The Splintered Truth von Meilenstein ================================================================================ Kapitel 22: Orange VI --- Mein Zuhause? --------------------------------------- [Tina] Der Stress und die Unruhe stand ihr ins Gesicht geschrieben. Die Hand rechts gegen die Hüfte gepresst und mit der linken Hand den Türrahmen der offenen Zimmertür festumschlungen, als würde sie im nächsten Moment diesen herausreißen wollen. Tiefblaue Augenringe und tiefe Mundwinkel, die nach jedem Satz noch tiefer wirkten. Ihre Augen wirkten matt und ihre Reaktionen verzögert. Ihre Stimme begann trocken, jedoch nahm diese im Laufe jeden Satzes schubartig zu. Angestrengt wurde jeder Satz deutlich betont und dabei keine Rücksicht auf die Lautstärke genommen. „Und damit du Bescheid weißt. Linda wird sich noch mit dir genauer auseinandersetzen. Vor allem wegen der Gildenmitgliedschaft. Sei dankbar für das Geschenk.“ Alina starrte Tina mürrisch an. Ihre bedrohliche Haltung war zum Davonlaufen, aber als Alina fast vom Rand der Türe abrutschte und sich noch im letzten Moment fing, bekam Tina Mitleid. Alinas Gesichtsfarbe hatte einen unnatürlichen blassen Farbton. „Das ist kein Problem. Ich kann helfen… und ich bin hier, wenn Linda zurückkommt.“ Alina seufzte. Sie holte daraufhin kurz Luft. Für einen Moment schweiften ihre müden matten Augen scheinbar ziellos durch den Raum. „Ah ja.“ begann sie bissig. Sie starrte Max plötzlich an. Sie schien ihre ersten Worte zu formulieren, da schweifte ihr Blick wieder schlagartig zu Tina. „Du kommst gleich mit mir mit!“ Dann erhob Alina bedrohlich ihren rechten Zeigefinger und sie deutete jedoch auf Max und Daniel, die dadurch weiter zur Wand rückten. Im Moment befanden sie sich ebenfalls in Tinas Zimmer, aber ganz von ihr weggerückt an der Wand. „Und ihr verschwindet von hier! Linda scheint euch einen Vorschuss an Vertrauen zu gewähren, aber ich nicht. Wehe ich sehe euch in irgendeinem Zimmer, wo ihr nicht sein dürft. Runter mit euch!“ Max rührte sich. Er stand vom Boden auf. Inzwischen wirkte er stark genervt und sein Körper war stark angespannt. Seine lockere und schüchterne Art von vorhin war verschwunden. Immer wieder rieb er seine Zähne aufeinander, während er seinen Kopf leicht senkte, jedoch seinen Blick weiterhin auf Alina behielt. Plötzlich erhob sich seine linke Hand und er deutete auf Alina: „Was soll der Scheiß eigentlich? Ich mach doch hier… äh keinen Scheiß… ähm… hier! Was soll das denn? Du kommst hier… ähm… einfach rein!“ An seiner linken Hand war das Gildenarmband zu sehen. Alina schien dies bemerkt zu haben, denn ihr Blick blieb darauf beharren und ihre Mundwinkel verzogen sich weiter nach unten. Grimmig stampfend ging sie zwei Schritte nach vorn: „Wieso hast du dir das angezogen? Woher hast du das? Zieh das sofort wieder aus!“ Ihre Augen sowie ihre Tränensäcke zuckten bei ihrem kurzen Wutausbruch. Leicht zittrig hielt sie sich nach ihrem Wutausbruch an dem nahestehenden Schreibtisch. Max schien sich zu verkrampfen. Für einen Moment hatte er seinen rechten Fuß angehoben, aber diesen wieder schnell gesenkt. Inzwischen hatte er beide Hände zu Fäusten geballt und nah an seinen Körper gedrückt. „DAS HABE ICH… ähm… von der Gilden… äh… Frau… bekommen!“ Alinas Augen verengten sich weiter. Sie baute sich groß vor Max auf: „SIE HEIßT LINDA UND ERZÄHL MIR KEINEN SCHEIß, DU KNILCH!“ Wenn sie vor ihm stand, war sie mindestens einen Kopf größer als er. ‚Oh nein! Hoffentlich wird der Streit nicht schlimmer. Ich muss was tun!‘ Tina hob beide Hände leicht in die Luft mit den Handflächen nach unten gerichtet. „Äh! Das stimmt was er sagt. Linda hat uns das Gildenarmband vorher gegeben, als sie gekommen war.“ Alina drehte ihren Kopf. Sie schien für einen Moment Tina nicht konzentriert ansehen zu können. Alina unterdrückte sichtlich ein Gähnen. „Das klär ich noch mit Linda ab!“ Sie schaute im Anschluss kontrollierend zu Max und Daniel: „Aber raus mit euch beiden! Ihr habt in diesem Zimmer nichts zu suchen!“ Mit ihrem rechten Zeigefinger deutete sie auf die Tür. Daniel nickte und er verschwand blitzschnell aus dem Raum. Mit schnellen gebückten Schritten war er mit der möglichst weitesten Reichweite an Alina vorbeigetreten. Schneller als Alina ihm überhaupt nachschauen konnte. Max dagegen bewegte sich langsamer heraus. Er machte ebenfalls einen größeren Bogen um sie, ab er lieferte mit Alina einen Blickwettstreit. Diesen beendete er aber, als er den Raum verließ. „Was für Pfosten. Linda soll mal nützliche Leute einstellen, die auch was leisten können.“ Sie seufzte angestrengt. „Komm jetzt Tina! Ich muss Rick die Sachen dringend bringen.“ „Geht es ihm gut? Also Rick.“ Alins schaute Tina für einen Moment überrascht an, dann verengten sich ihre Augen. „Ja! Er ist wieder bei Bewusstsein und ansprechbar, aber jetzt genug geredet! In zwanzig Minuten gehen wir los!“ Ihre Stimme war zu Beginn des Satzes noch klar, aber sie wurde mit dem Laufe des Satzes ernster und rauer. Daraufhin schaute sie Tina noch eine Weile misstrauisch an, dann wandte sie sich ab und sie verließ das Zimmer. Mit einem unangenehmen Gefühl auf der Schulter rieb sich Tina den linken Arm. ‚Es freut mich, dass es Rick besser geht. Hoffentlich geht es ihm schnell besser. Aber… warum schaut mich Alina so böse an?‘ Tina stand auf und sie begann sich vorzubereiten. Fast zwanzig Minuten später verließ Tina ihr Zimmer. Alina stand schon unten am Eingang. Sie hatte sich einen Rucksack umgeschnallt sowie eine vollgepackte Tüte in der linken Hand, zudem nahm Tina aus der Nähe war – nachdem sie nach unten zum Eingang ging - dass Alina wohl geduscht hatte, zumindest war ihr Haar nicht mehr so durcheinander, außerdem trug sie einen angenehmen Duft. Ihre Kleidung hatte sie getauscht. Sie trug nun längere Kleidung und keinen Rock mehr. Eine lange blaue Jeans. Tina war ein wenig erschrocken, dass sie in demselben Zeitraum nicht so viel erreicht hatte. Sie hatte sich gerade einmal im Bad ihre Haare gekämmt und ihre Kleidung ebenfalls gewechselt. Linda hatte netterweise ihr Ersatzkleidung zur Verfügung gestellt. Wem sie aber gehörte, das konnte Tina nicht sagen. Alina war einen Kopf größer als sie, so würde es wahrscheinlich nicht ihre Kleidung sein. Tina schaute Alina eine Weile begutachtend an. ‚Seltsam. In ihrer jetzigen Kleidung wirkt sie sportlicher und sie wirkt fitter. Aber ihre Augenringe… oh je die Arme… sie hat sicherlich kaum geschlafen.‘ Alina tippte im Moment energisch auf ihrem Smartphone etwas ein. Grummelnd fluchte sie leise vor sich hin. Plötzlich schaute Alina auf: „Ist was oder warum starrst du mich an?“ Brummte Alina. Tina schaute erschrocken verlegen zur Seite. „Ah… ähm… nichts.“ Alina schritt daraufhin an Tina vorbei auf die Straße, während sie ihr Smartphone in der Jackentasche verschwinden ließ. Die mitgenommene Tüte fest im Griff der linken Hand, wurde diese vom aufgenommenen Wind immer wieder leicht zerknittert. „Komm!“ Tina warf einen Blick zurück in die Eingangshalle, nachdem sie ebenfalls das Gebäude verlassen hatte. In der Eingangshalle saßen die beiden Jungs an einem der Tische. Die beiden wirkten wie auf verlorenem Posten. Während Daniel scheinbar beschäftigt im Moment eine Zeitung durchlas, starrte Max den beiden hinterher. Er wirkte immer noch grimmig. Alina setzte sich schnell in Bewegung. Sie bewegte sich in Richtung Stadtmitte. Tina hatte Mühe Schritt zu halten. Schweigsam eilten die beiden voran, dabei bemerkte Tina - als sie in den Himmel blickte - wie viel Zeit inzwischen vergangen war. Die Sonne begann ihre Reise des heutigen Abschieds. Wieder war ein Tag vorbei. Ein Tag der sich eigenartig und leer anfühlte. Sie hatte zwei Freunde wiedergefunden. Es war ein schöner Moment gewesen. Aber aus nicht erklärlichen Gründen stimmte es sie nicht glücklicher. Als wäre es nur ein kleiner Teil gewesen, der für sich allein ihr nicht viel half. Während sie an den Tag dachte, hatte sie ihre Hände ineinandergelegt und immer wieder rieb sie ihre Finger aneinander. In Gedanken versunken wäre Tina fast in eine Person hineingelaufen. Es war ein Polizist gewesen. Dieser sprach die beiden an – wohin sie jetzt gingen, aber Alina antwortete diesem in einem unfreundlichen Ton, dass sie für einen Gildenkollegen im Krankenhaus Dinge brachten und ihren notwendigen Einkauf erledigen mussten. Der Polizist verwies auf die aktuellen Ereignisse – ein Überfall und dem angeblichen Sichten des örtlichen Fluches - und er bat sich vorzusehen und schnell ein Haus aufzusuchen. Es herrschte zwar keine Ausgangssperre, aber es existierte eine Empfehlung des Rathauses nicht auf offener Straße unterwegs zu sein bis die Polizei die Situation wieder entschärfte. Der Polizist schien zwar nicht erfreut über Alinas Art zu sein, aber er ließ die beiden weitergehen. Alina hatte sich von der Warnung nicht beirren lassen. Weiter zielstrebig verfolgte sie scheinbar ihr Ziel. Bei Tina hatten die Worte ein unangenehmes Gefühl verursacht. Sie hatte das Bedürfnis mehrmals um sich zu schauen. ‚Ein Überfall? Ein Monster? Das ist alles so beängstigend.‘ Alina stoppte mehrere Meter vor der Kreuzung. Sie blieb dabei auf der Straße stehen. Mit der rechten Hand strich sie sich ihr langes Haar aus dem Gesicht - weil der Wind im Moment seine Spielchen trieb. Mit einer leichten Kopfbewegung nach rechts deutete Alina eine Richtung an. Sie deutete damit in eine östliche Richtung. Die Kreuzung hinter Alina führte in drei Richtungen. Geradeaus ging es zum Krankenhaus. Nach Osten zum Rathaus. Nach Westen war Tina noch nicht gewesen, aber die Straße führte aus der Stadt hinaus. Alina verwies erneut nach rechts. Neben der Kreuzung befand sich ein größeres Eckgebäude mit einem großen Firmenschild über ihre doppelseitige Glaseingangstür. ‚Orange Großmarkt‘ stand auf dem Schild. „Dort gehst du jetzt rein und kaufst das hier.“ Alina drückte Tina ein zusammengefaltetes DIN4 Blatt in die Hand. Unter diesem Blatt war ein Briefkuvert. Bei der Übergabe musste Tina aufpassen, dass der aggressive Wind ihr den Zettel nicht aus der Hand riss. Daraufhin zeigte Alina an Tina vorbei zurück in Richtung Hauptquartier. „Danach gehst du zurück.“ Im Anschluss zeigte Alina auf dem Briefkuvert. „In dem Briefkuvert ist das Geld, abgezählt. Es sollte für den Einkauf reichen. Das restliche Geld einfach morgen wieder zurückgeben.“ Alina atmete kurz angestrengt ein. „Und du hast verstanden? Dann, wenn du fertig bist, GEHST DU ZURÜCK und sortierst alles entsprechend in der Küche. Einfach da SCHNELL ZURÜCKGEHEN und nicht wegen irgendetwas halten, klar?! Von keinem Typen anquatschen lassen und wenn du irgendetwas gruselig siehst oder hörst, rennen. Einfach rennen. Das sind aber nur ein paar Meter, das solltest du hinbekommen.“ Tina nickte nervös. ‚Etwas gruseliges sehen und hören? Hoffentlich sehe ich so etwas nicht.‘ Tina schluckte. An ihren Armen hatte sie schon Gänsehaut bekommen. Alina wandte sich daraufhin ab und sie lief in zügigen Schritten in Richtung Krankenhaus. Ein wenig verdutzt blieb Tina vor dem Eingang stehen, während der kühle Wind von Westen über die Kreuzung fegte. Es versuchte immer noch energisch Tina den Zettel aus der Hand zu ziehen, aber vergeblich. Tina öffnete den Zettel und sie erkannte einige Produktnamen mit Mengenangaben darauf. Auch schaute Tina neugierig in dem erhaltenen Briefkuvert hinein. Sie erkannte eine kleinere Anzahl an grünlichen Scheinen. Sie traute sich nicht den Briefumschlag weiter zu öffnen, sonst könnte der Inhalt vom Wind hinausgetragen werden. Daraufhin betrachtete Tina wieder den Einkaufsladen. ‚O.k… ich sollte das hinbekommen.‘ Tina begab sich zur Eingangstür, die sie im Anschluss leicht nach Innen aufdrückte. Die Glastüren schienen in beide Richtungen öffenbar zu sein. Sie gaben ein unangenehmes Quietschen von sich und eine leichte Glocke läutete. In dem Laden - der einige Meter in die Tiefe ging und einige Reihen an unterschiedlichen Waren bot - war zusätzlich gefüllt mit ein paar weiteren Personen. Zwei Polizisten unterhielten sich nahe dem Eingang. Sie saßen auf einem Hocker an einem Stehtisch. Die beiden blickten Tina für einen Moment stillschweigend an, dann unterhielten sich die beiden weiter. An der Kasse, die sich rechts vom Eingang befand, stand ein leicht ungepflegter Mann im mittleren Alter, der Tina nur halbherzig anschaute. Er machte einen sehr gelangweilten Anblick. Er trug eine Art Uniform, die das Logo des Einkaufsladen aufgedruckt hatte. Von Lautsprechern an den Wänden tönte eine monotone Hintergrundmusik und von überall an der Decke waren verschiedene Schilder aufgehängt worden. Eine gigantische Menge an Informationen prasselte auf Tina ein. Unsicher betrachtete sie ihren Zettel, während sie den Briefumschlag in ihre Jackentasche versteckte. Die aufgelisteten Produkte waren verständlich beschrieben, aber wo sie sich im Laden befanden, das stand nicht darauf. Etwas orientierungslos schaute sich Tina um. Der Einkauf nahm einige Minuten in Anspruch, aber danach hatte Tina alle aufgelisteten Waren in einem Einkaufskorb gepackt. Diesen inzwischen schweren Einkaufskorb schleppte sie zur Kasse. In einer erschreckenden langsamen Geschwindigkeit scannte der Kassierer mit einem Gerät die Waren. Als ein Betrag auf einem Display in grün aufleuchtete, durchsuchte Tina ihren Briefumschlag nach dem benötigten Betrag. Sie überreichte dem Kassierer das Geld. Als Rückgeld gab es goldbraunfarbigen ringgroßen Münzen, die sich in ihren Händen fremdartig anfühlten. „Ihnen noch einen schönen Tag.“ Der Kassierer schaute sie dabei nicht einmal an. Gelangweilt blickte er an ihr vorbei. Tina musste selbst im Anschluss die Waren in eine braune Einkaufstüte packen, die nicht einmal Henkel zum Tragen hatte. Etwas unbeholfen hob sie die inzwischen gut gefüllte Stofftüte mit beiden Händen. Der Weg zum Ausgang des Ladens strengte sie schon an. „Ah… ja…danke, Ihnen auch einen schönen Tag.“ Mit Mühe schleppte sie die Stofftüte nach Draußen. Mit der Schulter drückte sie die Eingangstüre auf. Sie wurde zugleich von einem kalten Windzug begrüßt, zudem war er schon dunkel geworden. Es fühlte sich für sie schrecklich an von der kalten nächtlichen Atmosphäre der Stadt begrüßt zu werden. Nach wenigen Metern auf der Straße, begannen ihre Arme zu zittern. Ihre Finger schmerzten. Tina schaute in die Ferne zum Gildenhauptquartier. Der Weg wirkte noch weit. Sie atmete kurz ein. ‚Ich bekomme das hin.‘ „Soll ich dir helfen, Mädchen? Das wirkt sehr schwer. Ich kann dir was abnehmen. Wo musst du hin?“ Sprach sie plötzlich eine sanfte männliche Stimme von der Seite an. Sie war ein wenig erschrocken wegen der plötzlichen Frage von der Seite, die ein großer schlanker wohlgekleideter Mann - ein paar Meter entfernt von ihr - aussprach. Als sie sein Schmunzeln betrachtete, war der plötzliche Schock verflogen. Ein wenig mulmig war ihr jedoch, als sie ihn eine Weile anschaute. Er war ihr beim Hinausgehen nicht aufgefallen. Der Mann wirkte nicht bedrohlich und er schien einen Abstand zu ihr zu pflegen. Nur seine rechte Hand hatte er mit der Handfläche nach oben leicht entgegengestreckt. „Ah… danke. Das muss nicht sein. Ich muss damit nur zum Gildenhauptquartier. Ich bekomme das hin.“ Das Schmunzeln des Mannes wurde ein wenig größer. „Das ist doch kein Problem. Ich kann einfach die obersten Waren aus deiner Tüte nehmen, sodass du sie besser tragen kannst. So wirst du nur stolpern, dich verletzten und dabei wohl auch deine gekauften Sachen kaputt machen.“ Umso länger Tina darüber nachdachte, umso mehr stimmte sie seinem Argument zu. Ihre Arme beschwerten sich auch schon. „Mh…, wenn Ihnen das nichts ausmacht.“ „Du brauchst mich nicht Siezen. Ich bin Malverious Mizzar. Ich bin Prediger der gläubigen Zusammenkunft. Vielleicht hast du auch schon von uns gehört. Wir werden oft auch nur Gläzu genannt. Unsere Tür ist offen für jeden, der Hilfe benötigt – auch egal ob er gläubig ist. Wir differenzieren nicht.“ Tina konnte mit seinen Worten nicht viel anfangen. Das er ihr helfen wollte, war für sie das Einzige was im Moment interessant war. „Wie darf ich dich ansprechen, Mädchen?“ „Ah… äh… es freut mich Sie kennen zu lernen. Ich bin Tina Break“ Sie fühlte sich ein wenig unwohl. Sie schaute auf den Boden. „Ah du brauchst dir keinen Kopf deswegen zu machen. Es freut mich Tina. Bist du ein Gildenmitglied der örtlichen Gilde hier?“ Er deutete mit seinem Blick auf ihr Armband. Wegen der schweren Einkaufstüte hatte sie Schwierigkeiten auf ihr Armband zu schauen, aber es schauderte sie für einen Moment, als sie über seine Worte länger nachdachte. ‚Mitglied? Ich bin Mitglied? Bin ich das? Linda hat das gesagt, aber… bin ich das wirklich?‘ „Du wirkst sehr traurig, Tina. Ist alles in Ordnung? Ich wollte nicht irgendetwas falsches sagen.“ Tina schaute erschrocken zu dem Mann auf. In seinem Blick war etwas Trauriges, aber auch etwas Sanftes zu erkennen. Seine Gesichtszüge waren weich, die Mundwinkel leicht nach unten. Seine Augen klar, aber er schien sie nicht zu fokussieren. „Nein… es ist alles in Ordnung. Ich… ähm… es ist alles in Ordnung.“ Der Mann erhob seinen Kopf und er bot seine rechte Hand erneut an. „Lass mich dir helfen deinen Einkauf zu tragen, Tina.“ Er lächelte sie an. Ihr Körper wollte ein wenig zurückweichen, als er näherkam, aber wegen der schweren Einkaufstüte blieb sie an ihrer Position. Er griff in die Tüte und nahm ein paar der etwas schweren Waren heraus. Ein Teil der Schwere verschwand und sie spürte in ihren Oberarmen eine Entkrampfung. „Zum Gildenhauptquartier, richtig?“ Tina nickte langsam, während sie die Stofftüte näher zu sich zog, sodass sie diese ein wenig gegen sich drückte. Dann begann sie in Richtung Hauptquartier zu laufen. Der Mann begleitete sie. Er blieb dabei aufrichtig. Sein Blick nach vorn gerichtet. Er grüßte ein vorbeikommendes Wachmannduo, welches im Moment von einer Seitenstraße mit leuchteten Taschenlampen auf die Straße traten. Einer der Polizisten verdrehte die Augen, als er Tinas Begleitung sah und er zog den anderen Polizisten schnell mit sich. ‚Kennen Sie den Mann?‘ „Kommst du von hier? Du hast einen anderen Akzent, als die Bewohner hier, aber du sprichst die Sprache von Festa sehr gut. Entschuldige meine Neugier, aber was treibt dich hierher?“ Tina erstarrte schlagartig. Für einen Moment starrte sie ihn überrascht an, bevor ihr Gesichtsausdruck sich wieder lockerte. ‚Akzent? Ich habe einen Akzent von Festa? Heißt das etwa, dass…? Bin ich womöglich von dort?‘ Ihr Herz begann schneller zu klopfen. Sie atmete schneller ein und aus. „Oh… habe ich wieder etwas Falsches gesagt? Entschuldige, falls ich zu direkt war. Ich bin von Festa. Ich bin dort aufgewachsen. Ich bin Moment bin ich auf Reisen durch die Sommerinseln, um auch hier alle mit unserer Botschaft zu erreichen. Ich will so viele wie möglich zeigen, dass sie nicht allein sind und immer eine Hand gereicht bekommen, wenn sie eine benötigen.“ Umso länger er redete, umso mehr erhob sich seine Stimme und es schwang eine immer größer werdende Freude mit. „Festa.“ Begann Tina und der Mann stoppte abrupt. „Sie sagen, dass ich von Festa stammen könnte?“ Tina stoppte für einen Moment. Sie hatten inzwischen die Hälfte des Weges zum Hauptquartier erreicht. Die Miene des Mannes veränderte sich. Seine Augen zogen sich ein wenig zusammen und sein Blick wurde ernster. Er wirkte nachdenklicher. „Entschuldige meine nächste Frage, aber entnehme ich deiner Frage die Möglichkeit, dass du nicht weißt woher du kommst?“ Tina sah nervös auf. Die Situation fühlte sich für sie noch viel unangenehmer an, während ihr Herz wie wild klopfte. ‚Oh je…, dabei habe ich Linda versprochen das zu verschweigen.‘ Der Gesichtsausdruck des Mannes normalisierte sich wieder. Ein leichtes Lächeln war zu sehen. „Alles gut. Ob es nun so ist oder nicht, mach‘ dir keinen Kopf daüber. Ich verstehe das, das man nicht mit Fremden über so etwas reden möchte. Du scheinst ja im Gildenhauptquartier ein Zuhause gefunden zu haben.“ Während er das Wort ‚Zuhause‘ aussprach, wurde ihr kalt und ihr Herz schwer. Eine schwere schmerzhafte Leere wirbelte an der Position, an dem ihr Herz war und dies betrübte ihre Gedanken. „Ich meiner Zeit als reisender Priester habe ich schon über ein halbes Dutzend Kinder oder Jugendliche getroffen, die entweder ihr Zuhause verloren haben, Ausreißer waren oder aus noch viel dramatischen Gründen nicht mal wussten was ein Zuhause war. Wir können nicht ihr Zuhause ersetzen, aber wir können ihnen helfen diese Sache selbst in die Hand zu nehmen und das gemeinsam mit Ihresgleichen. Ich denke, dass solch ein Problem nicht einfach mit einem schnellen lieblosen Ersatz gelöst werden kann.“ Sie hörte ihm nur halb zu, als er jedoch „helfen diese Sache selbst in die Hand zu nehmen“ aussprach, begann sie ihm interessiert zuzuhören. „Sie helfen Ihnen es selbst zu lösen? Wie…“ Das Schmunzeln des Mannes wurde größer, bis es zu einem herzlichen kurzen Lachen wurde: „Ja! Die meisten, die eine lange Zeit allein auf sich gestellt waren, entwickeln häufig eine von zwei Extremen, die jedoch dasselbe Grundgefühl teilen. Die einen wollen nicht, dass man denen hilft und die anderen wollen den Umstehenden nicht zur Last fallen. Sie haben Angst etwas verlieren zu können aus möglicher Unvorsichtigkeit. Um denen auf die Beine zu helfen, versuchen wir deren Selbstvertrauen zu stärken. Und in eine Gruppe aus Leuten, die das Gefühl nachvollziehen können, können sich viel besser weiterentwickeln, als es je jemand könnte, der das nie persönlich erlebt hat.“ ‚Niemanden zur Last fallen?‘ Tina dachte für einen Moment an Rick und dann an Alina. Auch der Albtraum von heute Morgen wollte ihr immer noch nicht aus dem Kopf. „Ah entschuldige. Jetzt habe ich dich mit diesem Thema behelligt, wo doch du nur deinen Einkauf erledigen wolltest. Lass uns schnell die Sachen zum Hauptquartier bringen. Dann störe ich dich nicht weiter.“ Der Mann verwies mit einer leichten Schulterbewegung nach rechts. Tina schaute zum Gildenhauptquartier. Der Weg bis dorthin war nicht mehr weit. ‚Mein Zuhause selbst finden?‘ Der Mann begann vorzulaufen, sodass Tina automatisch mitzog. Sie spürte aus irgendeinem Grund einen leichten Widerstand in ihrem Körper. Den restlichen Weg liefen die beiden nebeneinander. Der Mann erzählte vereinzelt warum er auf seiner Reise war und was ihn bewegt hatte. Immer wieder war eine Phrase mit Bezug zu seinem Glauben zu hören. Tina erwischte sich jedoch jedes Mal dabei, dass sie sich mit den Gedanken an ein Zuhause ablenkte, sodass sie ihm nicht aktiv zuhörte. Als er jedoch vor dem Eingang stand und er das Wort ‚Kontakt‘ aussprach, hörte sie ihm wieder interessierte zu. „…die Möglichkeit hast anzurufen, dann erreichst du die ‚Heimsuchgemeinschaft‘ in Astera. Natürlich nur wenn du Lust hast. Dann kannst du dich bei Ameliama melden und vorstellen. Sie ist super nett und sie ist quasi die große Schwester der Gruppe. Ich bin jedes Mal begeistert, wenn sie von ihrem doch sehr tragischen Leben erzählt und wie sie jedoch jetzt anderen helfen möchte. Ich bewundere ihre Selbstlosigkeit.“ Der Mann drückte ihr eine Visitenkarte zu. Sie war leicht hellblau, dort ging eine Sonne auf. Am Rand waren vereinzelt Blumen dargestellt und in schwarzer Schrift war ‚Heimsuchgemeinschaft aus Astera Zentrale für alle Heimsuchende, Ausreißer, Verlorenen und Einsamen‘ abgebildet. Auf der Rückseite eine Adresse und eine Telefonnummer. ‚Die Vorderseite sieht sehr schön aus.‘ „Dann wünsche ich dir noch einen schönen Abend. Und lass mir dir noch einen schönen Rat zum Abschluss geben.“ Er lächelte sie an. „Lächele ein wenig mehr deinem Alltag entgegen. Denn wer versucht mehr Positivität in sein Leben zu bringen und es versucht auch auszustrahlen, der wird selbst zum positiven Pol seiner Umgebung. Ignoriere und vermeide die negativen Pole um dich herum. Denk an dich und nimm es selbst in die Hand. Also Tina.“ Zum Abschluss seines Satzes nickte er sanft, während er die Waren vorsichtig zurück in ihre Einkaufstüte legte. Er öffnete ihr die Gildeneingangstür und als sie in die Halle verschwunden war und sie sich ein paar Sekunden später umdrehte, war er bereits verschwunden. Es stimmte sie ein wenig traurig. Vor allem als sie die große leere Eingangshalle um sie herum wahrnahm. Die Last auf ihren Händen wurde gefühlt schwerer, sodass sie sich entschied schnell in Richtung Küche zu gehen. Ihr fiel dabei auf, dass sich Max und Daniel nicht mehr in der Eingangshalle befanden. Auch in der Küche waren sie nicht aufzufinden. Als Tina ihren Einkauf in der Küche verstaute – in der Hoffnung alles nach ihrem logischen Verständnis platziert zu haben – ging sie auf ihr Zimmer. Sie traf in der Zeit niemanden an. Allein saß sie einige Minuten später in ihrem Zimmer, während sie den wärmenden orangefarbigen Kristall in ihren Händen hielt. Er strahlte ein Gefühl der Vertrautheit aus, jedoch war dieses Gefühl im Moment sehr viel schwächer, als er es vor kurzem noch gewesen war. Selbst als sie ihre Hände geschlossen über den gesamten Kristall legte, kam nicht das erhoffende wohlfühlende Gefühl in ihrem Körper auf. So entschloss sie sich hinzulegen und die kahle Decke anzustarren. ‚Ein Zuhause. Mein Zuhause?‘ Sie schloss ihre Augen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)