Summertime Record von Puppenspieler ================================================================================ II.II Mint Candies ------------------ Sie hatten keine Veranda mehr. Keinen Balkon. Ruis neuer Lieblingsplatz bei Regenwetter war die riesige Fensterfront im Gemeinschaftsraum. Yamato leistete ihm immer noch Gesellschaft, aber sonst hatte sich fast alles verändert. Natürlich war Kai bei ihm, wenn es sich ergab. Ihre unterschiedlichen Terminkalender ließen das seltener zu, als es ihm lieb war, und selbst wenn sie sich gemeinsam den Regen ansahen, dann lief es häufig darauf hinaus, dass sie einfach nicht alleine bei waren. Es war fast immer jemand im Gemeinschaftsraum, der Fernseher lief, oder es wurde sich unterhalten. Kai mochte es. Die meiste Zeit. Manchmal wünschte er sich, obwohl er den Trubel liebte, ein bisschen mehr Zweisamkeit.   Manchmal bekam er auch die Gelegenheit dazu.   Der Juni neigte sich dem Ende zu, als die gemeinsame Wohnung das erste Mal seit langem wieder wie ausgestorben war. Weil am nächsten Tag ein größerer Dreh weiter außerhalb begann, waren sie alle schon über Nacht zu dem Ferienhaus gereist, das ihre Unterkunft für die nächsten Tage sein würde. Lediglich Rui hatte am frühen Morgen noch einen anderen Job, weswegen er zurückbleiben musste – zusammen mit Kai. „Damit Dai und Kanade nicht noch extra hin und her fahren müssen“, hatte Shun mit einem unschuldigen Grinsen erklärt – die beiden Manager hatten sie natürlich zum Ferienhaus begleiten müssen, es wäre tatsächlich ein Umweg für sie, Rui noch extra abzuholen. Dass einfache Nettigkeit nicht Shuns Motiv war, war für Kai aber schnell absehbar gewesen, als der Kerl sich mit den Worten „dafür schuldet mir Kai aber etwas~“ nach dem Mittagessen von ihm verabschiedet hatte. (Er ahnte schon, wie Shun seine Schuld einlösen würde. Auf den Beifahrersitz würde Kai ihn trotzdem nie wieder lassen, egal, wie oft er Chauffeur spielen musste!) Er wusste nicht, ob er Shun wirklich dankbar sein sollte – doch, war er –, oder eher besorgt, weil der Dämon wieder einmal viel zu gut über Dinge Bescheid wusste, über die er eigentlich nicht Bescheid wissen sollte. Wenn er Kai zu sehr damit ärgerte, konnte er immer noch aufhören, Tee für ihn zu kochen. Das sollte als Rache hoffentlich funktionieren.   Und im Endeffekt war er vielleicht doch einfach nur froh, dass in Shuns Wissen auch eine schweigende Akzeptanz steckte.   Rui verbrachte den gesamten Nachmittag vor dem Fenster. Betrachtete den Regen, kraulte Yamato, der es sich auf seinem Schoß gemütlich gemacht hatte. Kai saß neben ihm, beobachtete weniger den Regen als dass er Rui beobachtete, und er war völlig zufrieden mit der Welt. „Es ist lange her, hm?“, murmelte er, als die Stille irgendwann doch ein bisschen viel wurde; bis auf das Prasseln des Regens gegen die Fensterscheiben war es völlig ruhig gewesen. Rui warf ihm einen kurzen Blick zu, wandte sich aber fast augenblicklich wieder ab. Er nickte kaum merklich. „Der Regen klingt anders hier.“ – „Schlecht anders?“ „…anders.“ Anders. Kai sah hinaus, schief lächelnd. So viel hatte sich verändert in dem letzten Jahr, dass es immer noch ein bisschen unfassbar war. Und war es wirklich schon so lange her, dass er Rui kennengelernt hatte? Er erinnerte sich noch lebhaft an den verregneten Junitag, an die kleine, durchnässte Gestalt ohne Regenschirm, die so verloren ausgesehen hatte auf den kalten, grauen Straßen. Vor einem Jahr hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt. Vor einem Jahr hatte Kai sich über jede einsilbige Antwort gefreut, als wäre sie ein kostbarer Schatz. Heute war es selbstverständlich geworden, dass Rui mit ihm sprach, ihm antwortete, vorausgesetzt, er hatte etwas zu sagen. Vor einem Jahr hatte er noch gar nicht darüber nachdacht, Rui näherzukommen als für ein nettes Haarewuscheln nötig war. Heute hingegen… Er streckte die Hand aus, streichelte Rui sanft über die Wange. Der Junge lehnte sich ihm kaum merklich entgegen.   Kai nahm es als Einladung. Seine Hand wanderte weiter, bis sie sich in tiefgrünem Haar verfing, behutsam drehte er Ruis Kopf in seine Richtung. Große Augen begegneten seinem Blick, doch es dauerte nicht lange, bis sie zufielen. Ihre Lippen trafen sich. Sanft, liebevoll. Ein zarter, behutsamer Kuss, der passend zu der Trägheit eines verregneten Frühsommertags lange brauchte, bis er intensiver wurde. Rui schmeckte süß. Ungewohnt, weil Rui normalerweise anders schmeckte, und gleichzeitig vertraut, weil Kai den Geschmack trotzdem kannte. Er stutzte. Behutsam löste er den Kuss. Rui sah ihn aufmerksam an, das hübsche Gesicht gerötet und seine Lippen glänzten feucht, einladend. Kai wollte ihn sofort wieder küssen, aber noch war er abgelenkt. Sehr sogar. „Seit wann magst du Minzbonbons?“ „Oh, das. Shun hat mir welche gegeben. Er meinte, du würdest es mögen, wenn ich sie esse.“ Kai wollte widersprechen. Er öffnete den Mund, ohne ein Wort herauszubekommen, während sein Nacken heiß prickelte und sein Magen einen Salto machte, der seine ungesagten Worte effektiv Lügen strafte. Er würde nie wieder ein Minzbonbon essen können, ohne an Dinge zu denken, die so ein armes, unschuldiges Bonbon eindeutig nicht verdient hatte. Shun bekam die nächsten zwei Wochen definitiv keinen Tee mehr!   „Gefällt es dir nicht?“ Kai lachte hilflos auf. Rui sah ehrlich bekümmert aus, und das tat ihm unglaublich leid. Er schüttelte den Kopf, streichelte ihm sanft über das Gesicht, seinen Hals hinunter. Seine Finger blieben kaum merklich an dem Pflaster hängen, das sich immer dort befand. Wirklich immer. Kai wusste nicht, warum. Er hatte nicht nachgefragt, denn er fragte aus Prinzip nicht nach, wenn er es vermeiden konnte, weil er wusste, dass Rui ohnehin nicht sprach, wenn er es nicht wollte. Alles, was er wusste, war, dass diese Pflaster da waren, nicht nur das an seinem Hals, sondern hier und da noch andere. Früher einmal war Rui kaum merklich zurückgewichen, wenn er ihnen zu nahe kam. Heute wich er nicht mehr zurück; er erschauderte unter dem Liebkosen, neigte den Kopf so, dass er Kai den größtmöglichen Platz an seinem Hals bot. Er presste einen Kuss auf die warme Haut, entlockte Rui damit einen leisen Laut. Schmale Finger vergruben sich in seinem Haar, streichelnd, zupfend. Jede Berührung hinterließ eine Spur aus kribbelnder Hitze, die sich von seiner Kopfhaut immer weiter hinunterzog.   Der nächste minzsüße Kuss jagte einen heißen Schauer durch Kais ganzen Körper und entlockte mit seiner Intensität Rui etwas, das schon fast ein Stöhnen war.   Vielleicht würde er das mit dem Teekochen doch beibehalten.     ***     Sie lösten sich erst wieder wirklich, als Yamato lautstark nach Futter verlangte. Inzwischen war Ruis ganzes Gesicht gerötet. Sein Cardigan war auf halbem Weg verloren gegangen, sein Shirt hochgerutscht, so dass es einen breiten Streifen heller Haut entblößte. Sein Haar war ein einziges Chaos – er sah wunderschön aus. Kai selbst ging es auch nicht viel besser; sein Haar zerzaust, Gesicht gerötet, Kleidung zerknittert. Er war nur froh, dass Rui nie der Typ gewesen war, auf seinem Schoß sitzen zu wollen. Es wäre… unangenehm gewesen. Es war unangenehm, so oder so. Kai fuhr sich seufzend mit einer Hand durchs Haar, während er im Kühlschrank nach der geöffneten Dose Katzenfutter suchte; er fand sie versteckt hinter Puddingbechern und Milchtüten, die irgendjemand – unter anderem er selbst – nicht ordentlich eingeräumt hatte. Rui hatte verkündet, er wolle duschen gehen, ehe sie zu Abend aßen. Kai wollte auch duschen.   Kalt.   Es war nicht das erste Mal. Es war zwar nicht oft passiert bisher, aber es war passiert, dass sie in den seltenen Momenten Zweisamkeit nicht nur beim Küssen blieben. Liebkosungen, Zärtlichkeiten – nur über der Gürtellinie, natürlich. Allgemein über aller Kleidung, eigentlich. Kai hatte sich fest vorgenommen, nichts zu tun, das Rui nicht wollte, also tat er es nicht, doch es nagte immer mehr an seiner Selbstkontrolle. Er wollte Rui. Alles von ihm. Es half nicht, dass seine Träume ihm das gerne einmal viel zu lebhaft illustrierten. Es half nicht, dass Rui so unfassbar hübsch war, dass Kai kaum den Blick von ihm nehmen konnte. Es half nicht, dass Rui diese wunderbare Eigenart hatte, mit jeder winzigen Reaktion einen riesigen Eindruck zu hinterlassen. Yamatos Maunzen riss ihn aus seinen Gedanken. Er seufzte resigniert, ging in die Hocke und stellte dem Kater sein Futter hin. „Ich hab ein Problem“, verkündete er geschlagen. Yamato unterbrach sein Futtern sogar kurz, um ihn anzusehen, maunzte dann noch einmal – und ab dem Moment war Kai vollkommen unwichtig. Natürlich, Futter war wichtiger als die Libido seines zweiten Herrchens, huh? Konnte Kai sogar verstehen, er würde Essen auch vorziehen, um sich nicht damit auseinander zu setzen. Nicht einmal kochen musste er. Es waren Reste vom Mittagessen geblieben, die sie essen konnten. Er brauchte etwas zu tun. Ablenkung. Irgendetwas, damit er nicht daran dachte, dass sie die ganze Nacht allein sein würden. Viel zu viel Zeit, um– Entschieden schüttelte er den Gedanken ab.   Er beschloss, weil ihm nichts Besseres einfiel, nach den anderen Tieren zu sehen. Es war eine absolut ernüchternde Arbeit, Futternäpfe zu füllen und Toiletten zu reinigen, und Kai war unglaublich dankbar darum. Bis Rui wieder aus dem Bad kam, waren seine Gedanken wieder jugendfrei und er verspürte akut auch keinerlei Bedürfnis mehr, das zu ändern. Für ein bisschen zusätzliche Ablenkung ging er trotzdem zuallererst duschen. Das kalte Wasser tat gut, um die Gedanken endgültig zu klären. Es war nicht, als würde es fehlen. Kai fühlte sich wohl in seiner Beziehung, auch wenn sie aufgrund aller äußeren Umstände immer ein bisschen holprig war und bleiben würde. Er brauchte zwar körperliche Nähe, aber sie musste nicht intimer werden als das, was er bisher bekam. Und Rui war noch so jung! Er war gerade erst siebzehn geworden, er hatte noch alle Zeit der Welt, um sich auf solche Dinge einzulassen. In seinem Tempo. Das war Kai einfach wichtig. Er wollte Rui nicht bedrängen, oder ihm das Gefühl geben, er wäre nicht gut genug, weil er vor einigen Belangen noch zurückscheute. Rui war perfekt, wie er war. Und Kai, wenn er es wirklich brauchte, wusste sich durchaus zu helfen.     ***     Ganz verschwinden wollte sie nicht, die Spannung vom Nachmittag. Kai war wirklich naiv genug gewesen, zu glauben, dass er sich unter Kontrolle hatte – und dann hatte er beim Abendessen bemerkt, dass zum ersten Mal, seit er Rui kannte, die Pflaster auf seiner Haut fehlten. Aus Respekt hatte er krampfhaft versucht, nicht zu sehr zu starren. Da war eine Narbe an seinem Hals, gut sichtbar und alles andere als klein. Er wollte erfahren, wo sie herkam. Sie, und die zweifelsohne anderen Narben, die unter den anderen Pflastern versteckt gewesen waren. (Er wollte sie mit dem Finger nachzeichnen und küssen, jede einzelne.) Rui bemerkte seine Blicke. Der Junge sah ihn auf den ersten Eindruck ruhig an, doch seine Wangen zierte eine kaum sichtbare Röte. Einen langen Moment sahen sie einander an, dann senkte Rui in plötzlicher Hast den Blick und wandte sich wieder seinem Essen zu. Kai folgte seinem Beispiel, ohne noch recht hungrig zu sein; zumindest verspürte er keinen Hunger mehr, obwohl die Portion, die er bisher vertilgt hatte, ungewöhnlich klein war. Er konnte sich auch nicht aufs Essen konzentrieren. Er konnte sich gar nicht konzentrieren. „Hey, Rui. Wollen wir einen Film gucken?“ Das würde ablenken, nicht wahr? Er versuchte ein heiteres Grinsen, das womöglich ein bisschen schief ausfiel. „Wir können Shuns Horrorfilmsammlung plündern.“   Kai hatte nicht viel für Horrorfilme übrig. Meistens taten ihm die bösartigen Geister und Monster einfach nur leid, weil sie doch Hintergründe hatten, die einfach traurig waren – davon ab war er relativ unempfänglich für alles, was Horrorfilm ausmachte. Er war kein Typ, der sich leicht gruseln ließ. Rui fand das Zeug aus irgendeinem Grund toll. Geistergeschichten. Alles Übernatürliche. Als er gehört hatte, dass Gravi eine Nachtwanderung planten, in der Hoffnung, Hitodama im Wald zu finden, hatte er sofort bekundet, mitkommen zu wollen. (Natürlich würde Kai sie ebenfalls begleiten. Shun hatte ein bisschen zu begeistert von der Idee ausgesehen, er wollte nicht riskieren, dass sie da in eine Dämonenfalle stolperten und er nicht da war, um auf Rui aufzupassen.) Es war typisch Rui. Kai verstand seine Faszination überhaupt nicht, aber gerade war er sogar beinahe froh darum, dass sie existierte. „Mhm. Klingt gut.“ Und natürlich sprang Rui auf die Idee an. Kai grinste, immer noch schief, aber in aller Erleichterung ein bisschen breiter. Vielleicht würden lächerliche Jumpscares und eher eklige als gruselige Gemetzel ihn wirklich von allem anderen ablenken.   Nach dem Abwasch – Kai spülte, Rui trocknete ab. Rui beklagte sich, dass es genauso gut andersherum ginge, immerhin war er kein kleines Kind mehr, aber beim Anblick des heißen Spülwassers überlegte er es sich schnell wieder anders – verschanzten sie sich im Wohnzimmer. Rui suchte den Film aus, nachdem Kai weder eine größere Ahnung, noch ein größeres Interesse an Horrorfilmen hatte. Ziemlich bald saß Rui neben ihm und der Film lief an.   Zu behaupten, er wäre interessant, wäre eine blanke Lüge. Nach ein paar Minuten begann Kai, in seinen Hosentaschen nach einem Bonbon zu wühlen, einfach nur, um sich beschäftigt zu halten. Sehr zu seinem eigenen Erstaunen fand er ausnahmsweise einmal keines. Mit einem frustrierten Seufzen ließ er sich zurück gegen die Sofalehne fallen und warf den Kopf in den Nacken. Er brauchte Zucker! „Kai?“ Rui sah ihn fragend an. Kai grinste schief. „Ich hab keine Bonbons mehr.“ – „Oh.“ Wirklich mitleidig sah Rui nicht aus. Er legte den Kopf schief, als würde er nachdenken, nickte dann. „Ich hab noch eins.“ Kais Grinsen wurde erleichtert. Es war ungewöhnlich, aber er würde sich sicher nicht darüber beklagen, dass neuerdings Rui der mit den Bonbons in den Taschen war. Sein Grinsen gefror allerdings, als Rui wie auffordernd gegen seine Lippen tippte. Ihm wurde gleichzeitig heiß und kalt und er schluckte heftig. War Rui überhaupt bewusst– er sah so verdammt unschuldig aus! Kais Magen krampfte und die langsam altvertraute Hitze nistete sich überall dort wieder ein, wo Kai sie eigentlich nicht haben wollte. Das war doch garantiert auch auf Shuns Mist gewachsen. Er würde dringend mit dem Kerl reden müssen, dass er aufhörte, Rui so viele Flausen in den Kopf zu setzen!   Doch so wenig er Shuns Flausen unterstützte, das hinderte ihn trotzdem nicht daran, sich zu Rui vorzubeugen und ihn zu küssen. Er schmeckte süß, nach Zucker und Minze – und er hatte tatsächlich noch ein Minzbonbon, das er mit unerwartetem Selbstbewusstsein mit der Zunge in Kais Mund schob. Der Film war augenblicklich vergessen. Der Film, und jede Selbstbeherrschung. Mit einer geschickten Bewegung brachte er Rui unter sich, so dass der Junge auf dem Sofa lag. Ihm entkam ein überraschter kleiner Laut, der in ihrem Kuss erstickte, und warme Hände griffen nach Kais Schultern, um sich festzuhalten. Die Berührung brannte heiß durch den Stoff seines Shirts. Rui keuchte, als Kai den Kuss löste. Im flackernden Licht des Fernsehers begegneten ihm große, dunkle Augen. Zarte Fingerspitzen strichen über sein Gesicht. „Kai.“ Ruis Stimme klang rau, ungewohnt, fremd. Wunderschön, auf eine Art, die Kai erschaudern ließ. Er lehnte sich zu einem weiteren kurzen Kuss vor, nur, um Rui den winzigen Rest seines Bonbons zurückzugeben. Seine Haut war warm unter Kais Lippen, als er begann, eine Spur sein Gesicht hinab zu küssen, seinen Hals entlang. Er spürte, wie Rui die Luft anhielt, als er sich dem Punkt näherte, an dem die Narbe war. Kai wusste nicht genau, wo sie war, sah sie gerade auch nicht, doch er spürte die plötzliche Erhebung in der sonst ebenmäßigen Haut, als er sie erreichte. Ruis Reaktion war ein leises, fast hilflos klingendes Stöhnen, das Kai für einen Moment die ganze Welt vergessen ließ.   Es waren insgesamt drei Narben, die sich zwischen Ruis Hals und Brustbereich befanden. Sie waren völlig unterschiedlich in ihrer Länge. Im flackernden Licht des Fernsehers konnte Kai bei einer von ihnen Spuren entdecken, dass die Wunde genäht worden war – auch wenn er die Information nur für später abspeicherte und im nächsten Moment schon wieder verdrängt hatte. Gerade hatte er entschieden andere Prioritäten. Rui keuchte, wenn er den Narben zu nahe kam. Seine Finger krallten in Kais Haar, doch er versuchte nicht ein einziges Mal, ihn wegzudrücken. Stattdessen bog er sich den Berührungen entgegen. Sein Puls ging zu schnell; jeder Kuss auf Ruis Hals machte es spürbar. Aus dem Lautsprecher des Fernsehers klangen gequälte Schreie, die verdächtig nach Mordopfer klangen. Kai bemerkte es kaum. Rui auch nicht, zumindest reagierte er nicht im Geringsten, abgelenkt von fremden Händen, die seine Hüften hinabstreichelten und ihm wieder einen leisen Ton entlockten.   Rui war nicht laut. Seine Reaktionen beschränkten sich überwiegend auf geräuschvolles Atmen, doch immer wieder einmal entkam ihm ein leiser Laut – ein Keuchen, ein Stöhnen, ein sanftes Murmeln, ein wohliges Seufzen. Es war wunderschön und berauschend. Berauschend wie die zarten Hände, die hitzige Spuren auf Kais Haut zeichneten, seinen Schultern hinab, über seine Seiten, unter sein Shirt, das ihm schon seit einer Weile völlig überflüssig erschien. Ruis Hände waren unerwartet warm, ließen ihn erschaudern. Er verlor sich in der Hitze des Augenblicks. Verlor sein Shirt, so wie auch Ruis längst verloren war. Seine Küsse schmeckten immer noch nach Minze, nach Atemlosigkeit und Erregung. Sie hatten den ganzen Abend nur für sich. Niemand, der sie unterbrechen würde, kein Grund, zu hetzen. Oder aufzuhören. Entsprechend hätte Kai es am liebsten ewig herausgezögert, mehr zu tun. Rui liebkost, geküsst, erkundet, welche Reaktionen er bekam, wenn er mit der Zunge die Narbe an seinem Hals entlangfuhr, wenn er Küsse auf seiner nackten Schulter verteilte, und tausend andere Dinge mehr, doch– Ihm fehlte die Geduld. Jeder Laut, jede Berührung, jedes überraschte Luftschnappen nagte mehr an seiner Selbstbeherrschung. Versunken in einen minzig süßen Kuss streichelten seine Finger weiter hinab, als sie sich bisher gewagt hatten, über einen flachen Bauch, bis sie Ruis Hosenbund erreichten und erst einmal hängen blieben.   Weiter kamen sie auch gar nicht mehr.   „Kai… stopp.“ Ruis Finger hielten sein Handgelenk. Der Kleinere sah zu ihm auf, seine Augen riesig groß geweitet, sein Gesicht gerötet. Er sah nicht direkt panisch aus, aber eine leise Spur von Angst lag in seinem Blick. Kais Finger zuckten. In ihm ging zu viel auf einmal vor sich – Sorge, in erster Linie, denn natürlich machte er sich Sorgen, wenn Rui Unwohlsein ausdrückte. Enttäuschung, darüber hinaus, denn natürlich hätte er sich mehr gewünscht. Wie könnte er nicht? Dankbarkeit und Erleichterung, weil Rui so offen mit ihm sein konnte. Frust, ein bisschen. Betont langsam stieß er die Luft aus, dann richtete er sich auf. Zog Rui in eine sanfte, unschuldige Umarmung und hauchte ihm einen Kuss auf die Schläfe. „Stopp“, bestätigte er. „Alles, was du brauchst, Rui.“ „Aber Kai–“ Rui musste den Satz nicht beenden. Seine Blickrichtung war eindeutig, und Kai musste auch nicht hinsehen, um zu wissen, worauf der kleine Kerl anspielte. Er lachte verlegen auf. „–hat keine Probleme damit, auf dich zu warten, Rui. Erinnerst du dich? Es ist okay. Ich kann warten, wo du es brauchst. Du wartest auch.“ Eigentlich war es zwar eine sehr andere Situation gewesen, aber… es war doch irgendwie das Gleiche. Er lächelte aufmunternd, liebevoll. Rui war ihm viel zu wichtig, um ihn zu sehr zu bedrängen. Er sah die Mundwinkel des Jungen zucken, zu etwas, das fast ein Lächeln war. „Warten. Für jemanden, der immer so wild ist, kann Kai gut warten.“ – „Nur für dich, Rui.“ „Gefällt mir.“ Kai gefiel es auch. Er schloss die Augen, atmete den klaren Regenduft von Ruis Haar ein. Sein Herzschlag beruhigte sich langsam, die Hitze begann, abzuflauen. Nur ein bisschen, und es würde dauern, bis es ganz vorbei war, aber es war okay. Erträglich.   Überhaupt so viel Zweisamkeit zu haben, war unbezahlbar. Egal, womit sie sie verbrachten.   Eine Weile blieb er so sitzen, genoss es einfach nur, dass Rui schweigend an ihn gekuschelt bei ihm war, dann stupste er ihn sanft mit der Nasenspitze an. Es war immer noch dunkel, abgesehen von dem Fernseher, dessen Bildschirm inzwischen wieder das Hauptmenü der DVD anzeigte. Von dem leisen Ton abgesehen, den ein eingeschalteter Fernseher eben abgab, und ab von ihren eigenen Atemzügen, war es still; wo auch immer sich der ganze Kleinzoo versteckt hatte, er war ruhig. „Wir haben den Film verpasst.“ „…oh.“ „Sollen wir ihn noch einmal ansehen?“ „Gerne.“   Im zweiten Anlauf fand Kai es gar nicht mehr so unerträglich – auch wenn das vermutlich nur daran lag, dass Rui die ganze Zeit an ihn gekuschelt blieb.     ***     Zwanzig Minuten des Films schafften sie dieses Mal. Zwanzig Minuten, und diesmal war es nicht Kai, der unterbrach, sondern Rui, der sich plötzlich regte und Kais Hand einfing; er hatte gar nicht bemerkt, wie er abwesend begonnen hatte, über Ruis Hals zu streicheln – und über die Narbe, die sich dort befand. „Kaiiii.“ Es klang nicht wirklich nach einer Beschwerde. Es klang mehr nach dieser Art liebevoller Empörung, die man nur Menschen entgegenbrachte, die man – ja, liebte. Kai hielt lächelnd inne, drückte Rui versöhnlich an sich. „Entschuldige.“ „Mh-mh. Ist okay. Aber komisch. Ungewohnt.“ „Du hast sie doch auch immer versteckt, die Narben.“ Rui nickte. Er richtete sich ein Stück weit auf, fuhr sich mit einer Hand über den Hals. Jetzt so langsam schien es ihm unangenehm zu werden, die Narben so offengelegt zu haben. „Das bleibt auch. Muss niemand sehen.“ Er holte tief Luft. Kehrte an seinen Platz an Kais Seite zurück und knautschte sich an ihn. Er wirkte so klein und hilfebedürftig gerade, dass Kai allen Ernstes eine große Portion schlechten Gewissens überkam, als er sich daran erinnerte, was er vor kurzem noch mit diesem kleinen, hilfebedürftigen Jungen getan hatte. Er fuhr sich in verzweifelter Resignation über das plötzlich wieder viel zu heiße Gesicht. Vielleicht war es wirklich einfach noch zu früh für solche Dinge. Viel zu früh.   Dann begann Rui zu erzählen. Völlig aus dem Nichts heraus und völlig unerwartet für Kai begann er zu erzählen. Von seinem Bruder. Von dem Tag, an dem sie einen Streit gehabt hatten, dem Tag, an dem sein Bruder ihm all die hässlichen Dinge an den Kopf geknallt hatte, von denen er bis dahin keine Ahnung gehabt hatte. Er hatte ihn geschubst, Rui war gestürzt – und direkt auf eine große, ausgesprochen zerbrechliche Vase gefallen, die entsprechend zerbrochen war. Es war die Geschichte hinter den Narben. Er hatte in die Notaufnahme gemusst. Der ganze Vorfall war mit viel Panik und vielen Tränen einhergegangen. So, wie das klang, war Rui ziemlich jung gewesen, und das machte es nur noch schlimmer. „Danach… haben wir eigentlich gar nicht mehr richtig gesprochen“, endete er schließlich leise. Seine Worte gingen fast unter in dem panischen Kreischen, das aus dem Fernseher drang. Einerseits hatte Kai den Drang, das Gerät einfach auszuschalten, andererseits schien die lärmende Geräuschkulisse Rui dabei zu helfen, frei sprechen zu können. Also ertrug er den Lärm, hielt Rui schweigend fest und wartete. Er würde merken, wenn sein Freund sich genug Ballast von der Seele gesprochen hatte. „Meine Eltern auch nicht. Wir haben da nie drüber gesprochen. Es ist einfach… passiert.“ Er zog die Schultern hoch. Kai konnte es sich nicht vorstellen. Wie konnte man so etwas geschehen lassen und es dann nicht einmal gemeinsam aufarbeiten?! Das war eine Familie! Oder zumindest hätte es eine sein sollen, und stattdessen fühlte es sich mehr an, als wären es ein paar Menschen, die zufällig im gleichen Haus lebten. Es war furchtbar. „Wir reden immer noch nicht wirklich“, fuhr Rui nach einer Weile fort, in der nur das Gemetzel aus dem Fernseher die Stille durchbrochen hatte.   Es wunderte Kai wenig. Natürlich waren Ruis Eltern darauf aufmerksam geworden, dass ihr Sohn neuerdings als Idol arbeitete. Sie hatten sich gemeldet. Kai hatte es nicht mitbekommen, weil er an dem Tag außerhalb gewesen war, aber Rui hatte ihm auf seine typisch zugeknöpfte Art davon erzählt. („Meine Eltern waren hier.“) Seitdem hatte er nichts mehr aus der Richtung gehört. Keine Details von Rui, keine weiteren Treffen. Was er jetzt hörte, klang auch nicht wirklich positiv. Sie waren in Kontakt geblieben – oberflächlich. Seine Eltern hatten ihm die Idol-Sache durchgehen lassen, auch wenn sie nicht begeistert davon gewesen waren. (Offenbar hatten sie tatsächlich vorher geglaubt, Rui sei brav auf seiner Musikschule in Übersee. „Rei hat ihnen erzählt, er hätte mich zum Flughafen gebracht.“ – Kai mochte diesen Bruder einfach nicht.) Kai verstand es nicht – sie unterstützten nicht, was ihr Kind machte. Sie kritisierten es aber auch nicht ernsthaft. Es wirkte so… egal. War das ihre Art, zu versuchen, Rui seinen Freiraum zu lassen? Wenn es das war, dann waren sie unglaublich schlecht darin. Seinen Bruder hatte Rui gar nicht mehr gesprochen, seit er weggelaufen war. Er sagte es nicht, aber Kai hatte das Gefühl, dass es ihn belastete. Er hatte so lange zu seinem Bruder aufgesehen, es musste hart sein, jetzt keinerlei Kontakt mehr zu ihm zu haben. Kai würde es ihm gönnen, dass es sich irgendwann wieder ändern möge – wenn Rei nicht so ein unglaublich unsympathischer Charakter wäre. Er wollte den Mann nicht in Ruis Nähe wissen. Er seufzte stumm, legte den Kopf in den Nacken. Die Zimmerdecke war dunkel, nur erhellt von gedämpftem, flackerndem Horrorfilmlicht. Es war nicht seine Entscheidung. Es war Ruis Leben. Ruis Glück, um das es hier ging. Und wenn es Rui glücklich machte, mit seinem Bruder reden zu können, sollte Kai das nicht trotz aller Abneigung unterstützen? „Ich kann nicht sagen, dass ich deinen Bruder allzu sympathisch finde, Rui. Aber wenn du ihn vermisst, dann lad ihn ein. Sprecht euch aus.“   „Und wenn er nichts mehr mit mir zu tun haben will?“ Kai grollte dunkel. Instinktiv drückte er Rui fester an sich. Wenn dieser Mann wirklich so dumm wäre, dann–! Er schob den Gedanken rigoros beiseite. Rui war wichtig. Nicht seine eigene Abneigung. „Dann weiß er nicht, was er an dir hat, und hat es gar nicht besser verdient. Du bist ein wunderbarer Mensch, Rui, und nur ein Dummkopf würde das ignorieren. Und ich glaube nicht, dass dein Rei so ein Dummkopf ist.“ Ein Jahr Funkstille. Ein Jahr veränderte Menschen. Wer wusste, was aus dem eifersüchtigen großen Bruder geworden war? Kai wünschte Rui, dass er sich inzwischen zu einem halbwegs erträglichen Mann entwickelt hatte. Ihm selbst wäre es beinahe lieber, wenn nicht, aber – es war nicht sein Leben. Er grinste aufmunternd, wuschelte Rui liebevoll durchs Haar. „Und du bist nicht allein. Wir stehen alle hinter dir, hm? Wenn er etwas Dummes tun will, muss er erst an uns vorbei! Und glaubst du nicht auch, Shun würde ihn verfluchen?“ Der Gedanke entlockte Rui tatsächlich sogar ein kleines Lachen. Kai strahlte ihn glücklich an. So war es besser – nicht mehr viel übrig von der bedrückten Stimmung der letzten Minuten. Rui seufzte, doch es klang nicht mehr halb so schwer, wie es hätte sein können. Er ließ sich gegen Kais Schulter sinken und schloss die Augen. Er wirkte müde. Es war spät, es wunderte Kai nicht. Es war wohl auch besser, wenn Rui bald schlief – er musste morgen früh aufstehen, und auch wenn Kai wusste, wie er den Jungen aus dem Bett bekam, das half nicht viel, wenn er dann noch so extrem müde war, dass er wie ein Zombie durchs Bad schlurfte und es einfach nicht schaffte, sich fertig zu machen. Es war ein liebenswerter Anblick, aber er war einfach kontraproduktiv. Trotzdem hatte Rui keinen Antrieb, sich in Richtung Bett zu bewegen. Er lag einfach da auf Kais Schulter, hatte die Augen geschlossen und regte sich kaum mehr. Ob er gerade einschlief?   „Du behandelst mich schon wieder wie ein Kind.“ Nicht eingeschlafen. Kai lachte leise, küsste Ruis Stirn – oder vielmehr den dichten Vorhang aus dunklem Haar, der sie verbarg. Es war das erste Mal überhaupt, dass Ruis Protest überhaupt nicht unwillig klang. „Nein.“ Rui gab einen vagen, absolut nicht überzeugten Laut von sich. Er schüttelte den Kopf, machte sich aber nicht einmal die Mühe, noch einmal aufzusehen. Er klang ohnehin, als würde er schon mehr schlafen als wach sein. „Doch. Oder wie willst du es dir sonst erklären?“ Kai lächelte zufrieden. Die Frage hätte Rui sich schon früher stellen sollen.   „Ich behandle dich wie einen geliebten Menschen, Rui.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)