Summertime Record von Puppenspieler ================================================================================ I.IV Happy Birthday ------------------- Die bunte Karte, die im Flur auf dem Schuhschrank lag, erinnerte ihn erst daran. Er hatte Geburtstag. Kai lachte unwillkürlich auf, als ihm seine eigene Dummheit bewusst wurde. Er war schon immer gut darin gewesen, seinen eigenen Geburtstag zu verdusseln – den Geburtstag seiner Geschwister oder Eltern oder Freunde hingegen vergaß er nie! Er würde nicht einmal lange nachdenken müssen, um sich noch an den Großteil der Geburtstage seiner Schulfreunde zu erinnern. (Nicht, dass die so lange her waren. Er war doch auch erst seit diesem Jahr fertig mit der Schule.) „Ich bin zuhause!“ Sein Ruf verhallte unbeantwortet. Es war nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich war eher, dass Yamato nicht schon angetrippelt kam. Ungewöhnlich war auch, dass Rui ihn nicht begrüßen kam; seit ein paar Tagen hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, ihn noch im Flur zu begrüßen und knapp nachzufragen, wie sein Tag gewesen war. Kai liebte es. Jeden Tag mehr fühlte sich Rui weniger wie ein Fremder und mehr wie ein Freund an, der völlig unersetzlich geworden war.   Verwirrt darüber, dass er weder Katze noch Herrchen fand, lief er durch die Wohnung, wobei er seine Arbeitstasche in der Küche abwarf, weil da eine schmutzige Bentobox gespült werden wollte. Ein Blick in die Ecke, die Yamato für sein Futter bekommen hatte, zeigte, dass der Napf des Katers gefüllt war. Sein Shirt, vollgeschwitzt und fies, pfefferte er im Bad in den Wäschekorb, nachdem er ohnehin gleich duschen gehen wollte. Im Wohnzimmer erblickte er ein offenes Fenster statt offener Verandatür. Ein sorgfältiges Podest aus alten Büchern, die er nicht mehr brauchte, die innen wie außen auf der Fensterbank stapelten, ermöglichten Yamato das hinein– und hinauskommen. Es war eine Idee gewesen, wie sie Yamato seine Freiheit lassen konnten, auch für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie beide nicht zuhause waren. Also war Rui unterwegs. Kai schüttelte ungläubig den Kopf. Es war heiß draußen. Viel zu heiß für Rui, und außerdem wüsste er nicht, warum er so dringend hätte losmüssen sollen. Fehlte irgendwas? Kai war sich sicher, dass der Kühlschrank voll genug war. „Na. Er kommt schon wieder.“ Rui wusste, wo der Ersatzschlüssel war. Ein Blick in den kleinen Topf in der Küche zeigte, dass besagter Schlüssel auch nicht mehr dort war – also würde Rui problemlos hereinkommen, wenn er wiederkam, egal, was Kai gerade machte. Er wollte nämlich wirklich unter die Dusche.   Etwas, das sein klingelndes Handy ihm eindeutig nicht gönnte.   „Ich komme!“, rief er dem bimmelnden Gerät zu, lachend, resignierend. Es konnte nur seine Familie sein, und er freute sich über den Anruf, aber an ihrem Timing mussten sie noch einmal arbeiten! Mit dem Handy am Ohr  ließ er sich auf der Sofalehne nieder. Es tat gut, die vertrauten Stimmen zu hören. Kai hatte regen Kontakt zu seiner Familie, selbstverständlich, doch zu seiner Schande musste er feststellen, dass Rui ihn so sehr von aller normalen Routine abgelenkt hatte, dass er seit Ende Juni die Familienkontakte ein bisschen vernachlässigt hatte. Sei das übers Telefon, oder indem er gleich vorbeiging und mal hallo sagte, wenn die Arbeit ihn zufällig in die Nähe des tokyoter Wohnsitzes führte. Entsprechend seiner Schludrigkeit erwartete man nun Rechenschaft von ihm. Kai erzählte insgesamt sieben Mal die Geschichte, wie er Rui kennengelernt und von der Straße aufgesammelt hatte. Die Reaktionen waren unterschiedlich. Seine Mutter lachte, und er war sich absolut sicher, dass sie die Augen verdrehte, als sie verkündete, wie absolut typisch das doch war. Sie mahnte ihn, dass er gefälligst aufpassen und seinen Mitbewohner gut behandeln sollte, und wenn er wollte, könne er ihn ruhig mal zum Abendessen mitbringen. Sein Vater brummte etwas davon, dass er einfach zu nett war, aber so wenig kritisch, wie er dabei klang, konnte Kai es nicht wirklich als negative Aussage nehmen. Für seine Brüder war ein neuer Mitbewohner kein Grund, den Familienfußball zu vernachlässigen. Seine jüngere Schwester, die gerade in das Alter kam, in dem Jungs interessant wurden, wollte nur wissen, ob er süß war – als Kai bestätigte, begann sie hemmungslos zu kichern, so sehr, dass am Ende das zweite Mädel im Haus ihr den Hörer aus der Hand riss. Ihre Reaktion war wenig unerwartet. „Du bist hoffnungslos, Kai-Nii“, seufzte sie, theatralischer als nötig, und obwohl Kai sie nicht vor Augen hatte, wusste er ganz genau, was für ein Gesicht sie gerade machte. Er lachte, und obwohl er versuchte, seine Ertapptheit damit zu überspielen, klang er am Ende nur noch ertappter. Sie seufzte noch einmal. „Im Ernst?“, fragte sie schnaufend. „Hey!“ „Das ist doch… Argh! Dein Geschmack wird auch mit dem Alter nicht besser, huh?“ „Nichts gegen meinen Geschmack!“ Jetzt war es Nagi, die lachte. Herzlich. Warm. Liebevoll. „Du weißt, was ich meine.“ Er wusste es. Und so gern er ihr widersprechen würde, ihm war selbst bewusst, dass er eine eigenwillige Art hatte, was solche Sachen anbelangte. Er bereute es trotzdem nicht, auch wenn es ihm schon viel Herzschmerz eingebracht hatte. Er seufzte amüsiert, grinste sein Handy schief an. „Im Ernst, Schwesterchen.“   Sie rollte mit den Augen. Er hörte es, und es brachte ihn zum Grinsen. Sie erzählte noch ein paar Minuten von ihrem aktuellen Schulkummer, dann reichte sie das Telefon an jeden weiter, der sich noch einmal verabschieden wollte. Als das Handy endlich still war, fühlte Kai sich ein bisschen verloren in der Einsamkeit seiner Wohnung. Einerseits wäre er gern zuhause geblieben. Andererseits hatte er es einfach nicht gewollt. Er hatte selbstständig werden wollen, und das ging eben nicht, wenn Mama und Papa da waren, um hinter einem herzuräumen! Es war gut, wie es war. Und er würde Rui die Einladung weitergeben. Mal gemeinsam zuhause vorbeizuschauen klang eigentlich wirklich schön.     ***     Nach der Dusche führte Kais Weg ihn immer zuerst zum Kühlschrank. Nur bekleidet mit einer losen Jogginghose und einem Handtuch um die nackten Schultern verging er sich wieder einmal an der Milch. Es gehörte einfach dazu. Er konnte nicht  mehr rekonstruieren, wo die Angewohnheit herkam, aber schon seit Jahren brauchte er einfach eine große Portion Milch, wenn er aus dem Bad kam. Als er die Milchpackung in den Kühlschrank zurückstellte – er hatte sich gar nicht die Mühe gemacht, ein Glas zu nehmen. So eine Packung hielt maximal drei Tage, da machte es auch nichts, wenn eine für den allgemeinen Gebrauch, und eine für seine Nachduschbedürfnisse gleichzeitig geöffnet waren –, bemerkte er erst, dass auf dem Küchentisch eine kleine Schachtel stand. Er blinzelte verwirrt, sehr sicher, dass die eben noch nicht da gewesen war, schon allein, weil seine Arbeitstasche den Platz eingenommen hatte. Apropos, und wo war die? Auf einem der Stühle, zeigte ein zweiter Blick. Das hieß, offensichtlich, Rui war wieder zuhause. Freude wärmte Kais Gesicht ein bisschen mehr als nötig bei dem Gedanken. „He, Rui? Bist du da?“ Die Frage war überflüssig, irgendwie, und er bekam auch keine Antwort, wie sich das für überflüssige Fragen eben gehörte. Er schüttelte amüsiert den Kopf, immer noch das Päckchen auf dem Tisch betrachtend. Was war das? Sah aus wie eine kleine Kuchenschachtel, wenn er es recht bedachte. Wenn Rui etwas gesagt hätte, er hätte Kuchen von der Arbeit mitbringen können!   Er bemerkte Rui erst, als der Junge hinter ihm stand, die Arme um seinen Oberkörper geschlungen. Rui war viel zu warm, der Stoff seines dünnen Oberteils kitzelte unangenehm auf Kais Haut. Er unterdrückte mühevoll ein Erschaudern. Rui hinter ihm war still, Kai wusste noch weniger etwas zu sagen. Er war vollauf konzentriert darauf, wie heiß sich Ruis Berührungen in seine Haut brannten, eine Hitze, die sich immer weiter ausbreitete, bis sie ihm zu Kopf stieg. Sein Rücken kribbelte bis zum Nacken hoch. Etwas kitzelte ihn. Eine so zarte Berührung, dass es fast ein Windhauch sein könnte; er war sich nicht sicher, ob es Ruis Haar oder sein Atem war. Obwohl er sich extrem unkonzentriert fühlte, dämmerte ihm langsam, was es mit dem Päckchen auf sich hatte. Es war nicht, als hätte die Geburtstagskarte sich von allein aus dem Briefkasten auf den Schuhschrank manövriert, nicht wahr? Seine Lippen verzogen sich zu einem breiten Lächeln, während er behutsam seine Hände auf Ruis legte. Sie wirkten so winzig im Vergleich. Ruis Finger regten sich, zuckten erst ziellos, dann schoben sie sich in die Zwischenräume zwischen seinen eigenen. Sie standen da. Reglos, für wie lange, das wusste Kai nicht, doch er genoss jede Sekunde. Irgendwann regte Rui sich doch wieder, entzog ihm ganz langsam seine Finger und löste sich von ihm. Mit einem Schlag wurde Kai viel zu kalt und er schauderte. Seine Haut brannte noch nach, dort, wo Rui sie berührt hatte, aber gegen die jähe Kühle half es kaum. Als er sich umdrehte, sah der Junge zu ihm auf. Kai bemerkte, dass das Haar ihm in der Stirn klebte; er musste eine gute Weile unterwegs gewesen sein in der brütenden Hitze. Für ihn.   „Ich habe kein Geschenk.“   Es war gleichermaßen Feststellung wie Entschuldigung. Kai schüttelte den Kopf, strich Rui sanft über die klammen Haare, strich ein paar störende Strähnen aus seinem Gesicht. Seine Stirn, jetzt freigedeckt, war kaum merklich gerunzelt. „Alles gut. Ich bin glücklich!“ Ruis Stirnrunzeln vertiefte sich. Er sah nicht überzeugt aus. Seine Mundwinkel verzogen sich kaum merklich, ein stummer Protest, den Kai erstickte, ehe er Laut annehmen konnte, indem er ihm einen Finger auf die Lippen legte. (Sie waren spröde, bemerkte er. Nicht sehr, aber spürbar. Sein Magen krampfte heiß zusammen.) Er brauchte kein Geschenk. Er war glücklich, weil Rui an ihn dachte, weil er offensichtlich wichtig war für diesen wunderschönen Jungen, und was sollte er mehr wollen? Ruis Blick ruhte immer noch auf ihm, abwartend, aber das Stirnrunzeln war verschwunden. Kai fühlte sich furchtbar, aber alles, woran er gerade wirklich denken konnte, war, wie gern er ihn küssen wollte. Entschlossen, seine Selbstkontrolle nicht weiter zu foltern, zog er den Finger wieder zurück. Es machte nicht viel besser, dummerweise.   „Kai. Willst du irgendetwas machen?“ Ja. Aber darüber reden wir nicht, okay? Er grinste schief, hilflos. Wollte er etwas machen? Ihm würde sicher einiges einfallen, angefangen damit, einfach hinaus zu gehen und die Sonne zu genießen, aber Rui mochte die Hitze eben nicht! Aber vielleicht gab es da einen Kompromiss… Letztlich war Kai gern draußen und in Bewegung, egal zu welcher Tageszeit. Außerdem war er morgen auch wieder erst gegen Mittag weg, weil seine Auftraggeber vorher nicht da waren, um ihm die nötigen Informationen zu übergeben; das bedeutete, er konnte relativ gut ausschlafen, musste sich nicht darum sorgen, dass er am Ende viel zu wenig Schlaf bekam. Er funktionierte zwar auch mit wenig Schlaf, aber es konnte ausgesprochen anstrengend sein. Und einen Hund zu suchen klang nicht nach etwas, das Kai tun wollte, wenn er gedanklich noch halb schlief. (Es war ein spontaner Eilauftrag gewesen, der sich im Laufe des Tages erst ergeben hatte. Ade, freier Tag, aber es war eine Kundin gewesen, die Kai sehr gern hatte, und überhaupt hätte er niemals nein sagen können, wenn es darum ging, zu helfen. Und noch dazu einem womöglich ganz dumm verlaufenen Hund.) Rui sah ihn fragend an, fast drängend. Er wollte seine Antwort.   „Was hältst du von einem Nachtspaziergang?“     ***     Die Gegend, in der Kai lebte, war ruhig, sobald man eine gewisse Uhrzeit überschritt. Diese Uhrzeit überschritten waren die Straßen weitgehend ausgestorben, als er mit Rui an seiner Seite schließlich hinausging. Es war spät – eigentlich spät genug, dass Rui schon das Bett anpeilen würde, aber dafür war immerhin die Temperatur so weit gesunken, dass man nicht nach wenigen Sekunden schon völlig verklebt war. Hin und wieder wehte eine laue Brise, ein leises Flüstern in Büschen und Bäumen, während das Zirpen der Zikaden dafür sorgte, dass es trotz Menschenleere einfach nicht still war. Kai mochte es. Rui sah zumindest nicht aus, als würde er es nicht mögen, und das war genug für Kai, um zufrieden zu sein. Sein Ziel war ein kleiner Park, der einige Straßen weiter lag. Es war nicht viel. Eine größere Grünfläche, ein paar unbefestigte Wege, hübsch bepflanzt mit Hortensien. An einem Ende war ein ebenfalls kleiner Spielplatz, der im Wesentlichen aus einem typischen Spielplatzkarussell, ein paar Schaukeln und einem Sandkasten bestand. Es war in jedem Fall ein hübscherer Anblick als die Straßen, auch wenn die ganze Gegend hübsch, ordentlich und gepflegt war – und nicht zu sehr betondschungelig, was für Kai auch ganz wunderbar war. Zwischen Hochhäusern und Plattenbauten fühlte er sich nur eingeengt, ganz gleich, wie sehr er als Stadtkind aufgewachsen war.   Sie liefen schweigend nebeneinander her. Langsamer, als Kai es gewöhnt war, weil Rui einfach langsamer war, weil die durch die geringere Körpergröße bedingt kürzeren Beine einfach nur kleinere Schritte zustande brachten.  Immer wieder warf er unauffällig einen Blick zur Seite – Rui sah zu Boden, bemerkte ihn nicht. Im Licht der Straßenlaternen, deren künstlich gelber Schein die Straßen erhellte, wirkte er wie ein gänzlich anderer Mensch, in Farben gehüllt, die sonst überhaupt nicht zu ihm gehörten. Ein Sonnenuntergang würde Rui unglaublich gut stehen. Ein Sonnenaufgang mit Sicherheit auch, das grelle Gold, das sich über den Horizont schob, um die Welt in Licht zu tauchen. Kai wollte es sehen. Sonnenaufgänge. Sonnenuntergänge. Kalte Wintertage und Schneeflocken, die sich in Ruis dichtem Haar verfingen, während sein Atem in kleinen weißen Wölkchen in der Luft zerstob. Herbststürme, die die ordentliche Frisur völlig zerwühlten, beißende Winde, die die Wangen rot vor Kälte zurückließen… Zusehen, wie Rui abends einschlief. Morgens aufwachte. Wie er hinaus in den Regen sah, als fände er in den nassen Schlieren Geheimnisse, die niemand sonst kannte. Beobachten, wie er mit Yamato spielte, eine seltene Gelegenheit, zu der er mehr mimische Regung zeigte als für gewöhnlich. Yamato entlockte ihm so oft ein Lächeln. Hoffnungslos, erinnerte ihn seine Schwester wieder einmal, mit dieser Stimme, die ihr Augenrollen so wunderbar verbalisierte. Kai lachte herzlich, unwillkürlich auf. Ruis Blick wanderte zu ihm, er legte fragend den Kopf schief. Im Licht der Straßenlaternen glühten seine Augen golden. Kai mochte die übliche, undefinierbare Farbe noch mehr. „Ich bin hoffnungslos“, erklärte er strahlend, musste gleich wieder lachen. Rui sah ganz eindeutig nicht, was so lustig war. Er schüttelte den Kopf, wandte den Blick wieder von Kai ab. „Du bist komisch.“ „Hm-hm. Stört es?“ Kai grinste gutmütig. Er kannte die Antwort, ohne sie zu bekommen. Er freute sich gerade deshalb umso mehr, als sie trotzdem kam:   „…nein.“   Sie erreichten den Park an dem Ende, an dem sich der Spielplatz befand. Nebeneinander auf zwei Schaukeln sitzend starrten sie eine kurze Weile hinaus in die Nacht, lauschten den Zikaden, die einfach nicht leiser wurden. Neben sich hörte Kai Ruis Schuhe über den Sand scharren, während der Junge kaum vor und zurück schaukelte. Nach einer Weile verstummte das Geräusch; Rui hatte innegehalten. „Wie alt bist du geworden?“ „Neunzehn.“ Hatten sie darüber wirklich noch nicht gesprochen? Kai schüttelte über sich selbst den Kopf. Irgendwie war ihre Freundschaft wirklich unkonventionell, huh? „Wann hast du denn Geburtstag?“ „Sechzehnter Juni.“ „Also genau einen Monat vor mir! Also, fast genau.“ Um einen Tag daneben, aber das war nun wirklich ein Detail, das kaum der Erwähnung wert war! Kai seufzte zufrieden, lehnte sich zurück. Die Glieder der Schaukelketten knirschten bei der Bewegung leise. Das Schweigen kehrte völlig selbstverständlich und nicht störend zurück. Es war entspannend. Hatte Kai jemals einen Freund gehabt, mit dem er so viel Stille geteilt hatte? Er konnte sich nicht erinnern. Sein Leben war immer laut und voller Aktivität, und er liebte es so, aber Rui war ein überraschend angenehmer Tempowechsel.   „Hey. Rui.“ – „Mhm?“ „Erzähl mir ein bisschen. Was du magst.“ „…Musik. Deine CDs sind nett. Und du?“ Kai lachte hilflos auf. Wie sollte er das denn in einem Satz beantworten? (Aber er war überglücklich, weil er Rui mit den alten CDs wirklich noch eine Freude hatte bereiten können.) „Viel. Sommer. Das Meer. Sport. Fußball. Hauptsache Bewegung! Ich brauch das einfach, sonst stau ich zu viel Energie an! Hab noch nie ausprobiert, was passiert, wenn ich sie nicht loswerde, aber ich gehe davon aus, dass ich dann platze.“ „Klingt schmerzhaft.“ „Haha! Ja, nicht wahr? Also beweg ich mich! Du bist nicht so für Sport zu haben, huh?“ „Mh-mh.“ „Spielst du ein Instrument?“ „…“ Stille. Kai hielt inne in seinem vagen Herumgeschaukel, um einen Blick zur Seite zu werfen. Rui sah stoisch in die Ferne, die Art, wie er die Schultern kaum merklich gehoben hatte, signalisierte, dass er nicht über das Thema reden wollte, und dass er gerade sehr tief in Gedanken war an einem Ort, den Kai nicht erreichen konnte. Er streckte die Hand nach Rui aus, zog sie zurück, ehe er den anderen wirklich berührte. Streckte sich doch wieder nach ihm und umfasste sanft die zierliche Hand, die sich an der Schaukelkette festhielt. Rui bewegte sich, gerade so weit, dass er seinen Daumen unter Kais sanftem Griff hervorziehen konnte, um seinerseits Kai damit festzuhalten.   „Klavier. Aber ich hab aufgehört.“ Es klang so leise, dass es über den Lärm der Zikaden hinweg eigentlich kaum mehr zu hören war. Langsam setzte Rui sich wieder in Bewegung. Festgehalten von Kai brachte er die Schaukel damit nur zu einem unglücklichen Eiern, aber es schien ihn nicht zu stören. Vielleicht brauchte er die Ablenkung ja gerade einfach? Er wusste nicht, ob er weiterfragen sollte, oder schweigen und abwarten, ob Rui noch mehr erzählen wollte. Er wollte mehr wissen, keine Frage, aber er wollte Rui auch nicht drängen, wenn er so offenkundig an dem ganzen Thema knabberte. Aber es passte irgendwie zu ihm. Kai konnte sich gut vorstellen, wie Rui aussehen mochte, wenn er vor dem Klavier saß. „Ich hätte dich gern spielen gehört.“ Rui schüttelte den Kopf. „Nein. Nicht… nicht bald. Irgendwann vielleicht.“ „Du hast also nicht für immer aufgehört.“ „…weiß ich nicht. Mein großer Bruder mag es nicht, wenn ich spiele. Er sagt, es ist unfair, dass ich besser bin als er. Er übt so viel, und trotzdem…“ Er zog die Schultern hoch, ließ sie dann beinahe erschöpft einfach fallen. „Wir hatten Streit.“ „…du bist deshalb weggelaufen.“   Rui nickte langsam. In die Stille hinein, die sich erneut auszubreiten gedachte, begann er zu erzählen. Von seinen Eltern, die beide in der Musikbranche arbeiteten. Mutter Pianistin, Vater Dirigent. Von seinem Bruder, der immer sein großes Vorbild gewesen war. Vom Klavierunterricht, den ihre Mutter ihnen gegeben hatte, davon, wie hart er immer dafür gearbeitet hatte, ein Lob von ihr zu bekommen. Er bemerkte nicht, dass er seinen Bruder damit verletzte, besser zu sein als er, bis es nicht eskalierte. Rui ging nicht ins Detail über diese Eskalation, aber er ließ durchklingen, dass die Folgen ziemlich hart für die ganze Familie gewesen waren. Seitdem – und es war schon eine ganze Weile her, ohne dass Rui konkretere Angaben machte – hatte er ein unglaublich gespanntes Verhältnis zu seinem Bruder. Der hatte ihm packen helfen sollen, für seinen Umzug nach Übersee, und hatte stattdessen noch mehr Dinge gesagt, die Rui verletzt hatten. Und dann war er fortgelaufen. Einfach so. Hatte sein Zuhause und seine Zukunft weggeworfen, ohne irgendwie zu wissen, was er stattdessen wollte. Kai kannte diese Menschen nicht. Und er war nicht der Typ, der sich vorschnell ein Urteil erlaubte, aber in diesem einen Fall war er sich sicher, er wollte sie auch gar nicht kennenlernen. Nicht einmal nur Ruis Bruder. Auch seine Eltern. Dass sie so blind gewesen waren für das Unglück ihrer Kinder, schockierte ihn, wo er selbst doch Eltern hatte, die ihm jede Gemütsregung schon an der Nase ansahen, ehe Kai sich ihrer selbst bewusst war. Ruis Familie klang… einsam. Nicht nach Familie. Die Vorstellung, wie der Junge dort gelebt haben sollte, war so furchtbar, dass Kai geradezu froh war über Ruis Weglaufen. Er wollte es besser machen. Er wollte, dass Rui glücklich wurde, egal, was er dafür tun musste. „Es gibt mehr als nur klassische Musik, weißt du?“, fügte er zum Schluss noch hintenan, immer leiser werdend, und für einen Moment glaubte Kai, Verzweiflung in den großen, hübschen Augen zu sehen. Verzweiflung, dass auch er nicht verstehen würde – genau so wie seine Familie aus klassischen Musikern? Kai lächelte. Er drückte Ruis Hand aufmunternd, ehe er sie losließ, um stattdessen seine Hand auf Ruis Wange zu legen. „Ich weiß.“ Die Wahrheit war, er verstand nicht viel von Musik – aber war das nicht in jedem Feld so? Es gab nicht nur die traditionellen Methoden, ans Ziel zu kommen. Man konnte nicht nur leben, indem man ganz selbstverständlich zur Universität ging und studierte, um dann einen stabilen, geregelten Job anzunehmen, der schlussendlich irgendwie immer das Gleiche war. Er stand auf, streckte beide Hände nach Rui aus, sah aufmunternd zu ihm hinunter. Er hatte gerade so viele Emotionen im Herzen, dass er das Gefühl hatte, platzen zu müssen.   „Musik ist wie Regen!“   Rui sah ihn verwirrt an. Verwirrt, und gleichzeitig war sich Kai sehr sicher, dass er das Bild verstand. Er grinste noch breiter, selbstbewusst, selbstsicher. „Sie klingt überall anders. Natürlich klingt deine Musik nicht so wie die deiner Eltern.“ Ruis Augen wurden immer größer. Groß, und voller Emotionen, so ungewohnt offen, dass es Kai beinahe ängstigte. Verzweiflung, Erleichterung, und noch so vieles mehr, das er nicht einmal lesen konnte. Dann ergriff Rui seine Hände, erhob sich von der Schaukel, und das bunte Wirrwarr an Gefühlen auf seinem Gesicht wich einem Lächeln, das für seine Verhältnisse unglaublich breit und strahlend war.     ***     Mitten zwischen den Hortensienbüschen blieb Rui stehen. Kai bemerkte es erst, als er schon ein paar Schritte weitergelaufen war und wieder einen Blick auf seine Begleitung werfen wollte. Rui sah glücklich aus. Glücklich, und wunderschön, umgeben von diesen Blumen, die im vagen Licht von ein paar Straßenlaternen in der Ferne ihre Farbe nur noch erahnen ließen. Kai wusste, sie waren violett. Erkannt hätte er es gerade nicht. Einen langen Moment blieb er stehen, um das Bild vor sich zu betrachten und sich einzuprägen, damit er es nicht mehr vergaß. Er wollte es nicht unterbrechen, aber er wollte gerade viel näher bei Rui sein, als er es war. „Sie sind hübsch“, informierte der Junge ihn, als er zu ihm aufschloss. Hier im Gebüsch waren die Zikaden noch viel lauter, so laut, dass sie Kais Gedanken übertönten, seine Vernunft verstummen ließen unter ihrem steten Zirpen, das keine Ruhe kannte.   „Du bist hübsch.“   Die Worte standen in der warmen Abendluft, bis ein Windhauch sie zerstieben ließ, der auch Ruis Haar aufwirbelte. Große, undefinierbar gefärbte Augen sahen Kai an, als sähen sie ihn zum ersten Mal, und als er eine Hand an Ruis Wange legte, war sie so warm, dass er sich sicher war, in einem besseren Licht hätte er ihn erröten sehen. Wunderschön. Eine Hand legte sich auf seinen Oberarm, zarte Finger griffen in den Stoff der dünnen Jacke, die Kai gegen den Abendwind trug. Sein Herz schmerzte, so schnell schlug es, sein Magen krampfte. Er war sich sicher, vergessen zu haben, wie man richtig atmete, zumindest meldeten seine Lungen Sauerstoffmangel, doch er hatte gar nicht genug Aufmerksamkeit, um irgendwie darauf zu reagieren. Da war nur noch Rui. Ruis Augen, die ihn unentwegt ansahen, groß und offen und kein bisschen ablehnend. Ruis Lippen, die leicht geöffnet waren, als wollte er etwas sagen, ohne selbst zu wissen, was eigentlich. Ruis Finger, die sich durch seine Jacke hindurchbrannten. Die Wärme seiner Haut. Der klare, frische Duft von Regen an einem heißen Sommertag. Kais zweite Hand legte sich auf Ruis Hüfte, behutsam genug, dass er sich sofort aus der Berührung herauswinden könnte. Er tat es nicht. Trat einen winzigen Schritt näher. Kai schluckte, holte bebend Luft. Sein Daumen strich über Ruis Gesicht, bis er an seinem Mundwinkel hängen blieb. Berührte nur flüchtig seine Lippen. Rui blinzelte, als er näher kam, nur um die Augen noch weiter aufzureißen. Ihre Nasenspitzen stießen aneinander, warm und viel zu nah, jede Berührung ein Impuls, der Hitze und Kälte gleichermaßen durch Kais Körper schickte. So nah war Ruis Gesicht verschwommen vor seinem Blick, doch es reichte, um zu erkennen, wie seine Augen langsam zufielen. Kai hatte ihn so oft beim Schlafen betrachtet, dass er genau wusste, wie die dichten, dunklen Wimpern auf seiner Haut lagen. Das Bild kehrte ganz selbstverständlich in seine Erinnerung zurück, als er selbst die Augen schloss.   Es war ein Kuss. Es gab keine großen, blumigen Metaphern dafür. Kein weltbewegendes, markerschütterndes Feuerwerk, keine Schmetterlinge im Bauch. Nur warme, spröde Lippen, die auf seinen lagen, eine kleine Hand, die sich in seinen Oberarm krallte und eine zweite, die auf seiner Taille lag. Obwohl die Zikaden nicht stiller wurden, bemerkte Kai sie nicht einmal mehr über das Rauschen in seinen Ohren, über Ruis Atem, den er so nah hören konnte. Seine Finger wanderten über warme, immer wärmer werdende Haut, bis sie sich in seidig weichem Haar verfingen, an Ruis Hinterkopf zur Ruhe kamen, ihn haltend, führend.   Die ganze Welt brach zikadenlärmend wieder über Kai hinein, kaum, dass sie sich gelöst hatten. Seine Hand ruhte nur noch in Ruis Nacken, seitlich an seinen Hals gelegt. Kai konnte seinen rasenden Puls spüren und die Hitze, die zweifelsohne immer noch sein Gesicht färbte. Hinter ihm war ein Meer aus Hortensien, für das Kai kaum einen Blick hatte, und es war völlig vergessen, als Rui behutsam an seiner Jacke zupfte.   „Alles Gute zum Geburtstag, Kai.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)