen schuldigen Serienmörder und gleichzeitig auch einen engen Freund.

Das Geräusch von zersplitterndem Glas bestätigte dies. Ein vertrautes, warmes Gefühl breitete sich in ihr aus, als die Tarotkarte des Narren sanft vor ihren Augen schwebte und dabei ein funkelndes Licht versprühte.
 

Ich bin Du.

Du bist Ich.
 

Yui Narukami hat einen Bund geschmiedet, der nicht gebrochen werden kann.
 

Adachi hatte sie gegen die Wand geworfen, seine Nägel durchdrangen ihre Handgelenke bis sie das feuchte Blut ihre Arme entlanglaufen fühlte. „Warum hast du das getan? Warum all deine kostbaren Bande geopfert wegen mir? Sag schon!“

Der Wahnsinn ließ seine Gesichtszüge fürchterlich verzerren, kein Deut mehr von dem freundlichen Lächeln, von der Scharade, mit der er alle um ihn herum getäuscht hatte, und sie war sich sicher, dass seine Augen für einen kurzen Moment golden geglänzt hatten.

Narukami wollte etwas erwidern, aber keine Worte dieser Welt hätten ihr Handeln rechtfertigen können. Sie war an einem Punkt angelangt, an dem sie nicht mehr zurückkehren konnte. Angewiesen auf die Gnade eines Soziopathen.
 

Der Verrat an Freunde und Familie.

Unverzeihlich.
 

Sie lehnte sich langsam vor, suchte mit ihren Lippen die seinigen.

„Weil nur du mich verstehst“, hauchte sie in den Kuss.
 

Es gab keinen Weg zurück.

Nie wieder.

„Wir sind beide Narren dieser Welt.“
 

Der Abstieg begann.
 

Als sie Seite an Seite lagen, Haut an Haut gepresst, schweißnass von der Liebe, die sie zuvor geteilt hatten und von dem Gewicht der Schuld, die ihren Schultern auflag, begann Adachi zu lachen. Seine krächzende Stimme hallte unheimlich durch den verwahrlosten Raum. Aus den Augenwinkeln konnte Narukami den roten Schal sehen, der von dem Haken neben dem Bett hing. Er schwang leicht in der Brise, höhnte sie heranzutreten und ihn um ihren bleichen Hals zu legen um zu sehen, wie viel ihr das eigene Leben an diesem Punkt noch wert war.
 

„Kennst du die Geschichte von Izanagi und Izanami?“
 

Seine spröden Lippen berührten ihr Ohrläppchen so sanft. Adachis geflüsterte Worte flossen in ihren Geist, träge und süßlich wie Honig.
 

„Sie waren ein göttliches Paar. Als Izanami im Kindbett starb, besuchte Izanagi die Unterwelt Yomi um sie zurückzuholen. Izanami bat ihn zu warten und sie nicht anzublicken. Rate, was er getan hat: Er erkannte, dass seine einst so wunderschöne Izanami eine verrottete Leiche geworden war. Schockiert kehrte Izanagi nach Hause ohne seine Ehefrau zurück. Izanami war erzürnt über sein Handeln und versuchte ihn einzufangen, aber er verschloss den Eingang zu Yomi. Sie sagte ihm, sie würde jeden Tag 1000 Leben nehmen, woraufhin Izanagi erwiderte, dass er der Welt jeden Tag 1500 neue Leben geben würde.“
 

Ein Kuss auf ihren nackten Arm. Auf ihren blanken Knochen.
 

„Du erinnerst mich an sie.“
 

Zwei kalte Stücke Stahl in einer Marmorpuppe.

Es fühlte sich falsch an, ihre ehemaligen Freunde mit diesen toten Augen anzuschauen. Sie fürchtete sich davor, Maden auf den Platz, den sie all die Zeit für ihre Treffen und Untersuchungen für den Fall benutzt hatten, zu verteilen, wenn sie ihren verrottenden Körper zu 'Junes' tragen würde. Den Boden zu beschmutzen, auf den sie die Bande mit ihren Freunden geknüpft hatte, musste auf alle Fälle vermieden werden. Dies war der Grund, weshalb sie niemandem von ihrer Ankunft in diesem ruhigen Dorf, das sie so herzlich liebgewonnen und so egoistisch ins Chaos gestürzt hatte, erzählte.
 

Keinem, außer Adachi.
 

Narukami wagte es nicht, die Anrufe ihres Onkels entgegenzunehmen. Er hatte sie vermutlich durch den dichten Nebel in der Stadt herumwandern sehen, aber wann immer er es wundersamerweise geschafft hatte, sie an einer Kreuzung einzuholen und mit ihr zu reden, versteifte sie sich. Es war zu schwer geworden, mit ihrer blutsverwandten Familie zu sprechen. Früher oder später fühlte sie die Macht des Hierophanten abnehmen. Dojimas Arcana zerschmetterte in dem Moment, als sie ihm sagte, dass sie nie wieder in sein Haus zurückkehren würde.
 

"Was ist mit Nanako?", fragte er sie wütend. Schmerz klang in seiner Stimme und vielleicht auch Verzweiflung. Narukami hatte durch ihn geblickt, als sie ihre nüchterne Antwort gab.
 

"Sie wird schon ohne mich zurechtkommen."
 

Narukami hatte sich mit dieser Wahl sowohl für das Wohl ihres Onkels als auch für das ihrer Cousine entschieden. Zeit mit einer toten fast Tochter und toten fast großen Schwester zu verbringen, schien eine zu grausame Bestrafung für diese freundlichen Menschen zu sein. Sie musste die Bande im Keim ersticken, bevor es zu spät war. Nanako war zu unschuldig und zu rein, um mit einer finsteren Göttin wie Narukami in Kontakt zu bleiben.
 

Sie wollte sich von der miserablen Welt isolieren, von dem Schmerz, den die Bindungen mit sich brachten.

Die ganze Zeit über hatte Narukami mit dem Ermittlungs-Team in der TV-Welt nach der Wahrheit gesucht, dabei war die Wahrheit schon immer vor ihrer Nase gewesen.
 

Adachis Weltansicht war die einzige Wahrheit. Und jetzt konnte sie ihn endlich komplett verstehen.
 

Es war wirklich eine scheißverdammte Welt.
 

Mit jeder von Adachis Berührungen korrodierte sie ein wenig mehr. Ihre Haut verbrannte unter seinen Fingerspitzen und der Lauf seiner Waffe zwischen ihren Beinen ließ sie in Schmerz und Lust aufschreien, ihr Hals mit blauen Blütenblättern bedeckt, wo er seine Daumen bedächtig über ihre Luftröhre drückte. Jede Nacht war ein Spiel von Leben und Tod für sie. Der einzige Zweck des gefährlichen Spiels war es, die Allgegenwart der Langeweile zu umgehen und es bot auch die Gelegenheit, etwas Zeit zu töten.
 

Izanagi und Izanami hatten schließlich eine Ewigkeit vor sich, die sie gemeinsam verbringen konnten.
 

Eines Tages kauerte Narukami auf der zerlumpten Couch. Mit ihren knöchernen Armen um ihre Beine geschlungen warf sie hin und wieder sehnliche Blicke zur Tür ohne eine einzige Silbe zu äußern. Adachi bemerkte es, als er seine Augen von dem flackernden TV-Bildschirm vor sich abwandte. Das Signal war wirklich schlecht in letzter Zeit.

"Hast du Angst, nach draußen zu gehen?", fragte er spöttisch. Sie musste ihren Schädel nicht umdrehen, um zu wissen, dass er sie angrinste.

"Der Nebel spielt mit den Köpfen der Leute. Wer braucht die Wahrheit überhaupt? Es ist so viel leichter, das Leben zu leben, ohne die Probleme der Welt zu kennen. Ohne sich um alles kümmern zu müssen. Deshalb sind dumme Leute am glücklichsten. Ignoranz ist ein Segen."
 

Und sie vertraute ihm. Jedes Wort, das seinen Mund verließ, war zweifelsohne wahr. Der Nebel würde jedes Bisschen von Narukamis hässlichem Selbst verschlingen. Es war schwer, durch den Schleier auf die Straße durchzublicken, schwerer mit anderen Leuten zu sprechen. Es war selbst zu gefährlich für Kinder draußen zu spielen. Die Stadt war ruhiger geworden und ihre Einwohner abgeschiedener.
 

Ja, Narukami hatte Angst. Angst, dass die Leute anhalten und starren und mit Ekel auf sie zeigen würden, auf ihren Leichenkörper. Sie hatte Angst, dass sie alle ihre hässlichen, elfenbeinfarbenen Knochen und ihre hässlichen, schwarzen Innereien sehen könnten. Die Leute würden sicherlich den grässlichen Gestank ihres verfaulten Fleisches wahrnehmen und die Käfer, die in ihren leeren Augenhöhlen nisteten. Die Schuld.
 

Jedoch, wenn Izanagi hier war, verschwand ihre Angst.
 

Narukami drückte Adachis Hand fest in der ihrigen, während sie den vernebelten Pfad des Yomi hinabgingen. Sie hatte klare Sicht durch den ewigen Nebel, der die Stadt umschloss, und sie war sich sicher, dass ihr Partner dasselbe fühlte.
 

Ihr...Partner.
 

Seltsam, wie einfach es geworden war, über Adachi genauso zu denken wie einst über Yosuke.

Adachi war die einzige Person in dieser Welt, auf die sie sich verlassen konnte. Der einzige Bund, dem sie erlaubt hatte, zu gedeihen. Das einzig andere Lebewesen neben ihr, das ihr wahres Selbst kannte.
 

Ihre Rettung und ihr Untergang.
 

Am Ende hatte der Nebel gesiegt.

Menschlich konnte man die Wesen, die durch die verwahrlosten Straßen wanderten, nicht mehr nennen.

Vielmehr waren sie Schatten ihrer Selbst. Im wahrsten Sinne des Wortes.
 

Statt Erlösung hatte sie allen den Tod gebracht.
 

Hier saßen sie, das göttliche Paar, vereint im Nebelschleier Inabas – oder vielmehr dem Schatten Inabas, Magatsu Mandala. Die echte Welt und die des Fernsehers waren zu einer verschmolzen.
 

Narukami saß vor ihrem Thron, dem einstigen Familientisch der Dojimas, an dem sie mitunter ihre glücklichsten Momente als Mensch verbracht hatte. Adachi hatte seinen Kopf in ihren Schoß gebettet und sie ließ ihre milchigen, langen Knochen durch sein dunkles Haar gleiten.

„Langweilig“, hörte sie ihn murmeln. „Diese Welt ist so verdorben“. Er blickte durch halb geschlossene Lider zu ihr auf, der Schein seiner goldenen Iris leuchtete durch den Nebel. „Wir haben ihr nur mehr Leid erspart. Nicht wahr, Izanami?“
 

Sie hatte keinen Mund mehr um zu reden. Nur mehr ein Knochengerüst. Aber sie verstanden sich auch ohne Worte.
 

Ich bin du.

Du bist Ich.
 

Beide Narren hatten ihre Reise beendet.

Und am Ende zählte nur ihre eigene Wahrheit.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Es ist schon eine Weile her, seit ich etwas geschrieben hab :') Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  DarkRapsody
2017-08-07T18:35:19+00:00 07.08.2017 20:35
Sehr schön geschrieben! Ich mag es wirklich, dieser interessante Schreibstil gibt dem ganzen ein besonderes Gefühl ^-^
Ich selbst versinke bei meinen "kurzen Geschichten" zu sehr in Details und deines ist schön, nüchtern und genaum ich mag es! Dann werde ich mal abbonieren und mich unendlich auf neues freuen!!
Grüße, DarkRapsody
Antwort von:  Memaiko
25.08.2017 10:17
Ohh, das freut mich sehr zu hören!! >w<
Dankeschön fürs Kommentar und Abbonieren, ich hoffe meine neuen Fanfics werden dir auch gefallen! :D
(und entschuldige bitte für die späte Antwort ^^;)
Von:  Flordelis
2017-08-05T15:41:04+00:00 05.08.2017 17:41
Eine beeindruckende kleine Geschichte.
Narukamis Niedergang an Adachis Seite war sehr anschaulich beschrieben, gefiel mir. <3
Außerdem finde ich deinen blumigen Schreibstil hier so angenehm zu lesen. Wobei "blumig" im Zusammenhang mit diesem OS irgendwie falsch klingt ... er ist schaurig-schön, einfach passend. (Ich derartige Stile, besonders bei One-Shots eh immer beneidenswert, meiner ist meist zu nüchtern. XD)
Also lange Rede, kurzer Sinn: Wirklich toll geschriebene kleine Geschichte, schaurig-schön. Mir gefiel es sehr. <3
Antwort von:  Memaiko
07.08.2017 10:00
Wow, vielen Dank, ich hab mich wirklich sehr über deinen Kommentar gefreut! ^^
Ich liebe einfach die Dynamik zwischen Adachi und Narukami, deswegen musste ich auch mal eigens eine Fanfic dazu schreiben~
Ich selber finde meinen Schreibstil ja manchmal etwas zu überladen, deswegen freut es mich echt sehr zu lesen, dass er dir gefällt! :)
Danke dir noch mal für das liebe Feeback und den Favorit! <3 :D


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