Bird On A Wire von yezz ================================================================================ Kapitel 65: Lange Nacht ----------------------- Als Victor das Schlafen aufgab, fiel noch das künstliche Licht der Straßenbeleuchtung durch den nur halb zugezogenen Vorhang. Er fühlte sich müder, als vor dem Schlafen. Seine Augen brannten und ein latenter Kopfschmerz machte es für ihn schwierig, vernünftig zu denken. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er sagen, dass er sich etwas eingefangen hatte, eine Erkältung ausbrütete oder so etwas in der Art. Vielleicht sogar, dass er das ein oder andere Getränk über den Durst getrunken hatte. Doch Victor wusste es besser. Victor wusste verdammt gut, was der Grund war, warum seine Gedanken sich die Nacht wie wild im Kreis herumgedreht hatten. Am Abend zuvor hatten sich seine Befürchtungen mal wieder bewahrheitet: Angetrunkener/Betrunkener Yūri war ein sehr gefährlicher Yūri für ihn. In einem Moment bittet er ihn mit niedlicher Schamesröte im Gesicht, den Kalender nicht wegzuwerfen, im nächsten Moment blickte er ihn herausfordernd-erotisch an und jagte ihm damit einen Schauder vor Erregung den Rücken hinunter. Da Yūri am nächsten Tag noch arbeiten wollte, war er nur noch kurz mit in die Wohnung gekommen. Hatte sozusagen geholfen, den Adventskalender vor Yurios neugierigem Blick zu schützen. Das heißt, so war es geplant gewesen, doch tatsächlich hatte Yurio ihm nur eine Notiz hinterlassen, dass er bei Beka sei, um ein paar Videospiele zu spielen. Das ließ Victor zwar die Möglichkeit Yūri anzudeuten, dass er auch noch ein wenig dableiben konnte, aber das lehnte er ab. Victor hatte natürlich Verständnis dafür. Immerhin musste er für die Wohnung aufkommen und hatte natürlich auch noch andere monatliche Ausgaben außer Miete. Doch natürlich war Victor ein wenig enttäuscht gewesen. Zu behaupten, dass Yūris Flirterei ihn völlig kalt gelassen hätte, wäre eine Untertreibung gewesen. Eine riesige Untertreibung. Tatsächlich hatte Victor seine, doch etwas zu eng gewordene, Hose ausgezogen, sobald Yūri gegangen war. Er hatte sich unter die kalte Dusche gestellt, in der Hoffnung, dass das auch seine Gedanken abkühlen würden. Die Hoffnung starb eben immer zuletzt. Aber schlussendlich starb auch die Hoffnung und so hatte Victor gehofft, dass er sich mit einem Manuskript ablenken konnte. Arbeit war für ihn in der Regel ein totsicherer Plan, sich von seiner Umwelt abzuschotten. Der Plan an sich war sicher nicht schlecht, aber wieder einmal schimpfte er mit sich selbst, dass er sich zumindest die Titel der Manuskripte vorher anschauen sollte, bevor er sie einsteckte. Allerdings fragte er sich, wer zur Hölle auf die Idee kam, dass er der passende Redakteur für BDSM-Romane sei… Er hatte sich die ersten 20 Seiten zu Gemüte geführt in der Hoffnung, dass der Schreibstil oder die Geschichte so schlecht seien, dass sein Problem von alleine Verschwinden würde. Doch um ehrlich zu sein, feuerte es seine Fantasien nur noch mehr an und schlussendlich hatte er das Manuskript wieder schnaubend in seine Tasche gepackt und war, leicht verzweifelt und vor allem schmollend, ins Bett gegangen. Nur um sich dann in der Dunkelheit seines Zimmers vollständig seiner Fantasien ausgeliefert zu sehen. Seine Gedanken wanderten von den Dingen, die er einmal gerne mit Yūri ausprobieren möchte zu den Dingen, die sie vielleicht durch den Adventskalender ausprobieren würden. Er fragte sich, was Yūri gerne probieren wollte und was für ihn direkt ausgeschlossen sei. Und schlussendlich fragte er sich, ob sie schon bereit waren für diese Stufe ihrer Beziehung. Und da Victor zu keiner dieser Fragen eine Antwort wusste, kreisten seine Ideen… und kreisten… und kreisten… Gähnend schwang er seine Beine über die Bettkante und streckte sich. Er war wirklich froh, dass es Wochenende war und er nicht auf die Arbeit gehen musste. Es wäre ein ziemliches Grauen, wenn er sich zum Beispiel heute noch mit Alan herumschlagen müsste. Oder mit der komischen Grafikerin, die sich das Maul über ihn zerriss, seitdem sie ihre plumpen Flirtversuche abgeschmettert hatte. So schnell, wie es in seinem übermüdeten Zustand ging, ging er in sein Ankleidezimmer und zog sich ein T-Shirt und eine Trainingshose an. Dann schlürfte er in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Makkachin blieb zusammengerollt auf seinem Bett. Für ihn war es offensichtlich auch noch zu früh. Das konnte Victor ziemlich gut nachvollziehen. Als seine Tasse Kaffee fertig war und er ein wenig Milch dazugegeben hatte, ging er zum Sofa, warf sich regelrecht darauf und legte den Kopf in den Nacken. Er schloss einen Moment die Augen und genoss den Kaffeeduft. Das kleine Fünkchen Hoffnung in ihm, er könnte vielleicht so noch ein wenig Schlaf bekommen, zerschlug sich relativ schnell. Vermutlich habe ich die Müdigkeit jetzt vollkommen übergangen, schloss er und trank einen Schluck Kaffee. Er starrte einfach die Wand hinter seinem Fernseher an, ohne an irgendetwas zu denken. Nachdem seine Fantasie ihm so übel mitgespielt hatte, war er eigentlich froh darum, sich nicht noch weitere erotische Szenarien mit Yūri auszumalen. Zumal er sich dann der Frage nicht weiter widmen musste, ob er tatsächlich wie ein liebeskranker Teenager selbst Hand anlegen müsste. Er schüttelte vehement seinen Kopf und nahm sein Handy aus der Hosentasche. Bevor er so einen Mist dachte, konnte er Yūri einen erfolgreichen Arbeitstag wünschen, beschloss er. Außerdem konnten sie sich so vielleicht noch für den Abend verabreden. Immerhin war das erste Türchen des Adventskalenders an der Reihe… Victor stellte den Kaffee ab und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Wenn seine Gedanken weiterhin so abdrifteten, dann würde er bis zum Abend ganz sicher nicht überleben. Als Yūri aufwachte und die Nachricht von Victor sah, musste er lächeln. Allerdings hoffte er, dass Victor nur kurz wach geworden war und ihm dann die Nachricht geschrieben hatte, denn für einen Spaziergang mit Makkachin oder irgendwelchen anderen Aktivitäten war es auf jeden Fall noch zu früh. Er schickte eine kurze Antwort zurück und versicherte ihm, dass er sich melden würde, sobald er wüsste, wann er Feierabend machte und wanderte vom Bett direkt zum Computer. Er wollte erst nach Aufträgen schauen, bevor er sich fertig machte. Sicherlich war der Konkurrenzkampf am Samstagmorgen recht groß. Direkt, als er das Ticketsystem aufrief, sah er einen wichtigen Kundenauftrag. Es las sich wie ein Serverausfall bei einem größeren Unternehmen. Das war sicherlich ein zeitaufwändiger Auftrag, aber Yūri hatte über den Tag nichts Größeres vor, also klickte er auf die Bestätigung, dass er das Ticket übernehmen würde. Während das System arbeitete, sprach er ein kurzes Stoßgebet, dass er die Berechtigung für diesen Auftrag hatte und ihm niemand zuvorgekommen war. Die Berechtigung war immer so eine Sache, musste er feststellen. Immerhin war er noch ein Neuling in der Firma und hatte noch nicht so viele Aufträge erledigt. Doch die, die er erledigt hatte, waren zu voller Zufriedenheit erfüllt worden. Als er die Bewertungen gelesen hatte, wäre er beinahe vor Stolz geplatzt. So in Gedanken bemerkte er erst gar nicht, dass die Anzeige auf seinem Bildschirm vom Status ‚Prüfe‘ zu ‚Bestätigt‘ umgesprungen war. Als er den damit verbundenen grünen Haken sah, sprang er vor Freude auf und lief ins Bad, um sich fertig zu machen. Während dem Zähneputzen schrieb er Victor von dem Auftrag, zog sich an und tippte schnell die Adresse der Firma namens FP Ltd. ins Handy für die Navigation. Kaffee und Frühstück ließ er zugunsten eines schnellen Eintreffens vor Ort sausen. Je nachdem, was den Serverausfall verursacht hatte, würde er wahrscheinlich eh neue Teile brauchen. Dann konnte er sich auch auf dem Weg zum Händler mit allem nötigen Eindecken. Dann wusste er auch, wie lange er für die Arbeiten noch einzuplanen hatte. Wie immer, wenn er in seinem Wohnblock oder der Umgebung unterwegs war, hielt er Ausschau, ob er Victor irgendwo sah. Doch nirgendwo war der markante, graue Schopf zu sehen, also beeilte sich Yūri lieber, um zum Auftragsgeber zu kommen. Doch als er schlussendlich in der firmeneigenen Tiefgarage stand, hätte er sich ohrfeigen können. Seine Hände waren schweißnass und sein Herz hämmerte bis zum Hals. Alleine schon von der Kombination der Adresse und dem Hinweis, dass es eine firmeneigene Tiefgarage gab, hätte er hellhörig werden müssen. Der Firmenname hätte da maximal noch das letzte Puzzleteil sein dürfen. Doch er war so euphorisch wegen dem Auftrag gewesen und nun hatte er den Salat. Kurz spielte er mit dem Gedanken, dass er in seiner Firma anrufen sollte, um den Auftrag abzugeben. Aber das machte sich als Neuling sicher nicht gut. Egal welche Ausrede er vorschieben würde, wahrscheinlich würden sie es merken. Und dann würde er, wenn er Glück hatte, nur noch die kleinen Firmen betreuen dürfen. Im schlimmsten Fall würden sie vielleicht sogar die Probezeit nicht verlängern. Yūri atmete tief durch. Das wird schon alles klappen. Du weißt, was du tust, sagte er sich in Gedanken, als er aus dem Auto steig. Natürlich nicht, ohne sich verstohlen umzusehen. Man sah schon in der Tiefgarage, dass ein Großteil der Belegschaft offenbar nicht am Samstag arbeitete. Vielleicht waren auch heute nur Leute da, die aufgrund einer Deadline noch Arbeiten zu erledigen hatte. Yūri schluckte. In dem Fall würde die Arbeit heute keinesfalls ein Zuckerschlecken werden. Er blickte über die geparkten Fahrzeuge, auf der Suche nach einem ganz speziellen Auto. Eines, dass er mittlerweile fast genauso gut kannte, wie sein eigenes. Mit der Ausnahme, dass er es noch nicht selbst gefahren war. Vor allem deshalb nicht, weil das Auto ungefähr 60 Mal so viel wert war, wie sein eigenes. Fast schon hatte er erwartet, den dunkelblauen Tesla irgendwo stehen zu sehen. Denn immerhin würde das erklären, warum Victor ihm so früh eine Nachricht geschickt hatte. Er musste doch sicher auch informiert worden sein, oder? Wobei er immerhin ein Redakteur war, erinnerte sich Yūri. Wenn es seine Arbeit nicht betrifft, wird er wohl kaum hierher zitiert worden sein. Yūri ging an einer Reihe reservierten Parkplätze vorbei. Er las die Namen auf der linken Seite aufmerksam: S. Lambiel, S. Crispino, E. Nekola, V. Nikiforov… Er blieb wie angewurzelt stehen. Das war also Victors Parkplatz? Hier stellte er immer sein Auto ab, wenn er auf der Arbeit war. Irgendwie fühlte sich Yūri wie ein kleiner Stalker, doch er konnte sich nicht von dem Schild losreißen. Kurzentschlossen machte er ein Foto davon. Er wusste noch nicht, wofür er es verwenden würde, aber zumindest konnte er Phichit so noch einmal zeigen, dass Victor kein Blender war. Wobei er sich mittlerweile keine größeren Gedanken mehr um dieses Thema machte. Daneben waren die Parkplätze von I. Yang, L. Baranovskaya und der erste am Aufzug war reserviert für den Chef. Y. Feltsman. Er erinnerte sich noch ziemlich gut an den Onkel von Victor und Yurio. Er sah ein wenig griesgrämig und grimmig aus, doch er schien ein netter Mensch zu sein, der ehrlich um seine Neffen bemüht war. Doch all diese Parkplätze waren leer. Yūri schloss daraus, dass entweder das Problem nicht schwerwiegend genug war oder es war einfach noch nicht so weit vorgedrungen. Da sich Yūri mit den Firmenstrukturen nicht auskannte, beschloss er, dass es müßig war, sich darüber Gedanken zu machen. Doch als er sich am Empfang im Erdgeschoss meldete, wurde ihm klar, dass er bereits sehnsüchtig erwartet wurde. Er bekam einen Gästeausweis und wurde angewiesen, zu den Aufzügen zu gehen. Die Leiterin der Grafikabteilung würde ihn dort abholen. Yūri brauchte nicht lange zu warten, bis sich der Aufzug öffnete und den Blick auf eine überraschend junge und große Frau mit rötlich-braunen, gelockten Haaren und blauen Augen freigab. „Ah, du musst Yūri Katsuki sein! Hallo!“, sagte sie und sah erleichtert aus, ihn zu sehen. Yūri streckte ihr die Hand entgegen. „Hallo. Ja, richtig. Ich komme wegen ihrem Serverproblem“, er hatte keine Ahnung, wie er sie wirklich begrüßen sollte und hoffte, dass er nicht wie der letzte Idiot dastand. „Zum Glück, wir können alle nicht richtig arbeiten. Wir haben keine Möglichkeiten, auf das Firmennetzwerk zuzugreifen. Meine Leute sind fast am Verzweifeln, da dort alle Vorlagen hinterlegt sind“, plapperte sie munter weiter und drückte den Knopf für die 1. Etage. Kurz fragte sich Yūri, warum sie für den ersten Stock den Aufzug nahmen, wurde aber schnell von einem erschreckten Laut der Chefgrafikerin abgelenkt. Diese hatte die Hand über ihren Mund gelegt, schaute Yūri dabei mit großen Augen an. „Meine Güte, wie furchtbar unhöflich von mir! Mein Name ist Mila Babicheva. Ich bin die Chefgrafikerin von dem Laden hier. Du kannst mich aber auch ruhig Mila nennen, wir haben hier eine sehr flache Hierarchie, nur den Boss reden wir mit Herrn Feltsman an“, lachte und plapperte sie dann. Yūri war versucht, nach Victor zu fragen. Aber das würde komisch aussehen, oder nicht? Also ließ er sich lieber das Problem detailliert beschreiben, während er von Mila zum Serverraum geführt wurde. Die Schilderungen hatten schon nichts Gutes vermuten lassen und seine Überprüfung bestätigte es nun in kurzer Zeit. Er seufzte, als er Mila anschaute, die mit einem leicht flehenden Blick im Türrahmen stand. „Weißt du, wann hier das letzte Mal Arbeiten vorgenommen worden?“, fragte er. „Uhh… Ich bin seit dem Sommer letzten Jahres hier und ich habe noch keine größeren Arbeiten am Server miterlebt. Aber das muss nicht unbedingt etwas heißen…“, sie sah ihn fragend an. „Mit ein bisschen Glück kriege ich das hier für eine Weile wieder zum Laufen, allerdings befürchte ich, dass hier eine grundlegende Erneuerung passieren muss, damit das Netzwerk auch in Zukunft wieder stabil und sicher läuft. Die notwendigsten Teile für den Übergang kann ich gerne schon einmal bestellen, wenn ich ein wenig Druck mache, sollte ich sie Montag bis Mittag haben. Was die Erneuerung angeht… Da wird sicherlich der Geschäftsführer oder Vorstand entscheiden müssen. Wer auch immer da die Entscheidungsgewalt hat, richtig?“, schloss Yūri. Mila nickte. „Für die Teile zur Behebung des Problems habe ich die notwendigen Befugnisse, aber für die von dir empfohlene Erneuerung brauch ich einen Kostenvoranschlag“, erklärte sie. Das überraschte Yūri jetzt nicht wirklich. Er war auf jeden Fall froh, dass er helfen konnte und mit ein paar Tricks den Server zumindest kurzweilig wieder zum Laufen bringen konnte. „Dann kümmere ich mich jetzt darum, dass das Netzwerk wieder verfügbar ist, danach um die Bestellung der Teile und dann würde ich noch für den Kostenvoranschlag bleiben, wenn das ok ist. Oder habt ihr eine Uhrzeit, wann alle aus dem Gebäude sein müssen?“, fragte Yūri. „Nach 18 Uhr kommt noch die Putzkolonne, du hast also bestimmt bis 20 Uhr Zeit“, lachte sie. „Na, hoffentlich bin ich bis dahin fertig. Ich hätte doch etwas frühstücken sollen“, seufzte er dann. „Direkt um die Ecke ist die Küche. Da gibt es Kaffee und heute sogar belegte Brötchen“, bemerkte sie fröhlich. „Eine kleine Motivationshilfe vom Chef wegen den Überstunden“, erklärte sie auf Yūris fragendes Gesicht hin. „Danke, dann bringe ich das hier erst einmal wieder zum Laufen. Dann komme ich auf das Angebot gerne zurück“, lachte Yūri und dachte sich, dass es vielleicht ganz angenehm war, für diese Firma zu arbeiten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)