Summertime Record von Puppenspieler ================================================================================ I.VI Change of Pace ------------------- Er hatte verschlafen. So heftig verschlafen, dass es Rui war, der ihn geweckt hatte, mit der völlig verdutzten Frage, ob er nicht langsam los müsste. Musste er. Eindeutig. Zumindest viel zu bald, als dass er noch entspannt fertig werden würde, und natürlich hatte er es am Abend nicht für nötig gehalten hatte, sein Zeug schon bereitzustellen. Wäre doch zu einfach.   Er verstand nicht einmal, wie er so sehr hatte verschlafen können. Das war normalerweise überhaupt nicht Kais Art! Auch wenn sie wirklich lange wachgeblieben waren. Ein überraschender, nächtlicher Regenschauer hatte zur Abwechslung doch wieder auf die Veranda hinausgetrieben. Einfach nur dort sitzen, dem Regen zusehen, und gelegentlich ein paar Worte miteinander wechseln. Es war so vertraut geworden, dass es Kai beinahe schmerzte, als ihm bewusst wurde, dass es nach Ende der frühsommerlichen Regenzeit immer rarer geworden war. Gleichzeitig freute er sich. Nächstes Jahr würde der Regen wiederkommen. Nächstes Jahr würden die ewigen Stunden auf der Veranda wiederkommen. Es war nichts, das ihm verloren ginge. Sie würden neue Angewohnheiten für den Rest der Zeit finden. Wer wusste, was für welche es sein würden, aber sie würden sie finden. Vielleicht hatte er sich in den Gedanken ein bisschen zu sehr verlaufen. Vielleicht hatte ihn die Vorstellung davon, wie sie sich im Winter gemeinsam nach einem anstrengenden Tag auf dem Sofa unter eine Decke kuscheln und Tee trinken würden – nicht zu heiß! –, zu sehr abgelenkt. Als er irgendwann von einem meckernden Kater aus seinen Träumereien gerissen wurde, hatte der Blick auf die Uhr ihm fast einen Herzinfarkt beschert.   Und dann hatte er verschlafen. Einfach so.   „Kai, wenn du so weiterrennst, fällst du hin.“ Ruis Mahnung wurde mit einer vagen Geste abgewedelt, während er versuchte, sich daran zu erinnern, was er eigentlich im Wohnzimmer gewollt hatte. Seine Klamotten waren nicht hier, und seine Bentobox genauso wenig, und– er hatte keine Ahnung mehr! Er war es nicht gewöhnt, zu spät zu sein, und er war völlig überfordert damit. Er hörte Ruis Seufzen hinter sich, als er wieder aus dem Raum polterte und in die Küche hinüberlief. Frühstück. „Du bist selbst schuld“, fügte der Junge noch hinzu, als er zu Kai aufschloss, „Wärest du mal früher ins Bett gegangen.“ „Ich weiß, ich weiß! Jetzt mach es nicht noch schlimmer, Rui!” Rui hatte keinerlei Mitleid. Grausam, wie Kai fand. Aber ein bisschen auch doch berechtigt, denn er hatte ja Recht. Es half nur alles nichts, und nach ein paar Minuten, in denen er sogar sein Portemonnaie, sein Handy und seine Arbeitstasche gefunden hatte, stand er doch wieder ziellos in der Küche – und ihm fiel ein, dass er eigentlich ein Frühstück gewollt hatte. Sein knurrender Magen erinnerte ihn daran. So ein Glück, dass er ausnahmsweise einmal Toast im Haus hatte! (Und dafür sonst kaum etwas anderes.) Rui sah ihm interessiert zu, wie er versuchte, den frisch getoasteten Toast zu buttern, ohne sich die Finger dabei zu verbrennen. Wenn Kai es nicht besser wüsste – wusste er das wirklich? –, dann würde er fast glauben, er wäre schadenfroh.   Rui lachte, als der Toast ihm aus den Fingern fiel vor Hektik. Eindeutig schadenfroh.   Für den heutigen Tag war er als Umzugshelfer engagiert. In einem recht großen Umfang sogar; fünf oder sechs Personen, er hatte es sich nicht gemerkt, die in ein großes Wohnheim zogen. Mit Aufzug, aber sperrige Teile würden sie trotzdem über die Treppe manövrieren müssen. Es klang anstrengend. Es klang noch anstrengender, nachdem ein Blick nach draußen zeigte, dass der nächtliche Regen längst wieder grellem Sonnenschein gewichen war. Positiv: Yamato konnte wieder hinaus. Negativ: Kai würde eingehen vor Hitze. Noch negativer: Es würde spät werden, bis er wieder heimkam. Zu spät, um dann noch einzukaufen. Kai seufzte geschlagen, schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als ihm bewusst wurde, wie sehr sein Plan gerade in die Hose ging, vor dem Arbeiten noch einkaufen zu gehen. Großartig! „Kai?“ – „Ich hab vergessen, dass ich heute früh einkaufen wollte.“ „Ich kann doch gehen.“ „Sicher?“ Kai hob die Augenbrauen, ehrlich besorgt. Rui war… na ja. Winzig. Schwach, und das war keine Übertreibung. Kai wollte ihm eigentlich nicht aufdrücken, schwere Einkaufstüten zu schleppen, wenn es nicht absolut dringend nötig war. Und eigentlich konnte man es sicher auch noch einen Tag hinauszögern, also… Aber Rui nickte, sehr entschlossen. „Ich kann ein bisschen Zeug schleppen. Dafür muss man nicht so idiotisch stark sein wie du.“ „Okay, okay! Verstanden! Du kannst Zeug schleppen. Einkaufszettel liegt im Flur.” Er lächelte gutmütig, wuschelte Rui sanft durchs Haar. Der Junge schob unwillig seine Hand wieder weg. „Hör auf damit. Ich bin kein Kleinkind.“   „Ich weiß, Rui.“ „Dann behandel mich nicht so.“ Er verzog trotzig das Gesicht. Kai öffnete den Mund, um zu protestieren, doch Rui schnitt ihm mit einem entschiedenen Kopfschütteln das Wort sofort wieder ab. „Ich will–“, begann Rui, brach dann aber augenblicklich wieder ab. Gestikulierte vage. Hob die Schultern, ließ sie recht bald wieder resigniert sinken und seufzte. „Helfen. Ich mag es nicht, dass ich mich nur wie eine Last fühle. Und damit meine ich nicht nur Kleinigkeiten, wie dir Gesellschaft zu leisten, wenn du verlorene Hunde und Katzen suchst, oder mal ein bisschen einkaufen.“ „Rui…“ Kai lächelte mitleidig, entschuldigend. Behutsam legte er eine Hand unter Ruis Kinn und hob es an, damit der Junge ihn direkt ansah. Er hatte nicht gewusst, dass es Rui so sehr belastete. Wie auch? Es war das erste Mal, das es so direkt zur Sprache kam.   Es war… irgendwie süß. Er verstand zwar nicht, wo genau das ausgerechnet jetzt herkam, hatten sie die Kleinkind-Diskussion doch öfter, aber Kai war froh, dass es rausgekommen war. „Mach dir keine Sorgen darum, ja? Du bist mir keine Last, Rui. Ich hab dich gern bei mir! Und es ist genug, was du tust. Ehrlich. Und! Ich schwöre dir hoch und heilig, ich würde dich niemals wie ein kleines Kind behandeln.“ Er besiegelte den Schwur mit einem Kuss auf Ruis Lippen. Im ersten Moment war er recht sicher, dass er keine Reaktion bekommen würde, denn er bekam sie selten, wenn Rui noch beleidigt war – doch sie kam. Ruis Hände griffen sacht in sein Oberteil, warme Lippen drückten sich seinen entgegen. Kai erschauderte unwillkürlich, sein Herz setzte einen kurzen Moment aus. Sein Daumen griff sanft an Ruis Kinn, ein leichter Druck, der genügte, damit er die Lippen für Kais Zunge öffnete. Er konnte sich völlig darin verlieren. Rui zu küssen, zu berühren, festzuhalten. Seinen warmen Atem zu spüren, der über seine Lippen kitzelte. Es reichte, um ihm Hitze durch den ganzen Körper zu jagen und jeden Herzschlag schmerzhaft intensiv werden zu lassen.   Es kostete ihn jedes Mal wieder viel zu viel Mühe, sich zu lösen. Meist war es Rui, der den Kuss beendete, so auch dieses Mal. Als Kai die Augen wieder öffnete, sah er leuchtende Augen, rote Wangen und feuchtgeküsste Lippen – ihm wurde nur noch heißer. Er atmete tief durch und schob konsequent den Gedanken daran beiseite, wie gern er das hier vertieft hätte. Rui war einfach wunderschön, und Erröten stand ihm. Kai hatte keinen Zweifel daran, dass ihm noch mehr Farbe nur noch besser stehen würde. Aber daran wollte er nicht denken. Er wusste, wie es endete. (In kalten Duschen.) „Kai. Musst du nicht los?“   Er musste los. Schon seit einer ganzen Weile. Mit einem panischen Japsen schnappte er sich seine Arbeitstasche, vergaß seinen Toast kaum angebissen auf der Arbeitsplatte und stürmte aus dem Haus. Ruis Seufzen hörte er noch im Hinausrennen.     ***     „Kannst du singen?“   Kai blinzelte. Verdutzt. Es war früher Nachmittag, endlich Zeit für die erste Pause des Tages. Er hatte sich in der Lobby des Wohnheims verschanzt, um sich ein wenig vor der Gluthitze draußen zu schützen, saß auf einem modischen Ledersofa im Aufenthaltsbereich. Vor ihm stand ein gut gebauter Mann um die dreißig, würde Kai schätzen, der trotz der Hitze einen ordentlichen Anzug trug – sogar mit Krawatte. Er grinste ein gutgelauntes, ansteckendes Grinsen. Kai wusste nicht mehr über ihn, als dass er Mitarbeiter der Produktionsfirma war, für die sie gerade den Umzug einer Idol-Gruppe durchführten. Immerhin mussten sie das Zeug nur von den Umzugswägen aus ins Haus schleppen, und nicht noch jede Fuhre selbst fahren. Das machte es um einiges erträglicher, auch wenn es trotzdem unglaublich anstrengend war; so viele Möbel! Kein Wunder, bei insgesamt sechs jungen Männern, die Kai zumindest einmal flüchtig gesehen hatte, ehe sie schwatzend im Wohnheim verschwunden waren; die Truppe sah bunt aus. (Wortwörtlich. Einer der kleinsten hatte rosafarbenes Haar!) Er hatte geplant, ein paar Minuten zu entspannen, seine Bentobox zu leeren, und sehr, sehr viel zu trinken, bevor er sich wieder an die Arbeit machte – er hatte nicht geplant, Smalltalk mit einem Mitarbeiter zu führen.    „Bitte?“ Der Kerl lachte freundlich. Er ließ sich weit lockerer, als sein Auftreten vermuten lassen würde, auf den Sessel schräg gegenüber von Kai fallen. „Ob du singen kannst, Fuzuki-Kun.“ „Ich… denke?“ Kai lachte, halb amüsiert, halb hilflos. Was wurde das denn? Er hatte eigentlich nur seine Pause machen wollen, und jetzt das? Sein Gegenüber störte sich immerhin nicht sonderlich an seiner Verwirrung, lächelte nur gewinnend. Er lehnte sich ein Stück vor, in einer Bewegung, die irgendwie vertraulich wirkte; Kai fand ihn sympathisch. Er erinnerte ihn eher an eine Art von großem Bruder als einen knallharten Geschäftsmann. „Weißt du, du gefällst mir. Deine Ausstrahlung ist wirklich mitreißend! Hast du schon einmal über eine Zukunft als Idol nachgedacht?“ Nein. Kai hatte nicht über eine Zukunft als Idol nachgedacht. Warum auch? Er starrte entsprechend entgeistert in das grinsende Gesicht des Mannes. „Oh. Ich hab  mich gar nicht vorgestellt, oder? Hier.“ In selbstverständlicher Routine holte er eine Visitenkarte aus der Sakkotasche, reichte sie an Kai weiter. Sein Name, vorausgesetzt, er las die Kanji richtig, war Kurotsuki Dai. „Kurotsuki-San?“ – „Genau. Also, wo waren wir? Genau. Bei deiner Zukunft als Idol.“ Kai öffnete den Mund, nicht recht sicher, was er sagen sollte. Er kam auch nicht dazu, allzu viel hervorzubringen, denn Kurotsuki sprach weiter. Erzählte, dass er kürzlich erst den Job als Manager angenommen hatte, nachdem er vorher eigentlich eher als Bodyguard bei Tsukino Talent Production gearbeitet hatte. Es klang abenteuerlich, und allein wegen der verrückten Erzählung war der Mann Kai gleich noch sympathischer. „Momentan bin ich dabei, mir meine erste eigene Gruppe zusammenzucasten. Bisher recht erfolgreich, aber es fehlt einfach noch einiges – und ich denke, du würdest gut zu den bisherigen Mitgliedern passen. Also, was meinst du?“   Kai meinte gar nichts. Er schüttelte überfordert den Kopf. Sein Herz raste. Ein großer Teil von ihm wollte einfach nur ja sagen, sich auf dieses neue Abenteuer einlassen, denn es klang einfach nur großartig. Und aufregend. Und neuartig. Und genau nach etwas, das Kai einfach wunderbar finden würde. Aber da war ein kleiner Teil in ihm, der sofort ganz andere Sorgen hatte – Sorgen, die bedeutend lauter waren als Kais Abenteuerdrang. Rui. Er grinste sehr schief, schüttelte langsam den Kopf. Er würde Rui nicht alleine lassen – und genau das wäre es. Wie sollte er in irgendein Wohnheim ziehen, wissend, dass Rui dann keinen Platz nirgendwo mehr haben würde? Rui brauchte ihn. Kai brauchte vor allem Rui, und ohne ihn würde er nirgendwo hingehen. „Tut mir Leid, Kurotsuki-San, aber ich kann meinen Mitbewohner nicht so einfach im Stich lassen.“ Der fremde Mann sah ihn einen langen Moment überrascht an, dann grinste er, halb amüsiert, halb unwillig. „Das macht dich nicht unsympathischer, Fuzuki-Kun.“ Kai wollte auch nicht unsympathisch sein! Es tat ihm auch Leid, aber– er konnte nicht. Nicht ohne Rui, niemals ohne Rui.   Es war so eine riesige Chance. Er seufzte schwer, begann mit der Wasserflasche zu spielen, die er seit Beginn des Gesprächs immer noch in den Händen hielt. Wenn er Rui einfach mitbringen könnte– „Ah! Kurotsuki-San, Sie sagten, Sie suchen noch mehrere Leute, ja?“ Der Mann nickte, wenn er auch eher skeptisch aussah. Kai ließ die Wasserflasche achtlos in seine Tasche plumpsen, zog dann sein Handy daraus hervor. Er machte nicht oft Fotos, entsprechend brauchte er nicht lange, um das Bild zu finden, das er suchte – und es dann dem Manager zu präsentieren. Er grinste breit, als er sah, wie Kurotsukis Blick sofort erstaunt größer wurde. „Mein Mitbewohner“, begann er atemlos zu erzählen, „Er mag Musik! Spielt Klavier. Braucht man als Idol zwar nicht, aber der Punkt ist, Musik ist sehr genau sein Ding! Vielleicht–“ Vielleicht was auch immer – Vielleicht wollte Kurotsuki ihn zumindest für ein Vorstellungsgespräch in Erwägung ziehen? Kai blickte den Mann hoffnungsvoll an, abwartend, das Handy immer noch in der Hand, unruhig, reglos. Nach einem Moment, der einfach entschieden zu lange dauerte, begann Kurotsuki breit zu strahlen und er klatschte vergnügt in die Hände. „Warum nicht? Er sieht interessant aus! Und du bist mir wirklich sympathisch, junger Mann. Bring ihn mit.“ Er lachte herzlich. „Kann nicht mehr als schief gehen, und dann bringen wir es trotzdem dazu, dass es läuft! Meine Jungs sollen Persönlichkeit haben, nicht perfekt funktionieren.“   „Ist das wirklich Ihr Ernst?“ Kai konnte es nicht glauben. Es klang viel zu einfach. So… perfekt. Er konnte diese Chance annehmen. Rui bei sich behalten. Und hatte Rui sich nicht etwas zu tun gewünscht? Das war doch genau richtig dafür! Und es war Musik. Kai hätte niemals alleine die Möglichkeit, Rui irgendwie Zugang zur Musik zu verschaffen, aber hier– das war eine unglaubliche Gelegenheit! Für sie beide. Zusammen. Er schluckte, starrte Kurotsuki riesig an, als der lachend noch einmal bestätigte, dass ja, das sein voller Ernst war.   Es war ein riesiges Chaos, es ging viel zu schnell, und Kai fühlte sich völlig überfordert. Sie unterhielten sich noch mehr als eine Stunde lang. Von seinem eigentlichen Job wurde Kai freigesprochen, um die Details ihres neuen Arrangements zu diskutieren. Er war sich nicht sicher, ob er alles verstand, aber Kurotsuki war geduldig mit ihm und erklärte ihm jedes Detail notfalls auch dreimal, wenn er es nicht auf Anhieb begriff. Im Endeffekt klang es dann sogar sehr simpel – sie machten einen Termin aus, um die Verträge zu unterschreiben und sobald die Band vollständig zusammen war, würden auch sie in dieses riesige Wohnheim ziehen. Bis dahin würde es bereits erste Crashkurse in Tanz und Gesang geben. Kai war dankbar darum. Er hatte nie bewusst irgendetwas Musikalisches in seinem Leben gemacht. Kurotsuki war optimistisch, dass mit ein bisschen Übung jeder lernen konnte, was nötig war, um ein Idol zu sein, und betonte noch einmal, wie viel wichtiger es ihm war, dass seine Jungs sich durch ihre Persönlichkeit von der Masse abhoben.   Nach dem Gespräch wurde Kai dann entlassen. Er hatte seinen Termin hinten auf die Visitenkarte gekritzelt bekommen, zusammen mit einer privaten Handynummer, falls etwas dazwischenkommen sollte und Kurotsuki nicht auf anderem Wege zu erreichen war. So verdreht es alles war, es fühlte sich unglaublich real an – und das machte es nur noch überwältigender. Ihm war schwindelig, als er aus dem Gebäude trat. Die Hitze, die ihm draußen entgegenschlug, machte es kaum besser und er schüttelte verwirrt den Kopf. Er lachte überfordert auf. Das war kein Traum. Das war wirklich passiert!   Er konnte es nicht erwarten, es Rui zu erzählen! Er wollte ihn umarmen und küssen und durch die ganze Wohnung wirbeln vor Freude.     ***     Dass er die U-Bahn nehmen musste, um nach Hause zu kommen, zwang ihn, zumindest ein bisschen ruhiger zu werden in aller Aufregung. Sein Herz raste immer noch, und sein Kopf schmerzte vor lauter Aufregung – er fühlte sich großartig. Bis über beide Ohren grinsend sah er auf sein Handy hinunter, das er vorsorglich so hielt, dass niemand so leicht draufschauen konnte. Er hatte das Foto niemals gemacht, um es jemandem zu zeigen, aber jetzt war er unglaublich froh darüber, dass er es doch getan hatte.   Es war aber auch atemberaubend schön.   Er hatte das Bild vor einigen Tagen erst gemacht. Nachdem er sich wieder und wieder morgens gedacht hatte, wie unglaublich schön Rui aussah, wenn er gerade langsam aus dem Schlaf erwachte, hatte er schon lange das stille Bedürfnis gehabt, es für die Ewigkeit festzuhalten. Er hatte es ziemlich lange doch gelassen, aber irgendwann war seine Vernunft einfach besiegt gewesen. Das Handy fotografierbereit auf dem Nachttisch hatte er Rui also schließlich geweckt, wie er es jeden Morgen tat – mit liebevollen Berührungen und zarten Küssen, bis er sich langsam regte und schließlich die Augen aufschlug. Der Anblick war unglaublich gewesen. Überwiegend vergraben im weißen Bettzeug, eine Hand lose in die Bettdecke gekrallt, das hübsche Haar ein wirrer Vorhang, der ihm in die Stirn fiel und sich bis aufs Kissen ausbreitete. Mit dem grellen Sonnenlicht, das durchs Fenster hineinfiel, sah es beinahe aus, als würde Rui leuchten. Er hatte ein Auge zugekniffen, das andere sah völlig träge und desorientiert in die Kamera, letzte Spuren an Röte auf seinen Wangen erzählten von den Küssen, die sie gerade noch geteilt hatten. Kai hatte ihn, kaum, dass er sein Foto gemacht und das Handy achtlos ans Fußende des Bettes gepfeffert hatte, gleich noch einmal geküsst. Und nochmal. Und dann hatte er einen mahnenden Klaps auf den Hinterkopf kassiert, weil es Rui zu viel geworden war, und er hatte lachend von ihm abgelassen. So, wie er es immer tun würde. Er starb lieber als alte Jungfer, als Rui irgendetwas anzutun, das er nicht wollte. (Bisher war es leicht. Kai hatte genug Selbstkontrolle, und wo Selbstkontrolle nicht mehr half, half kaltes Wasser.)   Die ganze Fahrt über grinste er auf das Bild hinunter und erst mit dem Aussteigen steckte er das Handy zurück in seine Tasche. Sein Puls hatte sich ein bisschen beruhigt – aber auch nur so lange, bis er aus der U-Bahn gestiegen war und in unnötig schnellem Tempo den restlichen Heimweg antrat. Er hatte keine Ahnung, wie Rui reagieren würde. Entgeistert, vermutlich, zuerst einmal – so wie Kai selbst reagiert hatte. Würde er sich freuen? Kai konnte sich nicht vorstellen, dass er sich nicht freuen würde. Es war Musik! Das allein sollte ein positives Argument sein. Und es war etwas zu tun. Und sie konnten zusammenbleiben. Im Endeffekt war es auf lange Sicht sogar besser so, da war Kai sich relativ sicher. Es war ein guter Anfang für Rui, einen eigenen Platz im Leben zu finden, und Kai konnte trotzdem bei ihm bleiben und ihn unterstützen, auf ihn aufpassen.   Im Hausflur angekommen stolperte er geradezu über seine eigenen Füße, als er die Schuhe abstreifte. „Bin zuhause!“, rief er laut in die Wohnung hinein. Yamato war wohl draußen, sonst wäre er längst zur Begrüßung gekommen, dafür kam Rui heran, der relativ erschöpft vom Einkaufen aussah – und verblüfft. „Du bist früh. Was war das denn für ein Umzug?“ Kai lachte unwillkürlich auf, völlig überwältigt, immer noch. Er griff nach Ruis Händen und zog ihn näher zu sich, küsste ihn flüchtig auf den Mund. „Unserer!“ „…was?“ Rui schüttelte den Kopf. Er trat einen Schritt zurück, um Kai stirnrunzelnd anzusehen, doch er zog seine Hände nicht zurück, und das reichte, dass Kai einfach weiterstrahlte. „Du ergibst keinen Sinn, Kai. Du redest wirres Zeug. Ist dir ein Schrank auf den Kopf gefallen und du bist deshalb schon zurück?“ Er schüttelte den Kopf, lachend. Zog Rui doch wieder näher an sich und in eine feste, ziemlich klebrige Umarmung. Gerade konnte er sich gar nicht daran stören.   Sie würden umziehen. Gemeinsam. Raus aus der ersten eigenen Wohnung. Sie hatte nicht einmal ein Jahr gehalten. Was für ein seltsamer Gedanke! Kai würde sie ein bisschen vermissen, wenn er ehrlich war. Die Wohnung, und vor allem die Veranda. Sie würden einen neuen Platz finden, um die Abende zu verbringen, hoffte er zumindest innig. Und auch wenn er der großen Veränderung zumindest mit einem weinenden Auge wegen dem sentimentalen Wert der Wohnung entgegensah, er war trotzdem überglücklich. Er packte Rui fester, wirbelte ihn lachend durch den Flur. „Kai, was soll das? Wah–! Hör auf! Kaiiii!“ Er hörte auf, lachend, ließ sich gegen die Wand sacken, während er Rui immer noch hochgehoben hielt. Der Junge sah auf ihn hinunter, stirnrunzelnd, mit geröteten Wangen, und Kai hatte nicht das Gefühl, dass Rui ihm wirklich böse wäre. Er reckte sich zu einem Kuss zu ihm hoch, der viel stürmischer ausfiel, als er es eigentlich geplant hatte. Trotz eines zuerst eher überrumpelten als begeisterten Laut erwiderte Rui den Kuss schließlich, beide Hände in seine Schultern gekrallt. Kai küsste ihn so lange, wie er es aushielt, doch irgendwann mussten all die wirren Worte einfach aus ihm heraus und er löste sich, strahlte Rui voller Glück und Liebe an.   „Wir ziehen um. Gemeinsam“, war der Beginn der Kaskade, und dann war Kai nicht mehr ruhig zu kriegen – zumindest solange, bis Rui ihn unterbrach.   „–was für ein Foto bitte?!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)