Summertime Record von Puppenspieler ================================================================================ I.III Getting Closer -------------------- „Weck mich, bevor du gehst.“   Es war beim abendlichen Auf-der-Veranda-Sitzen gewesen, dass Rui völlig aus dem nichts heraus mit seiner Bitte angekommen war. Kai war völlig verblüfft gewesen, und er war immer noch völlig verblüfft, jetzt am Morgen, wo er wieder im Schlafzimmer stand, um zu tun, was Rui wollte. Er hatte Frühstück gemacht, hatte sich soweit fertig gemacht, dass er nachher einfach die Schuhe anziehen und aus dem Haus gehen konnte, und Yamato war auch versorgt. Rui schlief noch, was ihn wenig verwunderte, gemessen daran, dass es recht früh für Rui-Verhältnisse war. „Hey. Hoch mit dir. Du wolltest doch, dass ich dich wecke?“ Nicht, dass Rui sich wachreden ließ. Es half auch nicht, ihn zu schütteln, auch wenn Kai zugeben musste, dass sein Versuch eher halbherzig ausgefallen war. Er wollte ihn auch gar nicht schütteln. Decke wegziehen mochte helfen, aber das brachte er genauso wenig übers Herz, also saß er nun eher ratlos auf der Bettkante und zupfte mit einem schiefen, liebevollen Grinsen verirrte Haarsträhnen zurecht. „Was mach ich denn mit dir…? Ich kann nicht jeden Morgen minutenlang hier hocken, bis du hochkommst, Schlafmütze.“ Also, strenggenommen könnte er wohl doch. Wenn er noch ein bisschen früher aufstand? Es war auch nicht, dass es ihn störte! Er schüttelte den Kopf, amüsiert über sich selbst. „Weißt du, so hübsch du bist, wach bist du mir trotzdem lieber.“   Rui ignorierte ihn. Kai war ehrlich gesagt insgeheim sehr froh darum. Seine Worte waren nicht für Ruis Ohren bestimmt! (Er wollte nicht wissen, wie er reagieren würde.) Er streichelte dem Jungen sanft übers Gesicht, fuhr den geraden Nasenrücken mit einer Fingerspitze nach. Rui zog die Nase kraus, brachte ihn damit zu einem leisen Lachen, das letztlich auch kein bisschen aufweckend war. Er brauchte wirklich eine Taktik. Beim letzten Mal war Rui einfach aufgewacht. Vermutlich, weil er so gut wie ausgeschlafen gewesen war? Beim letzten Mal war es aber auch Stunden später gewesen, also war es zweifelhaft, dass Kai allzu weit damit kam, hier auf ein Wunder zu warten. Seine Fingerspitze blieb an Ruis Mundwinkel hängen und sein Grinsen wurde noch viel schiefer. In Märchen ist so etwas viel einfacher! Andererseits war Kai kein Märchenprinz, also war er ganz froh darum, nicht in einem Märchen zu stecken. Er mochte seine Realität, wie sie war.   Es dauerte mehrere Minuten, bis Rui doch reagierte, bis seine Wimpern zu zucken begannen und er sich das erste Mal aus dem Schlaf regte. Kai lächelte, während Ruis blinzelnder, desorientierter Blick sich noch zu fokussieren versuchte, und er gab sich alle Mühe, zu ignorieren, wie schmerzhaft sein Herz krampfte. Wie gern er sich heruntergebeugt hätte, um dieses verwirrte Stirnrunzeln wegzuküssen. Er tat es nicht. Er strich Rui lediglich noch einmal das zerzauste Haar aus der Stirn, als er sich aufgesetzt hatte. „Na, bist du wach?“ Ruis Nicken sah eher so aus, als wäre er das Gegenteil von wach, aber er schwang tatsächlich die Beine aus dem Bett, kaum, dass Kai aufgestanden war und ihm damit den nötigen Platz machte. Er gähnte, zog und zupfte an seinem Shirt, um es halbwegs in Form zu bringen. Obwohl er längst genug eigene Kleidung besaß, hatte er ein Paar Shorts und ein Shirt von Kai zum Schlafen behalten. Einfach so. „Es ist bequem“ war die Erklärung dazu gewesen.   Es war nicht, als hätte Kai einen Grund, es ihm zu verbieten.   Mit einem schlurfenden Rui an seiner Seite kehrte in die Küche zurück, wo das Frühstück längst auf eine lauwarme Temperatur heruntergekühlt war. Es passierte ziemlich oft in letzter Zeit, wobei Kai auch noch nie talentiert darin gewesen war, sein Essen zu sich zu nehmen, wenn es noch die eigentlich angedachte Esstemperatur hatte. „Du siehst echt müde aus“, kommentierte er amüsiert, als sie schließlich saßen und er angefangen hatte, sein Frühstück in gewohntem Tempo in sich hineinzuschaufeln; zwischen zwei Bissen war trotzdem genug Zeit zum Reden. Rui ihm gegenüber war bedeutend langsamer, seine Bewegungen sogar noch träger als sonst. Er hob die Schultern. „Geh gleich wieder schlafen.“ Kai versteckte sein viel zu breites Grinsen hinter seinem Wasserglas und ertränkte seine überschwängliche Freude in einem viel zu großen Schluck.   Dass Rui aufstand, eigentlich nur, um ihn zu verabschieden, war etwas, dass er vor ein paar Tagen noch ehrlich nicht für möglich gehalten hätte.   Trotz aller Sorge, die er vor dem Gespräch gehabt hatte, das sie vor zwei Tagen geführt hatten, schien es nicht halb so katastrophale Folgen zu haben, wie er erwartet hatte. Rui hatte das Vertrauen in ihn nicht verloren. Wahrscheinlich tat es Rui sogar selbst gut, zu wissen, woran er war, statt sich ewig mit der Ungewissheit herumschlagen zu müssen, wie es für ihn weiterging. Ob Kai ihn nicht doch wieder vor die Tür setzte. Kai hätte es niemals getan. Aber es war wohl wirklich gut, das auch einmal gesagt zu haben. Rui wirkte entspannter. Aufgeschlossener. Als wäre er jetzt sicher genug, dass Kai ihn nicht wieder wegschicken würde, dass er anfangen konnte, aus seinem Schneckenhaus herauszukommen. „Was machst du heute?“ „Möbel aufbauen. Ist nicht weit von hier, theoretisch bin ich also nicht allzu lange weg. Wobei ich noch einkaufen würde…“ „Ich kann einkaufen gehen.“ „Sicher?“ Rui sah nicht sicher aus. Kai war sich auch nicht sicher, bedenkend, dass Rui die Gegend kaum kannte. Er sah ein unzufriedenes Stirnrunzeln auf dem hübschen Gesicht und verzog gleich selbst das Gesicht zu einer Grimasse – nur um dann gleich wieder aufmunternd zu lächeln. „Hier, wie wäre es? Ich komm heut Nachmittag erst heim, dann gehen wir zusammen einkaufen? Wenn du mal etwas brauchst, weißt du dann, wo du’s kaufen kannst.“   Das Stirnrunzeln verschwand. Ein kleiner Teil von Kai war fast enttäuscht darüber; er hätte ausprobieren wollen, ob sich Ruis Unmut wegküssen ließ. (Ein großer Teil von ihm war sehr dankbar darüber, dass seine Selbstkontrolle nicht unnötig belastet wurde.) Er lächelte letztlich zufrieden, wandte seine Aufmerksamkeit wieder seinem Frühstück zu. Sie verfielen in friedliches Schweigen.   „Kai, musst du nicht los?“   Ein Blick auf die Uhr verriet ihm schnell, er hätte schon vor zehn Minuten losgemusst.     ***     Rui hatte den Abwasch gemacht, als er heimkam. Zumindest hatte Rui es versucht. Kai gab sich wirklich alle Mühe, aber er schaffte es nicht, das Lachen zu unterdrücken, das in ihm hochkam, als er das ungelenk gestapelte Geschirr auf dem Abtropfhalter sah, das – nun ja. Nicht sauber war. Weit entfernt von sauber war, strenggenommen. Selbst ohne näher hinzusehen entdeckte er noch festgetrockene Reiskrümel und einen Fleck, der aussah wie trockene Sojasauce, die sich nicht ganz wegspülen lassen wollte. Es war liebenswert. Strahlend wandte er sich zu Rui um. Rui, der alles andere als glücklich aussah, sondern im Gegenteil eher offenkundig beleidigt und verärgert. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und funkelte mit einer Intensität, die Kai bei ihm bisher nicht kannte. Er verstand es sogar, eigentlich. Rui hatte sicher nicht Unrecht damit, böse zu sein über sein Lachen, immerhin, ja, wirkte es ganz schön taktlos. Aber er konnte einfach nicht anders! Es war doch auch nicht im Geringsten böse gemeint. Oder auslachend. Er war glücklich. Irgendwie musste er seinem Glück eben Ventil lassen. „Danke, Rui.“ Ruis Antwort war ein sehr leises, sehr kaltes, aber für Kai gut hörbares „Hmpf“, dann wandte der Junge sich ab und stapfte beinahe energisch aus dem Raum. Es war fast überraschend, dass er nicht die Tür hinter sich zuknallte. Kai seufzte hilflos, kratzte sich am Hinterkopf. „Ich glaube“, begann er, während er in die Hocke ging, um Yamato zu kraulen, der quengelnd um seine Beine strich, „dass ich ihn jetzt böse gemacht habe. Glaubst du, Rui verzeiht mir noch einmal?“ Der kleine Kater behielt für sich, was er dachte. Es war okay. Kai war eigentlich recht optimistisch, dass Rui ihn jetzt nicht ewig hassen würde. Er seufzte noch einmal leise, erhob sich dann. Yamato tappte aus der Küche, miauend, und höchstwahrscheinlich mit dem Ziel, seinem Herrchen Gesellschaft zu leisten. Kai hätte es auch gern getan, aber gerade standen noch ein paar andere Dinge an. Und er wollte Rui die Gelegenheit geben, sich auszuärgern, bevor er sich entschuldigte.   Im Laufe der nächsten zwei Tage lernte er, dass es mit einer Entschuldigung nicht getan war.   Rui war sehr nachtragend.   Zuerst bemerkte er es gar nicht. Dass Rui am Morgen nicht aufwachen wollte trotz ihrer letzten Absprache, nahm er schlicht als Zeichen dafür, dass er einfach noch zu müde war, nicht als Signal von Beleidigung. Dass er Kai wieder ausschwieg, als sie am Abend gemeinsam auf der Veranda saßen, schien ebenfalls nicht wirklich unüblich. Rui war eben ein stiller Charakter, sollte er sich wirklich deshalb sorgen? Der zweite Tag, den Rui ihn konsequent ausschwieg, brachte dann langsam die Erkenntnis, dass der Junge immer noch verärgert sein musste. Es war keine hilfreiche Erkenntnis. Kais erster Reflex, nachzufragen, was das Problem war, wurde mit weiterem stoischen Schweigen und abweisender Miene beantwortet. Er seufzte resigniert, ein wenig überfordert. War Rui wirklich noch böse wegen dem Geschirr? Oder hatte er sich etwas anderes geleistet, das das sture Schweigen rechtfertigte? Er hatte sich entschuldigt. Was sollte er denn jetzt noch tun, um zu zeigen, dass es ihm leidtat? „Hey“, versuchte er es noch einmal. Keine Reaktion. Kein Signal dafür, dass Rui ihm überhaupt zuhören wollte. „Ich kann nichts ändern, wenn du mich nur ausschweigst?“ Nicht, dass Rui gerade danach wirkte, dass er Änderung wollte. Kai konnte so etwas nicht! Er kam aus einer Familie, in der grundlegend doch offen miteinander umgegangen wurde und Probleme auf den Tisch kamen, wenn sie auftauchten. Er war es gewöhnt, angemotzt und angefahren zu werden, und wenn es ganz schlimm war, dann auch mal angekreischt, aber angeschwiegen? War ihm neu. Und es war eindeutig eine Erfahrung, auf die er eigentlich dankend verzichten konnte. Wie ging man denn mit jemandem um, der einfach nur schweigend verärgert war? „Soll ich dich einfach in Ruhe lassen, bis es besser wird?“ Schweigen. Immer noch. „Es wieder gut machen?“ Keine Reaktion. Kein Wimpernzucken, gar nichts. Sollte er sich noch einmal entschuldigen? Er hatte es doch wirklich nicht böse gemeint!   „…es tut mir wirklich leid, dass ich dich verärgert habe, Rui. Entschuldige bitte.“ Es war offensichtlich auch nicht richtig. Kai schlug verzweifelt die Hände vor die Stirn, als Ruis einzige Reaktion war, schweigend aufzustehen und die Veranda zu verlassen. Er verließ seinen Lieblingsplatz, einfach nur, damit er von Kai wegkommen konnte, eine Tatsache, die schlimmer als eine Ohrfeige war.   Die Botschaft hätte kaum eindeutiger sein können.   Als Kai irgendwann selbst wieder in die Wohnung zurückkehrte, war Rui schon im Bett. Einen Moment lang überlegte er ernsthaft, ob er nicht lieber auf dem Sofa schlafen wollte, um Rui nicht noch mehr Grund zum Ärgerlichsein zu geben, aber im Grunde war es Blödsinn; Rui würde seine Anwesenheit ohnehin verschlafen. „Ich hab’s verbockt“, verkündete er Yamato müde. Der Kater lag eingerollt in seiner liebsten Sofaecke und döste mehr, als dass er wach war. Aus trägen Katzenaugen linste er zu Kai hinüber, blinzelte. Ein Öhrchen zuckte. „Ich weiß ja, dass ich taktlos war, aber was soll ich jetzt machen?“ Er strich flüchtig über Yamatos schwarzen Kopf, kraulte ihn hinter den Ohren. Zumindest der Kater war ihm nicht böse, und das zufriedene Schnurren war nach der kalten Schulter der letzten Stunden wirklich Balsam für die Seele. Träge erhob das kleine Tier sich, tappte die paar Schritte zu Kai hinüber und kletterte üblich umständlich auf seinen Schoß. Ein paar Mal mehr als nötig um sich selbst gedreht fand Yamato wohl auch eine bequeme Position, um sich einzurollen. Kai lachte amüsiert, wenn auch immer noch ein bisschen unglücklich. „Wie gut, dass ich eh nicht schlafen gehen wollte.“ Nicht schlafen konnte? Er hatte wirklich ein unangenehm schlechtes Gewissen. Wenn er wenigstens wüsste, was Rui mochte… Vielleicht würde es ihn ein bisschen versöhnen. Aber weder kannte Kai seine Hobbies, noch solche banalen Dinge wie sein Lieblingsessen. Lieblingsfarbe. Lieblingsmusik. Musik. Das war ein Ansatz! Kai wusste zumindest, dass Rui in irgendeiner Form musikalisch veranlagt war, wo seine Eltern ihn auf eine musikorientierte Schule hatten schicken wollen. Wahrscheinlich mochte er Musik also grundlegend. Zumindest war es einen Versuch wert; Kai klammerte lieber an einem Strohhalm, als gar nichts zu tun, und allein der Gedanke, dass er etwas hatte, das mehr als Untätigkeit war, gab ihm neue Energie.   In einem Schrankfach unter dem Fernseher, der in letzter Zeit immer seltener lief, fand Kai einen großen Stapel CDs, die er zu lange nicht mehr gehört hatte, zusammen mit einem tragbaren CD-Player und einem Paar Kopfhörer. Er hatte keine Ahnung, was für Musik Rui mochte. Zum ersten Mal war er froh, dass er all die Geschenke, mit denen er nicht viel hatte anfangen können, doch behalten hatte, denn entsprechend groß war die Bandbreite bei seinen CDs. Behutsam bugsierte er den Stapel auf den Wohnzimmertisch, zusammen mit CD-Player und Kopfhörern. Sicher würde Rui etwas finden, das ihm gefallen würde. Nach einigem Überlegen beschloss er, keine Nachricht dabei zu hinterlassen und ließ den kleinen Haufen Krempel als schweigendes Friedensangebot einfach liegen, wie er lag.   Wo Worte nicht halfen, sollten eben Taten für ihn sprechen. (Kai fand ohnehin, in Taten sprach es sich oft leichter.)     ***     CD-Player und Kopfhörer wurden Ruis neue Begleiter. Es schmerzte, denn die Botschaft hinter den großen Kopfhörern auf den Ohren war sehr klar – ich will nicht mit dir reden. Aber trotzdem war Kai ein bisschen erleichtert. Rui war zumindest nicht so böse auf ihn, als dass er jede Geste ignorieren würde, und das war ein positives Zeichen. (Zumindest redete er es sich effektiv ein.) Es zehrte trotzdem an ihm. Er mochte es überhaupt nicht, und nachdem er einen ganzen Nachmittag und Abend damit zugebracht hatte, zuzusehen, wie Rui sich hinter der Musik versteckte, fühlte er sich unglaublich ausgelaugt und müde. Vielleicht lag es auch ein Stück weit mit daran, dass der Tag anstrengend gewesen war. Vielleicht lag es auch daran, dass ihm zum ersten Mal bewusst geworden war, dass Tanabata vor der Tür stand, als er eine Gruppe Kinder hatte darüber reden hören, was sie auf ihre Tanzaku schreiben wollten.   Vielleicht war es alles auf einmal.   So, wie es war, stand er irgendwann in seinem Schlafzimmer, eigentlich, weil er schlafen gehen wollte, doch statt sich unter der Decke zu verkriechen, setzte er sich auf die Bettkante und sah auf Rui hinunter, der völlig ruhig und reglos schlief. Die Nacht war wolkenlos, der Mond hell genug, um silbriges Licht durchs Fenster zu werfen. Es war hell, auf diese unwirkliche, seltsam zweidimensionale Art, die Mondlicht mit sich brachte, alle Farbe von der nächtlichen Dunkelheit verschluckt. Es stand Rui. (Wahrscheinlich hätte ihm alles gestanden.) Er wagte es nicht, den schlafenden Jungen zu berühren, saß nur da, trommelte mit den Fingern am Bettgestell herum, zu unruhig, um ganz stillzuhalten. Er fühlte sich so hilflos! „Ich mag es nicht, hilflos zu sein“, gestand er leise. Der Dunkelheit, nicht Rui. Er würde es Rui auch nicht sagen wollen. Er sprach nicht gern über Schwäche, war viel lieber der Typ, bei dem andere ihre Schwäche abladen konnten. Er grinste unglücklich, mehr ein Verziehen der Mundwinkel als ein ehrliches Lächeln. Er fühlte sich wirklich wieder, als wäre er zehn Jahre alt.   Der furchtbare Teil vom zehn-Jahre-alt-Sein.   Er erinnerte sich viel zu gut. Krankenhaus und Desinfektionsmittel, ein kleines Mädchen in einem dieser furchtbar unpersönlichen Krankenhauskleider, das trotz allem Elend noch hatte lächeln können, als wolle es mit der Sonne konkurrieren. Er hatte sie geliebt. Auf eine naive, kindliche Art, aber er hatte sie geliebt, und er hatte geglaubt, es könnte einen Unterschied machen. Wenn er nur da war, ihr Geschichten erzählte, sie heimlich mit aus dem Krankenhaus nahm, um ein dummes kleines Straßenfest zu besuchen. Noch heute glaubte er, das Klingeln der Glöckchen zu hören, die an der Haarspange befestigt waren, die er ihr geschenkt hatte. Schlussendlich hatte er tun können, was er wollte. Er war hilflos gewesen im Angesicht ihrer Krankheit. Es machte keinen Unterschied, und bis heute verband er Hilflosigkeit immer noch mit dem scheußlichen Gefühl, das er gehabt hatte, als langsam aber sicher die Erkenntnis sackte, dass er sie nie, nie wieder lächeln sehen würde. „Das letzte Mal, das ich hilflos war, habe ich jemanden verloren, den ich sehr geliebt habe.“ Es war viel zu einfach, Parallelen zu ziehen. Ein kleines Ding, das seinen Beschützerinstinkt geweckt hatte. Ein viel zu kurzer Sommer, den man gemeinsam verbrachte. Tanabata. Warum musste es immer Tanabata sein?   Es war erschöpfend. Müde fuhr er sich übers Gesicht, über die brennenden Augen. Das Schlafzimmer erschien ihm zu groß und zu klein gleichzeitig. Er vergaß immer wieder, wie schlimm es war, bis es ihn mit der Wucht eines Lastwagens doch wieder mitten ins Herz traf. Irgendwie war es leichter gewesen, als er noch zuhause lebte. In dem Lärm eines überfüllten Familienhauses wirkte das eigene Leid einfach so viel leiser… Aber jetzt? Ihm fehlte jede Ablenkung durch wilde Geschwister. Alles, was er hatte, waren ein maunzender Kater und ein kleiner, schweigsamer Mitbewohner, der gerade alles andere als heilsam war. (Kai wollte ihn trotzdem nicht missen. Niemals.) Langsam ließ er die Hände wieder sinken. Rui hatte sich bewegt, während er in Gedanken versunken hier gesessen hatte, hatte sich zur Seite gedreht. Ein Vorhang aus dunklem, mondbeschienenem Haar fiel ihm ins Gesicht und dem unzufriedenen Stirnrunzeln nach zu urteilen, das Kai auf seinen Zügen erahnte, schien es nicht angenehm zu sein. Vorsichtig strich er Ruis Haar zur Seite. Es mochte Einbildung sein, aber Kai war sich sicher, dass sein Gesicht sich wieder entspannte, kaum dass das störende Kitzeln verschwand. Er schluckte, hatte plötzlich einen dicken Kloß im Hals, der sich anfühlte, als wolle er ihn ersticken.   „Ich will dich nicht auch verlieren, Rui.“     ***     Er schlief katastrophal. Wirre Albträume, die zum Glück seinen Erinnerungen entwichen, kaum, dass er aufwachte, ließen seinen Schlaf wenig erholsam sein. Zusätzlich klingelte der Wecker früh, und selbst der grell strahlende Sonnenschein, der durchs Fenster hineinfiel, konnte seine Lebensgeister kaum wecken. Seufzend blinzelte er an die Decke hinauf. Es war anstrengend, sich aus dem Bett zu raffen. Yamato, der den Wecker ebenfalls gehört hatte, miaute vor der Schlafzimmertür; er wartete auf sein Frühstück, hatte er doch schon längst raus, dass er sofort gefüttert wurde, wenn Kai aus dem Bett kroch. Es half, irgendwie. Yamato verließ sich auf ihn, er konnte ihn nicht hängen lassen!   Insgesamt wurde es besser, als er erst einmal wirklich auf den Beinen und unterwegs war. Die Arbeit machte Spaß. Kai hatte es schon immer gemocht, sich körperlich zu verausgaben. Er konnte sich nicht vorstellen, freiwillig noch mehrere Jahre Universität abzusitzen. Natürlich hatte er im dritten High-School-Jahr einige Optionen in Betracht gezogen. Auch ein Studium, irgendwo im sportlichen Bereich. Er liebte Fußball, und wenn er ehrlich war, er vermisste den Verein ein bisschen, aber trotzdem hatte ihn der Gedanke, einfach arbeiten zu gehen, schlussendlich mehr gereizt. Er bereute es keinen Augenblick. Vielleicht mochte er es schwerer haben als Leute, die vorher noch studiert und sich eine Basis aufgebaut hatten, aber er war unglaublich glücklich mit seiner Entscheidung. Jeder Tag ein neues Abenteuer, immer neue Menschen, immer neue Aufgaben, die er zu erledigen hatte.   Immer neue Geschichten, die er irgendwann erzählen konnte.   Er wollte doch nicht, dass sie sich langweilte, wenn sie sich wiedersahen.   Ein anstrengender Tag voller Garagenausmisten und Autowaschen half, dass er am Abend auf eine gute Art erschöpft war. Es hatte außerdem nicht geregnet, was ein zusätzliches Plus war, und dass Yamato gleich eifrig angelaufen kam, kaum, dass er die Tür aufmachte, half auch. Kai lachte, kraulte den Kater sanft hinter den Ohren, ehe er sich von seinen Schuhen trennte. „Wie war dein Tag, Yamato?“ Yamato erzählte ihm nichts, Kai fragte trotzdem immer wieder nach. Irgendwann würde der Kater ihm bestimmt antworten – und sei es nur damit, dass er ihm eine tote Maus vor die Füße warf. Rui saß auf dem Sofa. Die Verandatür war offen, maßgeblich dafür, damit Yamato rein und raus konnte, wie er mochte. Bei der Hitze draußen hätte Kai sich auch nicht unbedingt hinaussetzen wollen, wenn er ehrlich war. Die kühle, klimaanlagenregulierte Luft war da um einiges erträglicher. „Hey, ich bin zuhause.“ Obwohl er keine Antwort erwartet hatte, stach es ihm ins Herz, dass er keine bekam. Andererseits – es war nur logisch. Womöglich hatte Rui ihn mit den Kopfhörern auch gar nicht gehört. Warum versuchte er es überhaupt? Er wusste es selbst nicht, aber es musste der gleiche Grund – Hoffnungslos, erinnerte ihn Nagi amüsiert – sein, aus dem er bemerkte, wie unzufrieden Rui an seinen Fingernägeln herumzupfte. Er wollte nachfragen, ließ es dann aber doch lieber bleiben. Es war eindeutig genug, dass er gerade eine Nagelschere brauchen könnte, also wozu? Und damit immerhin konnte Kai dienen.   Er legte die Schere wortlos auf den Tisch, bevor er wieder ins Bad trottete, um sich den Arbeitsschweiß abzuduschen.   Noch während er dabei war, den Gürtel abzunehmen, hörte er einen dumpfen Laut aus dem Wohnzimmer. Es hätte alles sein können. Frust, Ärger, Empörung, Schmerz – sein Duschbedürfnis komplett vergessen eilte Kai aus dem Bad, ignorierend, dass er nur noch mit seiner Hose bekleidet halbnackt war. „Rui!“ Rui saß noch auf dem Sofa. Er sah auf seine Hand hinunter. Das erste, das Kai sah, war Blut. Entsetzt stolperte er zu Rui hinüber, griff sich die verletzte Hand. Er hatte sich in den Finger geschnitten. Es war nicht schlimm. Es sah nur schlimm aus, und das allein reichte, dass Kais Herz immer noch raste, auch wenn wenigstens die Panik schnell abebbte. Er angelte ein Taschentuch hervor, wickelte es um den verletzten Finger. Als er zu Rui aufsah, bemerkte er, dass der die Kopfhörer abgenommen hatte und ihn schweigend ansah. „Alles halb so wild“, erklärte er mit einem beruhigenden Lächeln. Er drückte Ruis Hand sanft, behutsam. Sein Herz schmerzte fast, so heftig schlug es, aber das letzte, das er jetzt wollte, war, Rui unnötige Angst einzujagen. Es war schließlich nicht schlimm. Wirklich nicht. (Er musste es sich trotzdem einmal öfter als nötig selbst sagen, ehe er es glauben konnte.) „Ich geh ein paar Pflaster holen, hm? Und wenn du möchtest, kümmere ich mich um den Rest deiner Fingernägel. Ich hab Übung! Bei fünf kleinen Geschwistern…“ „Mh.“   Es war nicht aussagekräftig, aber es war eine Antwort.     ***     Tanabata kam als freier Tag mit bewölktem Himmel, aber einer Aussicht auf einen klaren Abend. Rui schlief, als Kai aufwachte. Rui schlief noch, als er irgendwann aus dem Haus ging, weil ihm die Decke auf den Kopf fiel und er dringend Bewegung brauchte. Es war drückend warm, obwohl die Sonne nicht direkt schien und schon nach wenigen Schritten hatte Kai den Eindruck, sein Shirt würde ihm am Oberkörper festkleben. Überall sah er die Bambusbäumchen voller Wunschzettel, die Tanabata ausmachten. Es war ein hübscher Anblick. Bunt, lebhaft. Sommerlich. Trotzdem fühlte er sich eher unwohl damit. Seit acht Jahren hatte er keine Zettel mehr aufgehängt. Er hätte gar nicht gewusst, was er sich wünschen sollte. Es erschien ihm auch nicht richtig, bedenkend, dass Tanabata so stark verknüpft war mit… Dingen, die er verloren hatte. Die ihm wichtig gewesen waren. Er trauerte immer noch, da schien es seltsam unpassend, sich Glück für die Zukunft zu wünschen. (Eine Zukunft ohne diesen Menschen, mit dem er Tanabata verband.)   Als er heim kam, war Rui wach. Er saß am Küchentisch mit einer Tasse Tee in den Händen, die bestenfalls noch lauwarm war, gemessen daran, dass sie nicht mehr dampfte. Die Reste vom Abendessen standen auf dem Tisch. Das Geschirr war nicht unbedingt, was Kai benutzt hätte, aber wo er darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass er die meisten Sachen, die er täglich brauchte, sehr weit oben in den Schränken bunkerte. Kein Wunder, dass Rui nicht drangekommen war. Und es schadete doch nicht, einfach kleinere Teller zu benutzen, huh? Es sah nur ein bisschen seltsam aus. Der Junge sah ihn forschend an, abwartend. Kai sah zurück, sprachlos von dem Anblick. Er öffnete den Mund, wollte etwas sagen, wusste nicht was, schloss ihn wieder. Schüttelte den Kopf, um einen großen Berg wirrer Gedanken abzuschütteln und lächelte dann breit. Er wuschelte sanft durch Ruis Haar, als er an ihm vorbeilief, um sich ebenfalls hinzusetzen. „Lass das.“ – „Hm? Aber es macht Spaß!“ „Behandel mich nicht wie ein Kind.“ Kai grinste nur. Schief. Er behandelte Rui nicht wie ein Kind.   Aber vielleicht war es besser, wenn er so dachte.   Sie verbrachten den Tag überwiegend draußen auf der Veranda, zusammen mit Yamato und seinem Spielzeug. Gegen Nachmittag begann es zu regnen, ein jäher, plötzlicher Platzregen, der innerhalb von wenigen Sekunden die ganze Erde durchnässte und die Temperatur um gefühlt mehrere Grad senkte. Es tat gut nach der schwülen Wärme, die vorangegangen war. Kai seufzte behaglich, wischte sich mal wieder mit dem Shirtsaum den Schweiß von der Stirn. Rui neben ihm gab einen vagen Ton von sich, der alles hätte sein können, aber vermutlich Freude über den Regen war. „Zu warm“, murmelte der kleine Kerl erschöpft. Er blinzelte unzufrieden, strich sich das Haar aus dem Gesicht. Es klebte ein bisschen. Kai musste schief grinsen, als ihm bewusst wurde, dass er Rui trotz allem Verklebtsein immer noch viel zu hübsch fand.   „Es wird besser. Bis heute Abend ist es angenehm kühl! Du magst keine Hitze, huh?“ „Nein. Kälte auch nicht.“ Kai lachte. „Magst du überhaupt etwas anderes als Regen?“ Was das Wetter anbelangte war die Antwort ein Nein. Es erschien Kai einseitig. Er hatte kein Problem mit irgendeinem Wetter. Wie seine Mutter immer zu sagen pflegte – es gab kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung! Aber wenn er es sich aussuchen könnte, hätte er auch am liebsten nur Sonnenschein. Er fühlte sich gleich noch bedeutend energiegeladener, wenn die Sonne schien! Er lächelte zufrieden, sah zu Rui hinüber, der selbst inzwischen völlig zufrieden aussah beim Anblick der schweren Tropfen, die vom Himmel fielen. Sein Lächeln wurde breiter.   Und vielleicht, ab und zu, ein bisschen Regen.   Bis zum Abend klarte es auf. Irgendwann wichen Regen und Wolken einem großstadttypisch lichtverschmutzten Sternenhimmel, und Kai suchte, ohne recht zu wissen, wonach er suchte, nach den beiden Sternen Wega und Altair. Er war nie gut darin gewesen, Sterne und Sternbilder am Himmel zu finden, und natürlich fand er sie nicht. Der Gedanke, dass Orihime und Hikoboshi heute in der Lage sein würden, einander zu sehen, war trotzdem tröstlich. Und ein bisschen herzzerreißend, wenn er ehrlich war. Wie anders sein Leben verlaufen wäre, wäre damals irgendetwas anders gewesen? Sie hatte ihn geprägt, daran bestand gar kein Zweifel. Ohne das hübsche kleine Mädchen mit dem strahlenden Lächeln wäre Kai heute mit Sicherheit ein anderer Mensch. Ob zum Besseren oder nicht, das konnte er nicht abschätzen, wollte er aber auch nicht. Grundlegend war er glücklich mit dem Menschen, der er geworden war. Wenn er sie gar nicht kennengelernt hätte… vielleicht hätte er doch lieber eine Universität besucht. Was würde wohl auf seinen Tanzaku gestanden haben, die letzten Jahre? Der Wunsch, das nächste Fußballspiel zu gewinnen? Die nächste Prüfung zu bestehen? Den Mut zu finden, seinen Schwarm nach einem Date zu fragen? Vielleicht hätte er einige Dinge langsamer angehen lassen. Manchmal war sein Leben wirklich hektisch! – Nicht, dass es ihn störte. Wenn sie nicht gestorben wäre… Eine Kindheitsliebe, die verging? Eine verblassende Erinnerung, die man mit einem bittersüßen Lächeln betrachten und dann wieder wegschieben konnte?   „Kai…?“   Rui sah besorgt aus. Da war wieder dieses Stirnrunzeln, das Kai einfach nicht mochte, die schmale, unzufriedene Linie zwischen Ruis zusammengezogenen Augenbrauen. Er lächelte, als könnte er sich damit davon ablenken, wie sehr ihn Ruis unzufriedener Gesichtsausdruck störte. „Hm?“ – „Du weinst.“ „Oh.“ Er hatte es nicht gemerkt. Völlig verwirrt hob er eine Hand, und tatsächlich – seine Wange war nass. Als er blinzelte, merkte er, wie Feuchtigkeit zwischen seinen Lidern hervorquoll und eine weitere Träne sein Gesicht hinabrann. Er lachte leise. Wischte sich langsam die wenige Nässe vom Gesicht und lächelte dann wieder, auch wenn es wehtat, wenn ihm eigentlich so gar nicht nach Lächeln war. „Entschuldige. Es ist nichts. Nur ein paar alte Erinnerungen.“ Über die er gar nicht reden wollte, wenn er ehrlich war. Rui sah ihn an, und in seinem Blick lag ein so fundamentales Verstehen, dass Kai erschauderte. Er fühlte sich unangenehm durchschaut. Und gleichzeitig erleichtert, denn in diesem Fall war er nur froh, dass er nichts weiter sagen musste. „Ist okay. Du musst nichts erzählen. Ich warte. Du wartest auch.“   Es gab so viel, das er über Rui wissen wollte. Aber natürlich würde er warten. Jahre, wenn es sein musste, bis Rui sich selbst dazu entschloss, es ihm zu erzählen. Und vielleicht, irgendwann, würde er seine eigene Geschichte erzählen. Er zweifelte ein bisschen daran, aber die Aussicht, vor allem darauf, in so vielen Jahren noch befreundet zu sein, war schön. Er beugte sich zu Rui vor, legte eine Hand auf seinen Hinterkopf, um ihn sanft festzuhalten, drückte einen Kuss auf seine Stirn. Inzwischen roch er nicht mehr nach Kais Shampoo, sondern nach etwas, das sauber und klar und unauffällig war – wie Regen. Es passte viel besser zu ihm. „Danke.“   Als er sich wieder zurücklehnte, stellte er mit einem zufriedenen Purzelbaum im Magen fest, dass man Ruis Stirnrunzeln tatsächlich wegküssen konnte.   Und dass seine roten Wangen den Anblick nur noch schöner machten.     ***     Der Futon war weg. Kai starrte verwirrt auf den Boden seines Schlafzimmers, auf dem am Morgen noch ausgerollt sein Futon samt Decken und Kissen gelegen hatte. Von besagtem Futon war keine Spur mehr zu finden, und sein Kissen und seine Decke fand er auch nicht. Sein Magen krampfte mit dem ersten Gedanken, der ihm kam – Rui war wirklich wütend auf ihn, warum auch immer. Der Abend war friedlich gewesen! Oder war es wegen dem Kuss? Panisch, und als könne er dort eine Antwort finden, sah er zu dem schlafenden Jungen auf dem Bett – und stutzte nur noch mehr. Da war sein Bettzeug. Decke und Kissen zumindest lagen da, ganz unscheinbar, wie eine stumme Einladung, die– die gar nicht sein konnte. Er starrte. Starrte noch ein bisschen länger, während sein Herz gegen seinen Brustkorb hämmerte und sein Nacken vor Hitze brannte. Eigentlich war das nicht missverständlich.   Kai, solange er darüber nachdachte, fand zumindest keine andere Variante, es zu interpretieren.   Er schluckte, holte tief Luft. Er konnte nicht sagen, dass es ihm ungelegen wäre. Er mochte sein Bett. Es war bequem! Es klang ein wenig ungesund für sein Herz, Rui so nah zu sein, aber andererseits konnte er sich definitiv nichts Schöneres vorstellen. Leise trat er zu ihm hinüber. Im Gegensatz zu sonst lag der kleine Kerl gezielt ein gutes Stück weiter nur auf einer Seite des Bettes. Kai schüttelte überfordert den Kopf, grinsend wie ein sentimentaler Vollidiot. „Ich weiß nicht, womit ich das verdient habe.“ Er fürchtete, wenn er nachfragen würde, würde er auch keine Antwort bekommen. Und im Grunde war das okay, Kai brauchte keine Antwort auf alles, musste nicht alles verstehen. Ob das irgendeine Form von Friedensangebot, Zuneigungsbekundung oder Ausdruck von Fürsorge war, schlussendlich war es einerlei. Was zählte, war der simple Umstand, dass es Ruis Entscheidung war. Warum auch immer, er wollte das Bett mit Kai teilen. Sein Bett. Sein Leben. Trotzdem fühlte er sich ein wenig seltsam, als er einmal im Bett lag, ein bisschen weiter auf der Kante, als es nötig gewesen wäre. Rui hatte sich kaum gerührt, schlief immer noch seelenruhig. Im diesigen Mondlicht sah er wunderschön aus. (Wie immer.) Kai streckte eine Hand nach ihm aus, strich flüchtig über seine Wange, seinen Kiefer entlang. Vielleicht tat es auch seinem Schlaf nicht gut, hier mit Rui zu liegen, denn trotz Müdigkeit und dem Wissen, dass sein Wecker morgen gnadenlos früh klingeln würde, wollte er gar nicht mehr schlafen. Einfach hier liegen und Rui betrachten… Solange, bis er sich jedes Haar eingeprägt hatte, das in sein Gesicht fiel, bis er niemals mehr vergessen würde, wie das silberne Mondlicht auf seiner hellen Haut aussah. Er seufzte leise, strich ein paar seidiger Haarsträhnen zur Seite.   Der Tag wog immer noch schwer. Tanabata war und würde so bald kein schöner Gedanke sein, aber es war zumindest nicht mehr ganz so schwer, wie es die letzten Jahre über gewesen war. Ich habe jemanden kennengelernt. Ich bin sicher, du würdest ihn mögen! Irgendwann würde er ihr alles erzählen. Von dem kleinen Jungen und seinem schwarzen Kätzchen, die sich ganz zufällig in sein Leben und sein Herz geschlichen hatten. Irgendwann, wenn er alt und grau war. Und so sehr er sich darauf freute, dass dieser Tag irgendwann kommen würde, so sehr freute er sich, dass er noch lange, lange auf sich warten lassen würde. Als er die Augen schloss, dachte er nicht an Glöckchenbimmeln und Straßenfeste, sondern an den verregneten Ausblick von seiner Veranda aus, und als er die Augen wieder öffnete, sah er Rui vor sich und lächelte, mit einem Herzen, das krampfte, aber nicht vor Melancholie.   „Du bist wunderschön.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)