Das sechste Jahr von CruelLamia (Wie weit würdest du gehen, um deine Liebe zu beschützen?) ================================================================================ Kapitel 37: Trotz aller Vorsicht -------------------------------- Es war kurz vor sechs am Morgen. Harry hatte nach einer weiteren Nacht in der Verbotenen Abteilung nicht gut geschlafen und war schon sehr früh aufgestanden. Die Fette Dame war so tief am Schnarchen gewesen, dass sie nicht einmal blinzelte, als Harry ihr Portrait zur Seite geschoben hatte.   Ungeduldig hatte er vor dem Hauptportal gewartet, bis der Hausmeister sich endlich bequemt hatte, das riesige Tor aufzuschließen. Misstrauisch hatte er seine kleinen grauen Augen zusammengekniffen, aber nichts weiter gesagt. Es war zwar noch sehr früh, aber die Nachtruhe war offiziell vorbei. Harry konnte hingehen, wohin er wollte. Sein Ziel war das Quidditch-Feld.   Nur jetzt, zu so früher Stunde, auf seinem Besen konnte er alles für einen kleinen flüchtigen Moment vergessen. Er flog ein paar Runden, übte ein paar Manöver, umkreiste die Ringe im Slalom immer wieder, bis ihm schwindelig wurde.   Harry setzte zu einem Sturzflug an und zog den Besen erst ganz knapp über dem Boden wieder in eine waagerechte Position. Er blieb auf der Höhe und drosselte nach und nach seine Geschwindigkeit. Als der Besen ganz zum Stillstand gekommen war, ließ er sich auf den Boden fallen und blieb noch einen kurzen Moment liegen, genoss den kühlen Wind und die Stille.   Ein Blick auf seine Muggelarmbanduhr verriet ihm, dass er sich beeilen musste, wenn er wieder im Gryffindorturm sein wollte, bevor seine Hauskameraden aufwachten. Er hatte keine Lust auf die Diskussionen, wo er denn so früh allein gewesen sei und was er gemacht hatte. Dazu war es noch viel zu zeitig.   Er hatte sich schon einen langen Vortrag von Granger anhören müssen, nachdem er nach dem letzten Quidditch-Spiel zwischen Slytherin und Hufflepuff einfach verschwunden war. Wie könne er denn einfach verschwinden, ohne jemanden Bescheid zu geben? Es interessierte sie ja doch nur, wenn sie nicht gerade mit sich selbst beschäftigt war.   Weasley hatte einfach nur danebengestanden, mit feuerrotem Kopf, stocksauer und hatte kein Wort gesagt. Dieser Anblick machte die Standpauke beinahe erträglich.   Sein ehemaliger bester Freund hatte ihm immer noch nicht verziehen, dass er seine kleine Schwester abserviert hatte. Vielleicht würde er es verstehen, wenn Harry ihm erklärte, dass es aus dem gleichen Grund war, aus dem er jetzt so wütend auf seine eigene Freundin war. Draco war einfach viel heißer, interessanter und hatte viel mehr Klasse, als irgendjemand von dem Weasley-Clan je haben könnte.   Zugegeben Bill, Charlie und die Zwillinge waren cool und im Vergleich zu Ronald und Ginevra erträglich, aber sie kamen nicht im Ansatz an seinen Slytherin-Prinzen ran und er würde sie alle ohne zu zögern opfern.   Es war traurig wie sich alles entwickelt hatte. Mit einem Fünkchen Wehmut dachte Harry daran zurück, wie die Weasleys ihn aufgenommen hatten. Sie hatte ihn in ihrer Familie willkommen geheißen, als würde er schon immer dazugehören, wie ein verlorenes Familienmitglied, dass endlich wieder nach Hause gekommen war. Sein erstes richtiges Weihnachtsgeschenk hatte er von ihnen bekommen. Den smaragdgrünen Pullover hatte er immer noch, auch wenn er dem schon längst entwachsen war.   Schnell schüttelte er diese Gefühle wieder ab. Ein Hauch von Bitterkeit trat an ihre Stelle. Hätten sie ihn auch so gut aufgenommen, wenn er nicht Harry Potter gewesen wäre? Wenn er nur ein namenloser Muggelgeborener gewesen wäre ohne eine außergewöhnliche Vergangenheit?   Wahrscheinlich nicht.   Mit Sicherheit nicht.   Dumbledore musste es gut gefallen haben, dass sie ihn aufgenommen hatten. So hatte er immer gewusst, wo er war und was er tat und konnte weiter Einfluss auf ihn ausüben.   Seine Finger verkrallten sich in die weiche Erde. Es würde Harry nicht wundern, wenn Dumbledore den Weasleys sogar den Auftrag gegeben hätte, ein Auge auf ihn zu haben. Nicht, dass er doch noch die falschen Entscheidungen träfe.   Was wäre wohl passiert, wenn er damals nicht als erstes auf Weasley getroffen wäre? Wie hätte sich alles entwickelt, wenn Harry Dracos Freundschaftsangebot – so falsch es damals auch gewesen war – angenommen hätte? Dumbledore wäre wahrscheinlich tot umgefallen, wenn Harry genau wie Tom Riddle nach Slytherin gekommen wäre.   Kichernd schüttelte Harry den Kopf. Die Vorstellung war sehr verlockend, aber dafür war es zu spät. Er hatte damals seine Entscheidung getroffen, jetzt er würde er mit den Konsequenzen fertig werden müssen. Und diese erwarteten ihn im Gryffindor-Gemeinschaftsraum.   Einen letzten sehnsüchtigen Blick in den Himmel werfend stand Harry auf, schnappte sich seinen Besen und wollte zurück ins Schloss gehen. Aber eine nur allzu vertraute Präsenz ließ ihn stocken.   ‚Was bei Merlins Unterhosen macht Dumbledore hier?‘ Der Schulleiter kam aus der Richtung von Hagrids Hütte und schlenderte genau auf die Quidditch-Umkleiden zu.   Harry wollte nichts weiter, als auf seinen Besen steigen und ganz weit weg zu fliegen. Er unterdrückte den Impuls und zwang sich weiter zu laufen, als hätte er nichts bemerkt.   Dumbledore trat gerade hinter dem Gebäude hervor, als Harry ankam. Seine ohnehin schon leuchtend blaue Augen wurden noch eine Spur heller, als sein Blick auf Harry fiel. Jemand, der nicht so misstrauisch wäre wie Harry, wäre bestimmt nicht aufgefallen, wie er kurz die Umgebung hinter Harry beäugt hatte.   „Oh! Guten Morgen, Professor.“ Angenehme Überraschung war in Harrys Stimme zu hören, was ihn in Anbetracht der Situation sehr stolz machte.   „Harry, mein Junge. Es ist in der Tat ein guter Morgen.“ Diese gutmütige Großvaterstimme kratzte an Harrys Innenohr und bestärkte den Wunsch, dem alten Zauberer vor ihm die Zunge abzufluchen. Oder sie wenigstens mit dem Langlock an seinem Gaumen festzukleben. „Wie es scheint, haben wir das gleiche Ziel.“   Was zurück zu der Frage führte, was dieser senile, alte Mann zu so früher Stunde in der Nähe des Quidditch-Feldes zu suchen hatte. Soweit Harry wusste, hatte Dumbledore keine heimliche Leidenschaft für den Besenflug.   „Würdest du einem alten Mann Gesellschaft leisten?“   Harry sah zum Schloss. Noch nie war ihm der Weg so weit vorgekommen.   „Aber gerne doch, Professor.“ Harrys Stimme klang leicht und unbekümmert, stand im kompletten Gegensatz zu seinem inneren Tumult. Irgendetwas stimmte hier nicht. Diese Gewissheit breitete sich wie Galle in seinem Magen aus und begann langsam seine Speiseröhre hochzukriechen.   Sie gingen schweigend nebeneinander her. Harry versuchte, sich nichts von seiner inneren Anspannung anmerken zu lassen. Vielleicht bildete er sich alles nur ein? Vielleicht war es normal, dass Dumbledore zu so früher Stunde spazieren ging und dieses Mal eben zufällig das Quidditch-Feld als sein Ziel auserkoren hatte. Vielleicht machte Harry sein Verrat paranoid.   Sie hatten kaum die Hälfte der Strecke zurückgelegt und Harry begann langsam zu glauben, dass er sich geirrt hatte, als Dumbledore das Schweigen brach.   „Mir ist zu Ohren gekommen, dass Ms. Granger und Mr. Weasley in der Zwischenzeit ein Paar geworden sind. Ich meine auf romantische Weise.“ Normalerweise lag eine gewisse Sympathie in Dumbledores Stimme, wenn er von Harrys Freunden sprach. Davon war gerade nichts zu hören. Es klang beinahe gleichgültig – ein Fakt, der in einer Plauderei beiläufig erwähnt wird.   „Ja, das ist richtig, Sir. Sie sind jetzt zusammen.“ Harry versuchte, es genauso beiläufig klingen zu lassen.   „Wie geht es dir damit?“ Was sollte diese Frage? Harry kannte den alten Zauberer lang genug, um an seiner Stimme zu hören, wie begierig er auf diese Antwort war, auch wenn seine Mimik nichts davon verriet.    „Was meinen Sie?“ Er legte so viel Naivität in seine Stimme wie es ihm möglich war.   „Ohne dir nahe treten zu wollen, Harry – ich weiß, ihr jungen Leute seht die Dinge anders als zu meiner Zeit – aber fühlst du dich nicht manchmal… einsam?“ Dumbledore schaute mit verständnisvollen, aber leicht bekümmerten Augen durch seine halbmondförmigen Brillengläser zu ihm herab. Etwas Wissendes lag in seinem Blick.   Harrys Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Das ungute Gefühl breitete sich weiter aus. Trotzdem schaffte er es, den Blickkontakt zu halten und hoffte, dass Dumbledore nichts weiter als leichte Verwirrung in seinen Augen sehen konnte. Den typischen Druck von Legilimentik spürte er nicht.   „Ähm, nein, eigentlich nicht.“ Er runzelte die Stirn. „Hermine und Ron sind toll. Sie lassen mich nie außen vor und ich habe ja auch noch die anderen.“   „Ah ja. Deine Klassenkameraden, Mr. Longbottom, Mr. Thomas und Mr. Finnigan. Und auch die junge Ms. Weasley.“   „Schätze schon…“ Harry gefiel überhaupt nicht, welche Richtung das Gespräch nahm. Wollte Dumbledore ihn verkuppeln?   „Ms. Weasley hat sich in den letzten Jahren zu einer erstaunlichen jungen Frau entwickelt. Findest du nicht?“   „Ist das so?“ Harry biss die Zähne zusammen.   „Und sie scheint dir besonders zugetan zu sein.“ Dumbledores Plauderton machte ihn wahnsinnig.   „Professor!“ Harry bleib stehen. Er hatte Mühe, seine Stimme ruhig zu halten und nicht den ganzen Hass und die Abscheu, die er empfand, zu zeigen. „Worauf wollen Sie hinaus?“   Dumbledore seufzte und schaute traurig auf Harry hinab. „Ich weiß aus persönlicher Erfahrung, wie schwer es sein kann, wenn man zusehen muss, wie um einen herum die Freunde sich zu Paaren zusammenfinden und man selbst allein zurückbleibt.“   Harry wurde schlagartig kalt.   „Wenn man sich allein und missverstanden fühlt, ist es zu leicht, sich einem falschen Gefühl von Sicherheit hinzugeben.“ So viel Bedauern war in seiner Stimme zu hören. Sein Blick rückte in weite Ferne und versank in Erinnerungen, die Harry verschlossen blieben.   Aber es war ihm egal. Er wusste, worauf Dumbledore hinauswollte. Eine finstere Wolke hatte sich um ihn gelegt und drückte auf seine Brust. Wie konnte das sein?   „Ich verstehe dich, Harry. Ich verstehe dich nur zu gut.“ Dumbledores Blick war wieder auf ihn gerichtet. Er bohrte sich in Harrys Gehirn und rief falsche Erinnerungen ab, die der alte Mann nur zu gern glauben wollte. „Ich meine nach allem, was passiert ist… Ms. Turpin und Ms. Jones geht es zwar wieder gut und sie haben die Vorfälle ohne größere Folgeschäden überstanden, …“   (Harry wusste das. Beide machten einen großen Bogen um ihn und wechselten sogar häufig den Gang, wenn sie ihn sahen. Sie wussten, dass ihn keine Schuld traf und doch machten sie ihn in ihrer Art dafür verantwortlich. An sich hatte sich zwischen ihnen nichts geändert. Sie hatten vorher schon nichts miteinander zu tun gehabt. Trotzdem ließ es ihn nicht kalt. Im Gegenteil. Jedes Mal, wenn die beiden Mädchen ihm aus dem Weg gingen oder wie erstarrt stehen blieben mit schreckgeweiteten Augen, wenn er sie überrascht hatte, bevor sie in die andere Richtung verschwanden, erinnerte es Harry daran, wie eifersüchtig Draco gewesen war. Es spielte keine Rolle, wie oft sein Slytherin es leugnete. Harry wusste es besser und er konnte das warme Gefühl nicht unterdrücken, das sich jedes Mal in ihm ausbreitete.)   Harry wusste das. Beide machten einen großen Bogen um ihn und wechselten sogar häufig den Gang, wenn sie ihn sahen. Sie wussten, dass ihn keine Schuld traf und doch machten sie ihn in ihrer Art dafür verantwortlich. Es tat weh. Er hatte beide wirklich gemocht und gehofft, dass eine von ihnen seine Einsamkeit vertreiben könnte. Es sollte nicht sein. Harry war froh, dass es den beiden wieder gut ging und hoffte, dass sie glücklich werden würden.   „… aber Ms. Chang und Ms. McDougal hatten weniger Glück.“   (Auch das war ihm bekannt. Beide wurden ins St.-Mungo-Hospital gebracht. Beide lagen im vierten Obergeschoss – Fluchschäden und Zauberunfälle. Auf der gleichen Station wie auch Gilderoy Lockhart. Die beiden konnten sich doch freuen. Endlich konnten sie so viel Zeit mit ihrem Helden verbringen, wie sie wollten. Zu schade, dass Chang bei jeder Berührung Ekel auslöste und McDougal sie einfach nicht bemerken würde.)   Auch das war ihm bekannt. Beide wurden ins St.-Mungo-Hospital gebracht. Beide lagen im vierten Obergeschoss – Fluchschäden und Zauberunfälle. Auf der gleichen Station, auf der auch Nevilles Eltern und Gilderoy Lockhart lagen. Es war furchtbar, was Menschen einander antun konnten. Er hoffte sehr, dass sie bald geheilt sein würden und diesem trostlosen Ort entkommen konnten, der schon zu vielen Hexen und Zauberern ein unfreiwilliges Zuhause geworden war.   „Die Ärzte meinen, dass es Hoffnung für Ms. McDougal gibt. Sie konnten den Fluch identifizieren und suchen jetzt nach einem Gegenfluch. Die ersten Versuche waren vielversprechend, auch wenn es noch einige Zeit dauern wird.“   (Harry erinnerte sich genau. Die weißen Augen, der zum Schrei weit aufgerissene Mund, die hektischen Bewegungen – ein Ausdruck purer Panik. Der Horror, den er in diesem Moment gefühlt hatte, saß immer noch tief in seinen Knochen, kam jedes Mal wieder hervor, wenn er sich daran erinnerte, dass er mit einer unbedachten Handlung beinahe alles zerstört hatte. Es war ein Wunder, dass nur Severus es bemerkt hatte und ein Glück, dass die Schuld, die er gegenüber dem einzigen Sohn seiner großen Liebe empfand, ihm absolut loyal ihm gegenüber machte. Trotzdem hatte sie es verdient. Es war zu schade, dass es wirklich einen Gegenfluch gab.)   Harry erinnerte sich genau. Die weißen Augen, der zum Schrei weit aufgerissene Mund, die hektischen Bewegungen – ein Ausdruck purer Panik. Der Horror, den er in diesem Moment gefühlt hatte, saß immer noch tief in seinen Knochen, kam jedes Mal wieder hervor, wenn er sich an diesem Moment erinnerte. Es tat gut zuhören, dass es ihr wieder gut gehen würde. Er glaubte fest daran, dass die Heiler des St.-Mungo-Hospitals es schaffen würden und dass Morag bald wieder wohlbehalten bei ihnen sein würde. Vielleicht konnte auch er dann diese Bilder wieder vergessen.   „Ms. Chang, befürchte ich, hat weniger Glück. Obwohl der Fluch nicht schwarzmagischer Natur war, sind alle Versuche, ihn zu brechen, bisher erfolglos gewesen. Im Gegenteil – mit jedem neuen Versuch, scheint es schlimmer zu werden. Sie erlitt einen Nervenzusammenbruch.“   (Er konnte es verstehen. Zu einem Leben in Einsamkeit verdammt. Nie die Chance zu bekommen, mit einem geliebten Menschen zusammen zu sein. Aber wenn es jemand verdient hatte, dann war sie es. Sie hätte weiter die Leben anderer zerstört. Nun konnte sie niemanden mehr schaden. Draco hatte sich wahrlich übertroffen.)   Er konnte es verstehen. Zu einem Leben in Einsamkeit verdammt. Nie die Chance zu bekommen, mit einem geliebten Menschen zusammen zu sein. Harry hatte Mitleid mit ihr. Sie war sein erster Kuss gewesen, seine erste Liebe. Er erinnerte sich an ihr Lächeln. Würde sie je wieder lächeln können?   Der Druck in Harrys Kopf verschwand.   Dumbledore hatte sich weggedreht. Der Wind setzte seinen blassblauen Zaubererumhang in Bewegung, lenkte Harrys Blick für einen Moment von dem eingefallenen Gesicht ab. Wie alt war Dumbledore noch mal? Jedes Mal, wenn er ihn sah, hatte Harry den Eindruck, dass er noch weiter gealtert war. Als würde seine Zeit ablaufen, der Tod sein ständiger Begleiter, bis es soweit war die Sense zu schwingen und ihn zu seinem nächsten Abenteuer zu begleiten.   „Nach alldem ist es nur verständlich, dass du jemanden suchst, der stark ist und ein gewisses, wenn auch zweifelhaftes Ansehen besitzt, den man nicht wagen würde, anzugreifen. Oder der sich zumindest zu schützen wüsste, wenn es dazu käme.“   Harry zitterte. Er konnte es nicht kontrollieren. Seine Finger ballten sich zu Fäusten, verkrampften sich, damit es ihm unmöglich wäre, seinen Zauberstab zu ziehen und etwas noch viel Dümmeres zu tun.   Er konnte Dumbledores Blick auf sich spüren.   Wissend. Mitleidig. Enttäuscht.   „Glaube mir, mein lieber Junge, ich hatte nie vor, mich in dein Liebesleben einzumischen…“   ‚Warum tust du es dann?‘ Die Worte hallten laut in Harrys Kopf, verließen aber nicht seine Lippen.   „… aber so sehr ich es auch versuche, ich kann kein gutes Ende für dich und Mr. Malfoy sehen.“   Da war es. Seine schlimmsten Befürchtungen wurden zur Gewissheit. Harry hatte die ganze Zeit gewusst, dass Dumbledore es irgendwie herausgefunden hat – wie nur? Sie waren doch so vorsichtig gewesen – aber es ausgesprochen zu hören, machte es um ein Vielfaches schlimmer. Mit einem Mal schien seine ganze Welt zu zerfallen. Der Boden unter seine Füße knackte auf und er fiel. Fiel! Er fiel immer tiefer in ein nicht enden wollendes Loch. Alles was er noch hörte war ein Rauschen so laut, dass es in seinen Ohren schmerzte. Die Zeit blieb stehen und nahm ihm die dabei die Luft zum Atmen.   „Harry!“   Sanfte Hände an seinen Schultern holten ihn zurück. Er wusste nicht, ob er das wollte.   Harry sah auf. Dumbledores hellblaue Augen blicken auf ihn herab. Er sah merkwürdig gekrümmt aus. Erst als Harry an sich hinabschaute, bemerkte er warum. Er war zusammengerutscht und kniete in dem leicht feuchten Gras. Der Morgentau glitzerte unschuldig an den Gräsern um ihn herum.   „Harry, mein Junge. Es tut mir so leid.“   ‚Was tut dir leid?‘, fauchte Harry bösartig zurück, aber noch immer blieb sein Mund geschlossen.   „Aber du musst verstehen, dass ich dir nichts Böses will. Weder dir, noch Mr. Malfoy.“ Seine Stimme klang ernst und aufrichtig.   Harry wollte sie nicht mehr hören.   „Es gibt so vieles…“ Dumbledore unterbrach sich selbst. „Ferasedero!“   Eine vorbeihuschende braungefleckte Katze – vielleicht das Haustier eines anderen Schülers – verwandelte sich in eine Sitzbank.   „Setz dich kurz zu mir.“ Müde und alt. Erschöpft. Gebrochen.   Harry griff nach der ausgestreckten Hand und ließ sich auf die Bank ziehen. Sie sah hart und kalt aus, war aber angenehm warm und bequem. Wie viel bekam das Kätzchen von der Last mit, die es jetzt zu tragen hatte?   „Wir haben Krieg, Harry. Noch ist er nicht gänzlich ausgebrochen, aber jeder spürt es. Seit Voldemort sich letztes Jahr zu erkennen gegeben hat und nicht einmal mehr das Ministerium seine Rückkehr leugnen kann, sind die Menschen in Panik. Es gibt Übergriffe, wie du sicher weißt. Und davon nicht wenige. Muggel und Zauberer werden gleichermaßen zur Zielscheibe. Niemand ist sicher, der nicht auf seiner Seite steht.   Die Familie Malfoy ist von Beginn an, seit Tom Riddle angefangen hatte, Anhänger um sich zu scharen, auf seiner Seite. Es ist jetzt die dritte Generation, die ihm treu ergeben ist.“   Harry wollte etwas erwidern, Draco verteidigen, aber was sollte er sagen?   „Ich weiß, was du sagen willst. Dass der junge Mr. Malfoy nicht so ist. Er ist nicht wie sein Vater oder sein Großvater, die blind an fanatische Ideen glauben und für die die Reinheit des Blutes über alles geht. Und vielleicht hast du damit recht.   Ich gebe zu, dass mir der Gedanke kam – ein schändlicher ohne Zweifel – dass er dich nur benutzt, dich an sich bindet, um dich dann im richtigen Moment zu verletzen. Ein gebrochenes Herz hat schon so manchen starken Zauberer in den Abgrund geführt. Das wünsche ich mir für dich nicht. Ich will, dass du jemanden findest, der dich glücklich macht und der es ernst mit dir meint.“   ‚Draco!‘   „Ich will glauben, dass das auf den jungen Mr. Malfoy zutrifft, aber es steht zu viel zwischen euch. Der Krieg. Das Schicksal seiner Eltern ist unwiderruflich mit dem von Voldemort verwoben. Lucius mag seinen Irrweg erkannt haben, nachdem er im letzten Sommer eine Zeit lang in Askaban gesessen hat, aber er wird Voldemort nicht den Rücken kehren. Er kann es nicht.   Ich glaube, auch wenn ich dafür noch keine Beweise habe, dass Voldemort sich auf dem Landsitz der Familie Malfoy niedergelassen hat. Eine Strafe für Lucius‘ Unachtsamkeit mit Tom Riddles Tagebuch. So kann er ihn im Auge behalten und hat gleichzeitig seine Familie als Druckmittel.“   Ein schönes Bild, das Dumbledore da malte. Ein in Ungnade gefallener Lucius Malfoy, der sämtlicher Würde beraubt wurde. Ein gebrochener Mann, der ähnlich wie Wurmschwanz bei jedem Geräusch zusammenzuckte, ängstlich zu seinem Herrn hinaufsah und um das Leben seiner Familie bangte.   Aber Harry wusste es besser. Lucius war noch der gleiche Mann wie vorher. Stolz und arrogant. Er kannte seinen Wert, genau wie Voldemort. Sicher würde er sich beweisen müssen, nach seiner Fehlentscheidung, aber er würde nicht im Staub herumrutschen. Seine Familie und sein Heim waren sicher.   Dumbledore wusste so viel über Tom Riddle und glaubte so viel über Voldemort zu wissen, aber eigentlich wusste er nichts. Er lebte nicht bei den Malfoys. Warum sollte er sich irgendwo dauerhaft als Gast einquartieren und auf die Annehmlichkeiten seines eigenen Zuhauses verzichten? Selbst wenn er die Malfoys unter Kontrolle halten wollte, gab es andere Wege als die eigene permanente Anwesenheit.   „Und da liegt auch das Problem. So wie Lucius seine Familie beschützen will, so will das auch Draco.“   ‚Sprich seinen Namen nicht aus, du elender Bastard!‘ Harry konnte seine Wut kaum unterdrücken.   „Der Krieg ist unvermeidlich. Was glaubst du, wie er sich entscheiden würde, wenn ihr euch auf dem Schlachtfeld gegenübersteht? Wenn er zwischen dir und seiner Familie wählen muss?“   Es entstand eine lange Pause. Wollte Dumbledore wirklich, dass er darauf antwortete? ‚Dann ist es ja gut, dass ich die Wahl für ihn getroffen habe.‘   „Willst du ihm das wirklich antun? Dir? Er wird sich für seine Familie entscheiden. Er kann gar nicht anders. Und du wirst gezwungen sein, gegen ihn zu kämpfen. Könntest du das? Gegen jemanden kämpfen, der dir so nahesteht? Glaube mir, Harry, es gibt nichts Schlimmeres auf der Welt.“   Harry sah auf. Dumbledores Blick war wieder in weite Ferne gerückt, sah nicht die Gegenwart, sondern die Vergangenheit. Und Harry wurde bewusst, dass Dumbledore genau das getan hatte. Er hatte gegen jemanden kämpfen müssen, den er gerngehabt hatte. Vielleicht sogar geliebt hatte? Hatte es auf Gegenseitigkeit beruht? Hatte derjenige Dumbledore vertraut? Wie hatte der andere sich bei diesem Verrat gefühlt?   Er würde Draco niemals verraten. Eher würde die ganze Welt brennen.   Was auch immer Dumbledore in seinen Kopf gefangen gehalten hatte, er schüttelte es ab und konzentrierte sich wieder auf Harry.   „Oft sind wir zu großen Opfern gezwungen zum Wohle der ganzen Welt. Es erscheint hart und ungerecht und das ist es auch – ohne Zweifel – aber die Alternative ist häufig noch viel grausamer als das eigene Leid.“   Harry konnte die unausgesprochenen Worte hören: Opfere dich für den Rest der Welt.   ‚Vieh und Schlachtbank.‘   Dumbledore seufzte schwer. Er sah aus, als würde er mit sich ringen, eine unbequeme Wahrheit auszusprechen. Aber Harry konnte hinter die Fassade sehen. Es war nur Show. Er war ein Meister darin geworden und selbst der angeblich mächtigste Zauberer konnte ihm nichts vormachen.   Eisblaue Augen forderten ihn stumm auf nachzufragen, aber Harry tat ihm diesen Gefallen nicht. Wenn der alte Mann ihn vernichten wollte, würde er ihm keine Absolution erteilen.   Geschlagen senkte Dumbledore seinen Blick. „Es mag Zufall sein, aber mir ist aufgefallen, dass die Flüche, die bei Ms. Turpin und Ms. Chang verwendet wurden, sehr ähnlich waren. Während Ms. Turpins Leiden nur auftrat, wenn sie mit dir zusammenstieß und in der Zwischenzeit wieder geheilt ist, so scheint es eine Weiterentwicklung des gleichen Fluchs zu sein, nur eben permanent und durch jeden Menschen ausgelöst.“   Harry ahnte, worauf Dumbledore hinauswollte. Aber dafür gab es keine Beweise. Er wollte nur weiter Zweifel in Harry sähen.   Wieder starrte ihn Dumbledore an. Es war ihm anzumerken, dass Harrys Widerwillen zu sprechen, an seiner Geduld zerrten. Es war nicht Harrys Art, aber er fühlte sich gerade so hilflos und verzweifelt um Kontrolle bemüht.   „Hast du dich gefragt, warum bisher niemand vom Ministerium hier war – nicht mal Auroren – um die Vorfälle zu untersuchen? Als das letzte Mal etwas Vergleichbares passiert ist, waren sie schneller hier, als ich apparieren kann und drohten die Schule zu schließen. Aber dieses Mal, nichts.“   „Es ist niemand gestorben.“ Harry war überraschter als Dumbledore als diese Worte leise seine Lippen verließen.   Ein leichtes Lächeln umspielte die runzligen Lippen des Alten. „In der Tat, es ist niemand gestorben. Und doch haben einige Zauberer – besorgte Eltern, wie sie sich nennen – schon weitaus geringere Vorfälle zum Anlass genommen, um mich als Schulleiter abzusetzen und die Schule zu schließen. Warum dieses Mal nicht?“   Harrys Mund war wieder verschlossen.   „Es gibt Gerüchte, nach denen Lucius Malfoy seinen letzten Rest an Einfluss geltend gemacht hat, um dies zu verhindern.“   Seinen letzten Rest an Einfluss? Hatte Dumbledore nicht vor wenigen Minuten gesagt, dass er nichts mehr übrighatte?   „Was glaubst du, sind seine Gründe dafür?“   Die Antwort hing zwischen ihnen in der Luft und musste nicht ausgesprochen werden. Von niemanden. Wenn an den Gerüchten etwas dran wäre, gab es nur einen Grund. Dass sein Sohn an den Vorfällen beteiligt war.   Harry zwang sich, Dumbledore in die Augen zu schauen. Tränen hatten sich in seinen gebildet. Ob sie echt waren oder Teil seiner Show konnte er selbst nicht sagen.   „Ich verstehe, Professor.“ Seine Stimme klang so leise, dass er sie selbst kaum hören konnte. Hatte er überhaupt etwas gesagt? „Ich verstehe.“, sagte er noch einmal lauter.   Dumbledores Blick veränderte sich. Er wurde mitfühlend – eine Mischung aus Verständnis und Mitleid. Harry konnte es nicht ertragen. Er senkte seinen Blick. Das Gras zu seinen Füßen leuchtete in einen satten, fröhlichen grün, als wollte es ihn verspotten. Er wollte es in die Erde treten, bis es völlig von Schlamm überzogen war, kaputt und zerrissen – so wie er sich fühlte.   „Nimm dir die Zeit, die du brauchst, Harry, mein Junge. Es tut mir wirklich sehr leid.“   Harry nickte nur.   Dumbledore stand auf. Ob er spürte, dass seine Anwesenheit nicht länger ertragbar war oder er einfach nur das Gefühl hatte, sein Ziel erreicht zu haben, vermochte Harry nicht zu sagen. Er wollte nur, dass er endlich ging. Er konnte den Anblick nicht mehr ertragen. Er konnte die Stimme nicht mehr ertragen.   Er wollte nur noch schreien.   Sein Wunsch wurde erhört. Mit einem letzten ekelerregenden mitfühlenden Blick, den Harry mehr spürte als sah, drehte Dumbledore sich um und ging allein zurück zum Schloss. Hosted by Animexx e.V. 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