Das sechste Jahr von CruelLamia (Wie weit würdest du gehen, um deine Liebe zu beschützen?) ================================================================================ Kapitel 1: Feiges Opfer ----------------------- Er starrte in rotglühende Augen. Sie musterten ihn, wollten ihn der Lüge überführen. Aber er blieb standhaft. Seine Maske war hart, kalt und undurchdringbar. Sein letzter Schutz. Er musste diese roten Augen davon überzeugen, dass er es ernst meinte, dass von ihm keine Gefahr ausginge. Ansonsten wäre alles verloren.   Der letzte Schritt würde am schwierigsten sein. Er musste Schwäche zeigen. Er musste seine Schwäche zeigen. Durfte sich dabei aber nur soweit öffnen, dass nicht die ganze Wahrheit zu erkennen war.   Gleich würde ihn der Ansturm in seinem Kopf überrollen. Er bereitete sich darauf vor. Es musste überzeugend wirken. Er musste sich wehren mit der ganzen Macht, die ihm zur Verfügung stand. Diese roten Augen durften nicht nicht in seinen Kopf eindringen. Nicht gleich.   Er hatte nicht mit Schmerzen gerechnet. Falsch! Er hatte mit Schmerzen gerechnet, aber nicht, dass diese so stark sein würden. Sie vernebelten seinen Verstand, bis nichts mehr übrig war als reiner Schmerz. Er musste es ausblenden, sich konzentrieren. Sonst wäre alles umsonst gewesen. Sein feiges Opfer so sinnlos.   Vorsichtig ließ er einen kleinen Riss in seine Deckung. Er war winzig, kaum zu sehen, noch weniger zu spüren, aber die roten Augen hatten die Schwachstelle entdeckt und bombardierten sie. Sein Schutzschild wurde immer dünner.   Er durfte nicht zu ungeduldig werden. Sein Widerstand musste überzeugend sein.   Rote Augen glühten in seinem Schädel, brannten ein Loch in seine Seele, versuchten den Widerstand zu brechen, sich unberechtigter Weise Zugang zu seinen Erinnerungen zu verschaffen, zu seinen Gedanken, seinen Gefühlen – der Wahrheit.   Jetzt!   Feine Risse bildeten sich auf dem Schild, der sein Inneres abschirmte. Sie verästelten sich zu einem filigranen Muster, das sich weiter und weiter ausbreitete. Das Netz verdichtete sich. Und plötzlich zersprang der Panzer. Die schwebenden Splitter glitzerten, fingen das Licht seiner reinen Seele ein und reflektierten dieses in den schönsten Farben des Regenbogens.   Blutrote Augen verfolgten diese zerstörerische Szene, leuchteten bei dem Anblick des zerbrochenen Jungen. Das Rot begann sich in den Splittern zu spiegeln. Nach und nach wurde das Licht durch Blut ersetzt. Und als endlich alle Scherben den Tod eingefangen hatten, fielen sie in sich zusammen. Und die Seele des Jungen war frei und ungeschützt.   *Legilimens*   Harry lag auf seinem Bett in dem kleinen Zimmer, das früher einmal Duddleys kaputtem Spielzeug vorbehalten gewesen war, und starrte an die Decke. Ein Bein ließ er baumeln und scharrte dabei über den bereits abgenutzten Teppich.   Er dachte nach. Das neue Schuljahr würde bald wieder anfangen. Ein weiteres Jahr, indem er ständig auf der Hut sein müsste, nicht einem wahnsinnig gewordenen, machtgierigen und eigentlich schon mehrfach vernichteten Zauberer schutzlos ausgeliefert zu sein.   Aber da hatte er keine Wahl.   Der Orden des Phönix hatte immer noch nicht herausfinden können, wo Voldemort sich versteckt hielt. ‚Und wenn sie’s wüssten, würden sie mir bestimmt nichts sagen.‘, dachte Harry verbittert.   Obwohl er schon unzählige Male gegen den Dunklen Lord gekämpft hatte, immer stärker geworden war und bessere magischen Fähigkeiten besaß als die Hälfte der Mitglieder des Ordens zusammen, behandelten sie ihn immer noch wie ein kleines Kind. Verdammt! In den 5 Jahren, in denen er bis jetzt in Hogwarts war, hatte er den verrückt gewordenen Professor Quirrell besiegt, einen Basilisken zur Strecke gebracht, gegen Dementoren und Werwölfe gekämpft, am Trimagischen Turnier teilgenommen und viele seine Mitschüler in Verteidigung gegen die dunklen Künste unterrichtet. Er hatte sogar Umbridge überlebt. Und niemals war Er-dessen-Name-nicht-genannt-werden-darf, fern. Er hatte ihn gequält, gepeinigt, verletzt und darüber hinaus mehrfach versucht, ihn zu töten. Und doch lebte er immer noch.   Aber nein! Anstatt dass er ernst genommen wurde, hörte er nur irgendwelche Ausflüchte, falsche Besorgnis und Halbwahrheiten.   „Harry, du musst dich verstecken.“ „Harry, pass bloß auf dich auf.“ „Nein, du musst wieder zu den Dursleys, damit der magische Schutz aufrechterhalten bleibt.“ „Du bist noch viel zu jung zum Kämpfen.“ „Nein, wir nehmen dich nicht mit auf die Suche nach Du-weißt-schon-wem.“   Pah! Irgendwann würde Harry seinem größten Widersacher sowieso gegenüberstehen. Er würde gegen ihn kämpfen müssen und einer von ihnen wird sterben. So lautete die Prophezeiung. Und dann – da war er sich absolut sicher – würde niemand mehr auf sein Alter Rücksicht nehmen. Sie würden ihn nur zu gerne opfern, um sich selbst zu retten. Also warum sollte er das noch künstlich hinausziehen? Raus auf die Straße, sein Schicksal erfüllen. Töten oder getötet werden.   Welch‘ Ironie!   Wenn er bei mit den Leuten im Orden zusammen war, wurde er behandelt wie ein rohes Ei. Da war er ihr kostbarer Prinz, der vor allem Übel der Welt beschützt werden musste. Jetzt fühlte er sich eher wie Vieh, dass darauf wartete, zur Schlachtbank geführt zu werden.   Wie sehr er das alles hasste. Wie sehr er sie alle hasste.   *Occlumens*   Glühende Augen brannten sich in sein Inneres. Sie waren nicht überzeugt. Es hatte nicht gereicht.   Das hatte er auch nicht erwartet. Er musste noch ein bisschen weiterkämpfen, noch mehr Kräfte mobilisieren, sich gegen diesen stechenden Blick wehren, der unbarmherzig Stück für Stück seine Seele auseinandernahm.   *Legilimens*   Das sechste Schuljahr hatte gerade begonnen und es lief bereits jetzt nicht sehr gut für Harry. Nicht nur, dass er gleich eine Auseinandersetzung mit seinem Lieblingsfeind, Draco Malfoy, hatte, bevor sie überhaupt in der Schule angekommen waren und er diesem auch noch gnadenlos unterlegen gewesen war, – er war unvorsichtig und wurde überrumpelt – nein, es gab mal wieder einen neuen Lehrer für Verteidigung gegen die Dunklen Künste. Wobei ‚neu‘ nicht ganz zutreffend war.   Es handelte sich um niemand Geringeren als Professor Severus Snape, der, aus für Harry unerfindlichen Gründen, es sich seit Harrys ersten Jahr auf Hogwarts zur Aufgabe gemacht hatte, ihm das Leben zur Hölle zu machen. Also würde er Harry jetzt auch noch sein Lieblingsfach verleiden und dafür sorgen, dass er schlechte Noten bekam.   Dazu kam noch, dass Dumbledore sich wieder einmal sehr geheimnisvoll gab. Harry musste sich irgendwelche fremden Erinnerungen über Tom Riddle anschauen. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wozu das gut sein sollte.   ‚Tom ist ein böser Junge gewesen. Verstanden!‘   Wieso dann noch Stunden damit zubringen, sich diesen Mist genau anzuschauen? Man konnte nichts ändern und die Beweggründe des Verrückten interessierten ihn nun schon mal gar nicht. Aber der Schulleiter wollte das so, also tat Harry es.   Irgendwann bekam Harry eine neue Erinnerung zu sehen, die anders war als die früheren. Es war eine von ihrem neuen Professor für Zaubertränke, Horace Slughorn – der Ersatz für Snape.   Professor Slughorn war ein merkwürdiger, gedrungener Zauberer. Er war angeblich eine Koryphäe auf seinem Gebiet, weshalb der Dunkle Lord ihn schon länger auf seine Seite zu ziehen versuchte. Dieser lehnte aber mehrfach ab und versteckte sich seither in Muggelhäusern, deren Besitzer im Urlaub waren.   Eigentlich wollte der frühere Zaubertränkeprofessor auch nicht nach Hogwarts zurück. Aber die Aussicht, den großen Harry Potter seiner Sammlung hinzufügen zu können, – ja, eindeutig merkwürdig – ließ ihn seine Meinung ändern. Natürlich musste Harry bei der Rekrutierung dabei sein. Es gab keinen besseren Lockvogel. ‚Wie war das noch mal mit dem Vieh und der Schlachtbank?‘   Diese Erinnerung war anders als die vorherigen. Sie sah seltsam aus. Wahrscheinlich manipuliert.   Endlich kam Dumbledore zum Kern des ganzen Theaters der letzten Monate. Harry sollte doch tatsächlich von dieser aufgedunsenen Spinne – eine bessere Beschreibung für diesen Mann fiel ihm einfach nicht ein – die echte Erinnerung besorgen.   Das konnte doch jetzt echt nicht wahr sein. Warum? Tom hatte doch eindeutig nach Horkruxen gefragt. Die Erinnerung war manipuliert. Also wird Slughorn dem Jungen alles über Horkruxe erzählt haben, was es zu wissen gab. Ansonsten hätte es keinen Sinn gemacht, die Erinnerung zu verändern.   Dafür diese ganzen Monate Zeitverschwendung? Er hatte sich Erinnerungen anschauen müssen, die nicht einmal für das eigentliche Vorhaben im Entferntesten sinnvoll gewesen waren und jetzt soll er weiter seine Freizeit opfern, um an eine Erinnerung zu kommen, deren Inhalt der Alte doch genau kannte? Harry war sich absolut sicher, dass Dumbledore genau über diese Horkruxe Bescheid wusste.   Was sollte das also? Beschäftigungstherapie für Harry?   Aber Dumbledore wollte es so, also tat Harry es. Wie ein braves, gut dressiertes Hündchen.   Das hatte Harry zumindest vor. Am Anfang. Aber das stellte sich als schwieriger heraus, als gedacht.   Slughorn wollte partout nicht mit ihm darüber reden und ging ihm konsequent aus dem Weg.   Harry war das aber soweit egal. Es interessierte ihn nicht wirklich und machte nur noch halbherzige Versuche, an die gewünschte Erinnerung zu gelangen. Seine Freunde nervten ihn damit, dass er sich mehr anstrengen müsste. Wenn Dumbledore die Erinnerung habe wollte, musste sie wohl sehr wichtig sein. Eigentlich hatte Harry nicht vorgehabt, den beiden überhaupt davon zu erzählen. Aber der alte Direktor hat Harry geradezu genötigt, dies zu tun. Warum, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen.   Eines Abends verließ er den Gemeinschaftsraum mit der Ausrede noch einmal mit dem Zaubertränkeprofessor sprechen zu wollen. In Wirklichkeit wollte er aber bloß vor seinen beiden Freunden flüchten, die sich mal wieder gegenseitig ankeiften und sich zeitgleich schmachtende Blicke zuwarfen. Sowohl Ron als auch Hermine waren nicht in der Lage, ihre Gefühle dem jeweils anderem zu gestehen. Harry konnte sich im Moment dieses Drama nicht weiter antun. Er wollte allein sein.   Harry lief für eine Stunde ziellos im Schloss umher, hing seinen Gedanken nach und genoss die Ruhe.   Plötzlich wurde er von einem leisen Murmeln aus seinen Gedanken gerissen. Irritiert schaute Harry sich um. Er wusste nicht, wo er war. Er war so in sich vertieft gewesen, dass er nicht auf den Weg geachtet hatte. ‚So ein Mist!‘, schallte er sich selbst.   Wieder ein Flüstern. Harry versuchte die Quelle zu orten und zog sich vorsichtshalber seinen Tarnumhang um. Man konnte nie wissen, was einen erwartete.   Er ging leise in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Hinter einer Ecke sah er sanftes Licht durch ein Türspalte dringen. Die Tür war nicht geschlossen, war vielleicht wieder aufgesprungen, nachdem jemand sie fest hatte zuschlagen wollen.   Bemüht keine Geräusche zu machen, schlich er näher an den schmalen Spalt heran. Harry konnte nun ein Stück in den Raum sehen. Jemand hockte auf dem Boden, aber man konnte nicht erkennen, wer es war. Er unterdrückte den Impuls die Tür weiter aufzumachen, sonst würde er sich verraten.   Immer mal wieder wurde ein Zauberspruch gesprochen, aber so leise, dass Harry nichts verstehen konnte. Auch die Farbe der Zauber ließen keinen Rückschluss auf ihre Identität zu. Es waren unterschiedliche violette Schattierungen. Noch nie hatte er einen Zauber in dieser Farbe gesehen.   Weiter passierte nichts. Wer auch immer es war, er tat nichts Verbotenes. Harry wollte sich gerade wieder abwenden als die Person ihre Arme nach vorn streckte.   Er sah noch mal genauer hin und ihm stockte der Atem. Er wusste, wer das war, konnte diejenige an ihren langen, feingliedrigen Fingern erkennen. Niemand, den er sonst kannte, hatte so elegante Hände. Aber was ihn wirklich schockierte war das, was er auf dem linken Arm entdeckt hatte. Fast höhnisch sprangen ihn die Schlange und der Totenkopf entgegen.   ‚Nein! Nein, nein, NEIN! Nicht sie. Wieso sie?‘ Das konnte doch einfach nicht wahr sein. ‚Sie ist ein Todesser? Seit wann? Warum?‘ Er konnte nicht mehr klar denken. Mit aller Macht hielt Harry sich am Türrahmen fest, weil seine Beine ihm den Dienst versagen wollten. Ihm war schlecht. Er wollte nur noch hier weg, aber das Zittern ließ ihn keinen Schritt machen. Kalter Schweiß lief ihm den Rücken runter und in seinem Kopf pochte ein unbeschreiblicher Schmerz. Sein Herz verkrampfte sich, schlug so schnell als wollte es aus seiner Brust springen, um dann in tausend Stücke zu zerfallen.   ‚Warum ausgerechnet sie?‘   Er mobilisierte seine letzten Kräfte, um von dort zu verschwinden, bevor er zusammenbrechen würde. Denn das würde er auf jeden Fall, das wusste er. Es war unausweichlich. Aber nicht hier. Nicht vor ihr.   Er rannte.   Harry konnte nicht sehen, wo er hinlief. Tränen trübten seinen Blick. Er rannte die Gänge entlang, wich umherschwebenden Geistern aus, lief um diese Ecke, kreuzte die nächste Abzweigung, stürmte Treppen hoch oder flog sie scheinbar hinunter. Immer weiter. Einfach nur immer weiter. Weg!   Der Boden unter ihm war plötzlich weicher. Er musste irgendwie aus dem Schloss gelangt sein. Aber es war noch nicht genug. Er rannte immer noch weiter.   Plötzlich hielt ihn etwas am Fuß fest und er stürzte der Länge nach hin. Im letzten Moment konnte er sich gerade noch mit seinen Händen abfangen.   Harry schaute zurück und wollte den anschreien, der auch immer ihn festgehalten hatte, als sein Blick auf der Wurzel hängen blieb, über die er gestolpert war. Wütend schaute er sie an und versuchte sie mit seinen Blicken zu verbrennen. Aber diese tat ihm den Gefallen nicht. Beinahe trotzig blieb sie an Ort und Stelle, rührte sich nicht.   Er holte seinen Zauberstab heraus. „Inflammare!“ und schon hatte ein einziges Wort geschafft, woran sein Blick gescheitert war. Diese dreiste Wurzel stand kurz in Flammen, bis sie schnell von der Hitze aufgezehrt war und nun von sanften Winden als Asche davongetragen wurde.   Jetzt konnte er nicht mehr an sich halten. Es war ihm egal, wer ihn sah oder wer ihn hörte. Harry schrie seinen Schmerz in die Nacht hinaus. Tausende Vögel flogen aufgeschreckt aus den Bäumen des Verbotenen Waldes, bedeckten mit ihren schwarzen Schwingen die Sterne und den Mond und ließen die Nacht von einer alles verzehrende Dunkelheit verschlingen, so düster wie die Gedanken des Jungen, der eigentlich ein strahlender Held sein sollte.   Der Schrei hatte Harrys letzte Kraft verbraucht. Nun saß er an einen Baum gelehnt und ließ die Tränen stumm über seine Wangen strömen. Seine Arme schlang er um seine Beine und versuchte krampfhaft das Zittern zu unterdrücken.   ‚Nein, nein, nein, nein, nein, nein, …‘ Immer wieder. Er versuchte mit aller Macht die Bilder zu verdrängen, wollte nicht glauben, was er gesehen hatte. Es durfte einfach nicht wahr sein. Wie konnte das bloß passieren? Was hatte er verbrochen, dass er das verdient hatte?   Der Schmerz fraß sich weiter in seine Seele, in sein Herz. Er liebte sie doch so sehr. Und genau das war es gewesen, was ihn bisher hatte durchhalten lassen, woran er sich festgehalten hat. Dass er, obwohl ihm so viele schlimme Dinge widerfahren sind, so viele Menschen bereits seinetwegen gestorben waren, seine Eltern, Cedric, Sirius, dass er immer noch lieben konnte. Auch wenn sie seine Gefühle niemals erwidern würde.   Sie standen auf unterschiedlichen Seiten. Er hatte es gewusst und stumm hingenommen, hatte es still akzeptiert. Es spielte einfach keine Rolle, weil er davon ausgegangen war, dass sie sich nie im Kampf gegenüberstehen würden. Aber nun hatte dieses dämliche Mal alles verändert. Er wusste, dass sie dazu bestimmt gewesen war, es eines Tages zu bekommen. Schließlich bestand ihre ganze Familie aus Todessern. Aber er hatte gedacht, dass noch Zeit bliebe.   Was für ein Idiot er doch war. Er hätte es sich denken können, hätte es wissen müssen. Immerhin wurde schon länger gemunkelt, dass jetzt auch schon minderjährige Zauberer das Mal empfangen würden. Und trotzdem hatte er es ignoriert. Hatte nicht mal an die Möglichkeit denken wollen. Vielleicht hatte er es einfach nicht wissen wollen. Denn die süße Unwissenheit war besser als die grausame Realität, der er sich jetzt stellen musste.   Beim großen Endkampf zwischen Voldemort und ihm wird sie in seinen Reihen kämpfen und bei seinem zweifelhaften Glück, würde er irgendwann genau ihr gegenüberstehen. Er könnte sie nicht angreifen. Das würde sein Verhängnis werden.   Voldemort würde seine Schwäche erkennen und diese sofort gegen ihn verwenden. Er würde sie, ohne zu zögern, foltern und töten und damit Harry zerbrechen. Sie würde seinetwegen leiden, obwohl sie nicht mal davon gewusst hätte.   Voldemort bräuchte keinen Todesfluch mehr auf ihn zu schicken, denn sein gebrochenes Herz würde ihn in den Tod reißen.   Vielleicht sollte er sich einfach auf der Stelle selbst umbringen. Er würde vielen Menschen damit einen Gefallen tun, vielleicht sogar viele Leben retten. Wer weiß, wie viele noch werden sterben müssen, nur weil er lebte. Sein Leben war doch absolut wertlos.   Mit diesen Gedanken stand er auf und ging zurück ins Schloss. Wie in Trance ging er langsam die dunklen Gänge entlang, die Treppen hinauf. Immer weiter. Bis hinauf in den Astronomieturm.   Wenn er tot wäre, würde sie ganz sicher überleben. Für sie gäbe es dann keinen Grund zu kämpfen. Vielleicht konnte sie ja ein ganz normales Leben führen, wenn Voldemort sein Ziel erreicht hatte. Sie hätte die Möglichkeit dazu. Sie hatte eine Familie, die sie liebte. Er, Harry, hatte nichts.   Er kletterte auf das kleine Geländer und sah nach unten.   Plötzlich sah er sich dort unten liegen. Seine Kleider zerfetzt, in seiner Haut klafften großen Male verrottenden Fleisches, durch welche sich genüsslich Maden fraßen. Krähen, Ratten und anderes Getier labten sich an seinem toten Fleisch und zerrten mit ihren Schnäbeln und Mäulern an Haut, Muskeln und Sehnen, um endlich auch seine leere Hülle vom Antlitz dieser Erde zu tilgen.   Angeekelt drehte sich Harry ruckartig um und stürzte auf seine Knie. Er versuchte, konzentriert zu atmen, um den Würgereiz zu unterdrücken, der sich unbarmherzig einen Weg in seinen Hals bahnte.   Nein! So wollte er nicht enden. Er wollte nicht sterben. Es musste einen anderen Weg geben, sie zu schützen. Wenn sie nur auf der gleichen Seite wären, dann wäre es etwas Anderes. Aber sie waren es nicht. Sie hatte sich für die dunkle Seite entschieden und er sich für die andere.   ‚…‘   Er riss erstaunt die Augen auf. War das die Lösung? So einfach? Er müsste nicht sterben und sie würde nicht in den Krieg zwischen ihm und Voldemort verwickelt werden, wenn es keinen Krieg zwischen ihnen gäbe. Er müsste nur sie Seiten wechseln, sich Voldemort anschließen, alles verraten, woran er bisher geglaubt hatte. Könnte er das? Könnte er dem Mörder seiner Eltern widerstandslos folgen?   Die Frage war schnell beantwortet. ‚Ja! Für sie kann ich es. Für sie werde ich es. Hauptsache, sie ist in Sicherheit.‘   Würde Voldemort ihn akzeptieren? Immerhin hatte er Harry schon mal das Angebot gemacht, mit ihm auf der gleichen Seite zu kämpfen. Und er hatte abgelehnt.   ‚Aber die Umstände haben sich geändert. Ich muss es einfach versuchen. Für sie.‘ Er durfte Voldemort nicht verraten, wer sie war. Sie wäre sonst das ideale Druckmittel gegen Harry und er war sich sicher, dass Er-dessen-Namen-nicht-genannt-werden-darf keine Skrupel hätte, dieses auch in jeder erdenklichen Weise zu nutzen. Er musste also sehr vorsichtig sein.   Harry überlegte, wie er sich am besten mit seinem Erzfeind in Verbindung setzen könnte. So einfach kann er nicht aus Hogwarts weg. In zwei Wochen war das nächste Hogsmeade-Wochenende. Das müsste reichen. Bis dahin hatte er genug Zeit, sich etwas einfallen zu lassen. Und natürlich musste er sich auf das Treffen mit Voldemort vorbereiten. Er hoffte, dass er ihn nicht gleich tötete, bevor er überhaupt ein Wort sagen konnte.   Nachdem Harry diesen Entschluss gefasst hatte, wurde er langsam wieder etwas ruhiger und der Druck auf seiner Brust verschwand. Auch die Tränen waren versiegt und er konnte wieder ruhig atmen. Als er sich sicher war, dass er sich wieder im Griff hatte, stand er auf, um in seinen Schlafsaal zurückzugehen.   Er schaute noch einmal in den Nachthimmel hinauf und konnte dort noch einen einzelnen schwarzen Raben erkennen, der einsam seine Kreise zog. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)